diff options
Diffstat (limited to 'OEBPS/Text/prosa/geschichten/05_die_jungfrau.html')
-rw-r--r-- | OEBPS/Text/prosa/geschichten/05_die_jungfrau.html | 235 |
1 files changed, 235 insertions, 0 deletions
diff --git a/OEBPS/Text/prosa/geschichten/05_die_jungfrau.html b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/05_die_jungfrau.html new file mode 100644 index 0000000..076587f --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/05_die_jungfrau.html @@ -0,0 +1,235 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Die Jungfrau</title> +</head> +<body> + +<h4>Die Jungfrau</h4> + +<p> +Maria Mondmilch war das einzige Kind des Kunsthistorikers +Doktor Maximilian Mondmilch und der schönen Frau Marga +Mondmilch. Frau Mondmilch soll früher Wassermädchen in dem +Kaffeehaus gewesen sein, in welchem Herr Mondmilch – der +damals Student war – Tee trank und Zeitungen las und +rauchte. Nach der Geburt des Kindes hatte sie den Ehegatten +heimlich verlassen, um vermutlich mit einem Sektkellner +einige Wochen zu verbringen. Danach trieb sie sich – häufig +abwechselnd – mit sehr verschiedenen Männern sehr +verschiedener Gesellschaftsklassen herum. Sie kam erst +zurück, als sie erfuhr, daß der unheilbare Doktor in eine +Anstalt für Gehirnkranke gebracht worden sei. Sie pflegte +den todkranken Menschen sorgfältig bis zu seinem nahen Ende. +Sodann verheiratete sie sich mit einem herrschaftlichen +Kutscher, der sie abgöttisch liebte.</p> + +<p> +Die Krankheit des Doktor Mondmilch war erst erkannt worden, +als er ein mit schlimmen Strafen bedrohtes Verbrechen an der +achtjährigen Tochter verüben wollte. Glücklicherweise konnte +die Untat in dem letzten Augenblick verhindert werden. Das +in dem Herzen und in dem Hirn erschreckte Kind wurde – dem +Bruder des Verrückten – der Exzellenz Moriz von Mondmilch, +einem erstklassigen Verwaltungsbeamten, in Pflege gegeben. +Das letzte Wort des sterbenden Kunsthistorikers war: +»Maria.«</p> + +<p> +Zwischen dem Onkel und der Nichte entwickelte sich eine +sonderbare Zuneigung. Nichts geschah, was den Gesetzen +widersprochen hätte. Die Leidenschaft zwischen dem Kind und +dem alten Mann erregte die Eifersucht der alten Frau Minna +von Mondmilch. Durch die zu lästig gewordenen ehelichen +Zwistigkeiten fühlte sich der verärgerte Beamte einige Jahre +darauf genötigt, in eine Trennung von dem Pflegekind +einzuwilligen. Er mußte auch auf die ältlich gewordenen +Töchter Rücksicht nehmen. Der Abschied war schwer. Exzellenz +Moriz von Mondmilch fiel in Weinkrämpfe.</p> + +<p> +Maria Mondmilch kam in eine große Stadt. Man zahlte den +fremden Leuten, bei denen sie eingemietet worden war, +monatlich viel Geld. Sonst kümmerte man sich nicht um Maria +Mondmilch. Mit dem edlen Onkel wechselte sie geheime Briefe +voll ausschweifender Liebessehnsucht und abenteuerlicher +Hoffnungen. Das Bewußtsein, ständig Gefährliches verbergen +zu müssen, gab ihr etwas Feierliches und eine unerklärliche +Überlegenheit. Die Briefe des Onkels bewahrte Maria +Mondmilch unter besonders sakralen Formalitäten auf. Ein +Teil der Briefe kam abhanden und wurde das Beweismaterial +für den berühmten Scheidungsprozeß, der das ganze Land +erregte.</p> + +<p> +Maria Mondmilch war in der großen Stadt Schülerin eines +Mädchengymnasiums. Sie gehörte nicht zu den Besten. +Zeitweise arbeitete sie fleißig. Man beschuldigte sie, +allerhand Schweinereien – die vorkamen – angestiftet zu +haben. Als bekannt wurde, daß der Leiter der Anstalt ihr +abends in einer argen Straße begegnet war, erwartete man +ihre Relegierung. In der Verhandlung gegen einen +Literaturprofessor des Gymnasiums, der, trotzdem er dringend +verdächtigt war, etliche Sittlichkeitsverbrechen begangen zu +haben, freigesprochen werden mußte, war sie die wichtigste +Zeugin.