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authorPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2022-09-09 22:46:23 +0200
committerPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2022-09-09 22:46:23 +0200
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@@ -0,0 +1,256 @@
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+
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+<head>
+ <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" />
+ <link href="../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" />
+ <title>Die Jungfrau</title>
+</head>
+<body>
+
+<div class="prose">
+
+ <h3 class="center">Die Jungfrau</h3>
+
+<p>
+Maria Mondmilch war das einzige Kind des Kunsthistorikers
+Doktor Maximilian Mondmilch und der schönen Frau Marga
+Mondmilch. Frau Mondmilch soll früher Wassermädchen in dem
+Kaffeehaus gewesen sein, in welchem Herr Mondmilch – der
+damals Student war – Tee trank und Zeitungen las und
+rauchte. Nach der Geburt des Kindes hatte sie den Ehegatten
+heimlich verlassen, um vermutlich mit einem Sektkellner
+einige Wochen zu verbringen. Danach trieb sie sich – häufig
+abwechselnd – mit sehr verschiedenen Männern sehr
+verschiedener Gesellschaftsklassen herum. Sie kam erst
+zurück, als sie erfuhr, daß der unheilbare Doktor in eine
+Anstalt für Gehirnkranke gebracht worden sei. Sie pflegte
+den todkranken Menschen sorgfältig bis zu seinem nahen Ende.
+Sodann verheiratete sie sich mit einem herrschaftlichen
+Kutscher, der sie abgöttisch liebte.
+</p>
+
+<p>
+Die Krankheit des Doktor Mondmilch war erst erkannt worden,
+als er ein mit schlimmen Strafen bedrohtes Verbrechen an der
+achtjährigen Tochter verüben wollte. Glücklicherweise konnte
+die Untat in dem letzten Augenblick verhindert werden. Das
+in dem Herzen und in dem Hirn erschreckte Kind wurde – dem
+Bruder des Verrückten – dem Exzellenz Moriz von Mondmilch,
+einem erstklassigen Verwaltungsbeamten, in Pflege gegeben.
+Das letzte Wort des sterbenden Kunsthistorikers war:
+»Maria.«
+</p>
+
+<p>
+Zwischen dem Onkel und der Nichte entwickelte sich eine
+sonderbare Zuneigung. Nichts geschah, was den Gesetzen
+widersprochen hätte. Die Leidenschaft zwischen dem Kind und
+dem alten Mann erregte die Eifersucht der alten Frau Minna
+von Mondmilch. Durch die zu lästig gewordenen ehelichen
+Zwistigkeiten fühlte sich der verärgerte Beamte einige Jahre
+darauf genötigt, in eine Trennung von dem Pflegekind
+einzuwilligen. Er mußte auch auf die ältlich gewordenen
+Töchter Rücksicht nehmen. Der Abschied war schwer. Exzellenz
+Moriz von Mondmilch fiel in Weinkrämpfe.
+</p>
+
+<p>
+Maria Mondmilch kam in eine große Stadt. Man zahlte den
+fremden Leuten, bei denen sie eingemietet worden war,
+monatlich viel Geld. Sonst kümmerte man sich nicht um Maria
+Mondmilch. Mit dem edlen Onkel wechselte sie geheime Briefe
+voll ausschweifender Liebessehnsucht und abenteuerlicher
+Hoffnungen. Das Bewußtsein, ständig Gefährliches verbergen
+zu müssen, gab ihr etwas Feierliches und eine unerklärliche
+Überlegenheit. Die Briefe des Onkels bewahrte Maria
+Mondmilch unter besonders sakralen Formalitäten auf. Ein
+Teil der Briefe kam abhanden und wurde das Beweismaterial
+für den berühmten Scheidungsprozeß, der das ganze Land
+erregte.
+</p>
+
+<p>
+Maria Mondmilch war in der großen Stadt Schülerin eines
+Mädchengymnasiums. Sie gehörte nicht zu den besten.
+Zeitweise arbeitete sie fleißig. Man beschuldigte sie,
+allerhand Schweinereien – die vorkamen – angestiftet zu
+haben. Als bekannt wurde, daß der Leiter der Anstalt ihr
+abends in einer argen Straße begegnet war, erwartete man
+ihre Relegierung. In der Verhandlung gegen einen
+Literaturprofessor des Gymnasiums, der, trotzdem er dringend
+verdächtigt war, etliche Sittlichkeitsverbrechen begangen zu
+haben, freigesprochen werden mußte, war sie die wichtigste
+Zeugin.
