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diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/00.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/00.html new file mode 100644 index 0000000..360c002 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/00.html @@ -0,0 +1,22 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Ergänzungen Prosa</title> +</head> + +<body> +<h3 class="section center">Ergänzungen Prosa</h3> + +<p> +Der Abschnitt versammelt Prosa-Stücke, bei denen die +Textfassung in der Zeitschrift deutlich von der in den +gesamnelten Werken abweicht. Die Abweichungen betreffen vor +allem Auslassungen oder abweichende Formulierungen.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/01_mieze_maier.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/01_mieze_maier.html new file mode 100644 index 0000000..dcf2800 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/01_mieze_maier.html @@ -0,0 +1,121 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Mieze Maier</title> +</head> +<body> + +<h4>Mieze Maier</h4> + +<p> +Ich besuche noch das Gymnasium, doch interessiere ich mich +mehr für Theater und Literatur. Ich lese Wedekind, Rilke, +Scharf und andere. Auch Goethe, Schiller und George mag ich +nicht.</p> + +<p> +Meine Freundin heißt Mieze Maier. Sie bewohnt mit +ihrer Gesellschafterin in der Johann Georg-Straße eine +elegante Vierzimmerwohnung, denn ihr Vater, Markus Maier, +hat ihr viel Geld hinterlassen. Ihre Mutter ist vor zehn +Jahren den Folgen einer Unterleibsoperation erlegen. Ihre +Mutter soll schön gewesen sein.</p> + +<p> +Mieze Mai er ist erst kürzlich sechzehn Jahre alt geworden. +Ihr Geburtstag wurde sehr gefeiert. Viele hübsche und +lasterhafte Mädchen und eine Anzahl junger Männer waren +geladen. Man war sehr frivol. Man flüsterte einander ins +Ohr, daß Mieze jetzt sechzehn Jahre alt sei. Dabei lächelte +man…</p> + +<p> +Mieze Maier ist schön. Auch klug. Auch talentiert. Sehr +kokett. Raffiniert anmutig. Zeitweise unglücklich. Versteht +es, viele Männer krank zu machen, daß sie Trauer in den +Augen tragein, wenn sie wach sind, und ein Lächeln um die +Lippen haben, wenn sie schlafen. Und die Hände sind dicht an +dem Körper…</p> + +<p> +Stets hat sie ihre Favoriten gehabt. Die sind wie Puppen, +mit denen Sie spielt, bis sie ihrer eines Tages überdrüssig +wird und sie achtlos beiseite wirft. Ich kenne sieben. Sechs +Wochen hat keiner in ihrer Gunst überdauert. Ich bin der +Achte.</p> + +<p> +Ich weiß – auch meine Tage sind gezählt. Auch ich +werde grausam abgetan werden von diesem sechzehnjährige Ding +– halb Kind nodh. Wenn idh daran denke, schäme ich mich +schon jetzt und gräme mich. Und doch –</p> + +<p> +Wir haben uns nicht gesagt, daß wir uns lieb haben, sind +aber sehr zärtlich zueinander. Dies kam so:</p> + +<p> +Wir trafen uns einmal. Das war Zufall. Der Tag war grau vor +Müdigkeit. Dämmerung lag über den Dingen. Von wenigen +Häusern fiel gelbes und rotes Licht.</p> + +<p> +Wir gingen zusammen. Ihre Augen hielten Glanz. Manchmal +deckte sie die halben Lider darüber. Und sie fing die Blicke +von Männern in ihre Augen. Das muß eine feine Wollust +sein.</p> + +<p> +Wir sprachen nicht, nur einmal sagte sie, daß ich rote +Lippen habe. Und einmal sagte ich, daß sie oberflächlich +sei, denn ich wollte sie ärgern.</p> + +<p> +Am nächsten Tage trafen wir uns wieder. Das war kein Zufall. +Wir gingen über Wiesen. Sie legte die Hand auf meine +Schulter und war gut zu mir. Da dachte ich an den Fußtritt, +den ich einmal von ihr erhalten werde.</p> + +<p> +… Ich hatte ihr gestern wehe getan, weil ich sie +oberflächlidh nannte. Denn in ihrer Stimme klang etwas wie +Weinen, als sie sagte:</p> + +<p> +Ich bin wirklich nicht sb oberflächlich, wie Sie glauben, +Olaf. Ich habe zweimal unglücklich geliebt und einmal +glücklich entbunden.</p> + +<p> +Mir schien, als ob die Hand auf meiner Schulter schwerer +würde …</p> + +<p> +Wir schritten langsam. Wir sahen keine Menschen. +Wind kam über die Wiesen. Am Himmel waren überall Wolken, +die drohten Regen.</p> + +<p> +Sie sah mich an. Ihr Blick war nackt und sagte von +Leidenschaft.</p> + +<p> +Das war zu niedlich, wie ich sie da plötzlich packte und mit +mir ins Gras warf und schon deshalb im Rausch ihr +zuflüsterte Du, meine – Und wie sie schluchzte: Olaf +– – –—</p> + +<p> +Seither schreibe ich in der Schule schlechte Arbeiten. Ich +werde wohl nicht versetzt werden.</p> + +<p class="source"> +Der Sturm, Nr. 28, 8. September 1910, S. 224</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/02_kuno_kohn.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/02_kuno_kohn.html new file mode 100644 index 0000000..96b2283 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/02_kuno_kohn.html @@ -0,0 +1,73 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Kuno Kohn</title> +</head> +<body> + +<h4>Kuno Kohn</h4> + +<p> +Seit einem halben Jahr wohne ich in der Nürnbergerstraße. +Von den Hausbewohnern hat noch niemand etwas gemerkt. Ich +bin vorsichtig.</p> + +<p> +Das weiße Kostüm bringt mir Glück, ich +verdiene genug. Ich habe angefangen zu sparen, denn ich +fühle, daß die Kräfte nachlassen. Häufig bin idh matt, +manchmal habe ich Schmerzen. Auch werde ich dick und alt. +Ich schminke mich nicht gern – –</p> + +<p> +Ich stehe nicht mehr unter Kontrolle. Kuno Kohn hat mich +frei gemacht, ich bin ihm dankbar.</p> + +<p> +Kuno Kohn ist häßlich.</p> + +<p> +Kuno Kohn hat einmal gesagt, daß er Knochenfraß habe.</p> + +<p> +Sonderbar ist die erste Begegnung gewesen:</p> + +<p> +Es regnete. Die Straßen waren naß und schmutzig. Ich stand +an einer Laterne in der Kaiserallee und blickte auf die +angespritzten Kleider. Wenn Wind kam, fröstelte ich. Die +Füße schimerzten von den Schuhen.</p> + +<p> +Selten ging wer. Meist auf der anderen Seite. Mit +aufgeschlagenem Mantelkragen. Den Hut über die Stirn… +Niemand beachtete mich, ich stand traurig.</p> + +<p> +Der Kies knirschte hinter mir. Hart und plötzlich, daß ich +aufschreckte. Ein Polizist kam, die Hände am Rücken. Er ging +langsam. Er sah mich argwöhnisch an, stolz auf sein Recht. +Er fühlte sich Herr! Er schritt weiter. Ich lachte höhnend, +er schaute sich nicht um. Der Polizist verachtete mich…</p> + +<p> +Ich gähnte, es war spät geworden. Ich ging bis zur +Kantstraße. Da kam einer, der war klein und verwachsen. Er +blieb stehen, als er mich sah.</p> + +<p> +Er versteckte einen Teil des Gesichtes hinter dürren +Fingern. Und rieb am rechten Lid wie wer, der sich schämt. +Und hüstelte… Ich trat dicht zu ihm, daß er mich fühlte. +Er sagte: Na – Ich sagte: Komm Kleiner. Er sagte: +Eigentlich bin ich homosexuell. Und nahm meine Hand.</p> + +<p class="source">Der Sturm, Nr. 32, 6 October 1910, S. 256</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/03_mabel_meier.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/03_mabel_meier.html new file mode 100644 index 0000000..154b5be --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/03_mabel_meier.html @@ -0,0 +1,67 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Mabel Meier</title> +</head> +<body> + +<h4>Mabel Meier</h4> + +<p> +Es war spät. Ich ging den Kurfürstendamm entlang. In +Abständen sah ich Leute, häufig hörte ich die Geräusche von +Fahrzeugen. An der Fasanenstraße standen zwei; die … +schämten sich, als ich nahe war.</p> + +<p> +Mädchen kamen, die sich verspätet hatten. Wenige, die Geld +verdienen wollten. Ich sah die lange Dirne, die sich jeden +Abend in der Joachimsthalerstraße herumtreibt. Ich erkannte +sie an dem Unterrock. Sie lachte zu mir herüber –</p> + +<p> +Ich ging langsam. Ein Kriminalbeamter beobachtete mich. Ich +ging weiter. Vor mir lief eine Frau, die blieb oft stehen +und heulte.</p> + +<p> +Ich dachte nicht nach. Ich schaute zu den Sternen und fand +keinen Wunsch. Ich merkte, daß ich ohne Beziehung zu mir +bin. Ich betrachtete mich gleichgültig wie einen fremden +Gegenstand. … Ich schüttelte den Kopf, daß der alte Mann +so spät allein am Kurfürstendamm ging… Und zu den Sternen +murmelte… Und so sonderbar war.</p> + +<p> +Ich begegnete einer Dame, die sagte: Au – Ich sagte: Darf +ich Sie begleiten. Die Dame sagte: Bitte. – Es war ziemlich +dunkel. Wir gingen miteinander; die Diame erzählte: Sie +heiße Meier, der Rufname sei aber Mabel. Sie wohne am +Kurfürstendamm. Bei Verwandten, die hätten eine +Portierstelle. Im übrigen sei sie Choristin am +Metropoltheater.</p> + +<p> +Die Dame war nicht schön und nicht jung, aber sie sah +zugänglich aus. Ich hatte keinen Grund schüchtern zu sein. –</p> + +<p> +Vor dem Haus, in dem die Dame wohnte, blieben wir stehen.</p> + +<p> +Ich machte den Vorschlag, noch ein Hotel aufzusuchen. Die +Dame schien nicht abgeneigt zu sein, sie sagte: Nee! – Ich +sagte: Wieso? – Die Dame sagte: Sie habe Trauer. – Ich +fragte, wer gestorben sei. – Sie sagte: Papa! – Ich sagte: +Sie wollen also nicht? – Ueber das Gesicht der Dame kam ein +Lächeln. Sie schaute träumerisch zu einer Laterne – – –</p> + +<p class="source">Der Sturm, Nr, 36, 3. November 1910, S. 287</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/04_siegfried_simon.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/04_siegfried_simon.html new file mode 100644 index 0000000..2ddbaf3 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/04_siegfried_simon.html @@ -0,0 +1,104 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Siegfried Simon</title> +</head> +<body> + +<h4>Siegfried Simon</h4> + +<p> +Neun Aerzte behaupten, dass ich an Wahnvorstellungen leide. +Ich füge mich</p> + +<p> +Seit neunundzwanzig Jahren bin ich in der Anstalt. Man ist +freundlich zu mir. Ich kann tun und lassen, was ich will. +Wenn es warm ist, gehe ich im Garten und horche, wie die +Stunden sterben Wenn es kalt ist, sitze ich am +Fenster und sinne in den Himmel. Oft schaue ich den Leuten +zu, wenn sie rufen oder arbeiten oder traurig sind. Ich +entbehre nicht das Leben. Ich bin zufrieden, wenn man mir +nichts tut und nichts von mir will. Ich beneide nicht die +Menschen.</p> + +<p> +Neunmal in jedem Jahr bringt meine bleiche Frau Blumen. Mein +Sohn Siegfried kommt niemals. Zuletzt habe ich ihn gesehen, +als ich begraben wurde. An meinem neunundvierzigsten +Geburtstag.</p> + +<p> +Ich lag in einem schmucklosen Holzsarg. Man fuhr mich auf +einem wagenartigen Gestell. Neben mir schritten neun +schwarzgekleidete Sargträger. Hinter mir der Pastor Leopold +Lehmann, an seiner Seite meine Frau Frieda und mein +neunzehnjähriger Sohn Siegfried. Wenige Verwandte folgten, +die waren stillvergnügt und unterhielten sich, wenn ich +recht gehört habe, von der Raupenplage im Tiergarten.</p> + +<p> +Die Sonne warf warmes Licht. Wind kam dann und wann. Er +krabbelte über den Kies und kitzelte die Frauen um Brüste +und Waden. Wir hielten vor dem aufgeschütteten Grab. Der +Sarg wurde hinuntergelassen, einige Formalitäten und Gebete +waren schnell erledigt. Darauf fing der Pastor Leopold +Lehmann an, auf Wunsch und auf Kosten meiner Frau, eine +Gedächtnisrede zu halten. Er sagte:</p> + +<p class="indent"> +Liebe Schwestern und Brüder! Wieder hat ein gütiges +Geschick uns ein teures Menschenleben geraubt. Trauernd +stehen wir am Grab des Dahingeschiedenen und gedenken seiner +in Wehmut.</p> + +<p> +Mein Sohn Siegfried biss sich auf die Lippen, Der Pastor +sagte:</p> + +<p class="indent"> +Die Erde, die den Körper ausgesondert hat, dass er kurze +Zeit ein beseeltes Eigenleben führe, hat ihn wieder +aufgenommen in den Mutterschoss. Ein edler Mensch ist +heimgegangen -</p> + +<p> +Mein Sohn Siegfried bekam einen Lachanfall. +Das Gesicht wurde rot und ernst. Er lachte, bis er +röchelte.</p> + +<p> +Meine Frau schrie.</p> + +<p> +Die Verwandten waren empört. Sie schämten sich für meinen +Sohn Siegfried. Einige Frauen weinten in echte +Spitzentücher.</p> + +<p> +Ich war still.</p> + +<p> +Der Pastor sagte:</p> + +<p class="indent"> +Wenn einer nicht weiss, wie er sich zu benehmen hat, soll er +nicht kommen, wenn einer beerdigt wird. Amen.</p> + +<p> +Und entfernte sich. Stolz. Gekränkt. Der Pastor. Leopold +Lehmann.</p> + +<p> +Mein Sohn Siegfried reinigte sich die Fingernägel.</p> + +<p class="source"> +Der Sturm, Nr. 51, 18. Februar 1911, S. 408</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/05_der_freund.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/05_der_freund.html new file mode 100644 index 0000000..85dfc6a --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/05_der_freund.html @@ -0,0 +1,94 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Der Freund</title> +</head> +<body> + +<h4>Der Freund</h4> + +<p> +Ich liebe die toten Tage. Die haben kein Leuchten, sie sind +ganz sehnsüchtig. Die Häuser stehen wie Kulissen vor der +grauen Wolke, die Menschen gehen wie in dem Lichtspiel: wenn +der Abend wird, nicht anders als sie in der Frühe gingen. +Alle Dinge sind wuchtiger. Und meine Kammer sieht aus, wie +wenn eben einer darin gestorben wäre.</p> + +<p> +So oft diese Tage sind, wächst in mir unwillkürlich eine +sinnlose Lust an der Arbeit. Ich tue die alltäglichen +Verrichtungen, als wäre Gottesdienst, was ich tue. Und ich +verliere mich dabei. Fast wie die Träumenden sich verloren +haben. Aber einmal merke ich, daß ich reglos geworden bin +und nach innen starre.</p> + +<p> +Ich werde sehr wach davon und ich kann mich nicht mehr +hingeben. Ich gehe zu dem Fenster, da sind wunderliche +Gedanken. Die waren sonst nur in Nächten.</p> + +<p> +Ich fühle mich fremd bei allen Dingen. Sie drängen auf mich +ein, als kennten sie mich nicht: die Straße und die Menschen +und die Türen in den Häusern und die tausend Bewegungen. Wo +ich hinschaue, werde ich verwirrt.</p> + +<p> +Mein kleiner Tod quält mich, es war doch schon viel Sterben +und größeres. Und daß ich einsam bin. Und daß überall ein +Unbegreifliches droht. Und daß ich mich nicht zurechtfinde. +Und alle die übrigen Traurigkeiten, für die kein Arzt ist, +und die man nicht mitteilen soll. Jeder muß ihnen aliein +unterliegen und auf seine Weise. In der Rede sind sie +lächerlich, aber mancher geht an ihnen zugrunde. Ich habe +Grauen, daß ich so fremd mit mir bin und so ohnmächtig. Bis +Erinnerungen kommen. Ungerufen. Aber lieb. Irgendwoher. Sie +betäuben mich.</p> + +<p> +Ich lächle, wenn ich das Weinen des Kindes +finde oder den Tod der Mutter, der gräßlich war und nicht zu +sagen ist, oder die anderen blutigen Köstlichkeiten. Ich +lächle, wenn die Augen meines Freundes plötzlich leben +werden und in den seidigen Schatten sind, daß sie wie aus +Schleiern glänzen und ihr Geheimstes preisgeben. Niemand hat +es mir gesagt, und ihr werdet mich einen Narren nennen .. +aber ich weiß, daß sein Tod schon immer in den Augen gewesen +ist wie der eines andern in den Lungen oder in dem +Rückenmark …</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Seine Augen waren elend und vergangen und heillos +schmerzlich, daß die Leute lachten, wenn er zu ihnen sah. Er +schämte sich seiner Augen, als verrieten sie von sündsamen +Abenteuern und verbarg sie viel hinter den vergilbten +Lidern. Aber er fühlte, wie man hinstarrte, wenn er eintrat, +wo er unerwartet kam. Oder sich setzte, wo er nicht +selbstverständlich war. Er schaute übertrieben wie ein +Suchender. Hüstelte und hielt die Hand vor den Mund, zog die +Backen nach innen oder wölbte die eine mit der Zunge. War +verlegen. Unglücklich. Wäre gern allein gewesen .. in dem +Dunkel.</p> + +<p> +Kinder neigten den Kopf, wenn sein Blick auf ihre +Augen kam. Und wurden rot. Und grinsten scheu und dumm. +Frauen kicherten, sie schauten wie harmlos hin und +klatschten einander auf die Schenkel oder auf die nackten +Schultern und küßten ihre verwüsteten Männer. In der Nacht +lagen sie wach und sannen sich heiß. Aber die jungen Mädchen +wichen ihm aus.</p> + +<p class="source">Der Sturm, Nr. 85, 11 November 1911, S.678</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/06_die_verse_des_alfred_lichtenstein.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/06_die_verse_des_alfred_lichtenstein.html new file mode 100644 index 0000000..681ac08 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/06_die_verse_des_alfred_lichtenstein.html @@ -0,0 +1,196 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Die Verse des Alfred Lichtenstein</title> +</head> +<body> + +<h4>Die Verse des Alfred Lichtenstein</h4> + +<p> +Die folgenden Gedichte können in drei Gruppen geteilt +werden. Eine vereinigt phantastische, halb spielerische +Gebilde: Der Traurige, Die Gummischuhe, Capriccio, Der +Lackschuh, Wüstes Schimpfen eines Wirtes. (Zuerst erschienen +in der Aktion, im Simplicissimus, im März, Pan und +anderswo.) Freude an reiner Artistik ist unverkennbar. Ein +Beispiel:</p> + +<h5>Der Athlet</h5> + +<p> +Einer ging in zerrissenen Hausschuhen<br /> +hin und her durch das kleine Zimmer,<br /> +das er bewohnte.<br /> +Er sann über die Geschehnisse,<br /> +von denen in dem Abendblatt berichtet war.<br /> +Und gähnte traurig,<br /> +Wie nur einer gähnt,<br /> +Der viel und Seltsames gelesen hat.<br /> +Und der Gedanke überkam ihn plötzlich –<br /> +Wie wohl den Furchtsamen die Gänsehaut<br /> +Und wie das Aufstoßen den Uebersättigten,<br /> +Wie Mutterwehen –<br /> +das große Gähnen sei vielleicht ein Zeichen,<br /> +ein Wink des Schicksals, sich zur Ruh zu legen…<br /> +Und der Gedanke ließ ihn nicht mehr los.<br /> +Und also fing er an, sich zu entkleiden…<br /> +</p> + +<p> +Als er ganz nackt war, hantelte er etwas. +</p> + +<p> +Im Hintergrund ist Demonstration von Weltanschauung. Der +Athlet … Bedeutet: Daß der Mann auch geistig seine +Notdurft verrichten muß, ist entsetzlich.</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Das früheste Gedicht einer zweiten Gruppe ist:</p> + +<h5>Die Dämmerung*)</h5> + +<p> +Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.<br /> +Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.<br /> +Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,<br /> +als wäre ihm die Schminke ausgegangen.</p> + +<p> +Auf lange Krücken schief herabgebückt<br /> +(und schwatzend) kriechen auf dem Feld zwei Lahme.<br /> +Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.<br /> +Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.</p> + +<p> +An einem Fenster klebt ein fetter Mann.<br /> +Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.<br /> +Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.<br /> +Ein Kinderwagen schreit. Und Hunde fluchen.