</p> + +<p> +Das junge Mädchen weilte in der Nacht am liebsten in den +berüchtigten Vierteln. Maria Mondmilch ließ sich von allem +möglichen Gesindel ansprechen, den meisten Männern entlief +sie wieder. Sie war noch nicht fünfzehn Jahre alt, als sie +sich von einem Händler, dessen Bekanntschaft sie in einem +schmutzigen Abend in einer üblen Gasse auf einer Brücke +unter einer halb verfallenen altertümlichen Petroleumlaterne +gemacht hatte, in unanständigen Stellungen nackt +photographieren ließ. Als Sechzehnjährige verlebte sie die +Weihnachtsferien mit einem bildschönen, aber wildfremden +Elektrotechniker – namens Hans Hampelmann – in einem +verrufenen Hotel anscheinend wie Frau und Mann. Daß sie nach +Absolvierung des Gymnasiums sich entschloß, Medizin zu +studieren, ist unschwer aus erotischen Bedürfnissen zu +erklären.</p> + +<p> +Der hungrige Schauspieler Schwertschwanz – ein intelligent +und verludert aussehender Mensch, der nach billiger +Schokolade stank – lief planlos sehnsüchtig die abendlich +funkelnden und lärmenden Straßen der Stadt entlang, in +welcher Maria Mondmilch Medizin studierte. Er begegnete ihr, +als sie aus einer Vorlesung über Geschlechts- und +Männerleiden traurig zurückkam. Zum Spaß – ziemlich – sprach +er sie an. Gemeinsam gingen die beiden in eine Kneipe +niederer Sorte.</p> + +<p> +Der Schauspieler Schwertschwanz hatte, bevor er die +Studentin ansprach, überlegt, was seine langjährige +Verzweiflung augenblicklich am ehesten begründen könne; die +schließliche Unwichtigkeit alles Geschehens oder nur das +Malheur, daß bedeutende Männer oftmals aus Mangel an +entsprechender Nahrung und Medizin krepieren müssen … Die +Unzulänglichkeit der Frauen… Die Unheilbarkeit der +Rückenmarkschwindsucht, deren Anzeichen er an sich zu +bemerken glaubte … Als Maria Mondmilch ihren Beruf nannte, +leuchtete er auf. Man sprach über Syphilis und die Folgen. +Fräulein Mondmilch erzählte entsetzliche Fälle. Herr +Schwertschwanz hörte erschrocken und begeistert zu. Er war +entzückt, als sie – kokett betonend, daß sie leider nur +wissenschaftliche Beziehungen zu Männern unterhalten könne – +wie unabsichtlich bis über das Knie ein gut geformtes, +herbes Bein sehen ließ, das in einem aufregend gemeinen, +halbseidenen Strumpf befestigt war.</p> + +<p> +Die Studentin erwiderte merklich die Sympathie des +Schauspielers. Sein heruntergekommenes Aussehen flößte ihr +Zutrauen ein. Seine – auf sie eingestellten – von Schminke +und Hoffnungslosigkeit, von unmäßigen Hurereien oder Onanien +ringsum zerrissenen und inwendig fast verfaulten +treuherzigen blauen Augen griffen ihr an die Seele. Sein aus +Blasiertheit und unverschämter Zudringlichkeit gemischtes +Wesen regte sie sehr auf. Mitten durch Gekreisch und Kellner +und Bierbänke und Ausdünstungen, in dem gelbsüchtigen +Gaslicht, mußte sie schwärmerisch ausrufen: »Einen Menschen +wie sie, Herr Schwertschwanz, habe ich bisher nicht +kennengelernt.« – Er faßte sie beglückt an. Während draußen +ein Trupp Soldaten im Vorbeimarschieren das bekannte +Volkslied pfiff: Mariechen, du süßes Viehchen … Und so +weiter.</p> + +<p> +Ohne laute Verabredung hatten die Verliebten Arm in Arm die +Richtung auf die Bude der Studentin gewählt, als sie die +gröhlende Kneipe verließen. Oben legte sich Maria Mondmilch +mit übereinandergeschlagenen Beinen auf ein Schlafsofa in +der Nähe des Bücherschrankes. Der Schauspieler versank in +einen weichen Sessel, neben dem ein kleiner Tisch mit einer +zierlichen Flasche Kognak stand. Die Unterhaltung war nicht +einfach. Sie wollten einander ihre Leiden von klein auf +entgegenschluchzen. Sie wollten einander fressen, so gierig +wurden sie mit der Zeit. Etwas war dazwischen. Der +Schauspieler trank den Kognak. Die Studentin spielte nervös +mit den Händen und den Füßen.