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diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/00.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/00.html new file mode 100644 index 0000000..360c002 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/00.html @@ -0,0 +1,22 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Ergänzungen Prosa</title> +</head> + +<body> +<h3 class="section center">Ergänzungen Prosa</h3> + +<p> +Der Abschnitt versammelt Prosa-Stücke, bei denen die +Textfassung in der Zeitschrift deutlich von der in den +gesamnelten Werken abweicht. Die Abweichungen betreffen vor +allem Auslassungen oder abweichende Formulierungen.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/01_mieze_maier.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/01_mieze_maier.html new file mode 100644 index 0000000..dcf2800 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/01_mieze_maier.html @@ -0,0 +1,121 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Mieze Maier</title> +</head> +<body> + +<h4>Mieze Maier</h4> + +<p> +Ich besuche noch das Gymnasium, doch interessiere ich mich +mehr für Theater und Literatur. Ich lese Wedekind, Rilke, +Scharf und andere. Auch Goethe, Schiller und George mag ich +nicht.</p> + +<p> +Meine Freundin heißt Mieze Maier. Sie bewohnt mit +ihrer Gesellschafterin in der Johann Georg-Straße eine +elegante Vierzimmerwohnung, denn ihr Vater, Markus Maier, +hat ihr viel Geld hinterlassen. Ihre Mutter ist vor zehn +Jahren den Folgen einer Unterleibsoperation erlegen. Ihre +Mutter soll schön gewesen sein.</p> + +<p> +Mieze Mai er ist erst kürzlich sechzehn Jahre alt geworden. +Ihr Geburtstag wurde sehr gefeiert. Viele hübsche und +lasterhafte Mädchen und eine Anzahl junger Männer waren +geladen. Man war sehr frivol. Man flüsterte einander ins +Ohr, daß Mieze jetzt sechzehn Jahre alt sei. Dabei lächelte +man…</p> + +<p> +Mieze Maier ist schön. Auch klug. Auch talentiert. Sehr +kokett. Raffiniert anmutig. Zeitweise unglücklich. Versteht +es, viele Männer krank zu machen, daß sie Trauer in den +Augen tragein, wenn sie wach sind, und ein Lächeln um die +Lippen haben, wenn sie schlafen. Und die Hände sind dicht an +dem Körper…</p> + +<p> +Stets hat sie ihre Favoriten gehabt. Die sind wie Puppen, +mit denen Sie spielt, bis sie ihrer eines Tages überdrüssig +wird und sie achtlos beiseite wirft. Ich kenne sieben. Sechs +Wochen hat keiner in ihrer Gunst überdauert. Ich bin der +Achte.</p> + +<p> +Ich weiß – auch meine Tage sind gezählt. Auch ich +werde grausam abgetan werden von diesem sechzehnjährige Ding +– halb Kind nodh. Wenn idh daran denke, schäme ich mich +schon jetzt und gräme mich. Und doch –</p> + +<p> +Wir haben uns nicht gesagt, daß wir uns lieb haben, sind +aber sehr zärtlich zueinander. Dies kam so:</p> + +<p> +Wir trafen uns einmal. Das war Zufall. Der Tag war grau vor +Müdigkeit. Dämmerung lag über den Dingen. Von wenigen +Häusern fiel gelbes und rotes Licht.</p> + +<p> +Wir gingen zusammen. Ihre Augen hielten Glanz. Manchmal +deckte sie die halben Lider darüber. Und sie fing die Blicke +von Männern in ihre Augen. Das muß eine feine Wollust +sein.</p> + +<p> +Wir sprachen nicht, nur einmal sagte sie, daß ich rote +Lippen habe. Und einmal sagte ich, daß sie oberflächlich +sei, denn ich wollte sie ärgern.