</p> + +<p> +Absicht ist, die Unterschiede der Zeit und des Raumes +zugunsten der Idee zu beseitigen. Das Gedicht will die +Einwirkung der Dämmerung auf die Landschaft darstellen. In +diesem Fall ist die Einheit der Zeit bis zu einem gewissen +Grade notwendig. Die Einheit des Raumes ist nicht +erforderlich, deshalb nicht beachtet. In den zwölf Zeilen +ist die Dämmerung am Teich, am Baum, am Feld, am Fenster, +irgendwo … In ihrer Einwirkung auf die Erscheinung +eines Jungen, eines Windes, eines Himmels, zweier Lahmer, +eines Dichters, eines Pferdes, einer Dame, eines Mannes, +eines Jünglings, eines Weibes, eines Clowns, eines +Kinderwagens, einiger Hunde, bildhaft dargestellt. (Der +Ausdruck ist schlecht, aber ich finde keinen besseren.)</p> + +<p> +Der Urheber des Gedichtes will nicht eine als real denkbare +Landschaft geben. Vorzug der Dichtkunst vor der Malkunst +ist, daß sie »ideeliche« Bilder hat. Das bedeutet – +angewandt auf die Dämmerung: Der dicke Knabe, der den großen +Teich als Spielzeug benutzt und die beiden Lahmen auf +Krücken über dem Feld und die Dame in einer Straße der +Stadt, die von einem Wagenpferd im Halbdunkel umgestoßen +wird, und der Dichter, der voll verzweifelter Sehnsucht in +den Abend sinnt (wahrscheinlich aus einer Dachluke), und der +Zirkusclown, der sich in dem grauen Hinterhaus seufzend die +Stiefel anzieht, um pünktlich zu der Vorstellung zu kommen, +in der er lustig sein muß – können ein dichterisches +»Bild« hergeben, obwohl sie malerisch nicht komponierbar +sind. Die meisten leugnen das noch, erkennen daher +beispielsweise in der Dämmerung und ähnlichen Gebilden +nichts als ein sinnloses Durcheinander komischer +Vorstellungen. Andere glauben sogar – zu Unrecht +–, daß auch in der Malerei derartige »ideeliche« +Bilder möglich sind. (Man denke an die +Futuristenmanschepansche.)</p> + +<p> +Absicht ist weiterhin, die Reflexe der Dinge unmittelbar – +ohne überflüssige Reflexionen aufzunehmen. Lichtenstein +weiß, daß der Mann nicht an dem Fenster klebt, sondern +hinter ihm steht. Daß nicht der Kinderwagen schreit, sondern +das Kind in dem Kinderwagen. Da er nur den Kinderwagen +sieht, schreibt er: Der Kinderwagen schreit. Lyrisch unwahr +wäre, wenn er schriebe: Ein Mann steht hinter einem +Fenster.</p> + +<p> +Zufällig auch begrifflich nicht unwahr ist: Ein Junge spielt +mit einem Teich. Ein Pferd stolpert über eine Dame. Hunde +fluchen. Zwar muß man sonderbar lachen, wenn man sehen +lernt: Daß ein Junge einen Teich tatsächlich als Spielzeug +benutzt. Wie Pferde die hilflose Bewegung des Stolperns +haben … Wie menschlich Hunde der Wut Ausdruck geben +…</p> + +<p> +Zuweilen ist die Darstellung der Reflexion wichtig. Ein +Dichter wird vielleicht verrückt – macht einen tieferen +Eindruck als – ein Dichter sieht starr vor sich hin –</p> + +<p> +Anderes nötigt in dem Gedicht: Angst (Zweite Lyriknummer der +Aktion) und ähnlichen zu Reflexionen wie: Alle Menschen +müssen sterben … oder: Ich bin nur ein kleines +Bilderbuch … Das soll hier nicht auseinandergesetzt +werden.</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Daß die Dämmerung und andere Gedichte die Dinge komisch +nehmen (das Komische wird tragisch empfunden. Die +Darstellung ist »grotesk«), das Unausgeglichene, nicht +Zusammengehörige der Dinge, das Zufällige, das Durcheinander +bemerken… ist jedenfalls nicht das Charakteristische +des »Stils«. Beweis ist: In dieser Nummer sind Gedichte +abgedruckt, in denen das »Groteske« unbetont hinter dem +»Ungrotesken« verschwindet.</p> + +<p> +Auch andere Verschiedenheiten zwischen älteren Gedichten +(z.B. Die Dämmerung) und später entstandenen (z. B. Die +Angst) Gedichten desselben Stils sind nachweisbar. Man möge +beachten, daß immer häufiger besondersartige Reflexionen das +Landschaftsbild scheinbar durchbrechen. Wohl nicht ohne +bestimmte künstlerische Absichten.</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Die dritte Gruppe sind die Gedichte des Kuno Kohn.</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Von Lichtenstein sind zwanzig Gedichte unter dem Titel: Die +Dämmerung in dem Verlag A. R. Meyer erschienen.<br /> +Alfred Lichtenstein (Wilmersdorf)</p> + +<p class="footnote"> +* Man erinnere sich des schönen: Weltende … des Jacob +van Hoddis, erschienen im ersten Jahre der AKTION. Tatsache +ist, dass A. Li. (Wi.) dies Gedicht gelesen hatte, bevor er +selbst »Derartiges« schrieb. Ich glaube also, dass van Hoddis +das Verdienst hat, diesen »Stil« gefunden zu haben, Li. das +geringere, ihn ausgebildet, bereichert, zur Geltung gebracht +zu haben. [Anmerkung von Franz Pfemfert.]</p> + +<p class="source"> +Die Aktion, 4. Oktober 1913, S.942</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/fragmentarisches/00.html b/OEBPS/Text/prosa/fragmentarisches/00.html new file mode 100644 index 0000000..3fa43f2 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/fragmentarisches/00.html @@ -0,0 +1,16 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Fragmentarisches</title> +</head> + +<body> +<h3 class="section center">Fragmentarisches</h3> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/fragmentarisches/01_ein_kapitel_aus_einem_fragmentarischen_roman.html b/OEBPS/Text/prosa/fragmentarisches/01_ein_kapitel_aus_einem_fragmentarischen_roman.html new file mode 100644 index 0000000..a889867 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/fragmentarisches/01_ein_kapitel_aus_einem_fragmentarischen_roman.html @@ -0,0 +1,372 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Ein Kapitel aus einem fragmentarischen Roman</title> +</head> +<body> + +<h4>Ein Kapitel aus einem fragmentarischen Roman</h4> + +<p> +Der Doktor Bryller ist schließlich doch Oberlehrer geworden. +Einer, ein wütender Feind, hatte ihm schon vor Jahren in der +veralteten Zeitschrift: »Das andere A« solch Schicksal +prophezeit. Damals war er zu Tode traurig über die +Erkenntnis des Feindes, deren Wahrhaftigkeit er nach +heftigem Nachdenken nicht leugnen konnte. Er schrieb einen +maßlosen Artikel, der nirgends angenommen wurde. Und eines +Abends betrank er sich ein wenig mit französischem Sekt, um +die angeborene Angst umzubringen, die ihn hinderte, den +Feind zu verhauen. Aber seine Feigheit verließ ihn auch in +der Trunkenheit nicht. Da gab er, unsagbar unglücklich, auf, +sich zu rächen.</p> + +<p> +Er begann offiziell, einsam und verklärt zu leben. Er teilte +dies mit; agitatorisch, wie er oft das Programm einer neuen +Kunstrichtung verkündet hatte. Und mit einer innersten +Feierlichkeit wie bei einem bedeutenden Begräbnis. Noch +seine Niederlage nutzte er aus, sich überlegen zu fühlen. Im +Grunde lebte er kaum anders als bisher. Nur daß er +tatsächlich seelisch trostloser geworden war. Jetzt mußte er +sich so beruhigen: Selbst wenn ich erreichen könnte, was ich +erreichen wollte, würde ich nichts erreichen. Während er +vordem so gedacht hatte: Zwar ist leider richtig, daß ich +nichts erreichen kann, aber was ich erreichen kann, ist +ziemlich schön.</p> + +<p> +Praktisch, wie Berthold Bryller in gewissen Beziehungen war, +wußte er seine Schwächen allgemein menschlich aufzufassen, +so daß die Verzweiflung, die sich anfangs in hysterischen +Anfällen besonderer Art offenbart hatte, bald – bis auf +seltene Zustände – dem Gefühl einer erhabenen +Gleichgültigkeit wich. Nach wie vor schrieb er seine frechen +und unvorsichtigen Briefe, die ihm viel schadeten, +veröffentlichte er besonders kluge, etwas wahnsinnige +Aufsätze in den wenigen Blättern, mit deren Herausgebern er +zufällig nicht verfeindet war, gründete er Clubs, die ihn +ausstießen, Zeitschriften, in denen er bekämpft wurde. Nach +wie vor machte er sich auch sonst durch seine Beteiligung +überall unmöglich. Uneingeweihte würden allerdings den +Umstand, daß er nicht mehr in dem Café Klößchen zu sehen +war, als ein Zeichen seiner innerlichen Verwandlung bemerken +können, wenn nicht ein an der Tür des Cafés befestigtes +Plakat:</p> + +<p> +Bryllern ist der Eintritt verboten!</p> + +<p> +Veranlaßt hätte, einen Streit mit dem Wirt als Ursache +seines Fernbleibens anzunehmen. </p> + +<p> +Aber allmählich wurde dem Doktor Bryller, der doch kein +Trottel war, das hoffnungslose literarische Dasein +unausstehlich. Hinzu kam, daß seine Geldmittel in absehbarer +Zeit erschöpft waren. Er mußte also, unfähig, sich +gegebenenfalls zu töten, bedacht sein, durch Arbeit seinen +Lebensunterhalt zu beschaffen. Die schriftstellerische +Tätigkeit war pekuniär ungefähr erfolglos. In eine feste +literarische Stellung zu treten – etwa als Redakteur –, +würde er nicht über das Herz gebracht haben, abgesehen +davon, daß ihn niemand genommen hätte. Was blieb ihm, als +mit dem Rest seines Kapitals die unterbrochenen +Universitätsstudien fortzusetzen, die notwendigen +Staatsexamina zu machen, sich als Oberlehrer eine +gesicherte, ganz angenehme Position zu schaffen. übrigens +war ihm dieser Beruf durchaus bequem. überzeugt von der +unverbesserlichen menschlichen Fehlerhaftigkeit, die er an +dem eigenen Leibe erfahren hatte, durchdrungen von der +vollständigen Zwecklosigkeit körperlichen und geistigen +Strebens, ließ er gern jeglichen Trieben ungehemmten Lauf. +Seinen Herrschergelüsten, seinem sonstigen Ehrgeiz, sogar +seinen erotischen Bedürfnissen konnte er als Oberlehrer am +ehesten Genüge tun.</p> + +<p> +Der Doktor Bryller war trotz seiner Launenhaftigkeit und +häufigen Sonderbarkeiten einer der beliebtesten Lehrer des +Grauen Gymnasiums. Die kleinen Zöglinge vergötterten ihn, +die größeren hingen ihm leidenschaftlich an. Natürlich gab +es auch Schüler, die ihn nicht mochten. Zum Beispiel der +Quintaner Max Mechenmal, den er einige Male ohne +auffallenden Grund geohrfeigt hatte. Das hätte für Doktor +Berthold Bryller beinahe unangenehmste Folgen gehabt. +Gelegentlich der auf die entrüstete Beschwerde des +Quintaners von dem Direktor Rudolph Richter einberufenen +Lehrerkonferenz zeigte sich, daß die große Mehrzahl der +Kollegen im Gegensatz zu den Schülern dem Doktor keineswegs +freundlich gesinnt war. Als er auf die Frage, warum er +geschlagen habe, lächelnd erwiderte, weil ihm Mechenmal +mißfalle, wollte man, dem Vorschlag des angesehenen Kollegen +Lothar Laaks folgend, der vorgesetzten Behörde empfehlen, +ihn für längere Zeit zwecks geistiger Erholung in ein +Sanatorium zu entfernen. Nur der Zufall, daß der gekränkte +Quintaner Mechenmal ein bei Lehrern und Schülern in gleichem +Maße verhaßtes Individuum war: Wegen seiner +katzenfreundlichen Verlegenheit und heimlich aufhetzenden +Bosheit, hinderte einen solchen Entschluß. Obwohl der +Kollege Laaks – der einzige, der für Mechenmal Worte der +Anerkennung fand – unter Aufwand vieler schmutziger +Dialektik feurig dafür eintrat. Man begnügte sich, den Herrn +Doktor Bryller auf das Ungehörige seiner Handlungsweise +drohend aufmerksam zu machen.</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Etwa ein halbes Jahr vor der endgültigen lebenslänglichen +Verwahrung Berthold Bryllers in einem staatlich +subventionierten Irrenheim war ein Geschrei auf dem Hof des +Grauen Gymnasiums. Ein Haufen zumeist kleinerer Schüler +wälzte sich hinter einem zwergenhaften, vergrämten, schiefen +Jungen, dessen Rücken die zarten Anfänge einer +Buckelkrümmung aufwies. Man rief ihm vergnügt und gehässig – +in dem Lärm unverständliche – sicherlich bösartige Neckworte +zu. Er wurde gestoßen, so daß er stolperte. Viele ältere +Gymnasiasten sahen das muntere Treiben belustigt an. Auch +der Oberlehrer Laaks, der die Aufsicht führte, unterdrückte +nicht ein vergnügtes Schmunzeln. In einem Fenster war das +regungslose Gesicht des Doktor Bryller.</p> + +<p> +Der schiefe Junge ging, ohne sich zu wehren. Gebückten +Kopfes. Oft mußte er mit der Hand über die Augen wischen. +Nur einmal, als einer der Übermütigsten – natürlich der +Quintaner Mechenmal – ihm unter johlendem Beifall der +anderen in das Gesicht spie, warf er sich tief aufweinend +gegen den Angreifer; der lief sofort davon. Mitten durch den +Haufen, der ihm jubelnd überall den Weg verstellte, +verfolgte der weinende Bucklige den Kameraden. Er würde den +Mechenmal vielleicht auch erreicht laben, wenn nicht der +langjährige Untertertianer Spinoza Spaß ihn plötzlich an dem +Buckel wie an einem Haken festgehalten hätte. Spinoza Spaß +grinste gemütlich und boshaft das affenförmige, sehnsüchtig +phlegmatische Gesicht entlang, als er den kleinen +verzweifelten Kohn wie ein Gewicht langsam durch die sonnige +Frühlingsluft bewegte. Er ist durch diese Heldentat einer +der berühmtesten Untertertianer des Grauen Gymnasiums +geworden.</p> + +<p> +Vorzeitig machten dem sonderbaren Schauspiel einige +miteidige größere Gymnasiasten ein Ende. Der hagere, bleiche +Primaner Paulus entriß den winzigen unglückseligen Menschen +dem giftig dreinblickenden Spaß und bedrohte jeden mit +Schlägen, der den schiefen kleinen Kohn weiterhin belästige. +Aus Furcht vor Paulus und einigen Gleichgesinnten ließ man +auch – wenigstens vorläufig – den glühenden Buckligen in +Ruh. Der drückte sich die grauen Mauern entlang. Und wäre am +liebsten versunken. Froh war er, als die Schulglocke das +Zeichen gab, in die Klassenstuben zu verschwinden.</p> + +<p> +Der Primaner Peter Paulus war schon auf dem etwas finsteren +Gange zu dem geräumigen Zimmer, in welchem der Pastor +Leopold Lehmann den Schülern der oberen Klassen hebräischen +Unterricht zu erteilen pflegte, als der Oberlehrer Laaks ihn +einholte, ihn anrief, ihn in ein geheimnisvolles, sehr +aufgeregtes Gespräch zog. Laaks machte dem Paulus +anscheinend Vorwürfe. Merkwürdig war aber, daß er nicht +aussah wie ein Lehrer, der den Schüler zurechtweist, sondern +etwa wie ein mißtrauischer Verwandter, der sich in einer +Erbschaftsangelegenheit übervorteilt glaubt. Auch das +Verhalten des Primaners war durchaus nicht das Verhalten +eines Untergebenen…</p> + +<p> +Die Unterredung der beiden mußte sich wohl sehr ausgedehnt +haben. Denn als Peter Paulus noch bleicher als sonst eintrat +und das zu späte Kommen mit einem dienstlichen Gespräch +entschuldigte, hatte der Pastor Lehmann das eigentliche +Pensum längst erledigt; war in einer religiösen Diskussion +begriffen, die er in moderner Weise regelmäßig an den +hebräischen Unterricht knüpfte. Man sprach gerade über Gott +und studentisches Wesen, kam aber nach einigen unwichtigen +Erörterungen zu dem Thema: Abtreibung und Seelenleben, bei +dem man verharrte. Den Anlaß hatte eine Mitteilung in einem +Artistenfachblatt gegeben, die einer sich ausgeschnitten und +zwecks Auseinandersetzung mitgebracht hatte. Der Pastor las +vor:</p> + +<p> +Zusammenbruch der berühmten Tänzerin Lola Lalà.</p> + +<p> +Die rühmlichst bekannte Varietétänzerin Lola Lalà, die auch +unter der Bezeichnung Lola Lalà auftrat und deren +Mädchenname Leni Levi ist, mußte, wie ein Korrespondent uns +drahtet, in eine Irrenanstalt gebracht werden, was +gewaltiges Aufsehen erregte. Man fand die Bedauernswerte in +Adamskostüm splitternackt gegen Morgen auf einem Weizenfeld +bitter weinend eine schwere Zigarre rauchend. Herr +Gottschalk Schulz, ein zartfühlender Poet, hat in der +»Zeitung für erhellte Bürger« darüber ein ergreifendes +Gedicht veröffentlicht, das einen pikanten Reiz dadurch hat, +daß – so munkelt man wohl nicht mit Unrecht – der Dichter zu +der armen lieblichen Tänzerin recht herzliche Beziehungen +unterhielt. Deshalb sei dies schöne Gedicht unseren Lesern +nicht vorenthalten: – – –</p> + +<p> +Das Gedicht hatte die Überschrift: Der Rauch auf dem Felde. +Der Pastor las es aber nicht vor, weil es zu zotig sei. Auch +nicht zur Sache gehöre. Dagegen las er:</p> + +<p> +Wie ich aus besonderer, authentischer Quelle in später +Abendstunde noch erfahre, soll die Ursache des seelischen +Zusammenbruchs der Tänzerin ein nach glücklich erfolgter +<span class="spaced">Abtreibung</span> durch einen Einbruch +verursachter Schreck gewesen sein. Eine gerichtliche +Untersuchung ist eingeleitet.</p> + +<p> +Danach begann der Pastor eine Rede über die Abtreibung so: +»Die Erkenntnis des Menschen gipfelt darin, daß er das am +höchsten entwickelte Erdwesen sei. Das kann kein Mensch +bestreiten.« Er bemerkte nicht das absichtlich übertrieben +unterdrückte Lachen einiger. Und langsam fuhr er fort. Er +verurteilte die Abtreibung als Gott ungefällig vom +religiösen und sozialpolitischen Standpunkt aus. Zum +Schlusse sagte er: »Wir sind modern. Wir scheuen uns nicht, +anstößige Fragen mit sittlichem Ernst zu behandeln.« –</p> + +<p> +Der einzige, der widersprach, war Peter Paulus. Er geriet – +äußerlich ruhig – in solche Wut, daß er sagte: »Wenn ich +Arzt wäre, Herr Pastor, würde ich selbst –« da sagte erregt +der Pastor: »Glauben Sie an Gott, Paulus?« Und Peter Paulus +sagte nur: »Nein.« Er wurde einige Minuten vor Schluß der +Lehrstunde wegen Sozialdemokratie und Gottlosigkeit von dem +hebräischen Unterricht ausgeschlossen.</p> + +<p> +Trotzig ging er hinaus. Warf die Tür.</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Als der verwitwete Gefängnisgeistliche Christian Kohn sein +einziges herz- und geisteskrankes Kind in eine Anstalt geben +mußte, adoptierte er – niemand weiß warum – einen kleinen +Krüppel. Man schwatzte vielerlei. Am hartnäckigsten erhielt +sich das Gerücht, der Krüppel Kuno sei ein natürlicher Sohn +des Geistlichen. Die Mutter sei die populäre Totschlägerin +Trude, die ihren abtrünnigen Zuhälter erschossen hatte. +Trude war, weil sich herausstellte, daß sie trächtig war, +unter jubelndem Beifall des ganzen Volkes begnadigt worden. +Man behauptet, der mitleidige Geistliche habe Trudes +Schwangerschaft bewirkt. Doch ist das nicht nachgewiesen.</p> + +<p> +Kuno Kohn verbrachte die erste halbwache Jugend in den +trostlosen steinernen Räumen und Höfen des Zuchthauses. Der +Adoptivvater kümmerte sich wenig um den Jungen. Wochenlang +ließ er sich nicht sehen. überlassen einer mürrischen +Dienstperson, die in der Hauptsache die dürftige Wirtschaft +des Geistlichen besorgte, ohne ausreichende Pflege, ohne +Spielgenossen, ohne Anregung und Liebe konnte sich das +krüpplige Kind nicht entwickeln. Blieb immer zwergenhaft. +Blaß und verträumt schlich er einher. Verschüchtert und +furchtsam. Gegen Abend wimmelte es auf den winkligen Treppen +mit vergitterten Fenstern, in den großen düsteren Hallen und +Gängen von verwegenen Schatten und schauerlichen Geräuschen. +Ein Robusterer würde solche peripherischen Dinge nicht +beachtet haben, wenn er sie überhaupt bemerkt hätte. Aber +auf den Kuno Kohn drang das Geringste ein, das +Nebensächlichste hatte Bedeutung, entsetzte ihn. überall und +von allem fürchtete er Unheil. Nichts war ihm vertraut. Die +ewige Angst machte ihn selbst zu einem kleinen huschenden +Gespenst und gab seinen schwindsüchtigen Augen +phosphorisches Leuchten. Wenn er zu später Stunde +weggeschickt wurde, etwa um Milch zu holen oder Petroleum, +betete er in fiebriger Inbrunst zu dem lieben Gott. Atemlos +und kalkig kam er wieder.