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+<head>
+ <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" />
+ <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" />
+ <title>Ergänzungen Prosa</title>
+</head>
+
+<body>
+<h3 class="section center">Ergänzungen Prosa</h3>
+
+<p>
+Der Abschnitt versammelt Prosa-Stücke, bei denen die
+Textfassung in der Zeitschrift deutlich von der in den
+gesamnelten Werken abweicht. Die Abweichungen betreffen vor
+allem Auslassungen oder abweichende Formulierungen.</p>
+
+</body>
+</html>
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+<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml">
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+ <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" />
+ <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" />
+ <title>Mieze Maier</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Mieze Maier</h4>
+
+<p>
+Ich besuche noch das Gymnasium, doch interessiere ich mich
+mehr für Theater und Literatur. Ich lese Wedekind, Rilke,
+Scharf und andere. Auch Goethe, Schiller und George mag ich
+nicht.</p>
+
+<p>
+Meine Freundin heißt Mieze Maier. Sie bewohnt mit
+ihrer Gesellschafterin in der Johann Georg-Straße eine
+elegante Vierzimmerwohnung, denn ihr Vater, Markus Maier,
+hat ihr viel Geld hinterlassen. Ihre Mutter ist vor zehn
+Jahren den Folgen einer Unterleibsoperation erlegen. Ihre
+Mutter soll schön gewesen sein.</p>
+
+<p>
+Mieze Mai er ist erst kürzlich sechzehn Jahre alt geworden.
+Ihr Geburtstag wurde sehr gefeiert. Viele hübsche und
+lasterhafte Mädchen und eine Anzahl junger Männer waren
+geladen. Man war sehr frivol. Man flüsterte einander ins
+Ohr, daß Mieze jetzt sechzehn Jahre alt sei. Dabei lächelte
+man&hellip;</p>
+
+<p>
+Mieze Maier ist schön. Auch klug. Auch talentiert. Sehr
+kokett. Raffiniert anmutig. Zeitweise unglücklich. Versteht
+es, viele Männer krank zu machen, daß sie Trauer in den
+Augen tragein, wenn sie wach sind, und ein Lächeln um die
+Lippen haben, wenn sie schlafen. Und die Hände sind dicht an
+dem Körper&hellip;</p>
+
+<p>
+Stets hat sie ihre Favoriten gehabt. Die sind wie Puppen,
+mit denen Sie spielt, bis sie ihrer eines Tages überdrüssig
+wird und sie achtlos beiseite wirft. Ich kenne sieben. Sechs
+Wochen hat keiner in ihrer Gunst überdauert. Ich bin der
+Achte.</p>
+
+<p>
+Ich weiß &ndash; auch meine Tage sind gezählt. Auch ich
+werde grausam abgetan werden von diesem sechzehnjährige Ding
+&ndash; halb Kind nodh. Wenn idh daran denke, schäme ich mich
+schon jetzt und gräme mich. Und doch &ndash;</p>
+
+<p>
+Wir haben uns nicht gesagt, daß wir uns lieb haben, sind
+aber sehr zärtlich zueinander. Dies kam so:</p>
+
+<p>
+Wir trafen uns einmal. Das war Zufall. Der Tag war grau vor
+Müdigkeit. Dämmerung lag über den Dingen. Von wenigen
+Häusern fiel gelbes und rotes Licht.</p>
+
+<p>
+Wir gingen zusammen. Ihre Augen hielten Glanz. Manchmal
+deckte sie die halben Lider darüber. Und sie fing die Blicke
+von Männern in ihre Augen. Das muß eine feine Wollust
+sein.</p>
+
+<p>
+Wir sprachen nicht, nur einmal sagte sie, daß ich rote
+Lippen habe. Und einmal sagte ich, daß sie oberflächlich
+sei, denn ich wollte sie ärgern.</p>
+
+<p>
+Am nächsten Tage trafen wir uns wieder. Das war kein Zufall.
