aboutsummaryrefslogtreecommitdiff
path: root/OEBPS/Text/02-geschichten/02-der-sieger.xhtml
diff options
context:
space:
mode:
Diffstat (limited to 'OEBPS/Text/02-geschichten/02-der-sieger.xhtml')
-rw-r--r--OEBPS/Text/02-geschichten/02-der-sieger.xhtml648
1 files changed, 648 insertions, 0 deletions
diff --git a/OEBPS/Text/02-geschichten/02-der-sieger.xhtml b/OEBPS/Text/02-geschichten/02-der-sieger.xhtml
new file mode 100644
index 0000000..289f9a0
--- /dev/null
+++ b/OEBPS/Text/02-geschichten/02-der-sieger.xhtml
@@ -0,0 +1,648 @@
+<?xml version="1.0" encoding="utf-8"?>
+<!DOCTYPE html>
+
+<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml">
+<head>
+ <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" />
+ <link href="../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" />
+ <title>Der Sieger</title>
+</head>
+<body>
+
+<div class="prose">
+
+ <h3 class="center">Der Sieger</h3>
+
+ <h4 class="center">I</h4>
+
+<p>
+Max Mechenmal war selbständiger Geschäftsführer eines
+Zeitungskioskes. Er aß und trank gern gut; er verkehrte viel
+– allerdings vorsichtig – mit Weibern. Da sein Salär häufig
+nicht ausreichte, ließ er sich gelegentlich Geld schenken:
+von Ilka Leipke. Ilka Leipke war eine über die Maßen kleine,
+aber gutgewachsene vornehme Dirne, die so sehr durch
+bizarres Wesen und scheinbar unsinnige Einfälle wie durch
+eigentümlich geschmackvolle Kleidung die meisten Männer und
+Mädchen erregte. Fräulein Leipke liebte den kleinen Max
+Mechenmal. Sie nannte ihn ihren süßen Zwerg. Max Mechenmal
+ärgerte sich zeitlebens, daß er klein war.
+</p>
+
+<p>
+Max Mechenmal entstammte einer leider verarmten Familie. Er
+hatte in einer Anstalt für schwachsinnige Kinder eine
+vorzügliche Erziehung genossen, bis man ihn sehr frühzeitig
+gewaltsam entfernte. Die Gründe sind nicht überliefert; doch
+scheint die Entlassung mehr auf der Verarmung der
+Mechenmalschen Angehörigen zu beruhen als auf seiner
+unzweifelhaften Unausstehlichkeit. Er trieb sich eine Weile
+wohnungslos herum, da sich die Familie nicht mehr um ihn
+kümmerte. Den Lebensunterhalt erwarb er in der Hauptsache
+durch belanglose Diebstähle. Einmal griff ihn die Polizei
+auf. Er wurde in ein Heim für verwahrloste Kinder gebracht.
+In dem Heim wurde er zu einem Schlosser ausgebildet. Er
+verstand, sich bei den Vorgesetzten durch außergewöhnliche
+Geschicklichkeit und Bereitwilligkeit einzuschmeicheln. Im
+geheimen quälte er die jüngeren und schwächeren Kameraden;
+oder er hetzte die Stärkeren gegenseitig auf. Er hatte
+keinen Freund; als er ausgelernt hatte und entlassen wurde,
+waren die anderen froh.
+</p>
+
+<p>
+Die ungewöhnliche Fertigkeit, die Max Mechenmal infolge
+seiner technischen Begabung in dem Anfertigen von Schlüsseln
+und dem Öffnen der schwierigsten Schlösser erlangt hatte,
+hätte er am liebsten benutzt, großartige Einbruchsdiebstähle
+zu begehen; er wäre gern ein berüchtigter Verbrecher
+geworden. Der Erlös der Einbrüche hätte ihn instand gesetzt,
+sich elegant zu kleiden, mit Weibern zu protzen. Die
+krankhaft gesteigerte Furcht, ergriffen zu werden, hinderte
+ihn. Er begnügte sich, Töchter und Mägde der Meister, bei
+denen er arbeitete, zu verführen, gefahrlose
+Gelegenheitsdiebstähle zu verüben. Sein Ehrgeiz war
+unbefriedigt.
+</p>
+
+<p>
+Durch einen Zufall veränderte sich die Lebensrichtung
+Mechenmals. Feierabend war. Müde und mißmutig ging er die
+Straßen. Lichter waren kaum sichtbar, obwohl es heftig
+dunkelte. In einem feinen Parterrezimmer ordnete eine ältere
+Dame die Falten ihres Leibes. Vor einem Keller sangen
+schmutzige kleine Mädchen das Lied von der Lorelei. Wie
+schwarze Tafeln mit hellen Kreuzen waren die Fenster in die
+bleichen, einschlafenden Häuser gegraben. Die Häusermassen
+glichen großen, abenteuerlichen Schiffen, die vor Anker
+liegen oder hinausgleiten in ein fernes winkendes Meer. Der
+kleine Schlosser dachte an die letzten sechs Geliebten.