</p> + +<p> +über alles fürchtete Kuno Kohn die tausendfältige Finsternis +vor dem Einschlafen. Früher hatte man ihm eine winzige Lampe +in das Zimmer gestellt, deren rötlicher melancholischer +Schein ihn etwas beruhigte. Auf der weichen Wand tauchten +sonderbarste Fratzen auf und Kämpfe, aber auch +Zinnsoldatenmärsche und ergötzliches Durcheinander von Feen +und Kuchenläden und Königinnen, bis ein Schlaf kam. Seit +einiger Zeit wünschte der Geistliche solche Verweichlichung +der Seele seines Sohnes nicht mehr. Kuno mußte in dem +Dunkelen leben. Weg war das bißchen Sichtbarkeit. Das +unzählige unfaßbare Geschehen des Chaos kugelte sich um den +kleinen Menschen. Mehr Welt drängte sich in dem kurzen +Nachtzimmer des Buckligen, als der ganze große Tag enthielt. +Kuno Kohn hatte den Körper, der in dem Bett liegen sollte, +verloren: War nur noch Schreck und Hilflosigkeit und +Sehnsucht. Am schlimmsten war, wenn sich das wüste Ungefähr +zu Erscheinungen oder Berührungen verdichtete. Dann schrie +der Kohn verzweifelt auf. Entweder hörte man den Aufschrei +nicht oder legte ihm keine Bedeutung bei. In Gefängnissen +schreit es immer in der Nacht irgendwo. Kuno lag oft lange, +bis das unergründliche Loch, das so viel unbegreiflichen +Inhalt hatte, die lebhaften Bilder einließ, die Traum und +Schlaf brachten: Einbrecher, oder vielleicht eine +Droschkenfahrt in der Sonne, einen Besuch bei dem kleinen +kranken Bruder, ein Spiel mit Straßenkindern, die lieben +traurigen Engelaugen der Maria Müller, für die man sterben +möchte.</p> + +<p> +Des Kuno Kohn gute Bekannte waren die Gefangenen. Nicht die +Wächter; die waren zwar recht freundlich zu ihm, aber ein +instinktives Mißtrauen herrschte verborgen. Dagegen die +Totschläger und Spieler, Lustmörder und Räuber, die +berühmtesten Einbrecher und die Mehrzahl der sonstigen +distinguierten Alteingesessenen begrüßten den kleinen +Buckligen herzlich durch geringes Kopfnicken oder fast +unmerkliches Grinsen, sooft er kam, der stummen grauen +Arbeit mit aufgerissenen Träumeraugen zuzusehen. Nur die +Hehler, Wucherer, Hochstapler, Defraudanten, Bauernfänger, +die meisten Bankerotteure und manche Zuhälter blieben +unerfreut. Besonders angefreundet hatte sich Kuno Kohn im +Laufe der Jahre mit dem jugendlichen Einbrecher Benjamin. +Die beiden saßen oft stundenlang zusammen. – Die Wächter +drückten ein Auge zu … Benjamin erzählte dem Buckligen +schwärmend. Von Sonne. Und Freiheit. Und der Erlösung der +Menschen. Kuno Kohn vermittelte den geheimen Verkehr +Benjamins mit der Außenwelt und erwies dem Freunde allerlei +Gefälligkeiten, er verschaffte ihm Zigaretten, Bücher, +kleine Werkzeuge. Als einmal in dem Käfig Benjamins ein Band +Goethe und etwas Zigarettenasche gefunden wurde, hatte man +Kohn in Verdacht. Nach dem kurz darauf erfolgten Ausbruch +des Einbrechers, der nur mit fremder Hilfe geschehen sein +konnte, machte man dem Geistlichen Mitteilung. Der verbot +dem Sohn das Zusammensein mit den Eingesperrten. Die Wächter +durften ihn nicht mehr einlassen.</p> + +<p> +Die großen Probleme, die den Kuno Kohn, sobald er +einigermaßen denken konnte, immer wieder quälten, waren +hauptsächlich Tod und Gott. Im Alter von vier oder fünf +Jahren glaubte er nicht an den Tod, wenigstens nicht an +seinen. Und er betete täglich zu dem lieben Gott, bevor er +sich hinlegte: »Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll +niemand drin wohnen als Gott allein.« Aber wenn er während +des Tages etwas getan hatte, was ihm sündhaft erschien – und +das geschah fast immer –, fügte er (im Bett sitzend; +stehend, wenn es besonders schlimm war) lange und reumütige +Monologe hinzu, bis er, übermüdet, mit noch gefalteten +Fingern und Tränen einschlief. Wenn Finsternis und Angst +kamen, betete er immer. Allmählich mehrten sich die Zweifel. +Er mußte an seinen Tod glauben und den Glauben an Gott +verlassen. Als er in die Schule kam, begann die Fülle von +Leiden, die für manche Kinder damit verbunden sind.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/fragmentarisches/02_notizen_zum_roman.html b/OEBPS/Text/prosa/fragmentarisches/02_notizen_zum_roman.html new file mode 100644 index 0000000..4077b1d --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/fragmentarisches/02_notizen_zum_roman.html @@ -0,0 +1,263 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Notizen zum Roman</title> +</head> +<body> + +<h4>Notizen zum Roman</h4> + +<p> +Das Ende</p> + +<p> +Irrenhaus: Bryller, Lola.<br /> +Ertrinken im Meer: Kohn, Maria.<br /> +Selbstmord: Schulz, Paulus.<br /> +Lebenbleiben: Spinoza Spaß, Laaks, Mechenmal.</p> + +<p> +I. Auftritt im Schulhof. Peter Paulus für, Laaks gegen Kohn +(Kohn hatte sich verunreinigt, Max Mechenmal). Später Kohn +an Paulus sich anschließend gegen Laaks. Eifersuchtsszenen. +Infolge der Laakschen Intrigen fällt Paulus durchs +Abiturium, schießt sich tot. Abschiedsbriefe (rührend an +Kohn, offizielles Begräbnis, Kohn rennt davon).</p> + + +<p> +Oberlehrer Dr. Bryller läßt alles geschehen, redet dem +geliebten Paulus sogar zu, sich zu töten: Töte dich, ehe es +zu spät ist (solange du noch dazu fähig bist). Es hat zwar +keinen Zweck, bereitet dir aber etwas wie Genugtuung. (Gott +ist eine Zeiterscheinung.)<br /> +Die Leiche wurde wohlverpackt in einem Kasten auf den +Friedhof getragen, wo man sie unter einer Garderobenmarke +für ewig abgelegt.</p> + +<p> +II. Szene Kohn, Laaks in Badewanne.<br /> +Laaks machte einen Angriff auf Maxens Weiblichkeit. – Laaks +und Kohn treffen sich. Kohn grüßt, Laaks holt ihn ein. Lädt +ihn ein. »Nein, Herr Oberlehrer.« Kohn zittert – – »wollen +Sie ein Bad nehmen?« – »Ich habe schon gebadet.«– +Mondlichtbeleuchtet die beiden in der Badewanne. In haariger +Nacktheit – seine behaarten Weiberbeine – ein Männerfreund.</p> + +<p> +III. Szene in homosexueller Kneipe.</p> + +<p> +(Siehst du, mein Junge, so ist das Leben – er kniff ihn +zärtlich in den Hintern.)</p> + +<p> +IV. Abtreibungsszene.</p> + +<p> +Die Varietétänzerin Lola Lalà: Die kluge Frau sagte +scherzend: Wenn Frauen auseinandergehen, dann bleiben sie +noch lange stehn. – – Auf Wiedersehn, mein Fräulein. Lola +Lalà, alias Lene Levi läuft wie wahnsinnig.</p> + +<p> +V. Einbruchsszene bei Lola:–––––––––––––––<br /> + +– – Der berufsmäßige Einbrecher Benjamin, der unter dem Bett +lag, wußte nicht, was er dazu denken sollte. Sein Kopf +schüttelte sich, dabei stieß der Hirnschädel einen sinnlosen +Bettpfosten, der daraufhin einen starren Ton von sich gab. +Der Mann Benjamin erschrak. Die Lampe fiel um. Gardinen +brannten sofort.<br /> +Plötzlich hatte sich auch ihr (Lola Lalà) Körper erschreckt. +Alles in der Fresse von schleckerndem Feuer. Lief hinaus. +Tür zu. Schloß ab. Zweimal. Sinnlos. Plötzlich hinter der +Tür Männerrufe, kläglich: Hilfe, Hilfe. Schrie sie: Mörder, +Mörder, Mörder. Rannte. Auf der Straße im Frieden des +Abends: Leute aus Häusern. Ratlos. Die Rennende an allen +vorüber. Mörder, Mörder ... Eine Verrückte hinter ihr her. +Einem Hundefänger gelang, sie zu fassen. Mörder, Mörder. Mit +ihr in offener Droschke und durch die Stadt. Mörder, Mörder. +Fenster auf, Wagen bleiben stehen. Gelaufe. In +Irrenabteilung des Krankenhauses.<br /> +Inzwischen brennende Stube. Einbrecher Benjamin auf Fenster +strampelnd: Hilfe. Unerlaubte Handlung. Hilfe. Da soll man +nicht Sozialdemokrat werden. Heulend: Falle der Polizei, +anständigen Menschen verbrennen lassen. Hilfe, Hilfe. +Feuerwehr kommt. Hilfe. Wasser bespritzt ihn. Vom Regen in +die Traufe. Kann ja auch gleich in den Fluß springen. +Ersäuft.<br /> +Als die halbverweste Leiche aus dem Wasser gezogen wurde, +fing der noch betrunkene Arzt an, faule Witze zu machen. Dr. +Bryller übergab sich.<br /> +Alles Reden, Denken, Dichten ist unnütz; eine aus dem Wasser +gezogene vor dir im Tode liegende Leiche macht alles +Geschreibe zuschanden mit ihrer schrecklichen Verzerrtheit. +Sieh, wie das Gesicht und die Hände im Krampf wie in Eisen +gegittert sind! Wie sie schreiend aus sich heraus wollen!</p> + +<p> +Vl. Irrenhausszene: Die rothaarige verrückte Schwester des +Martin Müller (Maria).<br /> +»Die Erde wird dunkel«, sagte die verrückte rothaarige +Schwester des Martin Müller, Maria. (Sie liebt ihren +Bruder.) Den kleinen Kohn streichelt sie, aber: »Ich kann +nur Heilige lieben«, sagt sie. Die Melodien des Abends, der +wie Seidenschleier alles verhüllt: Die grünen Bäume, den +sehnsüchtigen Erdboden, die Bank mit dem rothaarigen Mädchen +und dem kleinen Buckelkohn, – waren ringsum.<br /> +In der Irrenanstalt: Die eine Insassin war schon eine +ziemlich angegraute Dame, die sagte: »Wenn man sich schon so +lange hier aufhält, bleibt man da.« – Ein moderner +Schriftsteller, der sich einbildet, er sei nur dort, um das +Milieu zu studieren, in Wirklichkeit aber Gehirnerweichung +hat. Etc.</p> + +<p> +VII. Kohns erste Geliebte (auf Laaksens Veranlassung):<br /> +Hysterische Person, die Wanzen krochen nur so in der Küche +herum.</p> + +<p> +VIII. Das Ende des Dr. Bryller.</p> + +<p> +IX. Schriftsteller Schulz und Kokotte Kitty.<br /> +(»Nicht so laut«, sagte Kitty, als Schulz ihr von Gott +erzählte.)</p> + +<p> +X. Vortrag des Gelehrten Neumann:<br /> +Sensation: Ein erst sechzehnjähriger Gelehrter namens +Neumann spricht über Mutterschutz und Kindererziehung – – – +scheint ihm hier nicht der Ort, über gefallene Mädchen zu +reden – – – die Frau hat eingesehen, daß ihr der Platz +gebührt, auf den sie gehört – – – das Elend der Prostitution +– – posierte Handbewegungen. Stimme. Augenbrauen in die Höhe +ziehen. Ich muß mich in Extremen ausdrücken. Ich muß den +Zionismus als eine besondere Abart der Prostitution +entschieden verurteilen. Mutterschutz: Die Mutter muß gegen +ihre Kinder geschützt werden (neue sensationelle +Auffassung), sagte eine Dame.<br /> +– – – Sie, eine Germanistin, warf in die Debatte: »Wo du +deinen Glauben gelassen hast, mußt du ihn holen.«</p> + +<p> +XI. Kohns zweite Geliebte: Backfisch (in der einen Hand +hatte sie eine illustrierte Himmelskunde).<br /> +Er liebte sie in der Weise: Er schrieb sich häufig auf, wenn +sie etwas Komisches sagte, um es später zu verwenden +(schriftstellerisch). Aber in einem Kaffeegarten an einem +Teich – überall war schon Abend, und Dunst hing wie Schleier +an den Bäumen und Tischen und Kellnern – nahm er sein +Notizbuch aus der ausgerissenen Innentasche seines +Oberrockes und las ihr leise vor ... Sie lachte und er +lachte – stiller und unglücklich. Jeder dachte: Das ist +nicht das Richtige ... Sie dachte noch: Der ist nicht +innig... Er dachte noch: Das arme Ding, wie fern ist sie +mir... Dann gingen sie rudern.</p> + +<p> +XII. Kneipenszene in Nürnberg: Kunstmayer.<br /> +Alle selig besoffen, können kaum noch richtig sprechen. +Lallen. Einer sagt: »Dede do dadä.« – – – Ob sichs lohnt um +dieser tierisch Dahindösenden? – – – »Sieh, wie ein +Ochsenauge ist der Blick dieses Arbeiters nach innen +gekehrt«, sagte Paulus.<br /> +»Die oberen Zehntausend regieren die Welt«, brummte der +Kellner bitter, dann spielte er eine wilde Variation von +»Puppchen, du bist mein Augenstern« auf einer Mundharmonika. +Von Zeit zu Zeit schlug er dann gegen eine Kante. Die Hand +rieb er an einem Ärmel oder Hosenbein blank.<br /> +Karl Kunstmayer, heruntergekommener Kabarettist: Ich +schweinigle gern... – Ein ganz famoser Kerl, philosophisch +tip top, aber ist zu ideal – – –<br /> +man war in wehmütiger Stimmung. Kunstmayer sang leise: »Das +haben die Mädchen so gerne.«</p> + +<p> +XIII. Ertrinken im Meer.<br /> +Ich habe eine Angst, daß auch das Mädchen ersoffen ist. +Nebenbuhler in dem Meer verunglückt (ertrunken). »Es ist +gemein, daß man darüber höchstens ein Gedicht machen kann +oder plötzlich den Schluß zu einer Geschichte findet«, +schrie der tote Kohn. Während sie gingen, fanden sie überall +weiße Sonderblätter der Zeitung über das Geschehnis. – – – +»Das ist eine Brutalität«, sagte ein anderer. »Dies ist der +richtige Ausdruck.« – »Endlich!« Seufzte erlöst ein anderer. +Kohn schrie: »Ich will aber keinen Schluß zu einer +Geschichte haben. Das ist gemein. Ich komme von Sinnen. +Aufpeitschen will ich. Quälen will ich euch, nicht euch +befriedigen. Heulschreie müßt ihr aus euch stoßen. Ihr müßt +euch auflösen in Schmerzen.« Der tote Kohn wurde nicht +empfunden.</p> + +<p> +Detektiv Daniel</p> + +<p> +ein Gewitter machte Krach. Der Detektiv Daniel fuhr aus dem +Schlaf. Er sagte: »Die verfluchte Ruhestörung.« Da klopfte +es erregt an die Tür. Die Tänzerin Lola Lalà fand sich +ein.<br /> +»Es gibt viel zu wenig Einbrecher«, sagte der Detektiv +Daniel. »Es gibt weniger Mörder, als man denkt«, sagte +Daniel, die ängstliche Frau beruhigend.</p> + +<p> +Max Mechenmal</p> + +<p> +er nahm das junge Ding, nachdem er sich erst nach dem Alter +erkundigt hatte, nur erotisch überlegend, daß er zu ihr +Liebesworte spreche und sich im stillen darüber lustig +mache, also ein recht schlechter Kerl sei. Einigermaßen +stolz auf die Erkenntnis seines schlechten Charakters, +beruhigte er sich und beschloß, das Ding zu vergewaltigen.</p> + +<p> +Berthold Bryller</p> + +<p> +»Kuno Kohn ist dasselbe in Grün, was Else Lasker-Schüler in +Blau ist«, sagte Bryller.<br /> +Wenn er ein Mädchen loswerden wollte, erzählte er ihr +wunderschön-rührend von seiner Lues, stellte sich als +Märtyrer dar, der um ihrer Gesundheit willen das Opfer +bringe. Die meisten Mädchen hielten ihn weinend für einen +bedeutenden und sehr edlen Menschen. Nur eine fragte einmal +unverschämt, warum er das nicht vorher erzähle.<br /> +Gegensatz zwischen dem wurstigen gewandten Nihilismus +Bryllers und der reinen Verzweiflung des Paulus.</p> + +<p> +Oberlehrer Laaks</p> + +<p> +ich habe Sehnsucht, Liebe und was weiß ich für sie. – Da +könnten komische Dinge geschehen.</p> + +<p> +Lola Lalà</p> + +<p> +sie prahlte mit ihrer zeitweisen und teilweisen +Unberührtheit.<br /> Sie sagte: Wie gesagt, ich bin +sichtlich erschrocken. ––Ich –– +––finde dies mit Recht –– +––albern. – – – Diese +–– ––wirklich kurzen Zeilen. +–– ––––– Er liebt +mich nur erotisch. ––– Ich lüge ja immer. +– – – Der hat mich sehr –– +––lieb. – – Jede Tänzerin hat +bekanntlich einen –– ––Freund. +– – –</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/fragmentarisches/03_ideen_bilder_und_situationen.html b/OEBPS/Text/prosa/fragmentarisches/03_ideen_bilder_und_situationen.html new file mode 100644 index 0000000..64ab22b --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/fragmentarisches/03_ideen_bilder_und_situationen.html @@ -0,0 +1,180 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Ideen, Bilder und Situationen</title> +</head> +<body> + +<h4>Ideen, Bilder und Situationen</h4> + +<h5>Notizen</h5> + +<p> +»ich bin ein Nihilist, wie er im Buch steht«, sagte er, +erstaunt über das furchtbare Wort.</p> + +<p> +Ich gieße meine Augen in meiner Hände Grab.</p> + +<p> +Der Kopf sitzt, eine Geschwulst, auf einem ausgestopften +Anzug. In einer Tasche eine prachtvolle Miniaturausgabe des +Konkursrechtes, in der anderen ein wertvolles kleines +Strafgesetzbuch.</p> + +<p> +Lampen, die Blumen der Nacht, glimmen.</p> + +<p> +Nackte Finger schleichen, spielende weiße Schlangen, hin zu +einem Revolver. Und alle Männer blicken. Der Himmel fließt +um die Nackte wie ein Tanzkleid. Sie schießt den Spiegel +tot. – – Schreit auf, hebt Hände. Aus zitronenfarbenem +Himmel fällt ein Weiß in die grüne Erde.</p> + +<p> +Er spielte an einem Pickel über dem Halskragen, drückte +wiederholt, so daß die Stelle rot wurde und aufschwoll, bis +der Pickel platzte. Er besah den Eiter auf der Hand, zog ein +Tuch aus einer Tasche, wischte die Hand ab, hielt das Tuch +an die wunde Stelle, saß verloren traurig. »Der Mensch ist +hochinteressant«, sagte eine hysterische Dame in dem +Vorbeigehen.</p> + +<p> +Die Erde flackert irgendwo.</p> + +<p> +Mir passiert häufig beim Lesen einer kitschigen rosanen +Geschichte, daß mir trotz des inneren Lachens ein Schauer +durch den Körper geht.</p> + +<p> +Die Erde, das Vieh.</p> + +<p> +Ich bin in meinem schmerzenden Kopf.</p> + +<p> +Die Luft fliegt schmierig umher. Sie bleibt an den Häusern +kleben und an den Händen der Menschen.</p> + +<p> +Sammlung: Berühmte Luetiker.</p> + +<p> +Ich will aufhören, langsam zugrunde zu gehen. Daß geistige +Leute sich nicht unterhalten können. Weib ist nur ein +Vorwand für namenlose Sehnsucht.</p> + +<p> +Ich liebe die Menschen, nicht Einzelne. Ich leide mit den +Elenden um des Elends wegen.</p> + +<p> +Er fraß den Schlaf.</p> + +<p> +Gespräch: »Sie will sich töten.« Er: »Am sichersten wäre +es.« Ihre Augen lagen, leuchtender Schmuck, in ihrer Haut. +Ich bin ja nur ein armes, altes, dickes, schwaches Weib.</p> + +<p> +Ein Reiter ging, sich auf einen Regenschirm stützend, +nachdenklich durch die sonnigen Straßen.</p> + +<p> +Ich bin mir überlegen.</p> + +<p> +Die Vielheit der Frauenzärtlichkeiten läßt erst das Ideal +»Mein Weib« konstruieren. Man muß sich bewußt sein, daß +tatsächlich – Gottseidank – ein ständiger Wechsel notwendig +ist.</p> + +<p> +Und eine ist am Strand – und +eine <span class="spaced">liest</span> am Abend – und eine – – +–</p> + +<p> +ein Pferd machte Laufschritt.</p> + +<p> +»Ich finde das unreif und schlecht beobachtet«, spricht +Backfisch von erotischer Skizze.</p> + +<p> +»Der strengste Objektivismus ist die höchste Moral«, sagte +mein Bruder, als er mich schlug. Das ist eine sehr edle +Anschauung.</p> + +<p> +Idee zu einem Drama: Befriedigung ist auch das Letzte +nicht.</p> + +<p> +Er sank hinunter. Tief, tief in einen Schlaf hinein wie in +einen Sarg aus sanften Frauen.</p> + +<p> +Ein Vogel knarrte im Baum.</p> + +<p> +Auf einem hohen Berg lag ein bärtiger Kopf, neben ihm ein +Bauch. Auf dem Bauch spielten fleischige Finger +melancholisch mit einer dicken goldenen Kette, die wie Feuer +glitzerte.</p> + +<p> +Augen und Sehnsucht: Schwarze Flammen aus dem Gesicht +beleuchten die weiße Stirn, hinter der tausend mit Sehnsucht +gefärbte Bilder funkeln.</p> + +<p> +In ihrem Hirn tanzte gerade ein schöner Geliebter. Ihre +Augen waren ein lichtbraunes Gewand.</p> + +<p> +Caféhaus: Alte fette Dirnen (Großmütter) mit schabiger Haut +– baumelnde dicke Beine –,junge mit schwarzen Fingernägeln +in neuen koketten Kleidern.</p> + +<p> +Er betete in die Luft, mit wundem Rücken und aufgerissenem +Maul, er rief: »Mein Körper ist ein Bett, in dem gehurt +wird.«</p> + +<p> +Manche Dirnen haben so viel sanft überlegene Mütterlichkeit +um die Augen und sind die hilflosesten Kinder.</p> + +<p> +Der abgelehnte Geliebte: Er geht durch viele Straßen und +Stunden. In jeder Verzweiflung. Stellt sich vor den Spiegel. +Hat sich lieb.