</p> + +<p> +Am nächsten Tage trafen wir uns wieder. Das war kein Zufall. +Wir gingen über Wiesen. Sie legte die Hand auf meine +Schulter und war gut zu mir. Da dachte ich an den Fußtritt, +den ich einmal von ihr erhalten werde.</p> + +<p> +… Ich hatte ihr gestern wehe getan, weil ich sie +oberflächlidh nannte. Denn in ihrer Stimme klang etwas wie +Weinen, als sie sagte:</p> + +<p> +Ich bin wirklich nicht sb oberflächlich, wie Sie glauben, +Olaf. Ich habe zweimal unglücklich geliebt und einmal +glücklich entbunden.</p> + +<p> +Mir schien, als ob die Hand auf meiner Schulter schwerer +würde …</p> + +<p> +Wir schritten langsam. Wir sahen keine Menschen. +Wind kam über die Wiesen. Am Himmel waren überall Wolken, +die drohten Regen.</p> + +<p> +Sie sah mich an. Ihr Blick war nackt und sagte von +Leidenschaft.</p> + +<p> +Das war zu niedlich, wie ich sie da plötzlich packte und mit +mir ins Gras warf und schon deshalb im Rausch ihr +zuflüsterte Du, meine – Und wie sie schluchzte: Olaf +– – –—</p> + +<p> +Seither schreibe ich in der Schule schlechte Arbeiten. Ich +werde wohl nicht versetzt werden.</p> + +<p class="source"> +Der Sturm, Nr. 28, 8. September 1910, S. 224</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/02_kuno_kohn.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/02_kuno_kohn.html new file mode 100644 index 0000000..96b2283 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/02_kuno_kohn.html @@ -0,0 +1,73 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Kuno Kohn</title> +</head> +<body> + +<h4>Kuno Kohn</h4> + +<p> +Seit einem halben Jahr wohne ich in der Nürnbergerstraße. +Von den Hausbewohnern hat noch niemand etwas gemerkt. Ich +bin vorsichtig.</p> + +<p> +Das weiße Kostüm bringt mir Glück, ich +verdiene genug. Ich habe angefangen zu sparen, denn ich +fühle, daß die Kräfte nachlassen. Häufig bin idh matt, +manchmal habe ich Schmerzen. Auch werde ich dick und alt. +Ich schminke mich nicht gern – –</p> + +<p> +Ich stehe nicht mehr unter Kontrolle. Kuno Kohn hat mich +frei gemacht, ich bin ihm dankbar.</p> + +<p> +Kuno Kohn ist häßlich.</p> + +<p> +Kuno Kohn hat einmal gesagt, daß er Knochenfraß habe.</p> + +<p> +Sonderbar ist die erste Begegnung gewesen:</p> + +<p> +Es regnete. Die Straßen waren naß und schmutzig. Ich stand +an einer Laterne in der Kaiserallee und blickte auf die +angespritzten Kleider. Wenn Wind kam, fröstelte ich. Die +Füße schimerzten von den Schuhen.</p> + +<p> +Selten ging wer. Meist auf der anderen Seite. Mit +aufgeschlagenem Mantelkragen. Den Hut über die Stirn… +Niemand beachtete mich, ich stand traurig.</p> + +<p> +Der Kies knirschte hinter mir. Hart und plötzlich, daß ich +aufschreckte. Ein Polizist kam, die Hände am Rücken. Er ging +langsam. Er sah mich argwöhnisch an, stolz auf sein Recht. +Er fühlte sich Herr! Er schritt weiter. Ich lachte höhnend, +er schaute sich nicht um. Der Polizist verachtete mich…</p> + +<p> +Ich gähnte, es war spät geworden. Ich ging bis zur +Kantstraße. Da kam einer, der war klein und verwachsen. Er +blieb stehen, als er mich sah.</p> + +<p> +Er versteckte einen Teil des Gesichtes hinter dürren +Fingern. Und rieb am rechten Lid wie wer, der sich schämt. +Und hüstelte… Ich trat dicht zu ihm, daß er mich fühlte. +Er sagte: Na – Ich sagte: Komm Kleiner. Er sagte: +Eigentlich bin ich homosexuell. Und nahm meine Hand.