From eaf31909c6b133e23cb7ed2f71fb55d37ef87372 Mon Sep 17 00:00:00 2001 From: Patrick Goltzsch Date: Fri, 9 Sep 2022 22:46:23 +0200 Subject: Repository mit erster Version --- .../01-der-selbstmord-des-zoeglings-mueller.xhtml | 296 +++++++++++++++++++++ 1 file changed, 296 insertions(+) create mode 100644 OEBPS/Text/02-geschichten/01-der-selbstmord-des-zoeglings-mueller.xhtml (limited to 'OEBPS/Text/02-geschichten/01-der-selbstmord-des-zoeglings-mueller.xhtml') diff --git a/OEBPS/Text/02-geschichten/01-der-selbstmord-des-zoeglings-mueller.xhtml b/OEBPS/Text/02-geschichten/01-der-selbstmord-des-zoeglings-mueller.xhtml new file mode 100644 index 0000000..cd74214 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/02-geschichten/01-der-selbstmord-des-zoeglings-mueller.xhtml @@ -0,0 +1,296 @@ + + + + + + + + Der Selbstmord des Zöglings Müller + + + +
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Der Selbstmord des Zöglings Müller

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+Ein Herr Ludwig Lenzlicht war Erzieher und Hauslehrer in +einer Anstalt für psychopathische Kinder. Er wurde immer +»Herr Kandidat« gerufen. Er war bartlos wie ein +Schauspieler, auch sprach er so. Meist trug er eine strenge +scharfe Maske auf dem Gesicht. +

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+Dieser Herr Lenzlicht fand zwei Tage nach der Beerdigung des +Zöglings Martin Müller (der hatte sich vorher mit den +Strümpfen der Erzieherin Nora Neumann an dem Fensterriegel +einer Bodenluke erhängt) in einem dunklen Winkel seines +Pultes ein Schreibheft. Er nahm es heraus. Und sah es an. +Auf dem Etikett war zu lesen: Dieses Werk widmet Martin +Müller den neuen Primitiven. Auf der ersten Seite war zu +lesen: Lieber Lenzlicht, Sie sind der einzige von den +Imbezillen der Anstalt, dem ich etwas Verständnis für die +Betrachtungen zutraue, die ich hier niedergeschrieben habe. +Doch daß auch Sie an meiner Persönlichkeit, ohne deren +Kulturkraft zu fühlen, wie an einem leeren Gesicht +vorbeigerannt sind, armer Blinder, wird Ihnen die Lektüre +beweisen. Vielleicht werden Sie halbhell. (Dann wären Sie +ein Glücklicher zu nennen.) Ich werde mich jetzt in der +Dachluke zerstören, ein Einsamer in der Erkenntnis. Mein +Werk wird dauern. Martin Müller. +

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+Herr Lenzlicht wunderte sich, als er die Sätze las. Nachher +dachte er über Größenvorstellungen bei Knaben. Er war nicht +lustig und nicht traurig, aber er sah finster aus. Das +Denken war ihm keine Leidenschaft, deshalb las er bald +weiter. +

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+Auf den nächsten Seiten waren einige Abhandlungen über den +Wert der Kunst geschrieben, über ihre Zukunft, über die +Wechselwirkung der einzelnen Künste, über die Architektur +des literarischen Stils, über die neuen Primitiven, die, von +Müller ausgehend, eine siegessichere Revolution in dem +Kunstleben herbeiführen würden. Die Abhandlungen füllten das +Heft fast. Herr Lenzlicht las sie ohne regere Anteilnahme, +oft überblätterte er Seiten. +

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+Der letzte Aufsatz des Heftes schien ihn mehr zu +interessieren. Die Augen waren weit, sie klammerten sich an +die Schriftzeichen. Auch hielt er das Papier wie ein +Kurzsichtiger; und mit beiden Händen. Manchmal sprach er +etwas Undeutliches. Oder er lachte, ohne es zu wissen. Oder +er lachte, wie einer Donnerwetter sagt. Oder er ließ die +Zunge aus dem Mund hängen. In dem Heft war zu lesen: +

