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author | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2022-09-09 22:46:23 +0200 |
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committer | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2022-09-09 22:46:23 +0200 |
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Damals war er zu Tode traurig über die +Erkenntnis des Feindes, deren Wahrhaftigkeit er nach +heftigem Nachdenken nicht leugnen konnte. Er schrieb einen +maßlosen Artikel, der nirgends angenommen wurde. Und eines +Abends betrank er sich ein wenig mit französischem Sekt, um +die angeborene Angst umzubringen, die ihn hinderte, den +Feind zu verhauen. Aber seine Feigheit verließ ihn auch in +der Trunkenheit nicht. Da gab er, unsagbar unglücklich, auf, +sich zu rächen. +</p> + +<p> +Er begann offiziell, einsam und verklärt zu leben. Er teilte +dies mit; agitatorisch wie er oft das Programm einer neuen +Kunstrichtung verkündet hatte. Und mit einer innersten +Feierlichkeit wie bei einem bedeutenden Begräbnis. Noch +seine Niederlage nutzte er aus, sich überlegen zu fühlen. Im +Grunde lebte er kaum anders als bisher. Nur daß er +tatsächlich seelisch trostloser geworden war. Jetzt mußte er +sich so beruhigen: Selbst wenn ich erreichen könnte, was ich +erreichen wollte, würde ich nichts erreichen. Während er +vordem so gedacht hatte: Zwar ist leider richtig, daß ich +nichts erreichen kann, aber was ich erreichen kann, ist +ziemlich schön. +</p> + +<p> +Praktisch, wie Berthold Bryller in gewissen Beziehungen war, +wußte er seine Schwächen allgemein menschlich aufzufassen, +so daß die Verzweiflung, die sich anfangs in hysterischen +Anfällen besonderer Art offenbart hatte, bald – bis auf +seltene Zustände – dem Gefühl einer erhabenen +Gleichgültigkeit wich. Nach wie vor schrieb er seine frechen +und unvorsichtigen Briefe, die ihm viel schadeten, +veröffentlichte er besonders kluge, etwas wahnsinnige +Aufsätze in den wenigen Blättern, mit deren Herausgebern er +zufällig nicht verfeindet war, gründete er Clubs, die ihn +ausstießen, Zeitschriften, in denen er bekämpft wurde. Nach +wie vor machte er sich auch sonst durch seine Beteiligung +überall unmöglich. Uneingeweihte würden allerdings den +Umstand, daß er nicht mehr in dem Café Klößchen zu sehen +war, als ein Zeichen seiner innerlichen Verwandlung bemerken +können, wenn nicht ein an der Tür des Cafés befestigtes +Plakat: +</p> + +<p class="center"> +BRYLLERN IST DER EINTRITT VERBOTEN! +</p> + +<p> +veranlaßt hätte, einen Streit mit dem Wirt als Ursache +seines Fernbleibens anzunehmen. +</p> + +<p> +Aber allmählich wurde dem Doktor Bryller, der doch kein +Trottel war, das hoffnungslose literarische Dasein +unausstehlich. Hinzu kam, daß seine Geldmittel in absehbarer +Zeit erschöpft waren. Er mußte also, unfähig sich +gegebenenfalls zu töten, bedacht sein, durch Arbeit seinen +Lebensunterhalt zu beschaffen. Die schriftstellerische +Tätigkeit war pekuniär ungefähr erfolglos. In eine feste +literarische Stellung zu treten – etwa als Redakteur –, +würde er nicht über das Herz gebracht haben, abgesehen +davon, daß ihn niemand genommen hätte. Was blieb ihm, als +mit dem Rest seines Kapitals die unterbrochenen +Universitätsstudien fortzusetzen, die notwendigen +Staatsexamina zu machen, sich als Oberlehrer eine +gesicherte, ganz angenehme Position zu schaffen. Übrigens +war ihm dieser Beruf durchaus bequem. Überzeugt von der +unverbesserlichen menschlichen Fehlerhaftigkeit, die er an +dem eigenen Leibe erfahren