+Fielen ihm gräßlich umränderte blaue Augen eines häßlichen
+verbuckelten Herrn auf, der ihn lächelnd, mit merklichem
+Behagen, dennoch etwas ängstlich betrachtete. Der Schlosser
+dachte: Nanu – Spaßeshalber blieb er stehen; blickte mit
+pfiffigen Äuglein, die wie blanke schwarze Knöpfe auf seinem
+Gesicht glänzten, den noch kleineren Herrn kokett an. Der
+wurde verlegen; nahm den Hut von dem Kopf; sagte stotternd,
+sein Name sei Kuno Kohn... und er bäte um Entschuldigung...
+Viel mehr war nicht zu verstehen. Der Bucklige barg einen
+Teil des Gesichts hinter dürren Fingern. Er hüstelte. War
+eilig weitergegangen. Der Schlosser dachte: Nanu – Er ging
+seines Wegs.
+</p>
+
+<p>
+Da wurde er an dem Arm gezupft. Er wandte das Gesicht: Der
+Bucklige stand wieder bei ihm, noch etwas ohne Atem von
+raschem Gehen. Kuno Kohn war ganz rot, aber er konnte ohne
+Unterbrechung sagen: »Verzeihen Sie, daß ich Sie noch einmal
+belästige; ich weiß immer erst nachher, was ich sagen
+wollte.« Das redete er übermäßig laut, um die Verlegenheit
+zu überwinden. Dann sagte er: »Vielleicht haben Sie Zeit...
+Vielleicht darf ich Sie einladen, mit mir ein Gasthaus
+aufzusuchen... Oder... Sie haben doch noch nicht zu Abend
+gegessen...« Der Schlosser wendete nichts gegen den
+Vorschlag ein.
+</p>
+
+<p>
+In einer mächtigen Kneipe ließ Kuno Kohn für Max Mechenmal
+Essen und Bier bringen. Er selbst aß nicht, er trank wenig.
+Er sah gern zu, wie es dem Schlosser schmeckte. Streichelte
+ihn später auch wohl manchmal zaghaft an dem Kinn. Dem
+Schlosser gefiel das. Sie sprachen zunächst von dem Elend
+des Daseins, von der Ungerechtigkeit des Schicksals. Als
+Mechenmal das dritte Glas Bier trank, brüstete er sich mit
+seinen Geliebten. Das war dem buckligen Menschen sogar
+unangenehm. Bisher hatte er den Schlosser erzählen lassen.
+Und seine Teilnahme allein dadurch bekundet, daß er
+zustimmend die blauen Augen theatralisch schloß, wodurch für
+Sekunden nur große jämmerliche Schatten sichtbar waren, oder
+mit dem unförmigen Kopf langsam wackelte oder mitleidsvoll
+auf die Schenkel Mechenmals die nervösen Finger drückte.
+Jetzt fing er an, eigene Meinungen zu äußern. Er schimpfte
+auf die Weiber. Mit einer Stimme, die in jedem Augenblick
+aus Erregung überzuschnappen schien. Stellte den Grundsatz
+auf: Wer das Unglück habe, Weib zu sein, möge den Mut haben,
+Hure zu werden. Die Hure sei das Weib in Reinkultur.
+Übrigens sei der Verkehr mit Weibern mehr oder minder
+entwürdigend. Als sie die Kneipe verließen, legte Kuno Kohn
+den harten elenden Knochen, der sein Unterarm war, auf den
+saftigen, muskulösen Unterarm Mechenmals. Ein goldenes
+Armband fiel auf das Handgelenk des Buckligen. Unterwegs
+forderte Kuno Kohn Mechenmal auf, bei ihm die Nacht zu
+verbringen. Der Schlosser ging auf das Anerbieten ein.
+</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn bewohnte in einem Gartenhaus einer westlichen
+Nebenstraße ein großes Zimmer, in dem nichts auffiel. Nur
+das Bett war ungewöhnlich breit, fast prunkhaft. Auf den
+Kissen lagen gelbliche und rote Blumen. Vor einem Fenster
+stand ein Schreibtisch; auf ihm waren einige Bücher,
+vielleicht Beaudelaire, George, Rilke; daneben und
+dazwischen lagen Papierbogen, die anscheinend mit
+vollendeten und unvollendeten Gedichten und Abhandlungen
+beschrieben waren. Auf einem Brett an einer Wand standen
+Bände Goethe, Shakespeare, eine Bibel eine Homerübersetzung.