</p> + +<p class="source">Der Sturm, Nr. 32, 6 October 1910, S. 256</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/03_mabel_meier.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/03_mabel_meier.html new file mode 100644 index 0000000..154b5be --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/03_mabel_meier.html @@ -0,0 +1,67 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Mabel Meier</title> +</head> +<body> + +<h4>Mabel Meier</h4> + +<p> +Es war spät. Ich ging den Kurfürstendamm entlang. In +Abständen sah ich Leute, häufig hörte ich die Geräusche von +Fahrzeugen. An der Fasanenstraße standen zwei; die … +schämten sich, als ich nahe war.</p> + +<p> +Mädchen kamen, die sich verspätet hatten. Wenige, die Geld +verdienen wollten. Ich sah die lange Dirne, die sich jeden +Abend in der Joachimsthalerstraße herumtreibt. Ich erkannte +sie an dem Unterrock. Sie lachte zu mir herüber –</p> + +<p> +Ich ging langsam. Ein Kriminalbeamter beobachtete mich. Ich +ging weiter. Vor mir lief eine Frau, die blieb oft stehen +und heulte.</p> + +<p> +Ich dachte nicht nach. Ich schaute zu den Sternen und fand +keinen Wunsch. Ich merkte, daß ich ohne Beziehung zu mir +bin. Ich betrachtete mich gleichgültig wie einen fremden +Gegenstand. … Ich schüttelte den Kopf, daß der alte Mann +so spät allein am Kurfürstendamm ging… Und zu den Sternen +murmelte… Und so sonderbar war.</p> + +<p> +Ich begegnete einer Dame, die sagte: Au – Ich sagte: Darf +ich Sie begleiten. Die Dame sagte: Bitte. – Es war ziemlich +dunkel. Wir gingen miteinander; die Diame erzählte: Sie +heiße Meier, der Rufname sei aber Mabel. Sie wohne am +Kurfürstendamm. Bei Verwandten, die hätten eine +Portierstelle. Im übrigen sei sie Choristin am +Metropoltheater.</p> + +<p> +Die Dame war nicht schön und nicht jung, aber sie sah +zugänglich aus. Ich hatte keinen Grund schüchtern zu sein. –</p> + +<p> +Vor dem Haus, in dem die Dame wohnte, blieben wir stehen.</p> + +<p> +Ich machte den Vorschlag, noch ein Hotel aufzusuchen. Die +Dame schien nicht abgeneigt zu sein, sie sagte: Nee! – Ich +sagte: Wieso? – Die Dame sagte: Sie habe Trauer. – Ich +fragte, wer gestorben sei. – Sie sagte: Papa! – Ich sagte: +Sie wollen also nicht? – Ueber das Gesicht der Dame kam ein +Lächeln. Sie schaute träumerisch zu einer Laterne – – –</p> + +<p class="source">Der Sturm, Nr, 36, 3. November 1910, S. 287</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/04_siegfried_simon.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/04_siegfried_simon.html new file mode 100644 index 0000000..2ddbaf3 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/04_siegfried_simon.html @@ -0,0 +1,104 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Siegfried Simon</title> +</head> +<body> + +<h4>Siegfried Simon</h4> + +<p> +Neun Aerzte behaupten, dass ich an Wahnvorstellungen leide. +Ich füge mich</p> + +<p> +Seit neunundzwanzig Jahren bin ich in der Anstalt. Man ist +freundlich zu mir. Ich kann tun und lassen, was ich will. +Wenn es warm ist, gehe ich im Garten und horche, wie die +Stunden sterben Wenn es kalt ist, sitze ich am +Fenster und sinne in den Himmel. Oft schaue ich den Leuten +zu, wenn sie rufen oder arbeiten oder traurig sind. Ich +entbehre nicht das Leben. Ich bin zufrieden, wenn man mir +nichts tut und nichts von mir will. Ich beneide nicht die +Menschen.