</p> + + +<h5> +Die Tiere</h5> + +<p> +Schauspiel</p> + +<p> +Grundgedanke: Heilige Sehnsucht aus dem tierischen +Triebleben zur seelischen Reinheit. Je größer der Dreck, +desto heftiger die Sehnsucht. Aber vergebens: Die +Sehnsüchtigen gehen im Dreck unter.</p> + +<p> +Nur der Bürger, der sich über nichts schwere Gedanken macht +und nichts tief empfindet, blüht im Dreck.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/geschichten/00.html b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/00.html new file mode 100644 index 0000000..f5c0591 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/00.html @@ -0,0 +1,16 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Geschichten</title> +</head> + +<body> +<h3 class="section center">Geschichten</h3> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/geschichten/01_der_selbstmord_des_zoeglings_mueller.html b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/01_der_selbstmord_des_zoeglings_mueller.html new file mode 100644 index 0000000..07eceb1 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/01_der_selbstmord_des_zoeglings_mueller.html @@ -0,0 +1,276 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Der Selbstmord des Zöglings Müller</title> +</head> +<body> + +<h4>Der Selbstmord des Zöglings Müller</h4> + +<p> +Ein Herr Ludwig Lenzlicht war Erzieher und Hauslehrer in +einer Anstalt für psychopathische Kinder. Er wurde immer +»Herr Kandidat« gerufen. Er war bartlos wie ein +Schauspieler, auch sprach er so. Meist trug er eine strenge +scharfe Maske auf dem Gesicht.</p> + +<p> +Dieser Herr Lenzlicht fand zwei Tage nach der Beerdigung des +Zöglings Martin Müller (der hatte sich vorher mit den +Strümpfen der Erzieherin Nora Neumann an dem Fensterriegel +einer Bodenluke erhängt) in einem dunklen Winkel seines +Pultes ein Schreibheft. Er nahm es heraus. Und sah es an. +Auf dem Etikett war zu lesen: Dieses Werk widmet Martin +Müller den neuen Primitiven. Auf der ersten Seite war zu +lesen: Lieber Lenzlicht, Sie sind der einzige von den +Imbezillen der Anstalt, dem ich etwas Verständnis für die +Betrachtungen zutraue, die ich hier niedergeschrieben habe. +Doch daß auch Sie an meiner Persönlichkeit, ohne deren +Kulturkraft zu fühlen, wie an einem leeren Gesicht +vorbeigerannt sind, armer Blinder, wird Ihnen die Lektüre +beweisen. Vielleicht werden Sie halbhell. (Dann wären Sie +ein Glücklicher zu nennen.) Ich werde mich jetzt in der +Dachluke zerstören, ein Einsamer in der Erkenntnis. Mein +Werk wird dauern. Martin Müller.</p> + +<p> +Herr Lenzlicht wunderte sich, als er die Sätze las. Nachher +dachte er über Größenvorstellungen bei Knaben. Er war nicht +lustig und nicht traurig, aber er sah finster aus. Das +Denken war ihm keine Leidenschaft, deshalb las er bald +weiter.</p> + +<p> +Auf den nächsten Seiten waren einige Abhandlungen über den +Wert der Kunst geschrieben, über ihre Zukunft, über die +Wechselwirkung der einzelnen Künste, über die Architektur +des literarischen Stils, über die neuen Primitiven, die, von +Müller ausgehend, eine siegessichere Revolution in dem +Kunstleben herbeiführen würden. Die Abhandlungen füllten das +Heft fast. Herr Lenzlicht las sie ohne regere Anteilnahme, +oft überblätterte er Seiten.</p> + +<p> +Der letzte Aufsatz des Heftes schien ihn mehr zu +interessieren. Die Augen waren weit, sie klammerten sich an +die Schriftzeichen. Auch hielt er das Papier wie ein +Kurzsichtiger; und mit beiden Händen. Manchmal sprach er +etwas Undeutliches. Oder er lachte, ohne es zu wissen. Oder +er lachte, wie einer Donnerwetter sagt. Oder er ließ die +Zunge aus dem Mund hängen. In dem Heft war zu lesen:</p> + +<p> +Ich sitze an dem Arbeitstisch und träume, was dem guten +Lenzlicht bedenklich erscheinen würde: Die Jungen dürfen +nicht träumen. Und dem Lenzlicht ist schon aufgefallen, daß +die Haut um meine Augen wie Asche geworden ist. Er sagt +häufig mit sonderbarer Betonung: Ob ich denn schlecht +schlafe, ich sähe so komisch aus. Einmal wurde ich +ärgerlich, ich sagte: »Sie auch, Herr Kandidat.« Verlegen +lächelnd schlug er mich blutig.</p> + +<p> +Ich mußte das Schreiben unterbrechen, weil Fräulein Neumann +hereinkam. Sie hat heute bunte Beine mit Lackschuhen, das +reizt mich. Ich hatte mir zwar vorgenommen, sie nicht mehr +zu beachten … Sie hat sich neulich so prüde gezeigt … +Sie war nachmittags in die Stadt gefahren. Sie kam spät +zurück. Ich begegnete ihr auf der Treppe. Sie riß sich aber +los. Und sagte erregt: »Bett ist Bett.« Und ging in ihre +Stube. In den folgenden Tagen sah ich sie nicht. Der +Hausdiener Hermann sagte, sie müsse das Zimmer hüten. Ich +fragte, warum. – Er sagte, sie habe sich verlobt. Er +schmunzelte.</p> + +<p> +Mir sind die erotischen Unterhaltungen allmählich ein Greuel +geworden. Immer versuche ich, frei zu werden. Es gelingt +selten. Ich weiß, daß ein begreifendes Weib mich erlösen +kann. Hier gibt es das nicht: Fräulein Neumann ist ein +albernes junges Ding von achtundzwanzig Jahren. Die Köchin +ist ein unreifes Schwein. Das Stubenmädchen Minna ist +hochmütig, sie ist ohne Grund unzugänglich. In Betracht käme +vielleicht die Leiterin, Doktor Mondmilch; aber wenn ich +einmal versuche, ihr meine Leiden und Schönheiten in ernster +Unterhaltung verständlich zu machen, sehnsüchtig auf ihre +Augen schaue, mich ihr gebe … Ist sie fremd, macht +Notizen, hat geheime Unterredungen mit Lenzlicht, verordnet +mir Beruhigungsmittel. Sie ist sehr brutal, ich glaube +zuweilen: Sie liebt mich heimlich. Sie scheint unglücklich +zu sein, ich habe sie gern. –</p> + +<p> +Gestern konnte ich nicht weiterschreiben, weil der fette +Idiot Backberg mich zu Tisch rief. Ich sitze neben der +Russin Recha. Die kneift mich gern in die Beine; sie sagt, +ich sei zu dick. Den langen Lehkind küßt sie, weil er wie +ein Skelett aussieht. überhaupt vertrage ich mich mit den +Viechern, die man hier zusammengebracht hat, nicht. Täglich +ist Ärger. Besonders der überaus kleine siebenjährige Max +Mechenmal – übrigens ein außergewöhnlich unbedeutender +Mensch – macht mir viel zu schaffen. Er mag mich nicht, weil +er meine Überlegenheit fühlt; er versucht auf jede Weise, +mich unmöglich zu machen. Er ist hinterlistig und feig. +Niemand findet ihn nett. Er tut nichts lieber, als uns +aufeinander zu hetzen, arge Klatschereien zu verbreiten, +möglichst viel Schaden anzurichten. Er versteht, sich in dem +Hintergrund zu halten, in dem geeigneten Augenblick zu +verschwinden. –</p> + +<p> +Einmal schrieb ich, nichts Böses vermutend, in unserem +geräumigen Bade- und Klosettraum (hier bin ich vor +Überraschungen sicher) eine längere Arbeit über den +»Schwindel von dem Genie«. Ich führte etwa aus: Genie ist +ein Titel, keine Eigenschaft. Das wird nicht bedacht, +deshalb ist die große Verwirrung. Titel ist Zufallssache, +zumeist verdächtig. Wer Genie genannt wird, ist darum nicht +ein genialer Mensch. Geniale Menschen werden diesen Titel, +der von der Menge verliehen wird, regelmäßig nicht erlangen. +Die genialsten Menschen aller Zeiten sind gewiß in +Tollhäusern und Gefängnissen geborsten. Wer von tausend +Alltagsleuten verstanden wird, geliebt wird … Gilt mir +nicht. –</p> + +<p> +Da wurde ich durch das langsame, seelenvolle Geschrei des +blinden kleinen Kohn, mit dem ich trotz meiner +antisemitischen Grundsätze innig befreundet bin, erschreckt. +Ich sprang auf, eilte hinaus. Ich sah, wie Max Mechenmal hin +und her lief, den kleinen Kohn in die Beine zwickte oder +ähnliche Bosheiten tat; dabei rief er: »Fange mich.« – Der +kleine Kohn war bleicher. In seiner Hilflosigkeit. Er hielt +den Rücken gegen eine Wand. Die dünnen leidenden Hände +tasteten in der Luft … Ich habe niemals so viel +konzentrierten Schmerz gesehen, wie auf den verstorbenen +Augen des kleinen Kohn lag. Ich eilte, ohne mir Zeit zu +lassen, die Kleider in Ordnung zu bringen, auf Mechenmal zu, +um ihn für die rohe Gesinnung zu züchtigen. Meine Hose wurde +durch einen Nagel, der aus der Wand ragte, beschädigt. +Mechenmal benutzte die Verzögerung, schlüpfte an mir vorbei, +lief in den Klosettraum, den er hinter sich verriegelte. Ich +schlug an die Tür. Er sagte: »Besetzt!« Ich war sehr +ärgerlich. Mir fiel zudem ein, daß ich die Papiere, auf +denen die Arbeit über den »Schwindel von dem Genie« +geschrieben war, in der Eile vergessen hatte mitzunehmen. +Ich rief, er möge sie herausgeben. Er antwortete nicht. +Später hörte ich, wie er gewaltig kicherte. Und ich wußte: +Das Manuskript, das ich der neuen Zeitschrift »Das andere A« +einreichen wollte, werde ich nicht wiedersehen. Traurig ging +ich fort –</p> + +<p> +ach, der kleine Kohn ist nun leider tot. Er ist an seinen +Gespenstern gestorben, er hat mir das oft vorausgesagt. +Seine Gespenster hat er gesehen, der blinde kleine Kohn. +Manchmal, wenn heller Tag war. Dann fand man ihn zitternd +und weiß in einem Winkel. Die Beine hatte er so weit +angezogen, daß die Oberschenkel gegen die eingesunkene Brust +gepreßt waren. Zwischen den Knien lag der Kopf. Die winzigen +erschrockenen Fingerchen krampften sich um die Schuhspitzen. +Wenn man ihn berührte, schrie es aus ihm. Der Schrei war so +gellend grauenhaft, daß man unwillkürlich losließ, als hätte +man einen Stoß erhalten. Sooft das geschah, war man ratlos +wie bei dem ersten Mal. Doktor Mondmilch wurde gerufen. Sie +streichelte ihn ganz wenig. Die Starrheit löste sich in +Schluchzen auf. Er bekam Tropfen, wurde in sein Bett gelegt, +schlief schlimm. Mechenmal rief, daß es bis auf die Straße +schallte: »Kohn ist wieder verrückt.«</p> + +<p> +In der letzten Zeit hatten sich die Anfälle gehäuft, +besonders nachts. Die Ohnmachten waren tiefer, die +nachfolgende Ermattung trostloser. Als an einem Abend Doktor +Mondmilch, einer Einladung des Tier- und Nervenarztes Bruno +Bibelbauer folgend, für längere Zeit weggegangen war, trat +die Katastrophe ein. Der kleine Kohn lag bald tot in dem +Bett. Mechenmal sagte: »Jetzt stört er einen wenigstens +nicht mehr, wenn man schlafen will.« Der fette Idiot +Backberg freute sich auf die Beerdigung. Die Köchin heulte; +und das Stubenmädchen Minna. Nora Neumann hatte sich in ein +Zimmer eingeschlossen; ich glaube, sie dichtete. Die Russin +Recha war verschwunden; nachher fand Lenzlicht sie in dem +Sterbezimmer. Sie saß auf dem Bett, hielt die eine Hand +Kohns verzückt an ihr Herz, mit der rechten Hand zog sie das +Lid seines rechten Auges hin und her. Ich hörte, wie sie +weinte und sagte: Das sei so interessant. Lenzlicht +schimpfte wehmütig.</p> + +<p> +Noch jetzt sagt Mechenmal, wenn er von dem kleinen Kohn +spricht: »Der war ja verrückt.« Ich bestreite das. Jeder +nicht stupide Mensch hat dann und wann Erlebnisse, die mit +den althergebrachten, allen zugänglichen Gesichten nicht in +Einklang zu bringen sind. Manchmal ist man feinfühliger als +sonst und als die anderen. Wenn man allein ist, die +bekannten Dinge ruhiger sind … Vielleicht, wenn Abend ist, +bei einer halbhellen Lampe … In der Dämmerstunde in +einsamen Räumen .., In Nächten, die keinen Schlaf tragen. Da +heben sich aus der Stille Geräusche, die ich niemals gehört +habe, die ich nicht erklären kann. Ich schrecke auf – +fürchte mich – will in die heiße Helligkeit zu vielen +lustigen Menschen – will nicht hören … Höre feiner. Die +Stille reißt auseinander. Alles klafft … Und klingt. +Bewegung kommt in die Gegenstände. Bösartige Schatten +ängstigen. Alle Formen verlieren ihre Gewohnheit. Ich warte +… Auf ein entsetzliches Wunder, auf Unkörper.</p> + +<p> +Ich bin ein entschiedener Feind von Geistern und Gespenstern +und ähnlichen Dingen. Ich finde diese Erscheinungen wenig +sinnig und ohne Witz, ich will nichts mit ihnen zu tun +haben. Und konnte doch nicht hindern, daß mir erst kürzlich +gegen die Mittagsstunde eine antike Frauengestalt mit herben +Gesichtszügen erschienen ist. Ich war davon unangenehm +berührt. Um so mehr, als mir später einfiel, daß das +möglicherweise meine selige Mama gewesen ist.</p> + +<p> +Es ist nicht weniger unvernünftig, die Geister zu leugnen, +als unvernünftig ist, Wunder anzuerkennen. Wenn Gespenster +alltäglich wären, würden die Philosophen ein Naturgesetz für +sie konstruieren, damit man sie daraus herleiten könnte. Und +ohne Aufregung übersehen könnte.</p> + +<p> +Ich werde mich weiteren Grübeleien über diese verwirrten +Dinge entziehen, indem ich mir das Leben nehme. Man wird +empört sein. Mir die Berechtigung absprechen, über mich zu +verfügen. Man wird mich für überspannt erklären. Und das +medizinisch begründen. Um sich zu beruhigen; denn wenn jeder +so dächte, gäbe es bald ein allgemeines Protestieren gegen +das Dasein. Das Leben würde boykottiert. Das darf nicht +geschehen. Wenn man fragt: Warum nicht? – Wird man ein +Sophist gescholten. Die Leute sterben nicht gern, das heißt +Lebensenergie. Sie helfen sich mit Göttern und heiterer +Weltanschauung. Wenn einem der Jammer doch zu grell wird, +fährt er in ein besseres Irrenheim.</p> + +<p> +Zu dem Entschluß, mich von mir zu befreien, bin ich vor +langer Zeit gekommen. Der wichtigste Beweggrund war: Ich bin +mir ernsthaft unsympathisch. Ich kann zufällig nicht +aushalten, über ein ganzes Leben bei mir zu bleiben. Ich +kenne mich zu genau. Ich habe häufig geweint, daß ich von +mir nicht loskommen kann. Ich empfinde mich als eine +häßliche Last. Ich möchte in einem mutigen, ehrlichen, +reinen Jungen sein. Mein Mensch ist unwahr, unästhetisch, +plump. Ich weiß, daß der Tod mich gründlich zugrunde richten +wird; der Gedanke ist für mich Ursache zu lebhafter +Verzweiflung; ich kann ihn nicht lange denken. Ich verliere +die Fähigkeit zu atmen. Habe das Gefühl, als presse ein +Ungeheures von innen. Die Gehirntätigkeit scheint +ausgeschaltet. Die Hände ballen sich in tierischer Angst. +Ich weine trocken. Die Institution des Todes ist wohl für +manche Menschen nicht angebracht; man hätte Mittel und Wege +finden sollen, den Tod zu umgehen. Aber – das Sterben ist +eine Bagatelle. Nur darf nicht an den Tod denken. Wer sein +Sterben vorbereitet.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/geschichten/02_der_sieger.html b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/02_der_sieger.html new file mode 100644 index 0000000..5fbf21a --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/02_der_sieger.html @@ -0,0 +1,608 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Der Sieger</title> +</head> +<body> + +<h4>Der Sieger</h4> + +<p> +I</p> + +<p> +Max Mechenmal war selbständiger Geschäftsführer eines +Zeitungskioskes. Er aß und trank gern gut; er verkehrte viel +– allerdings vorsichtig – mit Weibern. Da sein Salär häufig +nicht ausreichte, ließ er sich gelegentlich Geld schenken: +Von Ilka Leipke. Ilka Leipke war eine über die Maßen kleine, +aber gutgewachsene vornehme Dirne, die so sehr durch +bizarres Wesen und scheinbar unsinnige Einfälle wie durch +eigentümlich geschmackvolle Kleidung die meisten Männer und +Mädchen erregte. Fräulein Leipke liebte den kleinen Max +Mechenmal. Sie nannte ihn ihren süßen Zwerg. Max Mechenmal +ärgerte sich zeitlebens, daß er klein war.</p> + +<p> +Max Mechenmal entstammte einer leider verarmten Familie. Er +hatte in einer Anstalt für schwachsinnige Kinder eine +vorzügliche Erziehung genossen, bis man ihn sehr frühzeitig +gewaltsam entfernte. Die Gründe sind nicht überliefert; doch +scheint die Entlassung mehr auf der Verarmung der +Mechenmalschen Angehörigen zu beruhen als auf seiner +unzweifelhaften Unausstehlichkeit. Er trieb sich eine Weile +wohnungslos herum, da sich die Familie nicht mehr um ihn +kümmerte. Den Lebensunterhalt erwarb er in der Hauptsache +durch belanglose Diebstähle. Einmal griff ihn die Polizei +auf. Er wurde in ein Heim für verwahrloste Kinder gebracht. +In dem Heim wurde er zu einem Schlosser ausgebildet. Er +verstand, sich bei den Vorgesetzten durch außergewöhnliche +Geschicklichkeit und Bereitwilligkeit einzuschmeicheln. Im +geheimen quälte er die jüngeren und schwächeren Kameraden; +oder er hetzte die Stärkeren gegenseitig auf. Er hatte +keinen Freund; als er ausgelernt hatte und entlassen wurde, +waren die anderen froh.</p> + +<p> +Die ungewöhnliche Fertigkeit, die Max Mechenmal infolge +seiner technischen Begabung in dem Anfertigen von Schlüsseln +und dem Öffnen der schwierigsten Schlösser erlangt hatte, +hätte er am liebsten benutzt, großartige Einbruchsdiebstähle +zu begehen; er wäre gern ein berüchtigter Verbrecher +geworden. Der Erlös der Einbrüche hätte ihn instand gesetzt, +sich elegant zu kleiden, mit Weibern zu protzen. Die +krankhaft gesteigerte Furcht, ergriffen zu werden, hinderte +ihn. Er begnügte sich, Töchter und Mägde der Meister, bei +denen er arbeitete, zu verführen, gefahrlose +Gelegenheitsdiebstähle zu verüben. Sein Ehrgeiz war +unbefriedigt.</p> + +<p> +Durch einen Zufall veränderte sich die Lebensrichtung +Mechenmals. Feierabend war. Müde und mißmutig ging er die +Straßen. Lichter waren kaum sichtbar, obwohl es heftig +dunkelte. In einem feinen Parterrezimmer ordnete eine ältere +Dame die Falten ihres Leibes. Vor einem Keller sangen +schmutzige kleine Mädchen das Lied von der Lorelei. Wie +schwarze Tafeln mit hellen Kreuzen waren die Fenster in die +bleichen, einschlafenden Häuser gegraben. Die Häusermassen +glichen großen, abenteuerlichen Schiffen, die vor Anker +liegen oder hinausgleiten in ein fernes winkendes Meer. Der +kleine Schlosser dachte an die letzten sechs Geliebten. +Fielen ihm gräßlich umränderte blaue Augen eines häßlichen +verbuckelten Herrn auf, der ihn lächelnd, mit merklichem +Behagen, dennoch etwas ängstlich betrachtete. Der Schlosser +dachte: Nanu – spaßeshalber blieb er stehen; blickte mit +pfiffigen Äuglein, die wie blanke schwarze Knöpfe auf seinem +Gesicht glänzten, den noch kleineren Herrn kokett an. Der +wurde verlegen; nahm den Hut von dem Kopf; sagte stotternd, +sein Name sei Kuno Kohn .., Und er bäte um Entschuldigung +… Viel mehr war nicht zu verstehen. Der Bucklige barg +einen Teil des Gesichts hinter dürren Fingern. Er hüstelte. +War eilig weitergegangen. Der Schlosser dachte: Nanu – er +ging seines Wegs.</p> + +<p> +Da wurde er an dem Arm gezupft. Er wandte das Gesicht: Der +Bucklige stand wieder bei ihm, noch etwas ohne Atem von +raschem Gehen. Kuno Kohn war ganz rot, aber er konnte ohne +Unterbrechung sagen: »Verzeihen Sie, daß ich Sie noch einmal +belästige; ich weiß immer erst nachher, was ich sagen +wollte.« Das redete er übermäßig laut, um die Verlegenheit +zu überwinden. Dann sagte er: »Vielleicht haben Sie Zeit … +Vielleicht darf ich Sie einladen, mit mir ein Gasthaus +aufzusuchen … Oder … Sie haben doch noch nicht zu Abend +gegessen …« Der Schlosser wendete nichts gegen den +Vorschlag ein.