hatte, durchdrungen von der +vollständigen Zwecklosigkeit körperlichen und geistigen +Strebens, ließ er gern jeglichen Trieben ungehemmten Lauf. +Seinen Herrschergelüsten, seinem sonstigen Ehrgeiz, sogar +seinen erotischen Bedürfnissen konnte er als Oberlehrer am +ehesten Genüge tun. +</p> + +<p> +Der Doktor Bryller war trotz seiner Launenhaftigkeit und +häufigen Sonderbarkeiten einer der beliebtesten Lehrer des +Grauen Gymnasiums. Die kleinen Zöglinge vergötterten ihn, +die größeren hingen ihm leidenschaftlich an. Natürlich gab +es auch Schüler, die ihn nicht mochten. Zum Beispiel der +Quintaner Max Mechenmal, den er einige Male ohne +auffallenden Grund geohrfeigt hatte. Das hätte für Doktor +Berthold Bryller beinahe unangenehmste Folgen gehabt. +Gelegentlich der auf die entrüstete Beschwerde des +Quintaners von dem Direktor Rudolph Richter einberufenen +Lehrerkonferenz zeigte sich, daß die große Mehrzahl der +Kollegen im Gegensatz zu den Schülern dem Doktor keineswegs +freundlich gesinnt war. Als er auf die Frage, warum er +geschlagen habe, lächelnd erwiderte, weil ihm Mechenmal +mißfalle, wollte man, dem Vorschlag des angesehenen Kollegen +Lothar Laaks folgend, der vorgesetzten Behörde empfehlen, +ihn für längere Zeit zwecks geistiger Erholung in ein +Sanatorium zu entfernen. Nur der Zufall, daß der gekränkte +Quintaner Mechenmal ein bei Lehrern und Schülern in gleichem +Maße verhaßtes Individuum war: wegen seiner +katzenfreundlichen Verlegenheit und heimlich aufhetzenden +Bosheit, hinderte einen solchen Entschluß. Obwohl der +Kollege Laaks – der einzige, der für Mechenmal Worte der +Anerkennung fand – unter Aufwand vieler schmutziger +Dialektik feurig dafür eintrat. Man begnügte sich, den Herrn +Doktor Bryller auf das Ungehörige seiner Handlungsweise +drohend aufmerksam zu machen. +</p> + +<p class="center"><span class="vsuper">*</span>   <span class="vsub">*</span>   <span class="vsuper">*</span></p> + +<p> +Etwa ein halbes Jahr vor der endgültigen lebenslänglichen +Verwahrung Berthold Bryllers in einem staatlich +subventionierten Irrenheim war ein Geschrei auf dem Hof des +Grauen Gymnasiums. Ein Haufen zumeist kleinerer Schüler +wälzte sich hinter einem zwergenhaften, vergrämten, schiefen +Jungen, dessen Rücken die zarten Anfänge einer +Buckelkrümmung aufwies. Man rief ihm vergnügt und gehässig – +in dem Lärm unverständliche – sicherlich bösartige Neckworte +zu. Er wurde gestoßen, so daß er stolperte. Viele ältere +Gymnasiasten sahen das muntere Treiben belustigt an. Auch +der Oberlehrer Laaks, der die Aufsicht führte, unterdrückte +nicht ein vergnügtes Schmunzeln. In einem Fenster war das +regungslose Gesicht des Doktor Bryller. +</p> + +<p> +Der schiefe Junge ging, ohne sich zu wehren. Gebückten +Kopfes. Oft mußte er mit der Hand über die Augen wischen. +Nur einmal, als einer der Übermütigsten – natürlich der +Quintaner Mechenmal – ihm unter johlendem Beifall der +anderen in das Gesicht spie, warf er sich tief aufweinend +gegen den Angreifer; der lief sofort davon. Mitten durch den +Haufen, der ihm jubelnd überall den Weg verstellte, +verfolgte der weinende Bucklige den Kameraden. Er würde den +Mechenmal vielleicht auch erreicht haben, wenn nicht der +langjährige Untertertianer Spinoza Spaß ihn plötzlich an dem +Buckel wie an einem Haken festgehalten hätte. Spinoza Spaß +grinste gemütlich und boshaft das affenförmige, sehnsüchtig +phlegmatische Gesicht entlang, als er den kleinen +verzweifelten Kohn wie ein Gewicht langsam durch die sonnige +Frühlingsluft bewegte. Er ist durch