+Wir gingen über Wiesen. Sie legte die Hand auf meine
+Schulter und war gut zu mir. Da dachte ich an den Fußtritt,
+den ich einmal von ihr erhalten werde.</p>
+
+<p>
+&hellip; Ich hatte ihr gestern wehe getan, weil ich sie
+oberflächlidh nannte. Denn in ihrer Stimme klang etwas wie
+Weinen, als sie sagte:</p>
+
+<p>
+Ich bin wirklich nicht sb oberflächlich, wie Sie glauben,
+Olaf. Ich habe zweimal unglücklich geliebt und einmal
+glücklich entbunden.</p>
+
+<p>
+Mir schien, als ob die Hand auf meiner Schulter schwerer
+würde &hellip;</p>
+
+<p>
+Wir schritten langsam. Wir sahen keine Menschen.
+Wind kam über die Wiesen. Am Himmel waren überall Wolken,
+die drohten Regen.</p>
+
+<p>
+Sie sah mich an. Ihr Blick war nackt und sagte von
+Leidenschaft.</p>
+
+<p>
+Das war zu niedlich, wie ich sie da plötzlich packte und mit
+mir ins Gras warf und schon deshalb im Rausch ihr
+zuflüsterte Du, meine &ndash; Und wie sie schluchzte: Olaf
+&ndash; &ndash; &ndash;—</p>
+
+<p>
+Seither schreibe ich in der Schule schlechte Arbeiten. Ich
+werde wohl nicht versetzt werden.</p>
+
+<p class="source">
+Der Sturm, Nr. 28, 8. September 1910, S. 224</p>
+
+</body>
+</html>
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+<head>
+ <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" />
+ <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" />
+ <title>Kuno Kohn</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Kuno Kohn</h4>
+
+<p>
+Seit einem halben Jahr wohne ich in der Nürnbergerstraße.
+Von den Hausbewohnern hat noch niemand etwas gemerkt. Ich
+bin vorsichtig.</p>
+
+<p>
+Das weiße Kostüm bringt mir Glück, ich
+verdiene genug. Ich habe angefangen zu sparen, denn ich
+fühle, daß die Kräfte nachlassen. Häufig bin idh matt,
+manchmal habe ich Schmerzen. Auch werde ich dick und alt.
+Ich schminke mich nicht gern &ndash; &ndash;</p>
+
+<p>
+Ich stehe nicht mehr unter Kontrolle. Kuno Kohn hat mich
+frei gemacht, ich bin ihm dankbar.</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn ist häßlich.</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn hat einmal gesagt, daß er Knochenfraß habe.</p>
+
+<p>
+Sonderbar ist die erste Begegnung gewesen:</p>
+
+<p>
+Es regnete. Die Straßen waren naß und schmutzig. Ich stand
+an einer Laterne in der Kaiserallee und blickte auf die
+angespritzten Kleider. Wenn Wind kam, fröstelte ich. Die
+Füße schimerzten von den Schuhen.</p>
+
+<p>
+Selten ging wer. Meist auf der anderen Seite. Mit
+aufgeschlagenem Mantelkragen. Den Hut über die Stirn&hellip;
+Niemand beachtete mich, ich stand traurig.</p>
+
+<p>
+Der Kies knirschte hinter mir. Hart und plötzlich, daß ich
+aufschreckte. Ein Polizist kam, die Hände am Rücken. Er ging
+langsam. Er sah mich argwöhnisch an, stolz auf sein Recht.
+Er fühlte sich Herr! Er schritt weiter. Ich lachte höhnend,
+er schaute sich nicht um. Der Polizist verachtete mich&hellip;</p>
+
+<p>
+Ich gähnte, es war spät geworden. Ich ging bis zur
+Kantstraße. Da kam einer, der war klein und verwachsen. Er
+blieb stehen, als er mich sah.</p>
+
+<p>
+Er versteckte einen Teil des Gesichtes hinter dürren
+Fingern. Und rieb am rechten Lid wie wer, der sich schämt.
+Und hüstelte&hellip; Ich trat dicht zu ihm, daß er mich fühlte.