</p> + +<p> +In einer mächtigen Kneipe ließ Kuno Kohn für Max Mechenmal +Essen und Bier bringen. Er selbst aß nicht, er trank wenig. +Er sah gern zu, wie es dem Schlosser schmeckte. Streichelte +ihn später auch wohl manchmal zaghaft an dem Kinn. Dem +Schlosser gefiel das. Sie sprachen zunächst von dem Elend +des Daseins, von der Ungerechtigkeit des Schicksals. Als +Mechenmal das dritte Glas Bier trank, brüstete er sich mit +seinen Geliebten. Das war dem buckligen Menschen sogar +unangenehm. Bisher hatte er den Schlosser erzählen lassen. +Und seine Teilnahme allein dadurch bekundet, daß er +zustimmend die blauen Augen theatralisch schloß, wodurch für +Sekunden nur große jämmerliche Schatten sichtbar waren, oder +mit dem unförmigen Kopf langsam wackelte oder mitleidsvoll +auf die Schenkel Mechenmals die nervösen Finger drückte. +Jetzt fing er an, eigene Meinungen zu äußern. Er schimpfte +auf die Weiber. Mit einer Stimme, die in jedem Augenblick +aus Erregung überzuschnappen schien. Stellte den Grundsatz +auf: Wer das Unglück habe, Weib zu sein, möge den Mut haben, +Hure zu werden. Die Hure sei das Weib in Reinkultur. +übrigens sei der Verkehr mit Weibern mehr oder minder +entwürdigend. Als sie die Kneipe verließen, legte Kuno Kohn +den harten elenden Knochen, der sein Unterarm war, auf den +saftigen, muskulösen Unterarm Mechenmals. Ein goldenes +Armband fiel auf das Handgelenk des Buckligen. Unterwegs +forderte Kuno Kohn Mechenmal auf, bei ihm die Nacht zu +verbringen. Der Schlosser ging auf das Anerbieten ein.</p> + +<p> +Kuno Kohn bewohnte in einem Gartenhaus einer westlichen +Nebenstraße ein großes Zimmer, in dem nichts auffiel. Nur +das Bett war ungewöhnlich breit, fast prunkhaft. Auf den +Kissen lagen gelbliche und rote Blumen. Vor einem Fenster +stand ein Schreibtisch; auf ihm waren einige Bücher, +vielleicht Baudelaire, George, Rilke; daneben und dazwischen +lagen Papierbogen, die anscheinend mit vollendeten und +unvollendeten Gedichten und Abhandlungen beschrieben waren. +Auf einem Brett an einer Wand standen Bände Goethe, +Shakespeare, eine Bibel, eine Homerübersetzung. Auf Tischen +und Stühlen lagen wohl einige Zeitschriften und +Kleidungsstücke. Irgendwo waren vergilbte stille +Photographien von alten Leuten und Kindern. Der Schlosser +sah alles neugierig an.</p> + +<p> +Bald saßen sie. Die Unterhaltung, die erst lebhaft war, +stockte allmählich. Kuno Kohn drehte die Lampe klein. Später +redete er weich und flehend dem Schlosser zu. Nachher bot er +ihm das Bett an. Er selbst werde auf dem Sofa schlafen. Der +Schlosser war einverstanden.</p> + +<p> +Kuno Kohn verschaffte seinem Freund Mechenmal eine +untergeordnete Stellung bei einem Zeitungsverlag. +überraschend schnell arbeitete sich Mechenmal in den neuen +Beruf ein, erlangte sehr bald genügende kaufmännische +Kenntnisse. Wechselte Stellungen. Erreichte durch Energie +und allerhand Gemeinheiten, daß er schon nach einem Jahr und +wenigen Monaten als selbständiger Geschäftsführer eines +Zeitungskioskes eine Vertrauensstellung bekleidete.</p> + +<p> +II</p> + +<p> +Durch die angenehme Art zu sprechen wie durch sein +intelligentes Puppengesicht hatte sich der ehemalige +Schlosser bald eine unverhältnismäßig große Stammkundschaft +erworben, zu dem größten Teil weiblichen Geschlechts. +Morgens umstanden seinen Kiosk ein Dutzend Verkäuferinnen +eines nahen Warenhauses, die absichtlich zu früh gekommen +waren, um sich über die Zoten und fidelen Glossen des Herrn +Mechenmal zu freuen. Der Bankbeamte Leopold Lehmann, der +stets pünktlich um acht Uhr kam, um illustrierte Witzblätter +und theologische Streitschriften zu kaufen, wurde manchmal +ungeduldig, weil die lustigen Verkäuferinnen ihn bei dem +Aussuchen störten. Und der Gymnasiast Theo Tontod, der +unermüdlich, in der Regel vergeblich, nach der modernen +Zeitschrift: »Das andere A« fragte, kam oftmals zu spät in +die Schule. – Gegen Mittag erschien fast täglich die +Choristin Mabel Meier an dem Arm eines alten Mannes. Sie +kaufte bunte, pikante Zeitschriften oder gefühlvolle mit +langen lyrischen Gedichten. Der alte Mann, der immer +wehleidig blickte, bezahlte seufzend. Sie verhielt sich +Mechenmal gegenüber zurückhaltend. – Manchmal kam auch Mieze +Maier, ein Backfisch, und fragte, ob Herr Tontod dort +gewesen sei. Einmal blieb Mieze Maier länger; von der Zeit +an häufiger. – Zu unbestimmten Stunden war ein dickes +gemütliches Dienstmädchen des Kaufmanns Konrad Krause an dem +Kiosk. Und sagte zu Mechenmal, er sei hübsch; er habe +leidenschaftlich schwarze Augen und einen Knutschmund; ob er +Sonntags nicht Laune habe, tanzen zu gehen; es liebe ihn +sehr. Mechenmal antwortete, er werde die Neigung von +Fräulein Frida gelegentlich erwidern. Das Dienstmädchen +erinnerte ihn peinlich oft an sein Versprechen. – An jedem +Dienstagnachmittag forderte ein sonderbarer Herr Simon, der +in einem offenen Sanatorium wohnte und stets von einem +Wärter begleitet wurde, Zeitschriften für Bestattungswesen; +wenn nicht genügend vorhanden waren, entfernte er sich sehr +ungehalten und auf die Krematorien schimpfend. – Auch Kuno +Kohn kam mehrmals in jeder Woche; seltener, um zu kaufen, +hauptsächlich um seinen Freund zu besuchen und für die +Abende Zusammenkünfte zu verabreden. – Studenten, Damen, +Offiziere, Arbeiter kauften ihre Zeitungen. Nur Ilka Leipke +war trotz wiederholter Aufforderungen Mechenmals nicht zu +bewegen, zu dem Kiosk zu kommen.</p> + +<p> +Das war eine Laune von Ilka Leipke. Sie hatte ja viel Zeit +und klagte dem Geliebten manches Mal, die Tage seien noch +langweiliger als die Nächte. Auch liebte Ilka Leipke ihren +süßen Zwerg nicht etwa weniger als in den ersten Zeiten +ihrer Bekanntschaft. Obwohl Mechenmal sie immer herrischer +behandelte, immer gemeiner zu ihr wurde. Zuletzt machte ihm +Freude, wenn sie weinte; er war niemals zufrieden, ehe er +sie dazu gebracht hatte. Dann vergnügte er sich, sie wieder +zu trösten. Hinterher war er allerdings sehr gut zu ihr, er +liebte sie im Grunde. Er ließ sich von Ilka Leipke sanft +streicheln und küssen. Er war ein bißchen größer als sie, +aber sie hatte ihn auf ihrem Jungenleib wie ein Kind. Sie +erzählten einander. Sie lachten. Sie küßten. Viele Male +untersuchten sie die Geschichte ihrer Begegnung. Sie +entdeckten tausend neue Einzelheiten oder logen sich solche +vor, weil dies schön war. Das Fräulein suchte aus einem +Kästchen, in dem keine Sachen lagen, einen +Zeitungsausschnitt hervor, auf dem zu lesen war:</p> + +<p> +Heiratsgesuch.</p> + +<p> +Ein junger, etwas kleiner, sehr hübscher Mann, des +Alleinseins müde, erstrebt gleichartige Dame zwecks +ehrenwerter Heirat. Auf größeres Vermögen wird gesehen. +Freundliche Offerten nimmt entgegen Max Mechenmal.</p> + +<p> +Oder Herr Mechenmal nahm aus der Brieftasche ein blaues +Briefchen mit lilaroten Tupfen, das er schmunzelnd dem +Fräulein hinhielt. Fräulein Leipke las dann wohl mit leiser, +verliebter Stimme:</p> + +<p> +Sehr geehrter Herr!</p> + +<p> +Soeben Ihr Heiratsgesuch gelesen. Mit Vermögen kann ich zu +meinem Bedauern nicht aufwarten. Ich meinerseits würde +dagegen gern auf das Heiraten Verzicht leisten, das ich noch +nicht nötig habe. Ich bin von Beruf Weib (Berufsweib). Auch +meine Statur ist klein (aber oho!). Ich bin der Kavaliere +müde, suche mich deshalb nebenbei mit einem regulären Mann +in Verbindung zu setzen. Sollte Ihnen mein Erbieten genehm +sein, senden Sie mir bitte Ihre Photographie. Ich verbleibe +Ihre ergebene Ilka Leipke.</p> + +<p> +Wenn sie sich genug angefaßt und geküßt hatten, erfanden sie +Spiele. Ilka Leipke machte sehr talentvoll dem selig +kichernden Mechenmal vor, wie sich ihre Freundinnen in +entsprechender Lage verhalten würden. Sie krümmte sich in +den überraschendsten Stellungen. Verbog das Gesicht zu den +komischsten Grimassen … Mechenmal konnte stundenlang +erdachte Namen hersagen, mit denen er bestimmte Teile ihres +Körpers in Gegenwart anderer bezeichnen wollte, ohne daß +diese merken sollten, was er meinte. – So vergingen die +Abende und Nächte, in denen Ilka Leipke sich für ihren +Freund freigemacht hatte. Oft fehlte dem Mechenmal die Zeit, +nach Hause zu gehen. Dann stand sie auf, wenn er noch +schlief. Kochte Kaffee. Holte in Morgenschuhen und nur mit +einem alten Theatermantel bedeckt von einem Bäcker Backwerk. +Legte eine weiße Decke auf den Tisch. Ordnete alles +appetitlich. Machte einige Brote zurecht – zum Mitnehmen. +Verschwand wieder in ihrem Bett, wo sie bis in den +Nachmittag hinein schlief. Mechenmal aber eilte etwas +abgespannt und müde, doch in gehobener Stimmung zu seinem +Kiosk.</p> + +<p> +III</p> + +<p> +Später Abend kroch wie eine Spinne über die Stadt. In dem +Schein der Kohnschen Lampe war der etwas über den Tisch +gebeugte Oberkörper Kuno Kohns. Auf dem Sofa lag, den +Lampenkreis durchbrechend und aus ihm herausgelehnt, der +halbfinstere Max Mechenmal. Fenster blinkten in üppigem, +fließendem Schwarz. Aufgeschwollen und verschwommen ragten +einige Gegenstände aus der Dunkelheit. Das offene Bett +leuchtete weiß. Kohns Hände hielten beschriebenes Papier. +Seine Stimme tönte leise, schwärmerisch, in singendem +Pathos. Er wurde oft heiser und hustete, wie einer, der viel +gelesen hat. Zu hören war: »Die alten, prächtigen +Geschichten von Gott sind totgeschlagen. Wir dürfen ihnen +nicht mehr glauben. Aber die Erkenntnis des Elends, glauben +zu müssen, bedrängt uns – die Sehnsucht nach neuem, +stärkerem Glauben. Wir suchen. Wir können nirgends finden. +Wir grämen uns, weil wir hilflos verlassen sind. Komme doch +einer, lehre uns Ungläubige, Gottsüchtige.« Kohn war +erwartungsvoll still. Mechenmal hatte sich während des +Vorlesens insgeheim amüsiert. Jetzt platzte er vernehmlich. +Er sagte dann: »Nimm mir das nicht übel, Kohnchen. Aber du +hast doch komische Einfälle. Das ist doch verrückt.« Kohn +sagte: »Du hast kein Gefühl. Du bist ein oberflächliches +Wesen. Im übrigen ist sicher, daß auch du psychopathisch +bist.« Max Mechenmal sagte: »Was heißt das?« Kuno Kohn +sagte: »Das wirst du schon noch merken.« Max Mechenmal sagte +nur: »Ach so.« Er ärgerte sich, daß ihn Kuno Kohn +oberflächlich genannt hatte. Er dachte an Ilka Leipke.</p> + +<p> +Da sagte Kuno Kohn: »Der Tod ist ein unerträglicher Gedanke. +Für uns Gottlose. Wir sind verdammt, ihn in hundert Nächten +vorzuerleben. Und finden keinen Weg über ihn…« Er schwieg +schwer. Mechenmal wollte seinem Freund Kohn beweisen, daß er +sogar über abseitige Probleme sich äußern könne. Er +überlegte. Und sagte: »Ich habe eine andere Auffassung, +Kunlein Kohnchen. Allerdings ist das Gefühlssache. Auch ich +zähle mich Gott sei Dank zu den Gottlosen. Gott ist Quatsch. +Darüber ein Wort zu verlieren, ist eines denkenden Menschen +unwürdig. Aber ich, höre, habe Gott nicht nötig – nicht zu +dem Leben, nicht zu dem Sterben. Tod ohne Gott ist +wunderschön. Er ist mein Wunsch. Ich denke mir herrlich, +einfach tot zu sein. Ohne Himmel. Ohne Wiedergeburt. Radikal +tot. Ich freue mich darauf. Das Leben ist für mich zu +anstrengend. Ist zu aufregend …«</p> + +<p> +Er wollte weiterreden. An die Türe wurde geklopft. Kohn +öffnete. Ilka Leipke trat hastig hinein. Sie sagte: »Guten +Abend, Herr Kohn. Entschuldigen Sie, daß ich störe.« Sie +schrie zu Mechenmal: »Hier also ertappe ich dich. So +verlässest du mich. Du benutzest nur meinen Leib. Meine +Seele hast du niemals gefaßt.« Sie weinte. Sie schluchzte. +Mechenmal versuchte, sie zu beruhigen. Das erregte sie noch +mehr. Sie rief. »Mit einem krummen Kohn mich zu betrügen … +Ich werde Sie bei der Polizei anzeigen, Herr Kohn. Schämen +Sie sich – ihr Schweine …« Sie hatte einen Weinkrampf. +Kuno Kohn war unfähig, etwas zu erwidern. Mechenmal riß sie +von dem Boden, auf den sie sich schreiend geworfen hatte. Er +sagte mit veränderter harter Stimme, ihr Benehmen sei +ungehörig. Sie habe keinen Grund zur Eifersucht. Er sei sein +freier Herr. Da sah Ilka Leipke den buckligen Kohn demütig +wie ein geschlagenes Hündchen an. War ganz still. Folgte dem +erbosten Mechenmal hinaus.</p> + +<p> +Als Kohn allein war, wurde er allmählich wütend. Er dachte: +Solch freche Person … Und in Zwischenräumen: Wie sich die +Kuh aufgeregt hat. Wie eifersüchtig sie auf mich ist. Eins +der seltenen Weiber, die mir behagen… Und wählt das +Tierchen Mechenmal. Das ist scheußlich –</p> + +<p> +in der Frühe des nächsten Tages stand Kuno Kohn, zitternd +wie ein Schauspieler, der Lampenfieber hat, in dem Salon des +Fräuleins Leipke. Fräulein Leipke las, als die Zofe die +Karte Kuno Kohns brachte, gerade die verbotene Broschüre: +»Der Selbstmord einer schicken Dame. Oder wie eine schicke +Dame Selbstmord begeht«. Sie hatte verweinte Augen. Als sie +die ganze Broschüre gelesen hatte, puderte sie sich frisch. +Endlich erschien sie, nur durch ein seidenes Morgenkleid +verhüllt, in dem Salon. Kuno Kohn war rot bis an die Ohren. +Er sagte stöhnend, er sei gekommen, den gestrigen Auftritt +zu entschuldigen. Fräulein Leipke tue ihm Unrecht, sie kenne +ihn zu flüchtig. Er habe immerhin innere Werte. Dann sprach +er lobend von seinem Freund, dem guten Mechenmal; ließ aber +durchblicken, daß diesem leider ein ausgebildetes +Gefühlsleben mangele. Fräulein Leipke sah ihn mit lockenden +Augen an. Er brachte das Gespräch auf die Kunst. Dann +brachte sie das Gespräch auf ihre Beine; sie sagte +freimütig, sie habe ihre Beine selbst gern. Sie hatte das +Morgenkleid etwas zurückgeschlagen. Kuno Kohn hob es mit +scheuen Händen vorsichtig höher –</p> + +<p> +als Abend geworden war, saß Kuno Kohn verträumt in seinem +Zimmer. Er schaute aus dem offenen Fensterloch. Vor ihm fiel +die graue Innenwand des Hauses hinunter, in kurzem Abstand. +Mit vielen stillen Fenstern. Himmel war nicht, nur +schimmernde Abendluft. Und wenig weicher Wind, der fast +nicht zu fühlen war. Die Wand mit den Fenstern glich einem +schönen, traurigen Bild. War gar nicht langweilig, darüber +wunderte sich Kuno Kohn. Er stierte immer tief in die Wand. +Lieb sah sie aus. Zutraulich. Voll von Einsamkeit. Er dachte +heimlich: Das macht der Wind, der um die Wand ist. Er sang +innen: Komm, Geli … Iebte – klingeln +erschreckte ihn.</p> + +<p> +Der Postbote brachte einen Brief von dem Klub Clou. Der Klub +Clou forderte Herrn Kohn auf, als Gast des Klubs an einem +bestimmten Abend aus seinen Werken vorzulesen.</p> + +<p> +IV</p> + +<p> +Acht Tage vor dem Vortragsabend war auf den Anschlagsäulen +der Stadt ein Plakat. Auf ihm konnte man lesen:</p> + +<p> +Voranzeige.<br /> +Kuno Kohn wird in dem Klub Clou aus eigenen Werken +vorlesen. Junge Mädchen und Rechtsanwälte höflichst +verbeten.</p> + +<p> +Je näher der Abend der Vorlesung herannahte, desto +aufgeregter wurde Kuno Kohn. Zwei Stunden vorher ließ er +sich rasieren. Als der Mann fragte, ob der Herr Puder +beliebe, sagte Kohn kopfschüttelnd: »Ja –« eine Stunde +vorher verlangte Kohn in einem Polizeibureau zehn +Fünfpfennigmarken und eine Zehnpfennigkarte.</p> + +<p> +Als Kohn das Podium betrat, war er ruhiger, als er erwartet +hatte. Zuerst versprach er sich manchmal. Aber seine Stimme +wurde allmählich fest und deutlich. Der kleine Saal war +wenig besucht; doch waren einige Kritiker der großen, +maßgebenden Presse erschienen. Einer erklärte an dem +nächsten Tage in der verbreiteten »Alten Bürgerzeitung«: Die +Dichtungen, die der um seines Gebrestes willen +bedauernswerte Dichter Kohn in einem dürftig besuchten Saal +zu Gehör gebracht habe, seien zwar noch nicht reif für die +Öffentlichkeit; hingegen könne man später einmal, wenn der +Kohn sich geklärt habe, einiges von seiner Muse erwarten. – +Ein anderer verkündete in der »Zeitung für erhellte Bürger«: +Der Gesamteindruck sei ein erfreulicher, doch seien die +Dichtungen nicht gleichmäßig gelungen. Auch habe der Dichter +nicht gut vorgelesen. Jedoch sei die erste Zeile des ersten +Verses des Gedichtes »Der Komiker« von einer erschütternden +Prägnanz in Ausdruck und Gefühl.</p> + +<p> +Nach der Vorlesung dankte der Vorsitzende des Klubs, der +begabte Doktor Bryller, dem Dichter, den er ein kommendes +Genie nannte. Eins der wenigen, die er persönlich kenne. +Ilka Leipke hatte sich trotz des Verbotes der jungen Mädchen +den Zutritt auf irgendeine Weise verschafft. Auch Mechenmal, +der zuerst gesagt hatte, er werde nicht kommen, war +erschienen. In der Pause hatte er aber erklärt, er habe +Hunger. Und er gehe jetzt. Ob sie noch nicht genug von dem +Unsinn habe. Wenn sie nicht mitkommen wolle, möge sie +dableiben. Sie scheine sich plötzlich für Kohns Buckel zu +interessieren. Er wünsche viel Glück. Und ob er den Kuppler +spielen solle. Er ging wirklich. Ilka Leipke weinte ein +bißchen für sich, blieb bis zuletzt. Sie klatschte +begeistert. Sie hatte Kohn an diesem Abend lieb. Nahm ihn in +sonderbarer Stimmung in ihre Wohnung.</p> + +<p> +Gegen Morgen hüpfte ein kleiner buckliger Herr wie ein +Ballettänzer auf grauen unsicheren Straßen …</p> + +<p> +Kuno Kohn vermied von nun an Begegnungen mit Mechenmal. Er +lud ihn nicht mehr ein. Zeitungen kaufte er in einem anderen +Kiosk. Dem Mechenmal war das ganz recht. Seine Geliebte +hatte ihm mit aufreizendem Lächeln erzählt, daß sie eine +schöne Nacht mit dem Buckligen in ihrem Schlafzimmer verlebt +habe. Der Buckel sei ihr nicht unangenehm gewesen, er sei +nicht so groß und häßlich, wie er bei oberflächlicher +Betrachtungsweise erscheine. Man könne sich sehr an einen +Buckel gewöhnen. –</p> + +<p> +Mechenmal war wütend auf Kohn. Zu Ilka Leipke wurde er +zärtlicher und nachgiebiger. Er zeigte ihr seine Eifersucht +nicht, erwähnte nie den Namen des Nebenbuhlers. Ilka Leipke +war glücklich. Sie dachte an die betrunkene Nacht mit Kohn +nicht mehr. Kohn war ihr jetzt nicht weniger zuwider als +früher, sie wies weitere Bemühungen des Dichters +gleichgültig zurück. Mechenmal gegenüber tat sie, als sei +sie noch immer sehr verliebt in Kohn. Einmal aber konnte sie +einen unanständigen Witz über Kohn und seinen Buckel nicht +unterdrücken. Mechenmal lachte herzlich.</p> + +<p> +Kohn war traurig an ein Meer gefahren. Ein Verleger hatte +ein unerwartet günstiges Angebot gemacht und Vorschuß +gezahlt. Mechenmal fand zufällig ein Gedicht, das Kohn von +dem Meer an Ilka Leipke geschickt hatte. Er las:</p> + +<p> +Lied der Sehnsucht</p> + +<p> +die Falten des Meeres platzen wie Peitschen auf meiner Haut. +Und die Sterne des Meeres reißen mich auf.</p> + +<p> +Von schreienden Wunden ist der Abend des Meeres Einsamen. +Aber die Liebenden finden den guten verträumten Tod.</p> + +<p> +Sei bald da, Schmerzäugige. Das Meer tut so weh.<br /> +Sei bald da, Liebleidende. Das Meer erschlägt mich so.</p> + +<p> +Deine Hände sind kühle Heilige. Hüll mich mit ihnen. Das +Meer brennt auf mir.<br /> +Hilf doch … Hilf doch … Deck mich. Rette mich. Heil +mich, Freundin.