</p> + +<p> +Neunmal in jedem Jahr bringt meine bleiche Frau Blumen. Mein +Sohn Siegfried kommt niemals. Zuletzt habe ich ihn gesehen, +als ich begraben wurde. An meinem neunundvierzigsten +Geburtstag.</p> + +<p> +Ich lag in einem schmucklosen Holzsarg. Man fuhr mich auf +einem wagenartigen Gestell. Neben mir schritten neun +schwarzgekleidete Sargträger. Hinter mir der Pastor Leopold +Lehmann, an seiner Seite meine Frau Frieda und mein +neunzehnjähriger Sohn Siegfried. Wenige Verwandte folgten, +die waren stillvergnügt und unterhielten sich, wenn ich +recht gehört habe, von der Raupenplage im Tiergarten.</p> + +<p> +Die Sonne warf warmes Licht. Wind kam dann und wann. Er +krabbelte über den Kies und kitzelte die Frauen um Brüste +und Waden. Wir hielten vor dem aufgeschütteten Grab. Der +Sarg wurde hinuntergelassen, einige Formalitäten und Gebete +waren schnell erledigt. Darauf fing der Pastor Leopold +Lehmann an, auf Wunsch und auf Kosten meiner Frau, eine +Gedächtnisrede zu halten. Er sagte:</p> + +<p class="indent"> +Liebe Schwestern und Brüder! Wieder hat ein gütiges +Geschick uns ein teures Menschenleben geraubt. Trauernd +stehen wir am Grab des Dahingeschiedenen und gedenken seiner +in Wehmut.</p> + +<p> +Mein Sohn Siegfried biss sich auf die Lippen, Der Pastor +sagte:</p> + +<p class="indent"> +Die Erde, die den Körper ausgesondert hat, dass er kurze +Zeit ein beseeltes Eigenleben führe, hat ihn wieder +aufgenommen in den Mutterschoss. Ein edler Mensch ist +heimgegangen -</p> + +<p> +Mein Sohn Siegfried bekam einen Lachanfall. +Das Gesicht wurde rot und ernst. Er lachte, bis er +röchelte.</p> + +<p> +Meine Frau schrie.</p> + +<p> +Die Verwandten waren empört. Sie schämten sich für meinen +Sohn Siegfried. Einige Frauen weinten in echte +Spitzentücher.</p> + +<p> +Ich war still.</p> + +<p> +Der Pastor sagte:</p> + +<p class="indent"> +Wenn einer nicht weiss, wie er sich zu benehmen hat, soll er +nicht kommen, wenn einer beerdigt wird. Amen.</p> + +<p> +Und entfernte sich. Stolz. Gekränkt. Der Pastor. Leopold +Lehmann.</p> + +<p> +Mein Sohn Siegfried reinigte sich die Fingernägel.</p> + +<p class="source"> +Der Sturm, Nr. 51, 18. Februar 1911, S. 408</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/05_der_freund.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/05_der_freund.html new file mode 100644 index 0000000..85dfc6a --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/05_der_freund.html @@ -0,0 +1,94 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Der Freund</title> +</head> +<body> + +<h4>Der Freund</h4> + +<p> +Ich liebe die toten Tage. Die haben kein Leuchten, sie sind +ganz sehnsüchtig. Die Häuser stehen wie Kulissen vor der +grauen Wolke, die Menschen gehen wie in dem Lichtspiel: wenn +der Abend wird, nicht anders als sie in der Frühe gingen. +Alle Dinge sind wuchtiger. Und meine Kammer sieht aus, wie +wenn eben einer darin gestorben wäre.</p> + +<p> +So oft diese Tage sind, wächst in mir unwillkürlich eine +sinnlose Lust an der Arbeit. Ich tue die alltäglichen +Verrichtungen, als wäre Gottesdienst, was ich tue. Und ich +verliere mich dabei. Fast wie die Träumenden sich verloren +haben. Aber einmal merke ich, daß ich reglos geworden bin +und nach innen starre.