+Auf Tischen und Stühlen lagen wohl einige Zeitschriften und
+Kleidungsstücke. Irgendwo waren vergilbte stille
+Photographien von alten Leuten und Kindern. Der Schlosser
+sah alles neugierig an.
+</p>
+
+<p>
+Bald saßen sie. Die Unterhaltung, die erst lebhaft war,
+stockte allmählich. Kuno Kohn drehte die Lampe klein. Später
+redete er weich und flehend dem Schlosser zu. Nachher bot er
+ihm das Bett an. Er selbst werde auf dem Sofa schlafen. Der
+Schlosser war einverstanden.
+</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn verschaffte seinem Freund Mechenmal eine
+untergeordnete Stellung bei einem Zeitungsverlag.
+Überraschend schnell arbeitete sich Mechenmal in den neuen
+Beruf ein, erlangte sehr bald genügende kaufmännische
+Kenntnisse. Wechselte Stellungen. Erreichte durch Energie
+und allerhand Gemeinheiten, daß er schon nach einem Jahr und
+wenigen Monaten als selbständiger Geschäftsführer eines
+Zeitungskioskes eine Vertrauensstellung bekleidete.
+</p>
+
+
+<h4 class="center">II</h4>
+
+<p>
+Durch die angenehme Art zu sprechen wie durch sein
+intelligentes Puppengesicht hatte sich der ehemalige
+Schlosser bald eine unverhältnismäßig große Stammkundschaft
+erworben, zu dem größten Teil weiblichen Geschlechts.
+Morgens umstanden seinen Kiosk ein Dutzend Verkäuferinnen
+eines nahen Warenhauses, die absichtlich zu früh gekommen
+waren, um sich über die Zoten und fidelen Glossen des Herrn
+Mechenmal zu freuen. Der Bankbeamte Leopold Lehmann, der
+stets pünktlich um acht Uhr kam, um illustrierte Witzblätter
+und theologische Streitschriften zu kaufen, wurde manchmal
+ungeduldig, weil die lustigen Verkäuferinnen ihn bei dem
+Aussuchen störten. Und der Gymnasiast Theo Tontod, der
+unermüdlich, in der Regel vergeblich, nach der modernen
+Zeitschrift: »Das andere A« fragte, kam oftmals zu spät in
+die Schule. – Gegen Mittag erschien fast täglich die
+Choristin Mabel Meier an dem Arm eines alten Mannes. Sie
+kaufte bunte, pikante Zeitschriften oder gefühlvolle mit
+langen lyrischen Gedichten. Der alte Mann, der immer
+wehleidig blickte, bezahlte seufzend. Sie verhielt sich
+Mechenmal gegenüber zurückhaltend. – Manchmal kam auch Mieze
+Maier, ein Backfisch, und fragte, ob Herr Tontod dort
+gewesen sei. Einmal blieb Mieze Maier länger; von der Zeit
+an häufiger. – Zu unbestimmten Stunden war ein dickes
+gemütliches Dienstmädchen des Kaufmanns Konrad Krause an dem
+Kiosk. Und sagte zu Mechenmal, er sei hübsch; er habe
+leidenschaftlich schwarze Augen und einen Knutschmund; ob er
+Sonntags nicht Laune habe, tanzen zu gehen; es liebe ihn
+sehr. Mechenmal antwortete, er werde die Neigung von
+Fräulein Frida gelegentlich erwidern. Das Dienstmädchen
+erinnerte ihn peinlich oft an sein Versprechen. – An jedem
+Dienstagnachmittag forderte ein sonderbarer Herr Simon, der
+in einem offenen Sanatorium wohnte und stets von einem
+Wärter begleitet wurde, Zeitschriften für Bestattungswesen;
+wenn nicht genügend vorhanden waren, entfernte er sich sehr
+ungehalten und auf die Krematorien schimpfend. – Auch Kuno
+Kohn kam mehrmals in jeder Woche; seltener, um zu kaufen,
+hauptsächlich um seinen Freund zu besuchen und für die
+Abende Zusammenkünfte zu verabreden. – Studenten, Damen,
+Offiziere, Arbeiter kauften ihre Zeitungen. Nur Ilka Leipke
+war trotz wiederholter Aufforderungen Mechenmals nicht zu
+bewegen, zu dem Kiosk zu kommen.
