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+++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/05_der_freund.html
@@ -0,0 +1,94 @@
+<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?>
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+
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+ <title>Der Freund</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Der Freund</h4>
+
+<p>
+Ich liebe die toten Tage. Die haben kein Leuchten, sie sind
+ganz sehnsüchtig. Die Häuser stehen wie Kulissen vor der
+grauen Wolke, die Menschen gehen wie in dem Lichtspiel: wenn
+der Abend wird, nicht anders als sie in der Frühe gingen.
+Alle Dinge sind wuchtiger. Und meine Kammer sieht aus, wie
+wenn eben einer darin gestorben wäre.</p>
+
+<p>
+So oft diese Tage sind, wächst in mir unwillkürlich eine
+sinnlose Lust an der Arbeit. Ich tue die alltäglichen
+Verrichtungen, als wäre Gottesdienst, was ich tue. Und ich
+verliere mich dabei. Fast wie die Träumenden sich verloren
+haben. Aber einmal merke ich, daß ich reglos geworden bin
+und nach innen starre.</p>
+
+<p>
+Ich werde sehr wach davon und ich kann mich nicht mehr
+hingeben. Ich gehe zu dem Fenster, da sind wunderliche
+Gedanken. Die waren sonst nur in Nächten.</p>
+
+<p>
+Ich fühle mich fremd bei allen Dingen. Sie drängen auf mich
+ein, als kennten sie mich nicht: die Straße und die Menschen
+und die Türen in den Häusern und die tausend Bewegungen. Wo
+ich hinschaue, werde ich verwirrt.</p>
+
+<p>
+Mein kleiner Tod quält mich, es war doch schon viel Sterben
+und größeres. Und daß ich einsam bin. Und daß überall ein
+Unbegreifliches droht. Und daß ich mich nicht zurechtfinde.
+Und alle die übrigen Traurigkeiten, für die kein Arzt ist,
+und die man nicht mitteilen soll. Jeder muß ihnen aliein
+unterliegen und auf seine Weise. In der Rede sind sie
+lächerlich, aber mancher geht an ihnen zugrunde. Ich habe
+Grauen, daß ich so fremd mit mir bin und so ohnmächtig. Bis
+Erinnerungen kommen. Ungerufen. Aber lieb. Irgendwoher. Sie
+betäuben mich.</p>
+
+<p>
+Ich lächle, wenn ich das Weinen des Kindes
+finde oder den Tod der Mutter, der gräßlich war und nicht zu
+sagen ist, oder die anderen blutigen Köstlichkeiten. Ich
+lächle, wenn die Augen meines Freundes plötzlich leben
+werden und in den seidigen Schatten sind, daß sie wie aus
+Schleiern glänzen und ihr Geheimstes preisgeben. Niemand hat
+es mir gesagt, und ihr werdet mich einen Narren nennen ..
+aber ich weiß, daß sein Tod schon immer in den Augen gewesen
+ist wie der eines andern in den Lungen oder in dem
+Rückenmark &hellip;</p>
+
+<p>
+*</p>
+
+<p>
+Seine Augen waren elend und vergangen und heillos
+schmerzlich, daß die Leute lachten, wenn er zu ihnen sah. Er
+schämte sich seiner Augen, als verrieten sie von sündsamen
+Abenteuern und verbarg sie viel hinter den vergilbten
+Lidern. Aber er fühlte, wie man hinstarrte, wenn er eintrat,
+wo er unerwartet kam. Oder sich setzte, wo er nicht
+selbstverständlich war. Er schaute übertrieben wie ein
+Suchender. Hüstelte und hielt die Hand vor den Mund, zog die
+Backen nach innen oder wölbte die eine mit der Zunge. War
+verlegen. Unglücklich. Wäre gern allein gewesen .. in dem
+Dunkel.</p>
+
+<p>
+Kinder neigten den Kopf, wenn sein Blick auf ihre
+Augen kam. Und wurden rot. Und grinsten scheu und dumm.
+Frauen kicherten, sie schauten wie harmlos hin und
+klatschten einander auf die Schenkel oder auf die nackten
+Schultern und küßten ihre verwüsteten Männer. In der Nacht
+lagen sie wach und sannen sich heiß. Aber die jungen Mädchen
+wichen ihm aus.</p>
+
+<p class="source">Der Sturm, Nr. 85, 11 November 1911, S.678</p>
+
+</body>
+</html>