</p> + +<p> +Ich werde sehr wach davon und ich kann mich nicht mehr +hingeben. Ich gehe zu dem Fenster, da sind wunderliche +Gedanken. Die waren sonst nur in Nächten.</p> + +<p> +Ich fühle mich fremd bei allen Dingen. Sie drängen auf mich +ein, als kennten sie mich nicht: die Straße und die Menschen +und die Türen in den Häusern und die tausend Bewegungen. Wo +ich hinschaue, werde ich verwirrt.</p> + +<p> +Mein kleiner Tod quält mich, es war doch schon viel Sterben +und größeres. Und daß ich einsam bin. Und daß überall ein +Unbegreifliches droht. Und daß ich mich nicht zurechtfinde. +Und alle die übrigen Traurigkeiten, für die kein Arzt ist, +und die man nicht mitteilen soll. Jeder muß ihnen aliein +unterliegen und auf seine Weise. In der Rede sind sie +lächerlich, aber mancher geht an ihnen zugrunde. Ich habe +Grauen, daß ich so fremd mit mir bin und so ohnmächtig. Bis +Erinnerungen kommen. Ungerufen. Aber lieb. Irgendwoher. Sie +betäuben mich.</p> + +<p> +Ich lächle, wenn ich das Weinen des Kindes +finde oder den Tod der Mutter, der gräßlich war und nicht zu +sagen ist, oder die anderen blutigen Köstlichkeiten. Ich +lächle, wenn die Augen meines Freundes plötzlich leben +werden und in den seidigen Schatten sind, daß sie wie aus +Schleiern glänzen und ihr Geheimstes preisgeben. Niemand hat +es mir gesagt, und ihr werdet mich einen Narren nennen .. +aber ich weiß, daß sein Tod schon immer in den Augen gewesen +ist wie der eines andern in den Lungen oder in dem +Rückenmark …</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Seine Augen waren elend und vergangen und heillos +schmerzlich, daß die Leute lachten, wenn er zu ihnen sah. Er +schämte sich seiner Augen, als verrieten sie von sündsamen +Abenteuern und verbarg sie viel hinter den vergilbten +Lidern. Aber er fühlte, wie man hinstarrte, wenn er eintrat, +wo er unerwartet kam. Oder sich setzte, wo er nicht +selbstverständlich war. Er schaute übertrieben wie ein +Suchender. Hüstelte und hielt die Hand vor den Mund, zog die +Backen nach innen oder wölbte die eine mit der Zunge. War +verlegen. Unglücklich. Wäre gern allein gewesen .. in dem +Dunkel.</p> + +<p> +Kinder neigten den Kopf, wenn sein Blick auf ihre +Augen kam. Und wurden rot. Und grinsten scheu und dumm. +Frauen kicherten, sie schauten wie harmlos hin und +klatschten einander auf die Schenkel oder auf die nackten +Schultern und küßten ihre verwüsteten Männer. In der Nacht +lagen sie wach und sannen sich heiß. Aber die jungen Mädchen +wichen ihm aus.</p> + +<p class="source">Der Sturm, Nr. 85, 11 November 1911, S.678</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/06_die_verse_des_alfred_lichtenstein.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/06_die_verse_des_alfred_lichtenstein.html new file mode 100644 index 0000000..681ac08 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/06_die_verse_des_alfred_lichtenstein.html @@ -0,0 +1,196 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Die Verse des Alfred Lichtenstein</title> +</head> +<body> + +<h4>Die Verse des Alfred Lichtenstein</h4> + +<p> +Die folgenden Gedichte können in drei Gruppen geteilt +werden. Eine vereinigt phantastische, halb spielerische +Gebilde: Der Traurige, Die Gummischuhe, Capriccio, Der +Lackschuh, Wüstes Schimpfen eines Wirtes. (Zuerst erschienen +in der Aktion, im Simplicissimus, im März, Pan und +anderswo.) Freude an reiner Artistik ist unverkennbar. Ein +Beispiel:</p> + +<h5>Der Athlet</h5> + +<p> +Einer ging in zerrissenen Hausschuhen<br /> +hin und her durch das kleine Zimmer,<br /> +das er bewohnte.