diese Heldentat einer +der berühmtesten Untertertianer des Grauen Gymnasiums +geworden. +</p> + +<p> +Vorzeitig machten dem sonderbaren Schauspiel einige +mitleidige größere Gymnasiasten ein Ende. Der hagere, +bleiche Primaner Paulus entriß den winzigen unglückseligen +Menschen dem giftig dreinblickenden Spaß und bedrohte jeden +mit Schlägen, der den schiefen kleinen Kohn weiterhin +belästige. Aus Furcht vor Paulus und einigen Gleichgesinnten +ließ man auch – wenigstens vorläufig – den glühenden +Buckligen in Ruh. Der drückte sich die grauen Mauern +entlang. Und wäre am liebsten versunken. Froh war er, als +die Schulglocke das Zeichen gab, in die Klassenstuben zu +verschwinden. +</p> + +<p> +Der Primaner Peter Paulus war schon auf dem etwas finsteren +Gange zu dem geräumigen Zimmer, in welchem der Pastor +Leopold Lehmann den Schülern der oberen Klassen hebräischen +Unterricht zu erteilen pflegte, als der Oberlehrer Laaks ihn +einholte, ihn anrief, ihn in ein geheimnisvolles, sehr +aufgeregtes Gespräch zog. Laaks machte dem Paulus +anscheinend Vorwürfe. Merkwürdig war aber, daß er nicht +aussah wie ein Lehrer, der den Schüler zurechtweist, sondern +etwa wie ein mißtrauischer Verwandter, der sich in einer +Erbschaftsangelegenheit übervorteilt glaubt. Auch das +Verhalten des Primaners war durchaus nicht das Verhalten +eines Untergebenen... +</p> + +<p> +Die Unterredung der beiden mußte sich wohl sehr ausgedehnt +haben. Denn als Peter Paulus noch bleicher als sonst eintrat +und das zu späte Kommen mit einem dienstlichen Gespräch +entschuldigte, hatte der Pastor Lehmann das eigentliche +Pensum längst erledigt; war in einer religiösen Diskussion +begriffen, die er in moderner Weise regelmäßig an den +hebräischen Unterricht knüpfte. Man sprach gerade über Gott +und studentisches Wesen, kam aber nach einigen unwichtigen +Erörterungen zu dem Thema: Abtreibung und Seelenleben, bei +dem man verharrte. Den Anlaß hatte eine Mitteilung in einem +Artistenfachblatt gegeben, die einer sich ausgeschnitten und +zwecks Auseinandersetzung mitgebracht hatte. Der Pastor las +vor: +</p> + +<p class="txtindent spaced"> +Zusammenbruch der berühmten Tänzerin Lola Lalà. +</p> + +<p class="txtindent"> +Die rühmlichst bekannte Varietétänzerin Lola Lalà, die auch +unter der Bezeichnung Lo Lálalà auftrat und deren +Mädchenname Leni Levi ist, mußte, wie ein Korrespondent uns +drahtet, in eine Irrenanstalt gebracht werden, was +gewaltiges Aufsehen erregte. Man fand die Bedauernswerte in +Adamskostüm splitternackt gegen Morgen auf einem Weizenfeld +bitter weinend eine schwere Zigarre rauchend. Herr +Gottschalk Schulz, ein zartfühlender Poet, hat in der +»Zeitung für erhellte Bürger« darüber ein ergreifendes +Gedicht veröffentlicht, das einen pikanten Reiz dadurch hat, +daß – so munkelt man wohl nicht mit Unrecht – der Dichter zu +der armen lieblichen Tänzerin recht herzliche Beziehungen +unterhielt. Deshalb sei dies schöne Gedicht unseren Lesern +nicht vorenthalten: – – – +</p> + +<p> +Das Gedicht hatte die Überschrift: Der Rauch auf dem Felde. +Der Pastor las es aber nicht vor, weil es zu zotig sei. Auch +nicht zur Sache gehöre. Dagegen las er: +</p> + +<p class="txtindent"> +Wie ich aus besonderer, authentischer Quelle in später +Abendstunde noch erfahre, soll die Ursache des seelischen +Zusammenbruchs der Tänzerin ein nach glücklich erfolgter +<span class="spaced">Abtreibung</span> durch einen Einbruch +verursachter Schreck gewesen sein. Eine gerichtliche +Untersuchung ist eingeleitet. +</p> + +<p> +Danach begann der Pastor eine Rede über die Abtreibung so: +»Die Erkenntnis des Menschen gipfelt darin, daß er das am +höchsten entwickelte Erdwesen sei. Das kann kein Mensch +bestreiten.