</p> + +<p> +Mutter – du …</p> + +<p> +Er zerriß es. Ilka Leipke war entrüstet. Sie sagte, +Mechenmal sei grob. Der Kleine hatte sie bald durch +Liebkosungen besänftigt. Später setzte er sich an den +Schreibtisch des Fräulein. Er nahm einen ihrer Briefbogen +und schrieb:</p> + +<p> +An Kuno Kohn.</p> + +<p> +Fräulein Leipke, meine Braut, läßt dir hierdurch sagen, daß +sie auf weitere Gedichte gern verzichte; sie erfüllen ihren +Zweck bei weitem nicht. Meine Braut hat mir alles erzählt. +Sei versichert, daß deine Liebesbewerbungen auf uns +lächerlich wirken. Max Mechenmal.</p> + +<p> +Als Mechenmal den Brief in den Postkasten gesteckt hatte, +wurde er unruhig. Er fürchtete, unvorsichtig gehandelt zu +haben.</p> + +<p> +Kohn kam sofort zurück. Er lief zu Ilka Leipke. Zeigte den +Brief. Fragte heulend, ob sie die Nacht mit ihm vergessen +habe. Sie sagte: »Ja.« Er jammerte. Er weinte unverständlich +von Seele und Selbstmord. Ilka Leipke wies ihn hinaus. Seine +Schwachheit war ihr lästig; sie hatte schon als Kind nicht +mit ansehen können, wenn jemand weinte.</p> + +<p> +Aber sie ärgerte sich über Mechenmal. Sie fing an, ihn +wieder mit Kohn zu necken. Behauptete, Kohn sei häufig ihr +Gast; und sie finde ihn immer noch nett. Mechenmal hielt +ihre Erzählungen für wahr. Er haßte den Kohn jetzt.</p> + +<p> +Er überlegte, wie er den Buckligen beseitigen könne, ohne +daß er als der Beseitiger hervortrete. Nach nicht viel Zeit +hatte er wohl das Rezept gefunden. An einem Sonntag starb +Kohn. Plötzlich, aber ohne auffallende Nebenumstände. Sein +Leichnam wurde anstandslos für die Beerdigung freigegeben. +In der Zeitschrift »Das andere A« widmete Theo Tontod dem +Dichter einen kürzeren Nachruf. Und der Klub Clou schickte +einen Kranz. Ilka Leipke ließ sich nicht nehmen, die Leiche +vor der Bestattung noch einmal zu betrachten. Der Sarg wurde +bereitwillig geöffnet. In ihm lag Kohn infolge des Buckels +etwas schief. Die Gesichtszüge waren fratzenhaft gezerrt. +Die Hände waren geballte Klumpen. An der Nase klebte +geronnenes Blut, hing über den geöffneten Mund. Ilka Leipke +überwand den Ekel. Sie ließ Benzin kommen, nahm ein seidenes +Tüchlein aus der zierlichen Handtasche, tauchte es in die +Benzinflasche. Säuberte mit dem Tüchlein die tote Nase. Dann +ging sie hinweg. Beruhigt und etwas weinend. Zufrieden mit +ihrer Güte.</p> + +<p> +Als Mechenmal von dem Tod Kohns hörte, wurde er sehr +ängstlich. Er konnte sich in der Stube nicht ertragen. Und +ging eiligst aus dem Haus, nicht ohne vorher eine Zigarre in +Brand gesteckt zu haben. Kirchenglocken klangen von dem +sonnigen Himmel. Mechenmal war kalt und bleich. Er dachte +immerzu: Wenn es nur nicht herauskommt. Oder er überlegte, +wohin er fliehen könne. Er dachte an Gerichtsverhandlung, an +Verteidiger, an Zuchthaus, Ketten, Kassiber, Henker. Daß er +als letzte Gnade erbitten würde, noch einmal mit Ilka Leipke +schlafen zu dürfen. Er lief durch die Straßen, als suche er +einen einzuholen. Wenn er daran dachte, daß er nicht +auffallen dürfe, ging er plötzlich zu langsam. Ihm schien, +als beobachteten ihn alle Leute.</p> + +<p> +In einem Garten rangen zwei etwa fünfzehnjährige Mädchen. +Als sie Mechenmal sahen, setzten sie sich flink auf eine +Bank. So ließen sie ihn näher kommen. Als er dicht genug +war, lachten sie ihn an; eine zappelte mit den Beinen. Er +eilte vorüber. Da schrie eine hinter ihm her: »Sieh doch, +wie rasch der Mann geht.« Und die andere schrie, ebenso +ratlos: »Na ja. Er raucht.« Sie sahen ihm noch nach. Dann +rangen sie wieder.</p> + +<p> +Mechenmal beruhigte sich allmählich. Er dachte: Man kann mir +nichts beweisen. Ich leugne alles. Hoho! Wer kann mir etwas +beweisen … Selbst wenn sie überhaupt etwas merken! – Er +warf die Zigarre weg. Er fühlte sich sicherer. Er pfiff vor +sich hin bei dem Gedanken, daß Kohn sich nicht mehr rühren +könne. Daß er, Max Mechenmal, die Schwierigkeit Kohn so +gründlich überwunden habe. Er dachte daran, daß er das Leben +richtig anpacke. Daß ihm alles glücke. Er hatte gewaltiges +Zutrauen zu sich. Er dachte: Nur keine Sentimentalitäten. Um +anständig leben zu können, muß man ein Schuft sein.</p> + +<p> +Er ging ganz lustig nach Hause.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/geschichten/03_cafe_kloesschen.html b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/03_cafe_kloesschen.html new file mode 100644 index 0000000..52204cf --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/03_cafe_kloesschen.html @@ -0,0 +1,522 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Café Klößchen</title> +</head> +<body> + +<h4>Café Klößchen</h4> + +<p> +I</p> + +<p> +Lisel Liblichlein war aus der Provinz in die Stadt gekommen, +weil sie Schauspielerin werden wollte. Zu Haus empfand sie +alles spießig, eng, verblödend. Die Herren waren dumm. Der +Himmel, das Küssen, die Freundinnen, die Sonntagnachmittage +wurden unerträglich. Am liebsten weinte sie. Schauspielerin +sein bedeutete ihr: Klug sein, frei sein, glückselig sein. +Wie das ist, wußte sie nicht. Ob sie Talent habe, prüfte sie +nicht.</p> + +<p> +Sie schwärmte für den Vetter Schulz, weil er in der Stadt +wohnte und Gedichte machte. Als der Vetter einmal schrieb, +er habe die Juristerei satt, er werde als Schriftsteller +seinen Neigungen leben, teilte sie den erschrockenen Eltern +mit, das verbauerte Leben wachse ihr aus dem Halse heraus; +sie werde als Schauspielerin ihren Idealen nachgehen. Man +versuchte auf jede Art, sie von diesem Vorhaben abzubringen. +Es gelang nicht. Sie wurde bestimmter, drohend. Man gab +unwillig nach, fuhr mit ihr in die Stadt, mietete ein +kleines Zimmer in einem großen Pensionat, meldete sie in +einer billigen Theaterschule an. Der Vetter Schulz wurde +gebeten, sich ihrer anzunehmen.</p> + +<p> +Herr Schulz war häufig mit Cousine Liblichlein zusammen. Er +führte sie in Kabaretts; las Gedichte vor; zeigte seine +Bohemebude; bestellte sie in das Literatencafé Klößchen; +ging mit ihr Hand in Hand stundenlang durch die nächtlichen +Straßen; betastete sie; küßte sie. Fräulein Liblichlein war +von allem Neuen angenehm betäubt; bald fiel ihr ein, daß sie +sich das meiste schöner vorgestellt hatte. Verdrießlich war +ihr schon anfangs, daß der Direktor der Theaterschule, die +Kollegen, die Literaten des Café Klößchen – alle Männer, mit +denen sie häufiger zusammentraf, ein Vergnügen darin fanden, +sie anzufassen, ihre Hände zu streicheln, die Knie an ihre +Knie zu drücken, sie unverschämt anzusehen. Sogar die +Berührungen des Schulz wurden ihr lästig.</p> + +<p> +Um ihn nicht zu kränken, auch um nicht kleinstädtisch zu +wirken, gab sie ihm das selten zu verstehen. Aber einmal +schlug sie ihm heftig auf das Gesicht. Sie waren in seinem +Zimmer, er hatte ihr gerade die letzten Zeilen seines +Gedichtes »Müdigkeit« erklärt. Die waren:</p> + +<p> +Der Abend steht vor meinem Fenster, grauer Mann! Am besten +ist wohl, wenn wir schlafen gehen –</p> + +<p> +danach hatte er versucht, ihr die Bluse abzuziehen. Der +Schulz war über den Schlag recht bestürzt. Er sagte, fast +weinend, sie müsse gemerkt haben, daß er sie liebe. Außerdem +sei er ihr Vetter. Sie sagte, das Öffnen der Bluse behage +ihr nicht. Zudem habe er einen Knopf abgerissen. Er sagte, +er halte das nicht mehr aus. Wenn man einen liebe, müsse man +sich ihm hingeben. Er werde bei Kokotten Vergessen suchen. +Sie wußte keine Antwort. Er dachte stöhnend: O, o. Sie saß +betrübt neben ihm.</p> + +<p> +In den nächsten Tagen ließ er sich nicht sehen. Als er +wiederkam, war er bleich und grau. Die blutleeren roten +Augen lagen tränend in schmierigen Schatten. Die Stimme +hatte nur einen Singsangton, der klang maniriert +melancholisch. Schulz sprach kläglich schwärmend von +Verzweiflung, Hurerei, Zerrissensein. Daß er der +Lebensfreude überdrüssig sei. Daß er seinen Tod bald +eingeholt haben werde. Er vermied Zärtlichkeiten, aber er +seufzte oft schmerzlich. Kokettierte theatralisch mit einer +Sehnsucht nach dem Sterben. Führte die Freundin in +leichenreiche Trauerspiele, in düstere Kinodramen, in ernste +Konzerte in verdunkelten Sälen.</p> + +<p> +Eine Woche war vielleicht vergangen. Eine Dame hatte +gesungen. Die Hände der Zuhörer knallten laut und lange. +Gottschalk Schulz faßte leidenschaftlich einige Finger Lisel +Liblichleins, legte sie gütig auf einen Schenkel seiner +Beine, sagte: »Ist es nicht eigenartig, wie der Gesang einer +Dame einem an die Seele greift!« Dann fing er wieder an, +bittend und weinerlich von Liebe und Hingebung zu reden. +Lisel Liblichlein sagte, dies sei ihr langweilig oder +ekelhaft. Aus Mitleid – und weil sie hinaufgehen wollte – +erklärte sie schließlich in der Haustür, mit der Liebe sei +sie einverstanden, wenn er auf die Hingebung verzichte. +Schulz drückte sie glücklich an sich. Er stand noch lange +träumend da. Er sang: »O Tränen. O Güte. O Gott. O +Schönheit. O Liebe. O Liebe. O Liebe …« Er stürzte durch +die Straßen. In dem Klößchen war er verschwunden.</p> + +<p> +Lisel Liblichlein aber saß in ihrem kleinen Zimmer +unbeholfen lächelnd bei einem rötlichen Talglicht. Sie +begriff diese Menschen der Stadt nicht, die schienen ihr +seltsame, gefährliche Tiere. Sie fühlte sich verlassen und +einsamer als früher. Sie dachte sehnsüchtig an die harmlose +Heimat: An den luftigen Himmel, an die lächerlichen jungen +Herren, an die Tennisturniere, an die wehmütigen +Sonntagnachmittage … Sie knöpfte die Strumpfhalter ab, +legte das Leibchen auf einen Stuhl. Sie war trostlos.</p> + +<p> +II</p> + +<p> +In einem durchsichtigen Sommerabend war das leuchtende Café +Klößchen. Stadthimmel aus dunkelblauer Seide, auf dem weißer +Mond und viele kleine Sterne lagen, umhüllte es. In einem +Hintergrund saß, lange Zeit, bevor er plötzlich starb, +einsam und rauchend bei einem winzigen Tisch, auf dem etwas +stand, der bucklige Dichter Kuno Kohn. Um andere Tische +hockten Leute. Dazwischen bewegten sich Männer mit gelben +und roten Schädeln; Weiber; Literaten; Schauspieler. überall +huschten schattige Kellner.</p> + +<p> +Kuno Kohn war ohne viel Gedanken. Er summte für sich: »Ein +Nebel hat die Welt so weich zerstört.« – Da begrüßte ihn der +Dichter Gottschalk Schulz, ein Jurist, der durch alle +Examina, denen er sich unterzogen hatte, mühevoll gefallen +war. Mit ihm kam ein schönes Fräulein. Die beiden setzten +sich zu Kohn. Schulz und Kohn waren Mitarbeiter der von dem +kleinen begeisterten Lutz Laus für die Hebung der +Unsittlichkeit angefertigten Monatsschrift: »Der Dackel«. +Schulz erzählte dem Kohn, daß der Dackel-Laus demnächst eine +gottlose Religion auf neojuristischer Grundlage erfinden +werde, zwecks Organisation eine konstituierende Versammlung +in einem nahen Kintopp einberufen wolle. Kohn hörte +kopfschüttelnd zu. Das schöne Fräulein aß Kuchen. Kohn sagte +traurig: »Laus ist ein Großer und Rührender. Aber gläubig +kann uns kein Jesus mehr machen. Wir sterben mit jedem Tage +tiefer in den öden ewigen Tod ein. Wir sind hoffnungslos +zerrüttet. Unser Leben wird ein sinnloses Schau-Spiel +bleiben.« Das essende Fräulein sah mit fröhlichem, +deutlichem Gesicht aus rotbraunen Augen verständnislos +hinüber. Schulz war in trübselige Gedanken versunken. Das +Fräulein sagte, auch ihr ganzes Leben sei das Schauspiel. So +sinnlos könne sie dies nicht finden. In der Theaterschule, +in der sie sich auf die Bühnenlaufbahn als sentimentale +Liebhaberin vorbereite, werde Tüchtiges geleistet. Herr Kohn +möge einmal hinkommen, um sich davon zu überzeugen. Kuno +Kohn blickte das Fräulein eine Weile innig an. Er dachte: +»Solch kleines dummes Fräulein …« Er ging aber bald weg.</p> + +<p> +Draußen hielt ihn plötzlich der Lyriker Roland Rufus Müller +erregt an einem Arm fest, er rief: »Haben Sie die Kritik +eines gewissen Bruno Bibelbauer in der medizinischen +Monatsschrift gelesen, in der behauptet wird, meine Paranoia +bestehe darin, daß ich mir einbilde, Paralyse zu haben! Alle +Menschen sehen mich merkwürdig an, ich bin berühmt. Mein +Verleger gibt mir viel Vorschuß. Aber – ach, ich darf es +nicht sagen – ich bin unheilbar.« Er lief schleunigst in ein +besseres Weinrestaurant.</p> + +<p> +Ein Pferd humpelte wie ein alter Mensch vor einem Wagen. Der +bucklige Kohn lehnte lässig an einer katholischen Kirche, +überlegte das Dasein. Er sagte sich: »Wie drollig ist +dennoch das Dasein. Und da lehnt man nun; irgendwo; +irgendwie; ohne Beziehung; ganz belanglos; könnte ebenso +gut, ebenso schlecht weiterschreiten; irgendwohin. Das macht +mich unglücklich.« – Vor ihm war ein kleiner lautloser +Hurenhund stehengeblieben, hatte mit glimmenden Augen +demütig zugehört.</p> + +<p> +Eine feurige gläserne Brautkutsche hüpfte vorbei. Innen, in +einer Ecke, sah er das bleiche geschlossene Gesicht eines +Bräutigams. Eine leere Droschke kam, der Kohn ging +hinterher. Er sagte leise: »Ein Sucher ohne Ziel … Ein +Haltloser… Unbekannt mit allem … Man hat eine furchtbare +Sehnsucht. O wüßte man wonach.«</p> + +<p> +Die Straßen schimmerten schon weißlich, als er die Tür des +Hauses, in dem er wohnte, öffnete. In seinem Zimmer sah er +die Bilder von lauter gestorbenen Menschen, die an einer +Wand befestigt waren, schweigsam und feierlich traurig an. +Dann begann er, die Kleidungsstücke von dem Buckel zu +nehmen. Als er nur noch mit Unterhosen, Hemd, Socken bedeckt +war, sagte er murmelnd und seufzend: »Allmählich wird man +wahnsinnig –«</p> + +<p> +in dem Bett nahm das Denken ab. Ihm fielen für das +Einschlafen die rotbraunen Fräuleinaugen aus dem Café +Klößchen ein…</p> + +<p> +Diese Augen leuchteten auch in den folgenden Tagen sonderbar +oft in seinem Hirn. Das wunderte ihn. Erschreckte ihn. Sein +Verhältnis zu Frauen war eigenartig. Im allgemeinen hatte er +sogar einen Widerwillen gegen sie, es trieb ihn zu Knaben. +Aber in gewissen Sommermonaten, wenn er zu innerst +zerbrochen und unselig war, verliebte er sich häufig in ein +junges kindhaftes Weib. Da er infolge seines Buckels zumeist +abgewiesen, oft sogar verhöhnt wurde, war die Erinnerung an +diese Frauen und Mädchen entsetzlich. Er nahm sich daher zu +diesen Zeiten in acht. Ging zu Dirnen, wenn er Gefahr +fühlte.</p> + +<p> +Lisel Liblichlein hatte ihn überrumpelt, ohne eine Ahnung +davon zu haben. Vergeblich dachte er an die Qualen der +Mißerfolge. Vergeblich stellte er sich vor, daß Lisel +Liblichlein eins der vielen, zierlichen, in wundervolle +Unwissenheit und glücksuchende Sehnsucht verwirrten +Geschöpfe sei, die überall auf der Erde, einander sehr +ähnlich, zu finden sind… In einem weichen Abend voller +grünlichgelber Laternen, voller Regenschirme und +Straßenschmutz stand ein kleiner buckliger Mensch ängstlich +wartend neben dem Hausschild einer Theaterschule.</p> + +<p> +III</p> + +<p> +Manchmal kam ein Wind, ein giftiger heißer Hund. Wie zähes, +glühendes Öl lag die Sonne auf den Häusern und auf den +Straßen und auf den Leuten. Kleine geschlechtslose +Menschlein mit schrägen Beinen hopsten sinnlos um den +vergitterten Vorgarten des Café Klößchen. Innen prügelten +sich Kuno Kohn und Gottschalk Schulz. Andere sahen zufällig +zu. Lisel Liblichlein saß ernsthaft in einer Ecke.</p> + +<p> +Die Veranlassung war gewesen: Herr Kohn hatte Fräulein +Liblichlein mehrmals von der Theaterschule nach Hause +begleitet. Als Schulz davon erfuhr, wurde er grundlos +eifersüchtig. Er fing an, über den Kohn Schlechtes zu reden. +Lisel Liblichlein, die den Vetter durchschaute, verteidigte +den Buckligen. Darüber ärgerte sich der Schulz noch mehr. Er +erklärte überzeugend, er werde sich erschießen. Das +unterließ er, drohte aber, er werde auch sie erschießen. Da +verbat sie sich seine Gesellschaft. – Lisel Liblichlein +mußte einen Menschen haben, mit dem sie sich über ihre +wichtig empfundenen Alltäglichkeiten aussprechen konnte. Sie +wählte nach dem Zank mit Schulz aus irgendeinem ungeklärten +Instinkt den Kohn. So kam es, daß sie ihn an dem Mittag des +Prügeltages in das Klößchen bestellt hatte, um vielleicht +über die Wahl eines Kleides oder über die Auffassung einer +Rolle oder über ein kleines Geschehnis mit ihm zu beraten. +Kohn war soeben gekommen, wollte sich gerade über die +Wünsche des Fräulein informieren, als Gottschalk Schulz +hineinfiel, mit rotgeschwollenem Gesicht vor ihm war, ihn +einen gewissenlosen Mädchenverführer nannte. Kohn versuchte +den Schulz von unten zu ohrfeigen. Dann schlug jeder wütend +und schweigend auf den anderen. Das Schild des +Abortpächters, auf dem vorher zu lesen war: »Mein Institut +ist jetzt hier, Eingang dort« – lag zerschmettert auf dem +Boden. Plötzlich stieß die Hand des Schulz wuchtig auf den +Buckel Kohns. Die Hand hatte ein blutiges Loch, auch der +Buckel war beschädigt. Schulz rief leichenbleich: »Der +Buckel ist lebensgefährlich.« Danach ließ er sich von einem +Oberkellner nach einer Unfallstation begleiten. Lisel +Liblichlein würdigte er keines Blickes.</p> + +<p> +Kohn achtete nicht sehr auf den geschundenen Buckel. Er +setzte sich wieder zu Lisel Liblichlein an den Tisch, +bestellte Tee mit Zitrone. Sie sah, wie immer deutlicher +Blut durch seinen fadenscheinigen Gehrock sickerte. Sie +machte ihn auf den blutenden Gehrock aufmerksam, er +erschrak. Sie sagte, ob sie die Wunde verbinden solle – er +sagte bitter, einen Buckel anzufassen, werde ihr nicht +angenehm sein. Sie sagte mitleidig errötend, ein Buckel sei +menschlich – sie sagte, er möge zu ihr kommen. Der Buckel +müßte gesäubert und gekühlt werden. Dann wolle sie einen +Verband machen. Er könne den Nachmittag bei ihr +verbringen…</p> + +<p> +Kohn ging freudig zögernd auf ihren Vorschlag ein. Sie saßen +bis in die Nacht in der kleinen Stube Lisel Liblichleins. +Unterhielten sich über Seele, Buckel, Liebe. –</p> + +<p> +Schriftsteller Schulz war von diesem Tage an verschollen. +Zuletzt hatte ihn ein Bekannter an dem Abend vor dem +Schaufenster eines Schuhwarengeschäftes gesehen. Er soll +jeden Stiefel einzeln trübsinnig betrachtet haben. »Heiße +Helden« – eine Zeitschrift für romantische Decadence – +erhielt bald danach einen Eilbrief, in dem Schulz mitteilte, +daß er im Begriff sei, sich aus seelischen Gründen das Leben +zu nehmen. Einige hielten diese Mitteilung für nicht mehr +neue Reklame. Die meisten waren begeistert. Die Zeitungen +brachten aufregende Notizen. Ein Schulz-Leichen-Suchefonds +wurde gegründet. Ein Fabrikbesitzer stiftete einen +gediegenen Sarkophag.