+Er sagte: Na &ndash; Ich sagte: Komm Kleiner. Er sagte:
+Eigentlich bin ich homosexuell. Und nahm meine Hand.</p>
+
+<p class="source">Der Sturm, Nr. 32, 6 October 1910, S. 256</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Mabel Meier</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Mabel Meier</h4>
+
+<p>
+Es war spät. Ich ging den Kurfürstendamm entlang. In
+Abständen sah ich Leute, häufig hörte ich die Geräusche von
+Fahrzeugen. An der Fasanenstraße standen zwei; die &hellip;
+schämten sich, als ich nahe war.</p>
+
+<p>
+Mädchen kamen, die sich verspätet hatten. Wenige, die Geld
+verdienen wollten. Ich sah die lange Dirne, die sich jeden
+Abend in der Joachimsthalerstraße herumtreibt. Ich erkannte
+sie an dem Unterrock. Sie lachte zu mir herüber &ndash;</p>
+
+<p>
+Ich ging langsam. Ein Kriminalbeamter beobachtete mich. Ich
+ging weiter. Vor mir lief eine Frau, die blieb oft stehen
+und heulte.</p>
+
+<p>
+Ich dachte nicht nach. Ich schaute zu den Sternen und fand
+keinen Wunsch. Ich merkte, daß ich ohne Beziehung zu mir
+bin. Ich betrachtete mich gleichgültig wie einen fremden
+Gegenstand. &hellip; Ich schüttelte den Kopf, daß der alte Mann
+so spät allein am Kurfürstendamm ging&hellip; Und zu den Sternen
+murmelte&hellip; Und so sonderbar war.</p>
+
+<p>
+Ich begegnete einer Dame, die sagte: Au &ndash; Ich sagte: Darf
+ich Sie begleiten. Die Dame sagte: Bitte. &ndash; Es war ziemlich
+dunkel. Wir gingen miteinander; die Diame erzählte: Sie
+heiße Meier, der Rufname sei aber Mabel. Sie wohne am
+Kurfürstendamm. Bei Verwandten, die hätten eine
+Portierstelle. Im übrigen sei sie Choristin am
+Metropoltheater.</p>
+
+<p>
+Die Dame war nicht schön und nicht jung, aber sie sah
+zugänglich aus. Ich hatte keinen Grund schüchtern zu sein. &ndash;</p>
+
+<p>
+Vor dem Haus, in dem die Dame wohnte, blieben wir stehen.</p>
+
+<p>
+Ich machte den Vorschlag, noch ein Hotel aufzusuchen. Die
+Dame schien nicht abgeneigt zu sein, sie sagte: Nee! &ndash; Ich
+sagte: Wieso? &ndash; Die Dame sagte: Sie habe Trauer. &ndash; Ich
+fragte, wer gestorben sei. &ndash; Sie sagte: Papa! &ndash; Ich sagte:
+Sie wollen also nicht? &ndash; Ueber das Gesicht der Dame kam ein
+Lächeln. Sie schaute träumerisch zu einer Laterne &ndash; &ndash; &ndash;</p>
+
+<p class="source">Der Sturm, Nr, 36, 3. November 1910, S. 287</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Siegfried Simon</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Siegfried Simon</h4>
+
+<p>
+Neun Aerzte behaupten, dass ich an Wahnvorstellungen leide.
+Ich füge mich</p>
+
+<p>
+Seit neunundzwanzig Jahren bin ich in der Anstalt. Man ist
+freundlich zu mir. Ich kann tun und lassen, was ich will.