+</p>
+
+<p>
+Das war eine Laune von Ilka Leipke. Sie hatte ja viel Zeit
+und klagte dem Geliebten manches Mal, die Tage seien noch
+langweiliger als die Nächte. Auch liebte Ilka Leipke ihren
+süßen Zwerg nicht etwa weniger als in den ersten Zeiten
+ihrer Bekanntschaft. Obwohl Mechenmal sie immer herrischer
+behandelte, immer gemeiner zu ihr wurde. Zuletzt machte ihm
+Freude, wenn sie weinte; er war niemals zufrieden, ehe er
+sie dazu gebracht hatte. Dann vergnügte er sich, sie wieder
+zu trösten. Hinterher war er allerdings sehr gut zu ihr, er
+liebte sie im Grunde. Er ließ sich von Ilka Leipke sanft
+streicheln und küssen. Er war ein bißchen größer als sie,
+aber sie hatte ihn auf ihrem Jungenleib wie ein Kind. Sie
+erzählten einander. Sie lachten. Sie küßten. Viele Male
+untersuchten sie die Geschichte ihrer Begegnung. Sie
+entdeckten tausend neue Einzelheiten oder logen sich solche
+vor, weil dies schön war. Das Fräulein suchte aus einem
+Kästchen, in dem kleine Sachen lagen, einen
+Zeitungsausschnitt hervor, auf dem zu lesen war:
+</p>
+
+<p class="border indentrl w25">
+ <span class="center larger dispblock">Heiratsgesuch.</span><br />
+Ein junger, etwas kleiner, sehr hübscher Mann, des
+Alleinseins müde, erstrebt gleichartige Dame zwecks
+ehrenwerter Heirat. Auf größeres Vermögen wird gesehen.<br />
+Freundliche Offerten nimmt entgegen Max Mechenmal.
+</p>
+
+<p>
+Oder Herr Mechenmal nahm aus der Brieftasche ein blaues
+Briefchen mit lilaroten Tupfen, das er schmunzelnd dem
+Fräulein hinhielt. Fräulein Leipke las dann wohl mit leiser,
+verliebter Stimme:
+</p>
+
+<p class="txtindent">
+ <span class="center dispblock">Sehr geehrter Herr!</span>
+Soeben Ihr Heiratsgesuch gelesen. Mit Vermögen kann ich zu
+meinem Bedauern nicht aufwarten. Ich meinerseits würde
+dagegen gern auf das Heiraten Verzicht leisten, das ich noch
+nicht nötig habe. Ich bin von Beruf Weib (Berufsweib). Auch
+meine Statur ist klein (aber oho!). Ich bin der Kavaliere
+müde, suche mich deshalb nebenbei mit einem regulären Mann
+in Verbindung zu setzen. Sollte Ihnen mein Erbieten genehm
+sein, senden Sie mir bitte Ihre Photographie. Ich verbleibe
+Ihre ergebene<br />
+ <span class="fright">Ilka Leipke.</span><br />
+</p>
+
+<p class="clear">
+Wenn sie sich genug angefaßt und geküßt hatten, erfanden sie
+Spiele. Ilka Leipke machte sehr talentvoll dem selig
+kichernden Mechenmal vor, wie sich ihre Freundinnen in
+entsprechender Lage verhalten würden. Sie krümmte sich in
+den überraschendsten Stellungen. Verbog das Gesicht zu den
+komischsten Grimassen... Mechenmal konnte stundenlang
+erdachte Namen hersagen, mit denen er bestimmte Teile ihres
+Körpers in Gegenwart anderer bezeichnen wollte, ohne daß
+diese merken sollten, was er meinte. – So vergingen die
+Abende und Nächte, in denen Ilka Leipke sich für ihren
+Freund freigemacht hatte. Oft fehlte dem Mechenmal die Zeit,
+nach Hause zu gehen. Dann stand sie auf, wenn er noch
+schlief. Kochte Kaffee. Holte in Morgenschuhen und nur mit
+einem alten Theatermantel bedeckt von einem Bäcker Backwerk.
+Legte eine weiße Decke auf den Tisch. Ordnete alles
+appetitlich. Machte einige Brote zurecht – zum Mitnehmen.
+Verschwand wieder in ihrem Bett, wo sie bis in den
+Nachmittag hinein schlief. Mechenmal aber eilte etwas
+abgespannt und müde, doch in gehobener Stimmung zu seinem
+Kiosk.
+</p>
+
+<h4 class="center">III</h4>
+
+<p>
+Später Abend kroch wie eine Spinne über die Stadt. In dem
+Schein der Kohnschen Lampe war der etwas über den Tisch
+gebeugte Oberkörper Kuno Kohns. Auf dem Sofa lag, den
+Lampenkreis durchbrechend und aus ihm herausgelehnt, der
+halbfinstere Max Mechenmal. Fenster blinkten in üppigem,
+fließendem Schwarz. Aufgeschwollen und verschwommen ragten
+einige Gegenstände aus der Dunkelheit. Das offene Bett
+leuchtete weiß. Kohns Hände hielten beschriebenes Papier.