</p> + +<p> +Man durchforschte Wälder und Wiesen. Stocherte mit langen +Stangen in allen Seen. Man fand keine Spur von Schulz. +Wollte das Suchen schon aufgeben, als man ihn ganz entstellt +in einem mittelmäßigen Hotel eines entlegenen Vorortes +entdeckte. Er hatte sich an einem windigen Teich eine +schwere Influenza zugezogen, die ihn wochenlang an ein Bett +fesselte. Man traf ihn auf der knarrenden Hoteltreppe, wie +er, in viele Decken und Tücher gehüllt, noch einmal seine +Selbstmordabsichten versuchsweise verwirklichen wollte. +Unschwer brachte man ihn davon ab, führte ihn triumphierend +in die Stadt zurück. Der Sarkophag wurde versetzt. Aus dem +Erlös und von dem Rest des Schulz-Leichen-Suchefonds wurde +ein Bohemefest veranstaltet – – –</p> + +<p> +Gottschalk Schulz selbst thronte als Faust weltschmerzlich +in einem Winkel. Der begabte Doktor Berthold Bryller +erschien als: Einer der Literaten, die fett werden. Lutz +Laus verhielt sich in päpstlichem Ornat. Der Gymnasiast +Spinoza Spaß – der Klößchenclown – hatte ein Siegfriedkostüm +um den Leib gehängt, sich einen Goethekopf frisiert. Der +Lyriker Müller lag bald als grüne betrunkene Leiche. Kuno +Kohn, der sich mit Schulz formell wieder ausgesöhnt hatte, +kam, wie er war. Mit ihm auch Lisel Liblichlein, sie trug +ein ländliches Kleid. Die anderen liefen als Chinesen, +Schimpansen, Götter, Nachtwächter, Leute von Welt +quietschend und quer durcheinander. Das ganze Klößchen war +vorhanden.</p> + +<p> +Lisel Liblichlein tanzte in dieser bunten, kreischenden +Nacht nur mit dem buckligen Dichter. Manche sahen dem +seltsamen Paar zu, aber es ließ sich nicht lachen. Der +Buckel Kohns stieß hart und rücksichtslos wie eine +Tischkante gegen die weichen anderen. Es schien, als wäre +ihm eine Lust, immer wieder den Buckel in einen Tanzenden zu +stechen. Niemals versäumte er, mit Fistelstimme, unverschämt +höflich, »pardon« zu sagen, wenn ein verrücktes Weib +hochschrie oder einer aus Seligkeit »verflucht …« Knurrte. +Lisel Liblichlein hielt den Dichter mit der einen Hand unten +an dem Buckel wie an einem Henkel, mit der anderen Hand +preßte sie den eckigen Kopf Kohns sanft in ihre Brust. So +tanzten sie durch viele besessene Stunden.</p> + +<p> +Kohns Buckel wurde immer schmerzhafter für die anderen +Tänzer. Man wagte Empörung zu äußern. Die Festleitung teilte +dem Kohn mit, daß er ersucht werde, das Tanzen einzustellen. +Mit einem derartigen Buckel dürfe man nicht tanzen. Kohn +widersprach nicht. Lisel Liblichlein sah, daß sein Gesicht +grau wurde.</p> + +<p> +Sie führte ihn in eine versteckte Nische. Da sagte sie: »Von +nun an sage ich 'du' zu dir.« Kuno Kohn antwortete nicht, +aber er empfing ihre mitleidende Seele wie ein Geschenk in +seine wasserblauen Troubadouraugen. Sie sagte zitternd, daß +sie ihn mit einem Mal so lieb habe, sei ihr +unverständlich… Sie wolle seine arme Hand niemals mehr +loslassen … Sie habe nicht gewußt, daß man so maßlos +glücklich sein könne … Kuno Kohn lud sie ein, ihn an dem +nächsten Abend zu besuchen. Sie sagte gern zu.</p> + +<p> +Kuno Kohn und Lisel Liblichlein waren wohl die ersten, die +das taumelnde Fest verließen. Sie gingen flüsternd in den +himmelhellen, von Mondlicht leuchtenden Straßen. Der +verliebte Dichter warf abenteuerliche Schatten mit riesigen +Höckern auf das Pflaster.</p> + +<p> +Bei dem Abschied senkte Lisel Liblichlein den Kopf zu Kohn +nieder. Sie küßte mehrmals seinen Mund. So trennten sich +Kuno Kohn und Lisel Liblichlein … Er sagte, er freue sich, +daß sie ihn an dem nächsten Abend besuchen werde. Sie sagte +ganz leise: »Ich… Ach … Auch …«</p> + +<p> +Die Häuser standen wohlgeordnet wie Bücher in Regalen auf +den gepflegten Straßen. Der Mond hatte hellblauen Staub auf +sie geschüttet. Wenige Fenster waren wach, die funkelten +friedlich wie einsame Menschenaugen, hatten immer denselben +goldfarbenen Blick. Kuno Kohn ging nachdenklich heim. Der +Körper war gefährlich nach vorn geneigt. Die Hände lagen +fest auf dem Ende des Rückens. Der Kopf war weit +heruntergefallen. Zu oberst ragte der Buckel, ein +abenteuerlicher spitzer Stein. Kuno Kohn war in dieser +Stunde kein Mensch mehr, er hatte seine eigene Form.</p> + +<p> +Er dachte: »Ich will vermeiden, glücklich zu werden. Das +bedeutete: Die Sehnsucht über alle Erfüllung hinaus, die +mein köstlichster Inhalt ist, aufgeben. Den heiligen Buckel, +mit dem ein freundliches Geschick mich geweiht hat, durch +den ich das Dasein viel, viel tiefer, unseliger, herrlicher +gespürt habe, als die Menschen es spüren, zu einer lästigen +Äußerlichkeit degradieren. – Ich will aus Lisel Liblichlein +ihr höheres Wesen herausbilden. Ich will sie heillos +unglücklich machen …«</p> + +<p> +Während der Dichter Kohn dies dachte, erstach sich der +Dichter Schulz endgültig mit einem Salatmesser. Er hatte +Kuno Kohn und Lisel Liblichlein bei ihrer vertrauten +Unterhaltung in der Nische beobachtet. Hatte gesehen, wie +sie zusammen weggingen. Er bemühte sich, seinen Jammer zu +besaufen und zu befressen, es half nicht. Nachdem er einige +Stunden gegessen und getrunken hatte, war er geisteskrank. +Er sang: »Der Tod ist eine ernsthafte Angelegenheit… Der +Tod läßt nicht mit sich spaßen … Der Tod ist ein +dringendes Bedürfnis…« Dann pikte er sich zaghaft und +zögernd das erste beste Messer in die linke Brust. Blut und +blutige Salatreste spritzten umher. Diesmal war der +Selbstmordversuch von Erfolg gekrönt.</p> + +<p> +IV</p> + +<p> +Lisel Liblichlein erschien an dem nächsten Abend früher als +verabredet war. Kuno Kohn öffnete die Tür, Blumen in der +Hand haltend. Er freute sich sichtbar, er sagte, er habe +kaum gehofft, daß sie kommen werde. Sie legte die Arme um +seinen knochigen Körper, preßte ihn an ihren Leib mit +saugendem Druck, sagte: »Du buckelliebes Dummchen … Ich +hab dich doch gern –«</p> + +<p> +einige einfache Abendgerichte wurden gegessen. Sie +streichelte ihn, wenn ihr etwas gut schmeckte. Sie sagte, +sie wolle bis nach Mitternacht bei ihm bleiben. Dann könnte +sie mit ihm den Beginn ihres achtzehnten Geburtstages feiern +…</p> + +<p> +Aus einer Kirchenuhr kam der neue Tag. Die ersten lauten +Atemzüge drangen wie gestöhnte Gebete in das verhangene +Kohnsche Zimmer. Da war Lisel Liblichleins junger +Seelenkörper ein Tempel geworden, sie hatte sich dem +buckligen Priester mit rührender unter Schmerzen geopfert. +Hatte gesagt: »Bist du jetzt froh –« lag aufgelöst in Traum +und Ergriffenheit. Die dünne Haut der Lider hüllte sie ein.</p> + +<p> +Plötzlich rannte ein Entsetzen über den Körper. Hatte sie +den Schrecken in dem Gesicht wie Krallen. Waren aufgerissene +schreiende Augen über dem Buckligen. Sagte Lisel Liblichlein +tonlos: »Dies – war – das Glück +–––« Kuno Kohn weinte.</p> + +<p> +Sie sagte: »Kuno, Kuno, Kuno, Kuno, Kuno, Kuno … Was fange +ich mit dem übrigen Leben an?« Kuno Kohn seufzte. Er sah +ernst und gütig in ihre elenden Augen. Er sagte: »Armes +Lisel! Das Gefühl der vollkommenen Hilflosigkeit, das dich +überfallen hat, habe ich häufig. Der einzige Trost ist: +Traurig sein. Wenn die Traurigkeit in Verzweiflung ausartet, +soll man grotesk werden. Man soll spaßeshalber weiterleben. +Soll versuchen, in der Erkenntnis, daß das Dasein aus lauter +brutalen hundsgemeinen Scherzen besteht, Erhebung zu +finden.« – Er wischte Schweiß von Buckel und Stirn.</p> + +<p> +Lisel Liblichlein sagte: »Warum du eine lange Rede hältst, +weiß ich nicht. Was du gesagt hast, verstehe ich nicht. Daß +du mir das Glück genommen hast, war lieblos, Kohn.« – Die +Worte fielen wie Papier.</p> + +<p> +Sie sagte, sie wolle gehen. Er möge sich ankleiden. Der +nackte Buckel sei ihr peinlich…</p> + +<p> +Kuno Kohn und Lisel Liblichlein sprachen kein Wort mehr, bis +sie sich vor der Tür des Hauses, in dem das Pensionat war, +für immer trennten. Er sah in ihr Gesicht, hielt ihre Hand, +sagte: »Lebe wohl –« sie sagte leise: »Lebe wohl –«</p> + +<p> +Kohn duckte sich in seinen Buckel. Lief niedergebrochen +davon. Tränen verschmierten das Gesicht. Er fühlte die +nachschauenden betrübten Blicke auf seinem Rücken. Da rannte +er um die nächste Häuserecke. Er blieb stehen, trocknete die +Augen mit einem Tuch, eilte weinend weiter.</p> + +<p> +Wie Krankheit kroch schleimiger Nebel in der erblindenden +Stadt. Laternen waren düstere Sumpfblumen, die auf +schwärzlich glimmenden Stielen flackerten. Dinge und Wesen +hatten nur fröstelnden Schatten und verwischte Bewegung. Wie +ein Ungetüm torkelte ein Nachtomnibus an Kohn vorüber. Der +Dichter rief: »Jetzt ist man wieder ganz einsam.« – Da +begegnete ihm eine große Bucklige mit langen Spinnenbeinen +in gespenstig durchscheinendem Rock. Der Oberkörper glich +einer Kugel, die auf einem hohen Tischchen liegt. Sie sah +ihn mitleidig lockend an, mit verliebtem Lächeln, das durch +den Nebel zu einer tollen Grimasse gezerrt wurde. Kohn war +sogleich in dem Grau verschwunden. Sie ächzte, dann trug sie +sich weiter.</p> + +<p> +Lahmer Tag hinkte heran. Zertrümmerte mit eiserner Krücke +die Reste der Nacht. Das halb ausgelöschte Café Klößchen lag +in dem lautlosen Morgen, eine glänzende Scherbe. In einem +Hintergrund saß der letzte Gast. Kuno Kohn hatte den Kopf in +den bebenden Buckel gesenkt. Die dürren Finger einer Hand +bedeckten Stirn und Gesicht. Der ganze Körper schrie +lautlos.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/geschichten/04_zwei_bruchstuecke_aus_der_ersten_fassung_der_geschichte__cafe_kloesschen.html b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/04_zwei_bruchstuecke_aus_der_ersten_fassung_der_geschichte__cafe_kloesschen.html new file mode 100644 index 0000000..f2df670 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/04_zwei_bruchstuecke_aus_der_ersten_fassung_der_geschichte__cafe_kloesschen.html @@ -0,0 +1,109 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Zwei Bruchstücke aus der ersten Fassung der Geschichte »Cafe Klößchen«</title> +</head> +<body> + +<h4>Zwei Bruchstücke aus der ersten Fassung der Geschichte »Cafe Klößchen«</h4> + +<p> +I</p> + +<p> +Im Cafe Klößchen</p> + +<p> +in der Nähe Kohns sprachen im Kreis wenig bekannte Kritiker, +Maler, Dichter und ein paar. Zumeist Mitarbeiter der neuen +Zeitschrift: »Das andere A« und der unregelmäßig von dem +kleinen begeisterten Lutz Laus für die Hebung der +Unsittlichkeit angefertigten Monatsschrift: »Der Dackel«. +Bei ihnen saß ein schönes fressendes Fräulein.</p> + +<p> +Man stritt sich gerade um den literarischen Unwert des Herrn +Kohn. Der Dichter Gottschalk Schulz, ein Jurist, erklärte, +ihm sei unbegreiflich, daß Herr Doktor Bryller den Kohn +lobe. Kohn schildere alles anders. Kohn sei ein Lügner. Kohn +sei grotesk. - Der begabte Doktor Berthold Bryller sagte +darauf: »Grotesk sein, sei kein Nachteil. Groteske sei +immerhin eine Brücke zu einem Weg.« Und ein +Witzblattredakteur, der eigentlich nicht hierher gehörte, +schrie schüchtern: »Auch ich schätze alles, was grotesk und +originell ist und über den stumpfsinnigen deutschen +Tintensumpf hinausstrebt.« - Aber Lutz Laus rief: »Ich +schätze gar nichts. Ich teile diese Knaben ein in Burschen, +welche schreiben, weil ihnen nichts einfällt, und in +Gesindel, welches schmiert, weil ihm so zumute ist.« - +Spinoza Spaß, ein Gymnasiast, der dämlich an einem Stuhle +hing, freute sich langsam. Er blickte boshaft zu dem +einsamen Kohn. Und sagte, weiches Gemüt und heimatlichen +Akzent durch Berlinern etwas verbergend: »Nehmen Se jrotesk, +det hebt Ihnen.« - Alle lachten.</p> + +<p> +Kohn sah das Fräulein eine Weile innig an, zu den anderen +schmiß er nur verächtliche Blicke. Er stand bald auf und +ging weg.</p> + + +<p> +II</p> + +<p> +Der Dackel-Laus</p> + +<p> +an einem weichen Abend voller grünlichgelber Laternen, +voller Regenschirme und Straßenschmutz erregte der +Dackel-Laus gewaltiges Aufsehen in dem Café Klößchen. Er +ließ Zettel verteilen, auf denen für eine neue, von ihm +erfundene gottlose Religion auf neojuristischer Grundlage +Propaganda gemacht wurde. Ferner war für den nächsten Abend +eine konstituierende Versammlung in einen nahen Kintopp +einberufen.</p> + +<p> +Das ganze Café Klößchen erschien. Sogar Kuno Kohn, der +eigentlich der Klößchenclique nicht angehörte, mit den +meisten Literaten dieser Gruppe verfeindet war, kam in den +Kintopp. Gottschalk Schulz rief leise: »Das ist ein +ekelhafter Kerl. Das ist ein sogenannter grotesker Kohn.« +Lisel Liblichlein sagte: »Wer -« Schulz sagte: » Der kleine +Bucklige, der dort kommt.« Sie sah den Buckligen. Und sagte: +»Ach -« R. R. Müller, der neben ihr saß, flüsterte ihr +vertraulich zu: »Dieser Kohn ist gefährlich.« Sie sagte: +»Wieso -«</p> + +<p> +da sang eine Dame. Als die Dame nicht mehr sang, faßte +Gottschalk Schulz die Hand des Fräulein Liblichlein. Auch +den anderen war infolge des Gesanges feierlich zumute. +Einige hatten Tränen in den Augen.</p> + +<p> +Nun trat Lutz Laus selbst auf einen Stuhl. Er war ganz +schwarz gekleidet, aber das Gesicht war purpurrot, und die +Hände steckten in giftgrünen Lappen. Die Pupillen glänzten +wie gelbes Glas. Es war unsagbar still. Und er verkündete +seine Religion. Er sagte, diese Religion sei die Religion +der gehobenen Pessimisten. Diese Religion habe keinen Gott, +aber einen Papst. Der Papst sei er. Zugleich machte er die +Mitteilung, daß er in Anlehnung an die katholische Kirche +das Dogma von der Lausischen Unfehlbarkeit festzustellen +bitte. Und er verriet, daß er in kurzer Zeit in einem +Bürgerlichen Gebetbuch (Laus: BGB.) In 2385 Aphorismen die +grundlegenden Sätze seiner Religion zusammenstellen werde. -</p> + +<p> +Nach der Versammlung ging man haufenweise in das Café +Klößchen.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/geschichten/05_die_jungfrau.html b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/05_die_jungfrau.html new file mode 100644 index 0000000..076587f --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/05_die_jungfrau.html @@ -0,0 +1,235 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Die Jungfrau</title> +</head> +<body> + +<h4>Die Jungfrau</h4> + +<p> +Maria Mondmilch war das einzige Kind des Kunsthistorikers +Doktor Maximilian Mondmilch und der schönen Frau Marga +Mondmilch. Frau Mondmilch soll früher Wassermädchen in dem +Kaffeehaus gewesen sein, in welchem Herr Mondmilch – der +damals Student war – Tee trank und Zeitungen las und +rauchte. Nach der Geburt des Kindes hatte sie den Ehegatten +heimlich verlassen, um vermutlich mit einem Sektkellner +einige Wochen zu verbringen. Danach trieb sie sich – häufig +abwechselnd – mit sehr verschiedenen Männern sehr +verschiedener Gesellschaftsklassen herum. Sie kam erst +zurück, als sie erfuhr, daß der unheilbare Doktor in eine +Anstalt für Gehirnkranke gebracht worden sei. Sie pflegte +den todkranken Menschen sorgfältig bis zu seinem nahen Ende. +Sodann verheiratete sie sich mit einem herrschaftlichen +Kutscher, der sie abgöttisch liebte.</p> + +<p> +Die Krankheit des Doktor Mondmilch war erst erkannt worden, +als er ein mit schlimmen Strafen bedrohtes Verbrechen an der +achtjährigen Tochter verüben wollte. Glücklicherweise konnte +die Untat in dem letzten Augenblick verhindert werden. Das +in dem Herzen und in dem Hirn erschreckte Kind wurde – dem +Bruder des Verrückten – der Exzellenz Moriz von Mondmilch, +einem erstklassigen Verwaltungsbeamten, in Pflege gegeben. +Das letzte Wort des sterbenden Kunsthistorikers war: +»Maria.«</p> + +<p> +Zwischen dem Onkel und der Nichte entwickelte sich eine +sonderbare Zuneigung. Nichts geschah, was den Gesetzen +widersprochen hätte. Die Leidenschaft zwischen dem Kind und +dem alten Mann erregte die Eifersucht der alten Frau Minna +von Mondmilch. Durch die zu lästig gewordenen ehelichen +Zwistigkeiten fühlte sich der verärgerte Beamte einige Jahre +darauf genötigt, in eine Trennung von dem Pflegekind +einzuwilligen. Er mußte auch auf die ältlich gewordenen +Töchter Rücksicht nehmen. Der Abschied war schwer. Exzellenz +Moriz von Mondmilch fiel in Weinkrämpfe.</p> + +<p> +Maria Mondmilch kam in eine große Stadt. Man zahlte den +fremden Leuten, bei denen sie eingemietet worden war, +monatlich viel Geld. Sonst kümmerte man sich nicht um Maria +Mondmilch. Mit dem edlen Onkel wechselte sie geheime Briefe +voll ausschweifender Liebessehnsucht und abenteuerlicher +Hoffnungen. Das Bewußtsein, ständig Gefährliches verbergen +zu müssen, gab ihr etwas Feierliches und eine unerklärliche +Überlegenheit. Die Briefe des Onkels bewahrte Maria +Mondmilch unter besonders sakralen Formalitäten auf. Ein +Teil der Briefe kam abhanden und wurde das Beweismaterial +für den berühmten Scheidungsprozeß, der das ganze Land +erregte.</p> + +<p> +Maria Mondmilch war in der großen Stadt Schülerin eines +Mädchengymnasiums. Sie gehörte nicht zu den Besten. +Zeitweise arbeitete sie fleißig. Man beschuldigte sie, +allerhand Schweinereien – die vorkamen – angestiftet zu +haben. Als bekannt wurde, daß der Leiter der Anstalt ihr +abends in einer argen Straße begegnet war, erwartete man +ihre Relegierung. In der Verhandlung gegen einen +Literaturprofessor des Gymnasiums, der, trotzdem er dringend +verdächtigt war, etliche Sittlichkeitsverbrechen begangen zu +haben, freigesprochen werden mußte, war sie die wichtigste +Zeugin.</p> + +<p> +Das junge Mädchen weilte in der Nacht am liebsten in den +berüchtigten Vierteln. Maria Mondmilch ließ sich von allem +möglichen Gesindel ansprechen, den meisten Männern entlief +sie wieder. Sie war noch nicht fünfzehn Jahre alt, als sie +sich von einem Händler, dessen Bekanntschaft sie in einem +schmutzigen Abend in einer üblen Gasse auf einer Brücke +unter einer halb verfallenen altertümlichen Petroleumlaterne +gemacht hatte, in unanständigen Stellungen nackt +photographieren ließ. Als Sechzehnjährige verlebte sie die +Weihnachtsferien mit einem bildschönen, aber wildfremden +Elektrotechniker – namens Hans Hampelmann – in einem +verrufenen Hotel anscheinend wie Frau und Mann. Daß sie nach +Absolvierung des Gymnasiums sich entschloß, Medizin zu +studieren, ist unschwer aus erotischen Bedürfnissen zu +erklären.</p> + +<p> +Der hungrige Schauspieler Schwertschwanz – ein intelligent +und verludert aussehender Mensch, der nach billiger +Schokolade stank – lief planlos sehnsüchtig die abendlich +funkelnden und lärmenden Straßen der Stadt entlang, in +welcher Maria Mondmilch Medizin studierte. Er begegnete ihr, +als sie aus einer Vorlesung über Geschlechts- und +Männerleiden traurig zurückkam. Zum Spaß – ziemlich – sprach +er sie an. Gemeinsam gingen die beiden in eine Kneipe +niederer Sorte.</p> + +<p> +Der Schauspieler Schwertschwanz hatte, bevor er die +Studentin ansprach, überlegt, was seine langjährige +Verzweiflung augenblicklich am ehesten begründen könne; die +schließliche Unwichtigkeit alles Geschehens oder nur das +Malheur, daß bedeutende Männer oftmals aus Mangel an +entsprechender Nahrung und Medizin krepieren müssen … Die +Unzulänglichkeit der Frauen… Die Unheilbarkeit der +Rückenmarkschwindsucht, deren Anzeichen er an sich zu +bemerken glaubte … Als Maria Mondmilch ihren Beruf nannte, +leuchtete er auf. Man sprach über Syphilis und die Folgen. +Fräulein Mondmilch erzählte entsetzliche Fälle. Herr +Schwertschwanz hörte erschrocken und begeistert zu. Er war +entzückt, als sie – kokett betonend, daß sie leider nur +wissenschaftliche Beziehungen zu Männern unterhalten könne – +wie unabsichtlich bis über das Knie ein gut geformtes, +herbes Bein sehen ließ, das in einem aufregend gemeinen, +halbseidenen Strumpf befestigt war.