+Wenn es warm ist, gehe ich im Garten und horche, wie die
+Stunden sterben &nbsp; Wenn es kalt ist, sitze ich am
+Fenster und sinne in den Himmel. Oft schaue ich den Leuten
+zu, wenn sie rufen oder arbeiten oder traurig sind. Ich
+entbehre nicht das Leben. Ich bin zufrieden, wenn man mir
+nichts tut und nichts von mir will. Ich beneide nicht die
+Menschen.</p>
+
+<p>
+Neunmal in jedem Jahr bringt meine bleiche Frau Blumen. Mein
+Sohn Siegfried kommt niemals. Zuletzt habe ich ihn gesehen,
+als ich begraben wurde. An meinem neunundvierzigsten
+Geburtstag.</p>
+
+<p>
+Ich lag in einem schmucklosen Holzsarg. Man fuhr mich auf
+einem wagenartigen Gestell. Neben mir schritten neun
+schwarzgekleidete Sargträger. Hinter mir der Pastor Leopold
+Lehmann, an seiner Seite meine Frau Frieda und mein
+neunzehnjähriger Sohn Siegfried. Wenige Verwandte folgten,
+die waren stillvergnügt und unterhielten sich, wenn ich
+recht gehört habe, von der Raupenplage im Tiergarten.</p>
+
+<p>
+Die Sonne warf warmes Licht. Wind kam dann und wann. Er
+krabbelte über den Kies und kitzelte die Frauen um Brüste
+und Waden. Wir hielten vor dem aufgeschütteten Grab. Der
+Sarg wurde hinuntergelassen, einige Formalitäten und Gebete
+waren schnell erledigt. Darauf fing der Pastor Leopold
+Lehmann an, auf Wunsch und auf Kosten meiner Frau, eine
+Gedächtnisrede zu halten. Er sagte:</p>
+
+<p class="indent">
+Liebe Schwestern und Brüder! Wieder hat ein gütiges
+Geschick uns ein teures Menschenleben geraubt. Trauernd
+stehen wir am Grab des Dahingeschiedenen und gedenken seiner
+in Wehmut.</p>
+
+<p>
+Mein Sohn Siegfried biss sich auf die Lippen, Der Pastor
+sagte:</p>
+
+<p class="indent">
+Die Erde, die den Körper ausgesondert hat, dass er kurze
+Zeit ein beseeltes Eigenleben führe, hat ihn wieder
+aufgenommen in den Mutterschoss. Ein edler Mensch ist
+heimgegangen -</p>
+
+<p>
+Mein Sohn Siegfried bekam einen Lachanfall.
+Das Gesicht wurde rot und ernst. Er lachte, bis er
+röchelte.</p>
+
+<p>
+Meine Frau schrie.</p>
+
+<p>
+Die Verwandten waren empört. Sie schämten sich für meinen
+Sohn Siegfried. Einige Frauen weinten in echte
+Spitzentücher.</p>
+
+<p>
+Ich war still.</p>
+
+<p>
+Der Pastor sagte:</p>
+
+<p class="indent">
+Wenn einer nicht weiss, wie er sich zu benehmen hat, soll er
+nicht kommen, wenn einer beerdigt wird. Amen.</p>
+
+<p>
+Und entfernte sich. Stolz. Gekränkt. Der Pastor. Leopold
+Lehmann.</p>
+
+<p>
+Mein Sohn Siegfried reinigte sich die Fingernägel.</p>
+
+<p class="source">
+Der Sturm, Nr. 51, 18. Februar 1911, S. 408</p>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Der Freund</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Der Freund</h4>
+
+<p>
+Ich liebe die toten Tage. Die haben kein Leuchten, sie sind
+ganz sehnsüchtig. Die Häuser stehen wie Kulissen vor der
+grauen Wolke, die Menschen gehen wie in dem Lichtspiel: wenn
+der Abend wird, nicht anders als sie in der Frühe gingen.
+Alle Dinge sind wuchtiger. Und meine Kammer sieht aus, wie
+wenn eben einer darin gestorben wäre.</p>
+
+<p>
+So oft diese Tage sind, wächst in mir unwillkürlich eine
+sinnlose Lust an der Arbeit. Ich tue die alltäglichen
+Verrichtungen, als wäre Gottesdienst, was ich tue. Und ich
+verliere mich dabei. Fast wie die Träumenden sich verloren
+haben. Aber einmal merke ich, daß ich reglos geworden bin
+und nach innen starre.</p>
+
+<p>
+Ich werde sehr wach davon und ich kann mich nicht mehr
+hingeben. Ich gehe zu dem Fenster, da sind wunderliche
+Gedanken. Die waren sonst nur in Nächten.</p>
+
+<p>
+Ich fühle mich fremd bei allen Dingen. Sie drängen auf mich
+ein, als kennten sie mich nicht: die Straße und die Menschen
+und die Türen in den Häusern und die tausend Bewegungen. Wo
+ich hinschaue, werde ich verwirrt.</p>
+
+<p>
+Mein kleiner Tod quält mich, es war doch schon viel Sterben
+und größeres. Und daß ich einsam bin. Und daß überall ein
+Unbegreifliches droht. Und daß ich mich nicht zurechtfinde.