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+Ich sitze an dem Arbeitstisch und träume, was dem guten +Lenzlicht bedenklich erscheinen würde: Die Jungen dürfen +nicht träumen. Und dem Lenzlicht ist schon aufgefallen, daß +die Haut um meine Augen wie Asche geworden ist. Er sagt +häufig mit sonderbarer Betonung: ob ich denn schlecht +schlafe, ich sähe so komisch aus. Einmal wurde ich +ärgerlich, ich sagte: »Sie auch, Herr Kandidat.« Verlegen +lächelnd schlug er mich blutig. +

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+Ich mußte das Schreiben unterbrechen, weil Fräulein Neumann +hineinkam. Sie hat heute bunte Beine mit Lackschuhen, das +reizt mich. Ich hatte mir zwar vorgenommen, sie nicht mehr +zu beachten... Sie hat sich neulich so prüde gezeigt... Sie +war nachmittags in die Stadt gefahren. Sie kam spät zurück. +Ich begegnete ihr auf der Treppe. Sie riß sich aber los. Und +sagte erregt: »Bett ist Bett.« Und ging in ihre Stube. In +den folgenden Tagen sah ich sie nicht. Der Hausdiener +Hermann sagte, sie müsse das Zimmer hüten. Ich fragte, +warum. – Er sagte, sie habe sich verlobt. Er schmunzelte. +

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+Mir sind die erotischen Unterhaltungen allmählich ein Greuel +geworden. Immer versuche ich, frei zu werden. Es gelingt +selten. Ich weiß, daß ein begreifendes Weib mich erlösen +kann. Hier gibt es das nicht: Fräulein Neumann ist ein +albernes junges Ding von achtundzwanzig Jahren. Die Köchin +ist ein unreifes Schwein. Das Stubenmädchen Minna ist +hochmütig, sie ist ohne Grund unzugänglich. In Betracht käme +vielleicht die Leiterin, Doktor Mondmilch; aber wenn ich +einmal versuche, ihr meine Leiden und Schönheiten in ernster +Unterhaltung verständlich zu machen, sehnsüchtig auf ihre +Augen schaue, mich ihr gebe... ist sie fremd, macht Notizen, +hat geheime Unterredungen mit Lenzlicht, verordnet mir +Beruhigungsmittel. Sie ist sehr brutal, ich glaube zuweilen: +sie liebt mich heimlich. Sie scheint unglücklich zu sein, +ich habe sie gern. – +

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+Gestern konnte ich nicht weiterschreiben, weil der fette +Idiot Backberg mich zu Tisch rief. Ich sitze neben der +Russin Recha. Die kneift mich gern in die Beine; sie sagt, +ich sei zu dick. Den langen Lehkind küßt sie, weil er wie +ein Skelett aussieht. Überhaupt vertrage ich mich mit den +Viechern, die man hier zusammengebracht hat, nicht. Täglich +ist Ärger. Besonders der überaus kleine siebenjährige Max +Mechenmal – übrigens ein außergewöhnlich unbedeutender +Mensch – macht mir viel zu schaffen. Er mag mich nicht, weil +er meine Überlegenheit fühlt; er versucht auf jede Weise, +mich unmöglich zu machen. Er ist hinterlistig und feig. +Niemand findet ihn nett. Er tut nichts lieber, als uns +aufeinander zu hetzen, arge Klatschereien zu verbreiten, +möglichst viel Schaden anzurichten. Er versteht, sich in dem +Hintergrund zu halten, in dem geeigneten Augenblick zu +verschwinden. – +

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+Einmal schrieb ich, nichts Böses vermutend, in unserem +geräumigen Bade- und Klosettraum (hier bin ich vor +Überraschungen sicher) eine längere Arbeit über den +»Schwindel von dem Genie«. Ich führte etwa aus: Genie ist +ein Titel, keine Eigenschaft. Das wird nicht bedacht, +deshalb ist die große Verwirrung. Titel ist Zufallssache, +zumeist verdächtig. Wer Genie genannt wird, ist darum nicht +ein genialer Mensch. Geniale Menschen werden diesen Titel, +der von der Menge verliehen wird, regelmäßig nicht erlangen. +Die genialsten Menschen aller Zeiten sind gewiß in +Tollhäusern und Gefängnissen geborsten. Wer von tausend +Alltagsleuten verstanden wird, geliebt wird... gilt mir +nicht. – +