<br /> +Er sann über die Geschehnisse,<br /> +von denen in dem Abendblatt berichtet war.<br /> +Und gähnte traurig,<br /> +Wie nur einer gähnt,<br /> +Der viel und Seltsames gelesen hat.<br /> +Und der Gedanke überkam ihn plötzlich –<br /> +Wie wohl den Furchtsamen die Gänsehaut<br /> +Und wie das Aufstoßen den Uebersättigten,<br /> +Wie Mutterwehen –<br /> +das große Gähnen sei vielleicht ein Zeichen,<br /> +ein Wink des Schicksals, sich zur Ruh zu legen…<br /> +Und der Gedanke ließ ihn nicht mehr los.<br /> +Und also fing er an, sich zu entkleiden…<br /> +</p> + +<p> +Als er ganz nackt war, hantelte er etwas. +</p> + +<p> +Im Hintergrund ist Demonstration von Weltanschauung. Der +Athlet … Bedeutet: Daß der Mann auch geistig seine +Notdurft verrichten muß, ist entsetzlich.</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Das früheste Gedicht einer zweiten Gruppe ist:</p> + +<h5>Die Dämmerung*)</h5> + +<p> +Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.<br /> +Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.<br /> +Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,<br /> +als wäre ihm die Schminke ausgegangen.</p> + +<p> +Auf lange Krücken schief herabgebückt<br /> +(und schwatzend) kriechen auf dem Feld zwei Lahme.<br /> +Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.<br /> +Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.</p> + +<p> +An einem Fenster klebt ein fetter Mann.<br /> +Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.<br /> +Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.<br /> +Ein Kinderwagen schreit. Und Hunde fluchen.</p> + +<p> +Absicht ist, die Unterschiede der Zeit und des Raumes +zugunsten der Idee zu beseitigen. Das Gedicht will die +Einwirkung der Dämmerung auf die Landschaft darstellen. In +diesem Fall ist die Einheit der Zeit bis zu einem gewissen +Grade notwendig. Die Einheit des Raumes ist nicht +erforderlich, deshalb nicht beachtet. In den zwölf Zeilen +ist die Dämmerung am Teich, am Baum, am Feld, am Fenster, +irgendwo … In ihrer Einwirkung auf die Erscheinung +eines Jungen, eines Windes, eines Himmels, zweier Lahmer, +eines Dichters, eines Pferdes, einer Dame, eines Mannes, +eines Jünglings, eines Weibes, eines Clowns, eines +Kinderwagens, einiger Hunde, bildhaft dargestellt. (Der +Ausdruck ist schlecht, aber ich finde keinen besseren.)</p> + +<p> +Der Urheber des Gedichtes will nicht eine als real denkbare +Landschaft geben. Vorzug der Dichtkunst vor der Malkunst +ist, daß sie »ideeliche« Bilder hat. Das bedeutet – +angewandt auf die Dämmerung: Der dicke Knabe, der den großen +Teich als Spielzeug benutzt und die beiden Lahmen auf +Krücken über dem Feld und die Dame in einer Straße der +Stadt, die von einem Wagenpferd im Halbdunkel umgestoßen +wird, und der Dichter, der voll verzweifelter Sehnsucht in +den Abend sinnt (wahrscheinlich aus einer Dachluke), und der +Zirkusclown, der sich in dem grauen Hinterhaus seufzend die +Stiefel anzieht, um pünktlich zu der Vorstellung zu kommen, +in der er lustig sein muß – können ein dichterisches +»Bild« hergeben, obwohl sie malerisch nicht komponierbar +sind. Die meisten leugnen das noch, erkennen daher +beispielsweise in der Dämmerung und ähnlichen Gebilden +nichts als ein sinnloses Durcheinander komischer +Vorstellungen. Andere glauben sogar – zu Unrecht +–, daß auch in der Malerei derartige »ideeliche« +Bilder möglich sind. (Man denke an die +Futuristenmanschepansche.)