+Und alle die übrigen Traurigkeiten, für die kein Arzt ist,
+und die man nicht mitteilen soll. Jeder muß ihnen aliein
+unterliegen und auf seine Weise. In der Rede sind sie
+lächerlich, aber mancher geht an ihnen zugrunde. Ich habe
+Grauen, daß ich so fremd mit mir bin und so ohnmächtig. Bis
+Erinnerungen kommen. Ungerufen. Aber lieb. Irgendwoher. Sie
+betäuben mich.</p>
+
+<p>
+Ich lächle, wenn ich das Weinen des Kindes
+finde oder den Tod der Mutter, der gräßlich war und nicht zu
+sagen ist, oder die anderen blutigen Köstlichkeiten. Ich
+lächle, wenn die Augen meines Freundes plötzlich leben
+werden und in den seidigen Schatten sind, daß sie wie aus
+Schleiern glänzen und ihr Geheimstes preisgeben. Niemand hat
+es mir gesagt, und ihr werdet mich einen Narren nennen ..
+aber ich weiß, daß sein Tod schon immer in den Augen gewesen
+ist wie der eines andern in den Lungen oder in dem
+Rückenmark &hellip;</p>
+
+<p>
+*</p>
+
+<p>
+Seine Augen waren elend und vergangen und heillos
+schmerzlich, daß die Leute lachten, wenn er zu ihnen sah. Er
+schämte sich seiner Augen, als verrieten sie von sündsamen
+Abenteuern und verbarg sie viel hinter den vergilbten
+Lidern. Aber er fühlte, wie man hinstarrte, wenn er eintrat,
+wo er unerwartet kam. Oder sich setzte, wo er nicht
+selbstverständlich war. Er schaute übertrieben wie ein
+Suchender. Hüstelte und hielt die Hand vor den Mund, zog die
+Backen nach innen oder wölbte die eine mit der Zunge. War
+verlegen. Unglücklich. Wäre gern allein gewesen .. in dem
+Dunkel.</p>
+
+<p>
+Kinder neigten den Kopf, wenn sein Blick auf ihre
+Augen kam. Und wurden rot. Und grinsten scheu und dumm.
+Frauen kicherten, sie schauten wie harmlos hin und
+klatschten einander auf die Schenkel oder auf die nackten
+Schultern und küßten ihre verwüsteten Männer. In der Nacht
+lagen sie wach und sannen sich heiß. Aber die jungen Mädchen
+wichen ihm aus.</p>
+
+<p class="source">Der Sturm, Nr. 85, 11 November 1911, S.678</p>
+
+</body>
+</html>
diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/06_die_verse_des_alfred_lichtenstein.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/06_die_verse_des_alfred_lichtenstein.html
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+ <title>Die Verse des Alfred Lichtenstein</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Die Verse des Alfred Lichtenstein</h4>
+
+<p>
+Die folgenden Gedichte können in drei Gruppen geteilt
+werden. Eine vereinigt phantastische, halb spielerische
+Gebilde: Der Traurige, Die Gummischuhe, Capriccio, Der
+Lackschuh, Wüstes Schimpfen eines Wirtes. (Zuerst erschienen
+in der Aktion, im Simplicissimus, im März, Pan und
+anderswo.) Freude an reiner Artistik ist unverkennbar. Ein
+Beispiel:</p>
+
+<h5>Der Athlet</h5>
+
+<p>
+Einer ging in zerrissenen Hausschuhen<br />
+hin und her durch das kleine Zimmer,<br />
+das er bewohnte.<br />
+Er sann über die Geschehnisse,<br />
+von denen in dem Abendblatt berichtet war.<br />
+Und gähnte traurig,<br />
+Wie nur einer gähnt,<br />
+Der viel und Seltsames gelesen hat.<br />
+Und der Gedanke überkam ihn plötzlich &ndash;<br />
+Wie wohl den Furchtsamen die Gänsehaut<br />
+Und wie das Aufstoßen den Uebersättigten,<br />
+Wie Mutterwehen &ndash;<br />
+das große Gähnen sei vielleicht ein Zeichen,<br />
+ein Wink des Schicksals, sich zur Ruh zu legen&hellip;<br />
+Und der Gedanke ließ ihn nicht mehr los.<br />
+Und also fing er an, sich zu entkleiden&hellip;<br />
+</p>
+
+<p>
+Als er ganz nackt war, hantelte er etwas.