+Seine Stimme tönte leise, schwärmerisch, in singendem
+Pathos. Er wurde oft heiser und hustete, wie einer, der viel
+gelesen hat. Zu hören war: »Die alten, prächtigen
+Geschichten von Gott sind totgeschlagen. Wir dürfen ihnen
+nicht mehr glauben. Aber die Erkenntnis des Elends, glauben
+zu müssen, bedrängt uns – die Sehnsucht nach neuem,
+stärkerem Glauben. Wir suchen. Wir können nirgends finden.
+Wir grämen uns, weil wir hilflos verlassen sind. Komme doch
+einer, lehre uns Ungläubige, Gottsüchtige.« Kohn war
+erwartungsvoll still. Mechenmal hatte sich während des
+Vorlesens insgeheim amüsiert. Jetzt platzte er vernehmlich.
+Er sagte dann: »Nimm mir das nicht übel, Kohnchen. Aber du
+hast doch komische Einfälle. Das ist doch verrückt.« Kohn
+sagte: »Du hast kein Gefühl. Du bist ein oberflächliches
+Wesen. Im übrigen ist sicher, daß auch du psychopathisch
+bist.« Max Mechenmal sagte: »Was heißt das?« Kuno Kohn
+sagte: »Das wirst du schon noch merken.« Max Mechenmal sagte
+nur: »Ach so.« Er ärgerte sich, daß ihn Kuno Kohn
+oberflächlich genannt hatte. Er dachte an Ilka Leipke.
+</p>
+
+<p>
+Da sagte Kuno Kohn: »Der Tod ist ein unerträglicher Gedanke.
+Für uns Gottlose. Wir sind verdammt, ihn in hundert Nächten
+vorzuerleben. Und finden keinen Weg über ihn...« Er schwieg
+schwer. Mechenmal wollte seinem Freund Kohn beweisen, daß er
+sogar über abseitige Probleme sich äußern könne. Er
+überlegte. Und sagte: »Ich habe eine andere Auffassung,
+Kunlein Kohnchen. Allerdings ist das Gefühlssache. Auch ich
+zähle mich Gott sei Dank zu den Gottlosen. Gott ist Quatsch.
+Darüber ein Wort zu verlieren ist eines denkenden Menschen
+unwürdig. Aber ich, höre, habe Gott nicht nötig – nicht zu
+dem Leben, nicht zu dem Sterben. Tod ohne Gott ist
+wunderschön. Er ist mein Wunsch. Ich denke mir herrlich,
+einfach tot zu sein. Ohne Himmel. Ohne Wiedergeburt. Radikal
+tot. Ich freue mich darauf. Das Leben ist für mich zu
+anstrengend. Ist zu aufregend...«
+</p>
+
+<p>
+Er wollte weiterreden. An die Türe wurde geklopft. Kohn
+öffnete. Ilka Leipke trat hastig hinein. Sie sagte: »Guten
+Abend, Herr Kohn. Entschuldigen Sie, daß ich störe.« Sie
+schrie zu Mechenmal: »Hier also ertappe ich dich. So
+verlässest du mich. Du benutzest nur meinen Leib. Meine
+Seele hast du niemals gefaßt.« Sie weinte. Sie schluchzte.
+Mechenmal versuchte, sie zu beruhigen. Das erregte sie noch
+mehr. Sie rief: »Mit einem krummen Kohn mich zu betrügen...
+Ich werde Sie bei der Polizei anzeigen, Herr Kohn. Schämen
+Sie sich – ihr Schweine...« Sie hatte einen Weinkrampf. Kuno
+Kohn war unfähig, etwas zu erwidern. Mechenmal riß sie von
+dem Boden, auf den sie sich schreiend geworfen hatte. Er
+sagte mit veränderter harter Stimme, ihr Benehmen sei
+ungehörig. Sie habe keinen Grund zu Eifersucht. Er sei sein
+freier Herr. Da sah Ilka Leipke den buckligen Kohn demütig
+wie ein geschlagenes Hündchen an. War ganz still. Folgte dem
+erbosten Mechenmal hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Als Kohn allein war, wurde er allmählich wütend. Er dachte:
+Solch freche Person... Und in Zwischenräumen: Wie sich die
+Kuh aufgeregt hat. Wie eifersüchtig sie auf mich ist. Eins
+der seltenen Weiber, die mir behagen... und wählt das
+Tierchen Mechenmal. Das ist scheußlich –
+</p>
+
+<p>
+In der Frühe des nächsten Tages stand Kuno Kohn, zitternd
+wie ein Schauspieler, der Lampenfieber hat, in dem Salon des
+Fräulein Leipke. Fräulein Leipke las, als die Zofe die Karte
+Kuno Kohns brachte, gerade die verbotene Broschüre: »Der
+Selbstmord einer schicken Dame. Oder wie eine schicke Dame
+Selbstmord begeht.« Sie hatte verweinte Augen. Als sie die
+ganze Broschüre gelesen hatte, puderte sie sich frisch.