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+Da wurde ich durch das langsame, seelenvolle Geschrei des +blinden kleinen Kohn, mit dem ich trotz meiner +antisemitischen Grundsätze innig befreundet bin, erschreckt. +Ich sprang auf, eilte hinaus. Ich sah, wie Max Mechenmal hin +und her lief, den kleinen Kohn in die Beine zwickte oder +ähnliche Bosheiten tat; dabei rief er: »Fange mich.« – Der +kleine Kohn war bleicher. In seiner Hilflosigkeit. Er hielt +den Rücken gegen eine Wand. Die dünnen leidenden Hände +tasteten in der Luft... Ich habe niemals so viel +konzentrierten Schmerz gesehen, wie auf den verstorbenen +Augen des kleinen Kohn lag. Ich eilte, ohne mir Zeit zu +lassen, die Kleider in Ordnung zu bringen, auf Mechenmal zu, +um ihn für die rohe Gesinnung zu züchtigen. Meine Hose wurde +durch einen Nagel, der aus der Wand ragte, beschädigt. +Mechenmal benutzte die Verzögerung, schlüpfte an mir vorbei, +lief in den Klosettraum, den er hinter sich verriegelte. Ich +schlug an die Tür. Er sagte: »Besetzt!« Ich war sehr +ärgerlich. Mir fiel zudem ein, daß ich die Papiere, auf +denen die Arbeit über den »Schwindel von dem Genie« +geschrieben war, in der Eile vergessen hatte mitzunehmen. +Ich rief, er möge sie herausgeben. Er antwortete nicht. +Später hörte ich, wie er gewaltig kicherte. Und ich wußte: +Das Manuskript, das ich der neuen Zeitschrift »Das andere A« +einreichen wollte, werde ich nicht wiedersehen. Traurig ging +ich fort – +

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+Ach, der kleine Kohn ist nun leider tot. Er ist an seinen +Gespenstern gestorben, er hat mir das oft vorausgesagt. +Seine Gespenster hat er gesehen, der blinde kleine Kohn. +Manchmal, wenn heller Tag war. Dann fand man ihn zitternd +und weiß in einem Winkel. Die Beine hatte er so weit +angezogen, daß die Oberschenkel gegen die eingesunkene Brust +gepreßt waren. Zwischen den Knien lag der Kopf. Die winzigen +erschrockenen Fingerchen krampften sich um die Schuhspitzen. +Wenn man ihn berührte, schrie es aus ihm. Der Schrei war so +gellend grauenhaft, daß man unwillkürlich losließ, als hätte +man einen Stoß erhalten. Sooft das geschah, war man ratlos +wie bei dem ersten Mal. Doktor Mondmilch wurde gerufen. Sie +streichelte ihn ganz wenig. Die Starrheit löste sich in +Schluchzen auf. Er bekam Tropfen, wurde in sein Bett gelegt, +schlief schlimm. Mechenmal rief, daß es bis auf die Straße +schallte: »Kohn ist wieder verrückt.« +

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+In der letzten Zeit hatten sich die Anfälle gehäuft, +besonders nachts. Die Ohnmachten waren tiefer, die +nachfolgende Ermattung trostloser. Als an einem Abend Doktor +Mondmilch, einer Einladung des Tier- und Nervenarztes Bruno +Bibelbauer folgend, für längere Zeit weggegangen war, trat +die Katastrophe ein. Der kleine Kohn lag bald tot in dem +Bett. Mechenmal sagte: »Jetzt stört er einen wenigstens +nicht mehr, wenn man schlafen will.« Der fette Idiot +Backberg freute sich auf die Beerdigung. Die Köchin heulte; +und das Stubenmädchen Minna. Nora Neumann hatte sich in ein +Zimmer eingeschlossen; ich glaube, sie dichtete. Die Russin +Recha war verschwunden; nachher fand Lenzlicht sie in dem +Sterbezimmer. Sie saß auf dem Bett, hielt die eine Hand +Kohns verzückt an ihr Herz, mit der rechten Hand zog sie das +Lid seines rechten Auges hin und her. Ich hörte, wie sie +weinte und sagte: das sei so interessant. Lenzlicht +schimpfte wehmütig. +