+</p>
+
+<p>
+Das junge Mädchen weilte in der Nacht am liebsten in den
+berüchtigten Vierteln. Maria Mondmilch ließ sich von allem
+möglichen Gesindel ansprechen, den meisten Männern entlief
+sie wieder. Sie war noch nicht fünfzehn Jahre alt, als sie
+sich von einem Händler, dessen Bekanntschaft sie in einem
+schmutzigen Abend in einer üblen Gasse auf einer Brücke
+unter einer halb verfallenen altertümlichen Petroleumlaterne
+gemacht hatte, in unanständigen Stellungen nackt
+photographieren ließ. Als Sechzehnjährige verlebte sie die
+Weihnachtsferien mit einem bildschönen, aber wildfremden
+Elektrotechniker – namens Hans Hampelmann – in einem
+verrufenen Hotel anscheinend wie Frau und Mann. Daß sie nach
+Absolvierung des Gymnasiums sich entschloß, Medizin zu
+studieren, ist unschwer aus erotischen Bedürfnissen zu
+erklären.
+</p>
+
+<p>
+Der hungrige Schauspieler Schwertschwanz – ein intelligent
+und verludert aussehender Mensch, der nach billiger
+Schokolade stank – lief planlos sehnsüchtig die abendlich
+funkelnden und lärmenden Straßen der Stadt entlang, in
+welcher Maria Mondmilch Medizin studierte. Er begegnete ihr,
+als sie aus einer Vorlesung über Geschlechts- und
+Männerleiden traurig zurückkam. Zum Spaß – ziemlich – sprach
+er sie an. Gemeinsam gingen die beiden in eine Kneipe
+niederer Sorte.
+</p>
+
+<p>
+Der Schauspieler Schwertschwanz hatte, bevor er die
+Studentin ansprach, überlegt, was seine langjährige
+Verzweiflung augenblicklich am ehesten begründen könne: die
+schließliche Unwichtigkeit alles Geschehens oder nur das
+Malheur, daß bedeutende Männer oftmals aus Mangel an
+entsprechender Nahrung und Medizin krepieren müssen... Die
+Unzulänglichkeit der Frauen... Die Unheilbarkeit der
+Rückenmarkschwindsucht, deren Anzeichen er an sich zu
+bemerken glaubte... Als Maria Mondmilch ihren Beruf nannte,
+leuchtete er auf. Man sprach über Syphilis und die Folgen.
+Fräulein Mondmilch erzählte entsetzliche Fälle. Herr
+Schwertschwanz hörte erschrocken und begeistert zu. Er war
+entzückt, als sie – kokett betonend, daß sie leider nur
+wissenschaftliche Beziehungen zu Männern unterhalten könne –
+wie unabsichtlich bis über das Knie ein gut geformtes,
+herbes Bein sehen ließ, das in einem aufregend gemeinen,
+halbseidenen Strumpf befestigt war.
+</p>
+
+<p>
+Die Studentin erwiederte merklich die Sympathie des
+Schauspielers. Sein heruntergekommenes Aussehen flößte ihr
+Zutrauen ein. Seine – auf sie eingestellten – von Schminke
+und Hoffnungslosigkeit, von unmäßigen Hurereien oder Onanien
+ringsum zerrissenen und inwendig fast verfaulten
+treuherzigen blauen Augen griffen ihr an die Seele. Sein aus
+Blasiertheit und unverschämter Zudringlichkeit gemischtes
+Wesen regte sie sehr auf. Mitten durch Gekreisch und Kellner
+und Bierbänke und Ausdünstungen, in dem gelbsüchtigen
+Gaslicht, mußte sie schwärmerisch ausrufen: »Einen Menschen
+wie Sie, Herr Schwertschwanz, habe ich bisher nicht
+kennengelernt.« – Er faßte sie beglückt an. Während draußen
+ein Trupp Soldaten im Vorbeimarschieren das bekannte
+Volkslied pfiff: Mariechen, du süßes Viehchen... und so
+weiter.
+</p>
+
+<p>
+Ohne laute Verabredung hatten die Verliebten Arm in Arm die
+Richtung auf die Bude der Studentin gewählt, als sie die
+gröhlende Kneipe verließen. Oben legte sich Maria Mondmilch
+mit übereinandergeschlagenen Beinen auf ein Schlafsofa in
+der Nähe des Bücherschrankes. Der Schauspieler versank in
+einen weichen Sessel, neben dem ein kleiner Tisch mit einer
+zierlichen Flasche Kognak stand. Die Unterhaltung war nicht
+einfach. Sie wollten einander ihre Leiden von klein auf
+entgegenschluchzen. Sie wollten einander fressen, so gierig
+wurden sie mit der Zeit. Etwas war dazwischen. Der
+Schauspieler trank den Kognak. Die Studentin spielte nervös
+mit den Händen und den Füßen.