+Endlich erschien sie, nur durch ein seidenes Morgenkleid
+verhüllt, in dem Salon. Kuno Kohn war rot bis an die Ohren.
+Er sagte stöhnend, er sei gekommen, den gestrigen Auftritt
+zu entschuldigen. Fräulein Leipke tue ihm unrecht, sie kenne
+ihn zu flüchtig. Er habe immerhin innere Werte. Dann sprach
+er lobend von seinem Freund, dem guten Mechenmal; ließ aber
+durchblicken, daß diesem leider ein ausgebildetes
+Gefühlsleben mangele. Fräulein Leipke sah ihn mit lockenden
+Augen an. Er brachte das Gespräch auf die Kunst. Dann
+brachte sie das Gespräch auf ihre Beine; sie sagte
+freimütig, sie habe ihre Beine selbst gern. Sie hatte das
+Morgenkleid etwas zurückgeschlagen. Kuno Kohn hob es mit
+scheuen Händen vorsichtig höher –
+</p>
+
+<p>
+Als Abend geworden war, saß Kuno Kohn verträumt in seinem
+Zimmer. Er schaute aus dem offenen Fensterloch. Vor ihm fiel
+die graue Innenwand des Hauses hinunter, in kurzem Abstand.
+Mit vielen stillen Fenstern. Himmel war nicht, nur
+schimmernde Abendluft. Und wenig weicher Wind, der fast
+nicht zu fühlen war. Die Wand mit den Fenstern glich einem
+schönen, traurigen Bild. War gar nicht langweilig, darüber
+wunderte sich Kuno Kohn. Er stierte immer tief in die Wand.
+Lieb sah sie aus. Zutraulich. Voll von Einsamkeit. Er dachte
+heimlich: Das macht der Wind, der um die Wand ist. Er sang
+innen: Komm, Geli...iebte – Klingeln erschreckte ihn.
+</p>
+
+<p>
+Der Postbote brachte einen Brief von dem Klub Clou. Der Klub
+Clou forderte Herrn Kohn auf, als Gast des Klubs an einem
+bestimmten Abend aus seinen Werken vorzulesen.
+</p>
+
+<h4 class="center">IV</h4>
+
+<p>
+Acht Tage vor dem Vortragsabend war auf den Anschlagsäulen
+der Stadt ein Plakat. Auf ihm konnte man lesen:
+</p>
+
+<p class="border indentrl w18">
+<span class="center larger dispblock">Voranzeige.</span><br />
+
+Kuno Kohn wird in dem Klub Clou aus
+eigenen Werken vorlesen. Junge Mädchen
+und Rechtsanwälte höflichst verbeten.
+</p>
+
+<p>
+Je näher der Abend der Vorlesung herannahte, desto
+aufgeregter wurde Kuno Kohn. Zwei Stunden vorher ließ er
+sich rasieren. Als der Mann fragte, ob der Herr Puder
+beliebe, sagte Kohn kopfschüttelnd: »Ja –« Eine Stunde
+vorher verlangte Kohn in einem Polizeibureau zehn
+Fünfpfennigmarken und eine Zehnpfennigkarte.
+</p>
+
+<p>
+Als Kohn das Podium betrat, war er ruhiger, als er erwartet
+hatte. Zuerst versprach er sich manchmal. Aber seine Stimme
+wurde allmählich fest und deutlich. Der kleine Saal war
+wenig besucht; doch waren einige Kritiker der großen,
+maßgebenden Presse erschienen. Einer erklärte an dem
+nächsten Tage in der verbreiteten »Alte Bürgerzeitung«: Die
+Dichtungen, die der um seines Gebrestes willen
+bedauernswerte Dichter Kohn in einem dürftig besuchten Saal
+zu Gehör gebracht habe, seien zwar noch nicht reif für die
+Öffentlichkeit; hingegen könne man später einmal, wenn der
+Kohn sich geklärt habe, einiges von seiner Muse erwarten. –
+Ein anderer verkündete in der »Zeitung für erhellte Bürger«:
+Der Gesamteindruck sei ein erfreulicher, doch seien die
+Dichtungen nicht gleichmäßig gelungen. Auch habe der Dichter
+nicht gut vorgelesen. Jedoch sei die erste Zeile des ersten
+Verses des Gedichtes »Der Komiker« von einer erschütternden
+Prägnanz in Ausdruck und Gefühl.
+</p>
+
+<p>
+Nach der Vorlesung dankte der Vorsitzende des Klubs, der
+begabte Doktor Bryller, dem Dichter, den er ein kommendes
+Genie nannte. Eins der wenigen, die er persönlich kenne.