+</p>
+
+<p>
+Im Hintergrund ist Demonstration von Weltanschauung. Der
+Athlet &hellip; Bedeutet: Daß der Mann auch geistig seine
+Notdurft verrichten muß, ist entsetzlich.</p>
+
+<p>
+*</p>
+
+<p>
+Das früheste Gedicht einer zweiten Gruppe ist:</p>
+
+<h5>Die Dämmerung*)</h5>
+
+<p>
+Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.<br />
+Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.<br />
+Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,<br />
+als wäre ihm die Schminke ausgegangen.</p>
+
+<p>
+Auf lange Krücken schief herabgebückt<br />
+(und schwatzend) kriechen auf dem Feld zwei Lahme.<br />
+Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.<br />
+Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.</p>
+
+<p>
+An einem Fenster klebt ein fetter Mann.<br />
+Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.<br />
+Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.<br />
+Ein Kinderwagen schreit. Und Hunde fluchen.</p>
+
+<p>
+Absicht ist, die Unterschiede der Zeit und des Raumes
+zugunsten der Idee zu beseitigen. Das Gedicht will die
+Einwirkung der Dämmerung auf die Landschaft darstellen. In
+diesem Fall ist die Einheit der Zeit bis zu einem gewissen
+Grade notwendig. Die Einheit des Raumes ist nicht
+erforderlich, deshalb nicht beachtet. In den zwölf Zeilen
+ist die Dämmerung am Teich, am Baum, am Feld, am Fenster,
+irgendwo &hellip; In ihrer Einwirkung auf die Erscheinung
+eines Jungen, eines Windes, eines Himmels, zweier Lahmer,
+eines Dichters, eines Pferdes, einer Dame, eines Mannes,
+eines Jünglings, eines Weibes, eines Clowns, eines
+Kinderwagens, einiger Hunde, bildhaft dargestellt. (Der
+Ausdruck ist schlecht, aber ich finde keinen besseren.)</p>
+
+<p>
+Der Urheber des Gedichtes will nicht eine als real denkbare
+Landschaft geben. Vorzug der Dichtkunst vor der Malkunst
+ist, daß sie »ideeliche« Bilder hat. Das bedeutet &ndash;
+angewandt auf die Dämmerung: Der dicke Knabe, der den großen
+Teich als Spielzeug benutzt und die beiden Lahmen auf
+Krücken über dem Feld und die Dame in einer Straße der
+Stadt, die von einem Wagenpferd im Halbdunkel umgestoßen
+wird, und der Dichter, der voll verzweifelter Sehnsucht in
+den Abend sinnt (wahrscheinlich aus einer Dachluke), und der
+Zirkusclown, der sich in dem grauen Hinterhaus seufzend die
+Stiefel anzieht, um pünktlich zu der Vorstellung zu kommen,
+in der er lustig sein muß &ndash; können ein dichterisches
+»Bild« hergeben, obwohl sie malerisch nicht komponierbar
+sind. Die meisten leugnen das noch, erkennen daher
+beispielsweise in der Dämmerung und ähnlichen Gebilden
+nichts als ein sinnloses Durcheinander komischer
+Vorstellungen. Andere glauben sogar &ndash; zu Unrecht
+&ndash;, daß auch in der Malerei derartige »ideeliche«
+Bilder möglich sind. (Man denke an die
+Futuristenmanschepansche.)</p>