+</p>
+
+<p>
+Der Schauspieler konnte die Qual nicht mehr aushalten. Er
+schrie leise – das war, als wurde etwas zerschlagen: »Ich
+will offen sein. Ich bin ein Syphilitiker« – – Einige Tränen
+kullerten herunter. Er erschrak, wie wenig ernst ihm war.
+Die Studentin hielt die Hände vor das Gesicht. Theatralisch
+wie er. Aber unbewußt.
+</p>
+
+<p>
+Er hatte sich nicht verrechnet. Ihre erotische Aufgeregtheit
+überstieg die Grenzen. Sie wand sich auf ihrem Schlafsofa.
+Sie hielt ihm eine Hand hin. Sie flüsterte: »Armer Mann,
+kommen Sie.« – Er ergriff die Hand nicht. Die Augen in dem
+unglücklichen entsagenden Gesicht, dessen Wirkungen er schon
+bei vielen hysterischen Frauen erprobt hatte,
+niedergeschlagen, sagte er: »Sie wissen am besten, daß die
+Berührungen mit mir eventuell Sie selbst luetisch machen
+könnten, obwohl in den letzten Jahren die Wassermannsche
+Reaktion immer negativ war.« – Da sagte sie heroisch:
+»Offenheit gegen Offenheit. Ich bin Jungfrau.«
+</p>
+
+<p>
+Instinktiv hatte sie sich gerächt. Seiner überreizten Sinne
+war er nicht mehr mächtig. Wie eine Katze sprang er auf das
+Mädchen mitten in dem Schlafsofa. Nun wehrte sie sich. Mit
+ängstlichen Augen bereit, sich ihm zu geben.
+</p>
+
+<p>
+Bei dem Ringen sang die Studentin dem Schauspieler ihr
+Werbelied: »Maria Mondmilch bin ich, das Mädchen, die
+Jungfrau. Öffne mir deine Tore. Du, ich probierte viel
+Männerfleisch von außen, Greise und Jünglinge. Alle lockte
+ich. In allen suchte ich meinen Mann. Niemand drang tiefer
+als meine Haut in mich... Ich schlich in den Tagen. Rannte
+in den Nächten. Ich schlief in einem Bett mit Musikern und
+Aristokraten. Mit Kaufleuten und Zuhältern und Studenten war
+ich zusammen. Mit Kunstradfahrern und Rechtsanwälten trieb
+ich mich herum. Ich ließ keinen Mann vorüber, dem ich nicht
+in die Augen sah. Ob es regnete. Oder ob Winter war. Oder ob
+die Sonne schien... Niemand durfte mich seine Frau nennen.
+Niemand war mein Mann. Einer hat sich erschossen. Einer ist
+in einen Sumpf gesprungen. Ich bin unschuldig... Einer ist
+blödsinnig geworden. Einer hat mir einen Fußtritt gegeben.
+Die meisten sind weggegangen, als wäre nichts vorgefallen.
+Nichts ist vorgefallen... Du, blauäugiges Leidensgesicht
+unter mir, ach, wärst du mein Mann, daß ich in dir blühe.
+Bist du mein Mann, in den ich selig sinke – –«
+</p>
+
+<p>
+Und der Schauspieler sang der Studentin bei dem Ringen: »Ich
+bin der Schauspieler Schwertschwanz, der Mann, der Wüstling.
+In allen Leibern, die ich soff, suchte ich dich. Ich bin
+Trinker geworden. Aus Sehnsucht. Mein Blut habe ich aus
+Liebe vergiftet. Wie gleichgültig wäre das, wenn ich –
+halbtot – dich jetzt fände. Ich habe dich zu viel gesucht,
+um dich noch zu finden –«
+</p>
+
+<p>
+Da rief Maria Mondmilch in dem Untergehen:
+»Schwertschwänzchen, liebst du mich –« Und schon ertrunken:
+»Er liebt mich nicht.« –
+</p>
+
+<p>
+Der Mann fiel verzweifelt faul zurück. Die Studentin spuckte
+ihm an den Kragen. Stülpte dem Willenlosen den Hut auf den
+Kopf. Drückte ein Goldstück in seine Hand. Warf ihn hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Während der Schauspieler Schwertschwanz sich unterwegs, vor
+Begierde zitternd, eine geeignete Hure suchte, saß Maria
+Mondmilch über einem dicken anatomischen Lehrbuch. Sah sich
+die Konstruktion eines splitternackten Mannes an. Und heulte
+wie ein Hund am Meer.
+</p>
+
+</div>
+
+</body>
+</html>