FRÜHES LEID

ICH war kein Tierfreund, eher vielleicht ein tyrannischer Beobachter der Tiere. Seit jeher reizte es mich, diesen schwachen Wesen zuzusehen, mitzuspielen, Herrschaft über sie auszuüben, da ich die Menschen nicht knechten konnte. Ich ging ja in die Schule, war Sklave von Rohrstäben, Katalogen, Klassenbüchern und Zensurzetteln. Und daheim saßen grausame Zieheltern, die meine Abneigung gegen das Leben nährten, indem sie mich stets zum Essen zwangen, zur Strafe mit den widerwärtigsten Speisen traktierten, wenn ich den grammatikalischen Kram nicht wissenswert fand. Die Existenz von Schulbüchern war doch eine Gnade meinerseits? Nein! Man begnügte sich unbescheidenerweise nicht damit, daß ich das Vorhandensein derartiger Materialien hypothetisch annahm, gelten ließ, ich sollte sie empfangen, die Bücher sollten in mich übergehen und ich Buch werden. Paßte mir diese Besessenheit nicht, reagierte ich auf solche Vernichtung meines Ichs sauer oder, was meist geschah: ließ ich mich auf derlei Provokationen überhaupt nicht ein, sah man in meinem Vorgehen alles eher denn Selbstbewahrung. Meine früh erwachte Aversion dagegen, Gedichte anderer Schriftsteller auswendig zu lernen: von mathematischen Formeln koitiert zu werden, diese eminent männliche Eigenschaft hieß auf einmal Faulheit und man entleerte über mich ein Füllhorn von Strafen.

Ich besaß eine kleine Kaninchenzucht. Gab ich mich mit Hühnern und Tauben ab, fesselten den Zarten, der für seine Person Raufereien scheute und mied, die schonungslosen Kämpfe zwischen rivalisierenden Hähnen oder Taubern. Blutliebe war es, Freude an diesen ebenso formstrengen als gefühlsheißen Duellen, die erbittert und unerbittlich bis zur Entscheidung ausgetragen wurden. Bei meiner Zucht, bei meinem Kult von übrigens unfreiwilligen Mitgliedern der Friedensgesellschaft, den geduldbehauchten Kaninchen gegenüber hatte ich lautere Motive. Ich ergötzte mich an rein vegetativen Prozessen, freute mich, wie die jungen Tierchen schnupperten und dann mit langen Froschsprüngen herbeieilten, mir die Kohlblätter aus der Hand zu fressen. Aber Kohl — der kostete Geld, ein paar Heller täglich, und Futter, Wartung fraß Zeit, die ich nach Ansicht meiner Pflegeeltern besser an das Studium gewendet hätte. Ihr ewiges: »Hugo, lerne!« scholl an mir vorbei, ich betrachtete die unregelmäßigen Zeitwörter als Verbalinjurien und wußte mir etwas Besseres als Verben reiten, konjugieren: Kaninchen. Die waren mein Trost, halfen mir mit ihren Farben und Bewegungen über schlechten Ausfall der Schularbeiten und Mittagmahle hinweg. Bekam ich zu Weihnachten eine üble Zensur und wurde demgemäß statt jedes anderen Geschenkes strafweise täglich diejenige Speise aufgeführt, die ich am stärksten haßte: Sauerkraut — und noch dazu in angebranntem Zustand — flüchtete ich nach Tisch zu den Kaninchen. Und siehe da! es gab Wesen, denen die Verabreichung dieses Giftes, die Ausspeisung mit Krautblättern Glücksaugenblicke schuf, Wesen, die mir, dem göttergleichen Spender, durch ihr zufrieden-geräuschvolles Mahl zu einigem Selbstgefühle verhalfen und nicht genug daran: sozusagen durch die Vernichtung eines Teiles des Sauerkrautbestandes der Welt mir dankbar einen großen Dienst erwiesen.

Es kam eine Zeit, wo ich mein Reich nicht verteidigen konnte, und die Bazillen drangen ein. Mit den Bazillen meine ich nicht etwa die Erreger der Windpocken. Die machten sich nicht so breit, mit denen wurde ich leicht fertig, und wenn ich dennoch mich schwach zu fühlen vorgab, nicht aufstehen wollte, so lag das in mir: ich hatte wenig Lust, ins äußere Leben zurückzukehren, in die Schule, diesen Garten voll bitterer Kräuter, die — o bodenlose Verruchtheit — obendrein botanisch-lateinische Namen trugen! Das Kranksein bedeutete für mich sorgsame Pflege, Ruhe und Waffenstillstand, und ich kann sagen, ich machte häufig von Halsentzündungen Gebrauch. Wenn das Fieber geschwunden war, sagte man wohl: »Liegend lesen schadet den Augen,« aber ich durfte eine Weile Lektüre treiben, was mir sonst — schlechter Zeugnisse halber — verwehrt war. Der Arzt ließ mich gerne liegen, er verordnete sogar zur Behebung der allgemeinen Schwäche kräftigende und wohlschmeckend von mir bejahte Gerichte, vor allem Weißfleisch. Doch für die Wirtschaft, für das Staubabwischen und Aufräumen bedeutete mein Kränkelnwollen, mein Zärtlichkeitsbedürfnis Hemmung und Überarbeit. Weißfleisch? Wozu Hühner kaufen, wenn herrliche Kaninchen im Hause waren, Kaninchen überdies, die, wenn man sie dem eigensinnigen Knaben ins Bett geben mußte, sich unsauber betrugen. Sonst zwar wurden Kaninchen nicht gegessen, aus Ekel ... aber ein wehrlos in der Genesung begriffenes Kind aus der Geborgenheit, aus dem sicheren Bett zu scheuchen, dazu war kein Mittel schlecht genug. Thyestes nährte sich vom Fleisch der eigenen Kinder. Atreus hat ihn damit brüderlich bewirtet. Das ist noch gar nichts. Denn Thyest war ahnungslos, wußte nicht, wovon er zehrte, wußte nicht, was er wieder zu sich nahm. Auch ich mußte die Geschöpfe essen, die mir die liebsten waren. Aber ich fühlte, was ich hinabzuwürgen gezwungen wurde. Ich verschluchzte mein Herz. Anfangs sagte man, auf das Kaninchenfleisch weisend: »Backhuhn!« Als sich jedoch mein tiefes Wissen um diese Welt durch das Gerede nicht übertäuben ließ, hieß es, ich solle nicht so kindisch sein. Kindisch? Leichtsinnig hatte ich die Kaninchen preisgegeben, verraten! Während es mir beliebte, krank zu sein, wurden sie wenig gefüttert, gemordet. Da gab ich die Krankheit hin, stand auf, um die übriggebliebenen Kaninchen vor meinen Zieheltern, vor den Bazillen, vor dem Tode zu schützen. So rief mich das Leben. »Hugo, lerne!«