+Ilka Leipke hatte sich trotz des Verbotes der jungen Mädchen
+den Zutritt auf irgendeine Weise verschafft. Auch Mechenmal,
+der zuerst gesagt hatte, er werde nicht kommen, war
+erschienen. In der Pause hatte er aber erklärt, er habe
+Hunger. Und er gehe jetzt. Ob sie noch nicht genug von dem
+Unsinn habe. Wenn sie nicht mitkommen wolle, möge sie
+dableiben. Sie scheine sich plötzlich für Kohns Buckel zu
+interessieren. Er wünsche viel Glück. Und ob er den Kuppler
+spielen solle. Er ging wirklich. Ilka Leipke weinte ein
+bißchen für sich, blieb bis zuletzt. Sie klatschte
+begeistert. Sie hatte Kohn an diesem Abend lieb. Nahm ihn in
+sonderbarer Stimmung in ihre Wohnung.
+</p>
+
+<p>
+Gegen Morgen hüpfte ein kleiner buckliger Herr wie ein
+Ballettänzer auf grauen unsicheren Straßen...
+</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn vermied von nun an Begegnungen mit Mechenmal. Er
+lud ihn nicht mehr ein. Zeitungen kaufte er in einem anderen
+Kiosk. Dem Mechenmal war das ganz recht. Seine Geliebte
+hatte ihm mit aufreizendem Lächeln erzählt, daß sie eine
+schöne Nacht mit dem Buckligen in ihrem Schlafzimmer verlebt
+habe. Der Buckel sei ihr nicht unangenehm gewesen, er sei
+nicht so groß und häßlich, wie er bei oberflächlicher
+Betrachtungsweise erscheine. Man könne sich sehr an einen
+Buckel gewöhnen. –
+</p>
+
+<p>
+Mechenmal war wütend auf Kohn. Zu Ilka Leipke wurde er
+zärtlicher und nachgiebiger. Er zeigte ihr seine Eifersucht
+nicht, erwähnte nie den Namen des Nebenbuhlers. Ilka Leipke
+war glücklich. Sie dachte an die betrunkene Nacht mit Kohn
+nicht mehr. Kohn war ihr jetzt nicht weniger zuwider als
+früher, sie wies weitere Bemühungen des Dichters
+gleichgültig zurück. Mechenmal gegenüber tat sie, als sei
+sie noch immer sehr verliebt in Kohn. Einmal aber konnte sie
+einen unanständigen Witz über Kohn und seinen Buckel nicht
+unterdrücken. Mechenmal lachte herzlich.
+</p>
+
+<p>
+Kohn war traurig an ein Meer gefahren. Ein Verleger hatte
+ein unerwartet günstiges Angebot gemacht und Vorschuß
+gezahlt. Mechenmal fand zufällig ein Gedicht, das Kohn von
+dem Meer an Ilka Leipke geschickt hatte. Er las:
+</p>
+
+<p class="spaced">
+Lied der Sehnsucht.
+</p>
+
+<p class="stanza">
+Die Falten des Meeres platzen wie Peitschen auf meiner Haut.<br />
+Und die Sterne des Meeres reißen mich auf.
+</p>
+
+<p class="stanza">
+Von schreienden Wunden ist der Abend des Meeres Einsamen.<br />
+Aber die Liebenden finden den guten verträumten Tod.
+</p>
+
+<p class="stanza">
+Sei bald da, Schmerzäugige. Das Meer tut so weh.<br />
+Sei bald da, Liebleidende. Das Meer erschlägt mich so.
+</p>
+
+<p class="stanza">
+Deine Hände sind kühle Heilige. Hüll mich mit ihnen. Das Meer brennt auf mir.<br />
+Hilf doch... Hilf doch... Deck mich. Rette mich. Heil mich, Freundin.
+</p>
+
+<p class="stanza">
+Mutter – du...
+</p>
+
+<p>
+Er zerriß es. Ilka Leipke war entrüstet. Sie sagte,
+Mechenmal sei grob. Der Kleine hatte sie bald durch
+Liebkosungen besänftigt. Später setzte er sich an den
+Schreibtisch des Fräulein. Er nahm einen ihrer Briefbogen
+und schrieb:
+</p>
+
+<p class="txtindent">
+ <span class="center dispblock">An Kuno Kohn.</span>
+Fräulein Leipke, meine Braut, läßt dir hierdurch sagen, daß
+sie auf weitere Gedichte gern verzichte; sie erfüllen ihren
+Zweck bei weitem nicht. Meine Braut hat mir alles erzählt.