</p> + +<p> +Absicht ist weiterhin, die Reflexe der Dinge unmittelbar – +ohne überflüssige Reflexionen aufzunehmen. Lichtenstein +weiß, daß der Mann nicht an dem Fenster klebt, sondern +hinter ihm steht. Daß nicht der Kinderwagen schreit, sondern +das Kind in dem Kinderwagen. Da er nur den Kinderwagen +sieht, schreibt er: Der Kinderwagen schreit. Lyrisch unwahr +wäre, wenn er schriebe: Ein Mann steht hinter einem +Fenster.</p> + +<p> +Zufällig auch begrifflich nicht unwahr ist: Ein Junge spielt +mit einem Teich. Ein Pferd stolpert über eine Dame. Hunde +fluchen. Zwar muß man sonderbar lachen, wenn man sehen +lernt: Daß ein Junge einen Teich tatsächlich als Spielzeug +benutzt. Wie Pferde die hilflose Bewegung des Stolperns +haben … Wie menschlich Hunde der Wut Ausdruck geben +…</p> + +<p> +Zuweilen ist die Darstellung der Reflexion wichtig. Ein +Dichter wird vielleicht verrückt – macht einen tieferen +Eindruck als – ein Dichter sieht starr vor sich hin –</p> + +<p> +Anderes nötigt in dem Gedicht: Angst (Zweite Lyriknummer der +Aktion) und ähnlichen zu Reflexionen wie: Alle Menschen +müssen sterben … oder: Ich bin nur ein kleines +Bilderbuch … Das soll hier nicht auseinandergesetzt +werden.</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Daß die Dämmerung und andere Gedichte die Dinge komisch +nehmen (das Komische wird tragisch empfunden. Die +Darstellung ist »grotesk«), das Unausgeglichene, nicht +Zusammengehörige der Dinge, das Zufällige, das Durcheinander +bemerken… ist jedenfalls nicht das Charakteristische +des »Stils«. Beweis ist: In dieser Nummer sind Gedichte +abgedruckt, in denen das »Groteske« unbetont hinter dem +»Ungrotesken« verschwindet.</p> + +<p> +Auch andere Verschiedenheiten zwischen älteren Gedichten +(z.B. Die Dämmerung) und später entstandenen (z. B. Die +Angst) Gedichten desselben Stils sind nachweisbar. Man möge +beachten, daß immer häufiger besondersartige Reflexionen das +Landschaftsbild scheinbar durchbrechen. Wohl nicht ohne +bestimmte künstlerische Absichten.</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Die dritte Gruppe sind die Gedichte des Kuno Kohn.</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Von Lichtenstein sind zwanzig Gedichte unter dem Titel: Die +Dämmerung in dem Verlag A. R. Meyer erschienen.<br /> +Alfred Lichtenstein (Wilmersdorf)</p> + +<p class="footnote"> +* Man erinnere sich des schönen: Weltende … des Jacob +van Hoddis, erschienen im ersten Jahre der AKTION. Tatsache +ist, dass A. Li. (Wi.) dies Gedicht gelesen hatte, bevor er +selbst »Derartiges« schrieb. Ich glaube also, dass van Hoddis +das Verdienst hat, diesen »Stil« gefunden zu haben, Li. das +geringere, ihn ausgebildet, bereichert, zur Geltung gebracht +zu haben. [Anmerkung von Franz Pfemfert.]</p> + +<p class="source"> +Die Aktion, 4. Oktober 1913, S.942</p> + +</body> +</html> |