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+Noch jetzt sagt Mechenmal, wenn er von dem kleinen Kohn +spricht: »Der war ja verrückt.« Ich bestreite das. Jeder +nicht stupide Mensch hat dann und wann Erlebnisse, die mit +den althergebrachten, allen zugänglichen Gesichten nicht in +Einklang zu bringen sind. Manchmal ist man feinfühliger als +sonst und als die anderen. Wenn man allein ist, die +bekannten Dinge ruhiger sind... vielleicht, wenn Abend ist, +bei einer halbhellen Lampe... in der Dämmerstunde in +einsamen Räumen... in Nächten, die keinen Schlaf tragen. Da +heben sich aus der Stille Geräusche, die ich niemals gehört +habe, die ich nicht erklären kann. Ich schrecke auf – +fürchte mich – will in die heiße Helligkeit zu vielen +lustigen Menschen – will nicht hören... höre feiner. Die +Stille reißt auseinander. Alles klafft... und klingt. +Bewegung kommt in die Gegenstände. Bösartige Schatten +ängstigen. Alle Formen verlieren ihre Gewohnheit. Ich +warte... auf ein entsetzliches Wunder, auf Unkörper. +

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+Ich bin ein entschiedener Feind von Geistern und Gespenstern +und ähnlichen Dingen. Ich finde diese Erscheinungen wenig +sinnig und ohne Witz, ich will nichts mit ihnen zu tun +haben. Und konnte doch nicht hindern, daß mir erst kürzlich +gegen die Mittagstunde eine antike Frauengestalt mit herben +Gesichtszügen erschienen ist. Ich war davon unangenehm +berührt. Um so mehr, als mir später einfiel, daß das +möglicherweise meine selige Mama gewesen ist. +

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+Es ist nicht weniger unvernünftig, die Geister zu leugnen, +als unvernünftig ist, Wunder anzuerkennen. Wenn Gespenster +alltäglich wären, würden die Philosophen ein Naturgesetz für +sie konstruieren, damit man sie daraus herleiten könnte. Und +ohne Aufregung übersehen könnte. +

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+Ich werde mich weiteren Grübeleien über diese verwirrten +Dinge entziehen, indem ich mir das Leben nehme. Man wird +empört sein. Mir die Berechtigung absprechen, über mich zu +verfügen. Man wird mich für überspannt erklären. Und das +medizinisch begründen. Um sich zu beruhigen; denn wenn jeder +so dächte, gäbe es bald ein allgemeines Protestieren gegen +das Dasein. Das Leben würde boykottiert. Das darf nicht +geschehen. Wenn man fragt: warum nicht? – wird man ein +Sophist gescholten. Die Leute sterben nicht gern, das heißt +Lebensenergie. Sie helfen sich mit Göttern und heiterer +Weltanschauung. Wenn einem der Jammer doch zu grell wird, +fährt er in ein besseres Irrenheim. +

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+Zu dem Entschluß, mich von mir zu befreien, bin ich vor +langer Zeit gekommen. Der wichtigste Beweggrund war: ich bin +mir ernsthaft unsympathisch. Ich kann zufällig nicht +aushalten, über ein ganzes Leben bei mir zu bleiben. Ich +kenne mich zu genau. Ich habe häufig geweint, daß ich von +mir nicht loskommen kann. Ich empfinde mich als eine +häßliche Last. Ich möchte in einem mutigen, ehrlichen, +reinen Jungen sein. Mein Mensch ist unwahr, unästhetisch, +plump. Ich weiß, daß der Tod mich gründlich zugrunde richten +wird; der Gedanke ist für mich Ursache zu lebhafter +Verzweiflung; ich kann ihn nicht lange denken. Ich verliere +die Fähigkeit zu atmen. Habe das Gefühl, als presse ein +Ungeheures von innen. Die Gehirntätigkeit scheint +ausgeschaltet. Die Hände ballen sich in tierischer Angst. +Ich weine trocken. Die Institution des Todes ist wohl für +manche Menschen nicht angebracht; man hätte Mittel und Wege +finden sollen, den Tod zu umgehen. Aber – das Sterben ist +eine Bagatelle. Nur darf nicht an den Tod denken, wer sein +Sterben vorbereitet. +

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