</p> + +<p> +Der Schauspieler konnte die Qual nicht mehr aushalten. Er +schrie leise – das war, als würde etwas zerschlagen: »Ich +will offen sein. Ich bin ein Syphilitiker« – – einige Tränen +kullerten herunter. Er erschrak, wie wenig ernst ihm war. +Die Studentin hielt die Hände vor das Gesicht. Theatralisch +wie er. Aber unbewußt.</p> + +<p> +Er hatte sich nicht verrechnet. Ihre erotische Aufgeregtheit +überstieg die Grenzen. Sie wand sich auf ihrem Schlafsofa. +Sie hielt ihm eine Hand hin. Sie flüsterte: »Armer Mann, +kommen Sie.«– Er ergriff die Hand nicht. Die Augen in dem +unglücklichen entsagenden Gesicht, dessen Wirkungen er schon +bei vielen hysterischen Frauen erprobt hatte, +niedergeschlagen, sagte er: »Sie wissen am besten, daß die +Berührungen mit mir eventuell Sie selbst luetisch machen +könnten, obwohl in den letzten Jahren die Wassermannsche +Reaktion immer negativ war.« – Da sagte sie heroisch: +»Offenheit gegen Offenheit. Ich bin Jungfrau.«</p> + +<p> +Instinktiv hatte sie sich gerächt. Seiner überreizten Sinne +war er nicht mehr mächtig. Wie eine Katze sprang er auf das +Mädchen mitten in dem Schlafsofa. Nun wehrte sie sich. Mit +ängstlichen Augen bereit, sich ihm zu geben.</p> + +<p> +Bei dem Ringen sang die Studentin dem Schauspieler ihr +Werbelied: »Maria Mondmilch bin ich, das Mädchen, die +Jungfrau. öffne mir deine Tore. Du, ich probierte viel +Männerfleisch von außen, Greise und Jünglinge. Alle lockte +ich. In allen suchte ich meinen Mann. Niemand drang tiefer +als meine Haut in mich … Ich schlich in den Tagen. Rannte +in den Nächten. Ich schlief in einem Bett mit Musikern und +Aristokraten. Mit Kaufleuten und Zuhältern und Studenten war +ich zusammen. Mit Kunstradfahrern und Rechtsanwälten trieb +ich mich herum. Ich ließ keinen Mann vorüber, dem ich nicht +in die Augen sah. Ob es regnete. Oder ob Winter war. Oder ob +die Sonne schien … Niemand durfte mich seine Frau nennen. +Niemand war mein Mann. Einer hat sich erschossen. Einer ist +in einen Sumpf gesprungen. Ich bin unschuldig… Einer ist +blödsinnig geworden. Einer hat mir einen Fußtritt gegeben. +Die meisten sind weggegangen, als wäre nichts vorgefallen. +Nichts ist vorgefallen … Du, blauäugiges Leidensgesicht +unter mir, ach, wärst du mein Mann, daß ich in dir blühe. +Bist du mein Mann, in den ich selig sinke ––«</p> + +<p> +und der Schauspieler sang der Studentin bei dem Ringen: »Ich +bin der Schauspieler Schwertschwanz, der Mann, der Wüstling. +In allen Leibern, die ich soff, suchte ich dich. Ich bin +Trinker geworden. Aus Sehnsucht. Mein Blut habe ich aus +Liebe vergiftet. Wie gleichgültig wäre das, wenn ich – +halbtot – dich jetzt fände. Ich habe dich zu viel gesucht, +um dich noch zu finden –«</p> + +<p> +da rief Maria Mondmilch in dem Untergehen: +»Schwertschwänzchen, liebst du mich –« und schon ertrunken: +»Er liebt mich nicht.« –</p> + +<p> +Der Mann fiel verzweifelt faul zurück. Die Studentin spuckte +ihm an den Kragen. Stülpte dem Willenlosen den Hut auf den +Kopf. Drückte ein Goldstück in seine Hand. Warf ihn hinaus.</p> + +<p> +Während der Schauspieler Schwertschwanz sich unterwegs, vor +Begierde zitternd, eine geeignete Hure suchte, saß Maria +Mondmilch über einem dicken anatomischen Lehrbuch. Sah sich +die Konstruktion eines splitternackten Mannes an. Und heulte +wie ein Hund am Meer.</p> + +</body> +</html> |