+
+<p>
+Absicht ist weiterhin, die Reflexe der Dinge unmittelbar &ndash;
+ohne überflüssige Reflexionen aufzunehmen. Lichtenstein
+weiß, daß der Mann nicht an dem Fenster klebt, sondern
+hinter ihm steht. Daß nicht der Kinderwagen schreit, sondern
+das Kind in dem Kinderwagen. Da er nur den Kinderwagen
+sieht, schreibt er: Der Kinderwagen schreit. Lyrisch unwahr
+wäre, wenn er schriebe: Ein Mann steht hinter einem
+Fenster.</p>
+
+<p>
+Zufällig auch begrifflich nicht unwahr ist: Ein Junge spielt
+mit einem Teich. Ein Pferd stolpert über eine Dame. Hunde
+fluchen. Zwar muß man sonderbar lachen, wenn man sehen
+lernt: Daß ein Junge einen Teich tatsächlich als Spielzeug
+benutzt. Wie Pferde die hilflose Bewegung des Stolperns
+haben &hellip; Wie menschlich Hunde der Wut Ausdruck geben
+&hellip;</p>
+
+<p>
+Zuweilen ist die Darstellung der Reflexion wichtig. Ein
+Dichter wird vielleicht verrückt &ndash; macht einen tieferen
+Eindruck als &ndash; ein Dichter sieht starr vor sich hin &ndash;</p>
+
+<p>
+Anderes nötigt in dem Gedicht: Angst (Zweite Lyriknummer der
+Aktion) und ähnlichen zu Reflexionen wie: Alle Menschen
+müssen sterben &hellip; oder: Ich bin nur ein kleines
+Bilderbuch &hellip; Das soll hier nicht auseinandergesetzt
+werden.</p>
+
+<p>
+*</p>
+
+<p>
+Daß die Dämmerung und andere Gedichte die Dinge komisch
+nehmen (das Komische wird tragisch empfunden. Die
+Darstellung ist »grotesk«), das Unausgeglichene, nicht
+Zusammengehörige der Dinge, das Zufällige, das Durcheinander
+bemerken&hellip; ist jedenfalls nicht das Charakteristische
+des »Stils«. Beweis ist: In dieser Nummer sind Gedichte
+abgedruckt, in denen das »Groteske« unbetont hinter dem
+»Ungrotesken« verschwindet.</p>
+
+<p>
+Auch andere Verschiedenheiten zwischen älteren Gedichten
+(z.B. Die Dämmerung) und später entstandenen (z. B. Die
+Angst) Gedichten desselben Stils sind nachweisbar. Man möge
+beachten, daß immer häufiger besondersartige Reflexionen das
+Landschaftsbild scheinbar durchbrechen. Wohl nicht ohne
+bestimmte künstlerische Absichten.</p>
+
+<p>
+*</p>
+
+<p>
+Die dritte Gruppe sind die Gedichte des Kuno Kohn.</p>
+
+<p>
+*</p>
+
+<p>
+Von Lichtenstein sind zwanzig Gedichte unter dem Titel: Die
+Dämmerung in dem Verlag A. R. Meyer erschienen.<br />
+Alfred Lichtenstein (Wilmersdorf)</p>
+
+<p class="footnote">
+* Man erinnere sich des schönen: Weltende &hellip; des Jacob
+van Hoddis, erschienen im ersten Jahre der AKTION. Tatsache
+ist, dass A. Li. (Wi.) dies Gedicht gelesen hatte, bevor er
+selbst »Derartiges« schrieb. Ich glaube also, dass van Hoddis
+das Verdienst hat, diesen »Stil« gefunden zu haben, Li. das
+geringere, ihn ausgebildet, bereichert, zur Geltung gebracht
+zu haben. [Anmerkung von Franz Pfemfert.]</p>
+
+<p class="source">
+Die Aktion, 4. Oktober 1913, S.942</p>
+
+</body>
+</html>