« Er bemerkte nicht das absichtlich übertrieben +unterdrückte Lachen einiger. Und langsam fuhr er fort. Er +verurteilte die Abtreibung als Gott ungefällig vom +religiösen und sozialpolitischen Standpunkt aus. Zum +Schlusse sagte er: »Wir sind modern. Wir scheuen uns nicht, +anstößige Fragen mit sittlichem Ernst zu behandeln.« – +</p> + +<p> +Der einzige, der widersprach, war Peter Paulus. Er geriet – +äußerlich ruhig – in solche Wut, daß er sagte: »Wenn ich +Arzt wäre, Herr Pastor, würde ich selbst –« Da sagte erregt +der Pastor: »Glauben Sie an Gott, Paulus?« Und Peter Paulus +sagte nur: »Nein.« Er wurde einige Minuten vor Schluß der +Lehrstunde wegen Sozialdemokratie und Gottlosigkeit von dem +hebräischen Unterricht ausgeschlossen. +</p> + +<p> +Trotzig ging er hinaus. Warf die Tür. +</p> + +<p class="center"><span class="vsuper">*</span>   <span class="vsub">*</span>   <span class="vsuper">*</span></p> + +<p> +Als der verwitwete Gefängnisgeistliche Christian Kohn sein +einziges herz- und geisteskrankes Kind in eine Anstalt geben +mußte, adoptierte er – niemand weiß warum – einen kleinen +Krüppel. Man schwatzte vielerlei. Am hartnäckigsten erhielt +sich das Gerücht, der Krüppel Kuno sei ein natürlicher Sohn +des Geistlichen. Die Mutter sei die populäre Totschlägerin +Trude, die ihren abtrünnigen Zuhälter erschossen hatte. +Trude war, weil sich herausstellte, daß sie trächtig war, +unter jubelndem Beifall des ganzen Volkes begnadigt worden. +Man behauptet, der mitleidige Geistliche habe Trudes +Schwangerschaft bewirkt. Doch ist das nicht nachgewiesen. +</p> + +<p> +Kuno Kohn verbrachte die erste halbwache Jugend in den +trostlosen steinernen Räumen und Höfen des Zuchthauses. Der +Adoptivvater kümmerte sich wenig um den Jungen. Wochenlang +ließ er sich nicht sehen. Überlassen einer mürrischen +Dienstperson, die in der Hauptsache die dürftige Wirtschaft +des Geistlichen besorgte, ohne ausreichende Pflege, ohne +Spielgenossen, ohne Anregung und Liebe konnte sich das +krüpplige Kind nicht entwickeln. Blieb immer zwergenhaft. +Blaß und verträumt schlich er einher. Verschüchtert und +furchtsam. Gegen Abend wimmelte es auf den winkligen Treppen +mit vergitterten Fenstern, in den großen düsteren Hallen und +Gängen von verwegenen Schatten und schauerlichen Geräuschen. +Ein Robusterer würde solche peripherischen Dinge nicht +beachtet haben, wenn er sie überhaupt bemerkt hätte. Aber +auf den Kuno Kohn drang das Geringste ein, das +Nebensächlichste hatte Bedeutung, entsetzte ihn. Überall und +von allem fürchtete er Unheil. Nichts war ihm vertraut. Die +ewige Angst machte ihn selbst zu einem kleinen huschenden +Gespenst und gab seinen schwindsüchtigen Augen +phosphorisches Leuchten. Wenn er zu später Stunde +weggeschickt wurde, etwa um Milch zu holen oder Petroleum, +betete er in fiebriger Inbrunst zu dem lieben Gott. Atemlos +und kalkig kam er wieder. +</p> + +<p> +Über alles fürchtete Kuno Kohn die tausendfältige Finsternis +vor dem Einschlafen. Früher hatte man ihm eine winzige Lampe +in das Zimmer gestellt, deren rötlicher melancholischer +Schein ihn etwas beruhigte. Auf der weichen Wand tauchten +sonderbarste Fratzen auf und Kämpfe, aber auch +Zinnsoldatenmärsche und ergötzliches Durcheinander von Feen +und Kuchenläden und Königinnen, bis ein Schlaf kam. Seit +einiger Zeit wünschte der Geistliche solche Verweichlichung +der Seele seines Sohnes nicht mehr. Kuno mußte in dem +Dunkelen leben. Weg war das bißchen Sichtbarkeit. Das +unzählige unfaßbare Geschehen des Chaos kugelte sich um den +kleinen Menschen. Mehr Welt drängte sich in dem kurzen +Nachtzimmer des Buckligen, als der ganze große Tag enthielt. +Kuno Kohn hatte den Körper, der in dem Bett liegen sollte, +verloren: war nur noch Schreck und Hilflosigkeit und +Sehnsucht. Am schlimmsten war, wenn sich das wüste Ungefähr +zu Erscheinungen oder Berührungen verdichtete. Dann schrie +der Kohn verzweifelt auf. Entweder hörte man den Aufschrei +nicht oder legte ihm keine Bedeutung bei. In Gefängnissen +schreit es immer in der Nacht irgendwo. Kuno lag oft lange, +bis das unergründliche Loch, das so viel unbegreiflichen +Inhalt hatte, die lebhaften Bilder einließ, die Traum und +Schlaf brachten: Einbrecher, oder vielleicht eine +Droschkenfahrt in der Sonne, einen Besuch bei dem kleinen +kranken Bruder, ein Spiel mit Straßenkindern, die lieben +traurigen Engelaugen der Maria Müller, für die man sterben +möchte. +</p> + +<p> +Des Kuno Kohn gute Bekannte waren die Gefangenen. Nicht die +Wächter; die waren zwar recht freundlich zu ihm, aber ein +instinktives Mißtrauen herrschte verborgen. Dagegen die +Totschläger und Spieler, Lustmörder und Räuber, die +berühmtesten Einbrecher und die Mehrzahl der sonstigen +distinguierten Alteingesessenen begrüßten den kleinen +Buckligen herzlich durch geringes Kopfnicken oder fast +unmerkliches Grinsen, sooft er kam, der stummen grauen +Arbeit mit aufgerissenen Träumeraugen zuzusehen. Nur die +Hehler, Wucherer, Hochstapler, Defraudanten, Bauernfänger, +die meisten Bankerotteure und manche Zuhälter blieben +unerfreut. Besonders angefreundet hatte sich Kuno Kohn im +Laufe der Jahre mit dem jugendlichen Einbrecher Benjamin. +Die beiden saßen oft stundenlang zusammen. – Die Wächter +drückten ein Auge zu... Benjamin erzählte dem Buckligen +schwärmend. Von Sonne. Und Freiheit. Und der Erlösung der +Menschen. Kuno Kohn vermittelte den geheimen Verkehr +Benjamins mit der Außenwelt und erwies dem Freunde allerlei +Gefälligkeiten, er verschaffte ihm Zigaretten, Bücher, +kleine Werkzeuge. Als einmal in dem Käfig Benjamins ein Band +Goethe und etwas Zigarettenasche gefunden wurde, hatte man +Kohn in Verdacht. Nach dem kurz darauf erfolgten Ausbruch +des Einbrechers, der nur mit fremder Hilfe geschehen sein +konnte, machte man dem Geistlichen Mitteilung. Der verbot +dem Sohn das Zusammensein mit den Eingesperrten. Die Wächter +durften ihn nicht mehr einlassen. +</p> + +<p> +Die großen Probleme, die den Kuno Kohn, sobald er +einigermaßen denken konnte, immer wieder quälten, waren +hauptsächlich Tod und Gott. Im Alter von vier oder fünf +Jahren glaubte er nicht an den Tod, wenigstens nicht an +seinen. Und er betete täglich zu dem lieben Gott, bevor er +sich hinlegte: »Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll +niemand drin wohnen als Gott allein.« Aber wenn er während +des Tages etwas getan hatte, was ihm sündhaft erschien – und +das geschah fast immer – fügte er (im Bett sitzend; stehend, +wenn es besonders schlimm war) lange und reumütige Monologe +hinzu, bis er, übermüdet, mit noch gefalteten Fingern und +Tränen einschlief. Wenn Finsternis und Angst kamen, betete +er immer. Allmählich mehrten sich die Zweifel. Er mußte an +seinen Tod glauben und den Glauben an Gott verlassen. Als er +in die Schule kam, begann die Fülle von Leiden, die für +manche Kinder damit verbunden sind. +</p> + +</div> + +</body> +</html> |