+Sei versichert, daß deine Liebesbewerbungen auf uns
+lächerlich wirken.<br />
+ <span class="fright">Max Mechenmal.</span><br />
+</p>
+
+<p class="clear">
+Als Mechenmal den Brief in den Postkasten gesteckt hatte,
+wurde er unruhig. Er fürchtete, unvorsichtig gehandelt zu
+haben.</p>
+
+<p>
+Kohn kam sofort zurück. Er lief zu Ilka Leipke. Zeigte den
+Brief. Fragte heulend, ob sie die Nacht mit ihm vergessen
+habe. Sie sagte: »Ja.« Er jammerte. Er weinte unverständlich
+von Seele und Selbstmord. Ilka Leipke wies ihn hinaus. Seine
+Schwachheit war ihr lästig; sie hatte schon als Kind nicht
+mit ansehen können, wenn jemand weinte.
+</p>
+
+<p>
+Aber sie ärgerte sich über Mechenmal. Sie fing an, ihn
+wieder mit Kohn zu necken. Behauptete, Kohn sei häufig ihr
+Gast; und sie finde ihn immer noch nett. Mechenmal hielt
+ihre Erzählungen für wahr. Er haßte den Kohn jetzt.
+</p>
+
+<p>
+Er überlegte, wie er den Buckligen beseitigen könne, ohne
+daß er als der Beseitiger hervortrete. Nach nicht viel Zeit
+hatte er wohl das Rezept gefunden. An einem Sonntag starb
+Kohn. Plötzlich, aber ohne auffallende Nebenumstände. Sein
+Leichnam wurde anstandslos für die Beerdigung freigegeben.
+In der Zeitschrift »Das andere A« widmete Theo Tontod dem
+Dichter einen kürzeren Nachruf. Und der Klub Clou schickte
+einen Kranz. Ilka Leipke ließ sich nicht nehmen, die Leiche
+vor der Bestattung noch einmal zu betrachten. Der Sarg wurde
+bereitwillig geöffnet. In ihm lag Kohn infolge des Buckels
+etwas schief. Die Gesichtszüge waren fratzenhaft gezerrt.
+Die Hände waren geballte Klumpen. An der Nase klebte
+geronnenes Blut, hing über den geöffneten Mund. Ilka Leipke
+überwand den Ekel. Sie ließ Benzin kommen, nahm ein seidenes
+Tüchlein aus der zierlichen Handtasche, tauchte es in die
+Benzinflasche. Säuberte mit dem Tüchlein die tote Nase. Dann
+ging sie hinweg. Beruhigt und etwas weinend. Zufrieden mit
+ihrer Güte.
+</p>
+
+<p>
+Als Mechenmal von dem Tod Kohns hörte, wurde er sehr
+ängstlich. Er konnte sich in der Stube nicht ertragen. Und
+ging eiligst aus dem Haus, nicht ohne vorher eine Zigarre in
+Brand gesteckt zu haben. Kirchenglocken klangen von dem
+sonnigen Himmel. Mechenmal war kalt und bleich. Er dachte
+immerzu: Wenn es nur nicht herauskommt. Oder er überlegte,
+wohin er fliehen könne. Er dachte an Gerichtsverhandlung, an
+Verteidiger, an Zuchthaus, Ketten, Kassiber, Henker. Daß er
+als letzte Gnade erbitten würde, noch einmal mit Ilka Leipke
+schlafen zu dürfen. Er lief durch die Straßen, als suche er
+einen einzuholen. Wenn er daran dachte, daß er nicht
+auffallen dürfe, ging er plötzlich zu langsam. Ihm schien,
+als beobachteten ihn alle Leute.
+</p>
+
+<p>
+In einem Garten rangen zwei etwa fünfzehnjährige Mädchen.
+Als sie Mechenmal sahen, setzten sie sich flink auf eine
+Bank. So ließen sie ihn näher kommen. Als er dicht genug
+war, lachten sie ihn an; eine zappelte mit den Beinen. Er
+eilte vorüber. Da schrie eine hinter ihm her: »Sieh doch,
+wie rasch der Mann geht.« Und die andere schrie, ebenso
+ratlos: »Na ja. Er raucht.« Sie sahen ihm noch nach. Dann
+rangen sie wieder.
+</p>
+
+<p>
+Mechenmal beruhigte sich allmählich. Er dachte: Man kann mir
+nichts beweisen. Ich leugne alles. Hoho! Wer kann mir etwas
+beweisen... Selbst wenn sie überhaupt etwas merken! – Er
+warf die Zigarre weg. Er fühlte sich sicherer. Er pfiff vor
+sich hin bei dem Gedanken, daß Kohn sich nicht mehr rühren
+könne. Daß er, Max Mechenmal, die Schwierigkeit Kohn so
+gründlich überwunden habe. Er dachte daran, daß er das Leben
+richtig anpacke. Daß ihm alles glücke. Er hatte gewaltiges
+Zutrauen zu sich. Er dachte: Nur keine Sentimentalitäten. Um
+anständig leben zu können, muß man ein Schuft sein.
+</p>
+
+<p>
+Er ging ganz lustig nach Hause.
+</p>
+
+</div>
+
+</body>
+</html>