From fd2211c33d77eb824a03f776bd90b4905e94f858 Mon Sep 17 00:00:00 2001 From: Patrick Goltzsch Date: Thu, 27 May 2021 16:12:23 +0200 Subject: erste Sicherung --- OEBPS/Text/43-entwandlung.xhtml | 162 ++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ 1 file changed, 162 insertions(+) create mode 100644 OEBPS/Text/43-entwandlung.xhtml (limited to 'OEBPS/Text/43-entwandlung.xhtml') diff --git a/OEBPS/Text/43-entwandlung.xhtml b/OEBPS/Text/43-entwandlung.xhtml new file mode 100644 index 0000000..a47fe78 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/43-entwandlung.xhtml @@ -0,0 +1,162 @@ + + + + + + + + Entwandlung + + + +
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Entwandlung

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+Als ich ganz zernichtet war,
+vor Nacht und Hölle und Pest und Erde
+verging im dunkel tosenden Raume,
+erschienen die Dinge,
+Trost zu schütten über den Gram.
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+Das Licht kam,
+silberne Möven schwebend im Reinen,
+und die Hügel der Sonne: bewaldetes Erz,
+die Seen und Teiche des Grünen,
+Wege in liebliches Land
+und verfallen im Abend Ruinen.
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+Die Hände über den Augen, wehrte ich ab:
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+„Mag der leise Druck meiner Ballen spurlos verhallen,
+nicht will ich mehr gallbitterer Tinte Gefäß sein,
+die Andern leben!
+Eh mir der mächtige Mond vergilbt am Himmel,
+mich aus dem Leib die starke Stimme ruft.
+Mag nicht dauern, bis der Zeiten Schimmel,
+schmutziger Schnee sich niederschlägt auf mich und was mir
+im Horst die Jahre ausgebrütet.
+Mag nicht dauern, bis mich,
+weggeschoben durch frischeres Eis, nähere Früchte
+die wenigen Nahen vergessen.
+Was soll mir Almosen von Bettlern?
+Die schwarze Schnecke des Todes kroch mir über den Weg!
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+Auch ich roch einst weißduftenden Klee,
+und liebte die lichtbehauchten Wolken.
+Ich freute mich der Rädergesänge der langachsigen Wagen,
+ich freute mich der eintönig sich wiegenden Pappeln Wege entlang,
+ich freute mich der Sonne wieder blitzenden, rastlos vergleitenden Schienen,
+ich freute mich der staubweißen Bäche meiner ländlichen Straßen.
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+Aber ich sah die Nachtgefangenen: Dunkles sinnend die Späher des Bösen,
+aber ich sah hanakische Bauern, bunte Vogelscheuchen im Feld,
+den Schnellzug anstaunen,
+der ihre grünenden Äcker mit Ruß und Asche bestreut,
+aber ich sah auf Gibraltar die letzten Affen Europas frierend hinsterben,
+aber ich sah indische Tänzerinnen, gazellengangbegabte,
+vor dem Champagner und Abschaum eingläserner Jünglinge tanzen,
+aber ich sah Elefanten, dschungelrohredurchbrechende,
+sich nach den Brosamen eines Kindes bücken,
+aber ich sah Dreadnoughts ertrinken,
+umschwärmt von den tötenden Torpedohaifischen,
+aber ich sah — und Tränen entstürzten dem Tag —
+aber ich sah arme Soldaten am Sonntag der Freiheit
+starr auf Gerüsten hocken, hochsegelnden Fliegern zum Zeichen,
+aber ich sah einen Turmfalken, gewohnt im Äther zu weiden,
+sich einwühlen in den Sand eines Breslauer Käfigs,
+— und ich muß dem Schweiß dieser nächtlichen Tage entrinnen.
+Nicht bin ich von den traumumspülten Leichen, eingedickt in Schlaf.
+Wenn vom verhängten Luftkreis Schwüle abwärts sintert,
+wenn Baumwipfel ineinanderstöhnen, sturmzerquält,
+wenn rollend kommt himmellang gefahren der Gottheit Drache,
+will ich nicht mehr der Wetter bitteres Naß, der Wolken Säure,
+ich will den Blitz in mich.“
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+Fischtriefend im Geruch der Regel,
+von Haaren bewachsen, zum Himmel stinkend kam die Scham:
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+„Schöner ist’s, das Schicksal zwischen den Lenden zu zwingen.
+Lockt dich nicht das frühe Zirpen scheuer Grillen
+oder das Seufzen jener stillen Rillen,
+die sich nie enthüllen?
+Sieh, schon schwingt mit frischen Nüstern
+die Zinne sich zum Traume hoch,
+schon sind die guten Fluren lüstern —“
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+„Geschirrt in Beischlafs Joch!“
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+„Himmelan die Türme baden,
+gastlich rings die Täler laden.
+An den Buchten zarter Brust
+werde du der Lust bewußt!
+Willst du nicht ruhen Bein an Bein,
+bis holder Glieder starres Sein
+sich fügt zu süßem Binnenreim?“
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+„Bereitest mir nur ein kurzes Heim,
+Schleim grüßt den Schleim,
+ich will des reineren Todes sein!
+Mag mich ein freundlicher Stern
+heimwärts zum Himmel bald führen.
+Mergle mich aus, Novemberschwäche des Greises,
+letzter Odem des Fiebers!“
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+Der schwere Engel des Todes wuchs vor mich:
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+„Endlich gedenkest du mein,
+du liebtest mich vor Zeiten.
+Werbend um schärfste Lust.
+Dann aber die Töchter erdgeborener Weiber,
+verwitterte Huren: die dunklen Schluchten des Leibes,
+Gerippen entstarrende Knochen, dem Druck nachgebendes Fleisch
+und Seligkeit heuchelnde Augen.
+Der du Weiber schwächlich zuerst,
+hernach mit meinen eisernen Fäusten
+fassend am Knöchel des Fußes, schleuderst zum Himmel —“
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+„Keine erstrahlte mir sanft verwandelt zum Stern!“
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+„Den Stürzenden barsten die irdischen Rippen!
+So werde, was du bist,
+auf der Erde, die dich frißt!“
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+Mit den Händen griff der Malmer in meinen Staub,
+entwirbelnd verschwand ich Geraubter im neu ergrünenden Laub. +

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+ + + -- cgit v1.2.3