</p> + +<p> +Die Studentin erwiderte merklich die Sympathie des +Schauspielers. Sein heruntergekommenes Aussehen flößte ihr +Zutrauen ein. Seine – auf sie eingestellten – von Schminke +und Hoffnungslosigkeit, von unmäßigen Hurereien oder Onanien +ringsum zerrissenen und inwendig fast verfaulten +treuherzigen blauen Augen griffen ihr an die Seele. Sein aus +Blasiertheit und unverschämter Zudringlichkeit gemischtes +Wesen regte sie sehr auf. Mitten durch Gekreisch und Kellner +und Bierbänke und Ausdünstungen, in dem gelbsüchtigen +Gaslicht, mußte sie schwärmerisch ausrufen: »Einen Menschen +wie sie, Herr Schwertschwanz, habe ich bisher nicht +kennengelernt.« – Er faßte sie beglückt an. Während draußen +ein Trupp Soldaten im Vorbeimarschieren das bekannte +Volkslied pfiff: Mariechen, du süßes Viehchen … Und so +weiter.</p> + +<p> +Ohne laute Verabredung hatten die Verliebten Arm in Arm die +Richtung auf die Bude der Studentin gewählt, als sie die +gröhlende Kneipe verließen. Oben legte sich Maria Mondmilch +mit übereinandergeschlagenen Beinen auf ein Schlafsofa in +der Nähe des Bücherschrankes. Der Schauspieler versank in +einen weichen Sessel, neben dem ein kleiner Tisch mit einer +zierlichen Flasche Kognak stand. Die Unterhaltung war nicht +einfach. Sie wollten einander ihre Leiden von klein auf +entgegenschluchzen. Sie wollten einander fressen, so gierig +wurden sie mit der Zeit. Etwas war dazwischen. Der +Schauspieler trank den Kognak. Die Studentin spielte nervös +mit den Händen und den Füßen.</p> + +<p> +Der Schauspieler konnte die Qual nicht mehr aushalten. Er +schrie leise – das war, als würde etwas zerschlagen: »Ich +will offen sein. Ich bin ein Syphilitiker« – – einige Tränen +kullerten herunter. Er erschrak, wie wenig ernst ihm war. +Die Studentin hielt die Hände vor das Gesicht. Theatralisch +wie er. Aber unbewußt.</p> + +<p> +Er hatte sich nicht verrechnet. Ihre erotische Aufgeregtheit +überstieg die Grenzen. Sie wand sich auf ihrem Schlafsofa. +Sie hielt ihm eine Hand hin. Sie flüsterte: »Armer Mann, +kommen Sie.«– Er ergriff die Hand nicht. Die Augen in dem +unglücklichen entsagenden Gesicht, dessen Wirkungen er schon +bei vielen hysterischen Frauen erprobt hatte, +niedergeschlagen, sagte er: »Sie wissen am besten, daß die +Berührungen mit mir eventuell Sie selbst luetisch machen +könnten, obwohl in den letzten Jahren die Wassermannsche +Reaktion immer negativ war.« – Da sagte sie heroisch: +»Offenheit gegen Offenheit. Ich bin Jungfrau.«</p> + +<p> +Instinktiv hatte sie sich gerächt. Seiner überreizten Sinne +war er nicht mehr mächtig. Wie eine Katze sprang er auf das +Mädchen mitten in dem Schlafsofa. Nun wehrte sie sich. Mit +ängstlichen Augen bereit, sich ihm zu geben.</p> + +<p> +Bei dem Ringen sang die Studentin dem Schauspieler ihr +Werbelied: »Maria Mondmilch bin ich, das Mädchen, die +Jungfrau. öffne mir deine Tore. Du, ich probierte viel +Männerfleisch von außen, Greise und Jünglinge. Alle lockte +ich. In allen suchte ich meinen Mann. Niemand drang tiefer +als meine Haut in mich … Ich schlich in den Tagen. Rannte +in den Nächten. Ich schlief in einem Bett mit Musikern und +Aristokraten. Mit Kaufleuten und Zuhältern und Studenten war +ich zusammen. Mit Kunstradfahrern und Rechtsanwälten trieb +ich mich herum. Ich ließ keinen Mann vorüber, dem ich nicht +in die Augen sah. Ob es regnete. Oder ob Winter war. Oder ob +die Sonne schien … Niemand durfte mich seine Frau nennen. +Niemand war mein Mann. Einer hat sich erschossen. Einer ist +in einen Sumpf gesprungen. Ich bin unschuldig… Einer ist +blödsinnig geworden. Einer hat mir einen Fußtritt gegeben. +Die meisten sind weggegangen, als wäre nichts vorgefallen. +Nichts ist vorgefallen … Du, blauäugiges Leidensgesicht +unter mir, ach, wärst du mein Mann, daß ich in dir blühe. +Bist du mein Mann, in den ich selig sinke ––«</p> + +<p> +und der Schauspieler sang der Studentin bei dem Ringen: »Ich +bin der Schauspieler Schwertschwanz, der Mann, der Wüstling. +In allen Leibern, die ich soff, suchte ich dich. Ich bin +Trinker geworden. Aus Sehnsucht. Mein Blut habe ich aus +Liebe vergiftet. Wie gleichgültig wäre das, wenn ich – +halbtot – dich jetzt fände. Ich habe dich zu viel gesucht, +um dich noch zu finden –«</p> + +<p> +da rief Maria Mondmilch in dem Untergehen: +»Schwertschwänzchen, liebst du mich –« und schon ertrunken: +»Er liebt mich nicht.« –</p> + +<p> +Der Mann fiel verzweifelt faul zurück. Die Studentin spuckte +ihm an den Kragen. Stülpte dem Willenlosen den Hut auf den +Kopf. Drückte ein Goldstück in seine Hand. Warf ihn hinaus.</p> + +<p> +Während der Schauspieler Schwertschwanz sich unterwegs, vor +Begierde zitternd, eine geeignete Hure suchte, saß Maria +Mondmilch über einem dicken anatomischen Lehrbuch. Sah sich +die Konstruktion eines splitternackten Mannes an. Und heulte +wie ein Hund am Meer.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/geschichten/06_gespraech_ueber_beine.html b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/06_gespraech_ueber_beine.html new file mode 100644 index 0000000..45b816d --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/06_gespraech_ueber_beine.html @@ -0,0 +1,108 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Gespräch über Beine</title> +</head> +<body> + +<h4>Gespräch über Beine</h4> + +<p> +I</p> + +<p> +Als ich im Coupé saß, sagte der Herr gegenüber: »Ihnen kann +man die Beine nicht abtreten.«<br /> +Ich sagte: »Wieso?«<br /> +Der Herr sagte: »Sie haben keine Beine.«<br /> +Ich sagte: »Merkt man das?«<br /> +Der Herr sagte: »Natürlich.«<br /> +Ich nahm meine Beine aus dem Rucksack. Ich hatte sie in +Seidenpapier eingewickelt. Und als Andenken +mitgenommen.<br /> +Der Herr sagte: »Was ist das?«<br /> +Ich sagte: »Meine Beine.«<br /> +Der Herr sagte: »Sie nehmen die Beine in die Hand und kommen +dennoch nicht weiter.«<br /> +Ich sagte: »Leider.«<br /> +Nach einer Pause sagte der Herr: »Was gedenken Sie ohne +Beine eigentlich zu tun.«<br /> +Ich sagte: »Darüber habe ich mir den Kopf noch nicht +zerbrochen.«<br /> +Der Herr sagte: »Ohne Beine können Sie nicht einmal ohne +Schwierigkeit Selbstmord begehen.«<br /> +Ich sagte: »Das ist aber ein fauler Witz.«<br /> +Der Herr sagte: »Nicht doch. Wenn Sie sich erhängen wollen, +müßte Sie einer erst auf das Fensterbrett heben. Und wer +wird Ihnen den Gashahn öffnen, wenn Sie sich vergiften +wollen? Den Revolver könnten Sie sich nur heimlich durch +einen Dienstmann besorgen lassen. Wie aber, wenn Ihnen der +Schuß davonläuft? Um sich zu ertränken, müßten Sie ein Auto +nehmen und sich auf einer Tragbahre von zwei Pflegern in den +Fluß schleppen lassen, der Sie an das jenseitige Ufer +befördern soll.«<br /> +Ich sagte: »Das ist doch wohl meine Sorge.«<br /> +Der Herr sagte: »Sie irren, ich überlege, seitdem Sie da +sind, wie man Sie aus dieser Welt schaffen könnte. Meinen +Sie, ein Mensch ohne Beine sei ein sympathischer Anblick? +Habe auch Existenzberechtigung? Im Gegenteil, Sie stören das +ästhetische Gefühl Ihrer Mitmenschen erheblich.«<br /> +Ich sagte: »Ich bin ordentlicher Professor für Ethik und +Ästhetik an der Universität. Darf ich mich +vorstellen?«<br /> +Der Herr sagte: »Wie wollen Sie das machen? Sie können sich +selbstverständlich nicht vorstellen, wie unmöglich Sie +sind.«<br /> +Ich betrachtete melancholisch meine Stummel.</p> + +<p> +II</p> + +<p> +Alsbald sagte die Dame gegenüber:<br /> +»Keine Beine haben muß ein komisches Gefühl sein.«<br /> +Ich sagte: »Ja.«<br /> +Die Dame sagte: »Ich möchte einen Mann, der keine Beine hat, +nicht anfassen.«<br /> +Ich sagte: »Ich bin sehr sauber.«<br /> +Die Dame sagte: »Ich muß einen großen erotischen Abscheu +überwinden, um mit Ihnen zu reden, geschweige denn Sie +anzusehen.«<br /> +Ich sagte: »Nanu.«<br /> +Die Dame sagte: »Ich glaube nicht, daß Sie ein Verbrecher +sind. Sie mögen ein kluger und ursprünglich liebenswerter +Mensch sein. Aber ich könnte mit Ihnen wegen der Ihnen +fehlenden Beine beim besten Willen nicht verkehren.«<br /> +Ich sagte: »Man gewöhnt sich an alles.«<br /> +Die Dame sagte: »Daß einer keine Beine hat, verursacht bei +dem natürlich empfindenden Weibe ein unerklärliches Gefühl +tiefsten Grauens. Als ob Sie eine ekelhafte Sünde begangen +hätten.«<br /> +Ich sagte: »Ich bin aber unschuldig. Das eine Bein kam mir +in der Aufregung abhanden, als ich zum ersten Mal meinen +Professorenstuhl einnahm, das zweite habe ich verloren, als +ich, in Gedanken versunken, jenes wichtige ästhetische +Gesetz fand, das zu grundlegenden Änderungen in unserer +Disziplin führte.«<br /> +Die Dame sagte: »Wie heißt dieses Gesetz?«<br /> +Ich sagte: »Das Gesetz heißt: Es kommt nur auf die Struktur +der Seele und des Geistes an. Wenn Seele und Geist edel ist, +muß man einen Körper schön finden, mag er äußerlich noch so +bucklig und entstellt sein.«<br /> +Die Dame hob ostentativ ihr Kleid und zeigte dadurch bis an +den oberen Rand der Oberschenkel wunderschöne, in allerhand +Seide gehüllte, Beine, die wie blühende Zweige aus dem +saftigen Leibe ragten.<br /> +Unterdessen sagte die Dame endgültig: »Sie mögen recht +haben, obwohl man ebensogut das Gegenteil behaupten könnte. +Jedenfalls ist ein Mensch mit Beinen etwas erheblich anderes +als einer ohne.«<br /> +Damit ließ sie mich sitzen, stolz davonschreitend.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/skizzen/00.html b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/00.html new file mode 100644 index 0000000..f53e0db --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/00.html @@ -0,0 +1,16 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Skizzen</title> +</head> + +<body> +<h3 class="section center">Skizzen</h3> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/skizzen/01_mieze_maier.html b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/01_mieze_maier.html new file mode 100644 index 0000000..a9cf2b4 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/01_mieze_maier.html @@ -0,0 +1,118 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Mieze Maier</title> +</head> +<body> + +<h4>Mieze Maier</h4> + +<p> +Ich besuche noch das Gymnasium, doch interessiere ich mich +mehr für Theater und Literatur. Ich lese Wedekind, Rilke und +andere. Auch Goethe. Schiller und George mag ich nicht.</p> + +<p> +Meine Freundin heißt Mieze Maier. Sie bewohnt mit ihrer +Gesellschafterin eine elegante Vierzimmerwohnung, denn ihr +Vater, Markus Maier, hat ihr viel Geld hinterlassen. Ihre +Mutter ist vor zehn Jahren den Folgen einer +Unterleibsoperation erlegen. Ihre Mutter soll schön gewesen +sein.</p> + +<p> +Mieze Maier ist erst kürzlich sechzehn Jahre alt geworden. +Ihr Geburtstag wurde sehr gefeiert. Viele hübsche und +lasterhafte Mädchen und eine Anzahl junger Männer waren +geladen. Man war sehr frivol. Man flüsterte einander ins +Ohr, daß Mieze jetzt sechzehn Jahre alt sei. Dabei lächelte +man …</p> + +<p> +Mieze Maier ist schön. Auch klug. Auch talentiert. Sehr +kokett. Raffiniert anmutig. Zeitweise unglücklich. Versteht +es, viele Männer krank zu machen, daß sie Trauer in den +Augen tragen, wenn sie wach sind, und ein Lächeln um die +Lippen haben, wenn sie schlafen. Und die Hände sind dicht an +dem Körper .. .</p> + +<p> +Stets hat sie ihre Favoriten gehabt. Die sind wie Puppen, +mit denen sie spielt, bis sie ihrer eines Tages überdrüssig +wird und sie achtlos beiseitewirft. Ich kenne sieben. Sechs +Wochen hat keiner in ihrer Gunst überdauert. Ich bin der +achte.</p> + +<p> +Ich weiß – auch meine Tage sind gezählt. Auch ich werde +grausam abgetan werden von diesem sechzehnjährigen Ding – +halb Kind noch. Wenn ich daran denke, schäme ich mich schon +jetzt und gräme mich. Und doch –</p> + +<p> +wir haben uns nicht gesagt, daß wir uns liebhaben, sind aber +sehr zärtlich zueinander. Dies kam so:</p> + +<p> +Wir trafen uns einmal. Das war Zufall. Der Tag war grau vor +Müdigkeit. Dämmerung lag über den Dingen. Von wenigen +Häusern fiel gelbes und rotes Licht.</p> + +<p> +Wir gingen zusammen. Ihre Augen hielten Glanz. Manchmal +deckte sie die halben Lider darüber. Und sie fing die Blicke +von Männern in ihre Augen. Das muß eine feine Wollust +sein.</p> + +<p> +Wir sprachen nicht, nur einmal sagte sie, daß ich rote +Lippen habe. Und einmal sagte ich, daß sie oberflächlich +sei, denn ich wollte sie ärgern.</p> + +<p> +Am nächsten Tage trafen wir uns wieder. Das war kein Zufall. +Wir gingen über Wiesen. Sie legte die Hand auf meine +Schulter und war gut zu mir. Da dachte ich an den Fußtritt, +den ich einmal von ihr erhalten werde.</p> + +<p> +… Ich hatte ihr gestern wehe getan, weil ich sie +oberflächlich nannte. Denn in ihrer Stimme klang etwas wie +Weinen, als sie sagte:</p> + + +<p> +»Ich bin wirklich nicht so oberflächlich, wie Sie glauben, +Olaf. Ich habe zweimal unglücklich geliebt und einmal +glücklich entbunden.«</p> + +<p> +Mir schien, als ob die Hand auf meiner Schulter schwerer +würde…</p> + +<p> +Wir schritten langsam. Wir sahen keine Menschen. Wind kam +über die Wiesen. Am Himmel waren überall Wolken, die drohten +Regen.</p> + +<p> +Sie sah mich an. Ihr Blick war nackt und sagte von +Leidenschaft.</p> + +<p> +Das war zu niedlich, wie ich sie da plötzlich packte und mit +mir ins Gras warf und schon halb im Rausch ihr zuflüsterte: +Du, meine – und wie sie ermattet lag und schluchzte: Olaf – +– –</p> + +<p> + seither schreibe ich in der Schule schlechte Arbeiten. Ich +werde wohl nicht versetzt werden.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/skizzen/02_kuno_kohn.html b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/02_kuno_kohn.html new file mode 100644 index 0000000..b7e975e --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/02_kuno_kohn.html @@ -0,0 +1,75 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Kuno Kohn</title> +</head> +<body> + +<h4>Kuno Kohn</h4> + +<p> +Seit einem halben Jahr wohne ich in dem Haus. Von den +Bewohnern hat noch niemand etwas bemerkt. Ich bin +vorsichtig.</p> + +<p> +Das weiße Kostüm bringt mir Glück. Ich verdiene genug. Und +habe angefangen zu sparen; denn ich fühle, daß die Kräfte +nachlassen. Häufig bin ich matt, manchmal habe ich +Schmerzen. Auch werde ich dick und alt. Ich schminke mich +nicht gern – – –</p> + +<p> +ich stehe nicht mehr unter Kontrolle. Kuno Kohn hat mich +frei gemacht. Ich bin ihm dankbar.</p> + +<p> +Kuno Kohn ist häßlich, er hat einen Buckel. Das Haar ist +messingfarben, das Gesicht ist bartlos und von Furchen +rissig. Die Augen sehen alt aus, um sie sind Schatten. Am +Hals beginnt eine Narbe wie eine Regenrinne. Das eine Bein +ist angeschwollen. Kuno Kohn hat einmal gesagt, daß er +Knochenfraß habe.</p> + +<p> +Sonderbar ist die erste Begegnung gewesen:</p> + +<p> +Es regnete. Die Straßen waren naß und schmutzig. Ich stand +an einer Laterne und blickte auf die angespritzten Kleider. +Wenn Wind kam, fröstelte ich. Die Füße schmerzten von den +Schuhen.</p> + +<p> +Selten ging wer. Meist auf der anderen Seite. Im Schutz der +Bäume. Mit aufgeschlagenem Mantelkragen. Den Hut schief über +die Stirn. Niemand beachtete mich, ich stand traurig.</p> + +<p> +Der Kies knirschte hinter mir. Hart und plötzlich, daß ich +aufschreckte. Ein Polizist kam, die Hände am Rücken. Er ging +langsam. Er sah mich argwöhnisch an, stolz auf sein Recht. +Mit nacktem Blick, er fühlte sich Herr. Er schritt weiter. +Ich lachte höhnend, er schaute sich nicht um. Der Polizist +verachtete mich.</p> + +<p> +Ich gähnte; es war spät geworden. – Da kam einer, der war +klein und verwachsen. Er blieb stehen, als er mich sah. Er +hatte die unglücklichen Augen, um die Lippen war verlegenes +Lächeln. Er versteckte einen Teil des Gesichts hinter dürren +Fingern. Und rieb am rechten Lid, wie wer, der sich schämt. +Und hüstelte … Ich trat dicht zu ihm, daß er mich fühlte. +Er sagte: »Na –« ich sagte: »Komm, Kleiner.« Er sagte: +»Eigentlich bin ich homosexuell.«</p> + +<p> +Und nahm meine Hand. Und küßte mit kalten Lippen.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/skizzen/03_mabel_meier.html b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/03_mabel_meier.html new file mode 100644 index 0000000..974199f --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/03_mabel_meier.html @@ -0,0 +1,63 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Mabel Meier</title> +</head> +<body> + +<h4>Mabel Meier</h4> + +<p> +Es war spät. Häufig hörte ich die Geräusche von Fahrzeugen. +In Abständen sah ich Leute. An einer Ecke standen zwei, +die.. . Schämten sich, als ich nahe war.</p> + +<p> +Mädchen kamen, die sich verspätet hatten. Wenige, die Geld +verdienen wollten. Ich sah die lange Dirne, die sich jeden +Abend hier herumtreibt. Ich erkannte sie an dem Unterrock.</p> + +<p> +Ein Kriminalbeamter beobachtete mich. Vor mir lief eine +Frau, die blieb oft stehen und heulte.</p> + +<p> +Ich dachte nicht nach. Ich blickte zu den Sternen und fand +keinen Wunsch. Ich betrachtete mich gleichgültig wie einen +fremden Gegenstand. Ich schüttelte den Kopf, daß der alte +Mann so spät allein geht … Und zu den Sternen murmelt … +Und so sonderbar ist. ..</p> + +<p> +Ich begegnete einer Dame, die sagte: »Au –« ich sagte: »Darf +ich Sie begleiten?« Die Dame sagte: »Bitte.« – Es war +ziemlich dunkel.</p> + +<p> +Wir gingen miteinander; die Dame erzählte, sie heiße Meier, +der Rufname sei aber Mabel. Sie wohne bei Verwandten, die +hätten eine Portierstelle. Im übrigen sei sie Choristin.</p> + +<p> +Die Dame war nicht schön und nicht jung, aber sie sah +zugänglich aus. Ich hatte keinen Grund, schüchtern zu sein +-</p> + +<p> +vor dem Haus, in dem die Dame wohnte, blieben wir stehn.</p> + +<p> +Ich machte den Vorschlag, noch ein Hotel aufzusuchen. Die +Dame war nicht abgeneigt, sie sagte: »Nee –« ich +sagte:»Wieso –« die Dame sagte, sie habe Trauer. Ich fragte, +wer gestorben sei. Sie sagte: »Papa –« ich sagte: »Sie +wollen also nicht –« über das Gesicht der Dame kam ein +Lächeln. Sie schaute zu einer Laterne – – –</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/skizzen/04_siegmund_simon.html b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/04_siegmund_simon.html new file mode 100644 index 0000000..b994128 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/04_siegmund_simon.html @@ -0,0 +1,102 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Siegmund Simon</title> +</head> +<body> + +<h4>Siegmund Simon</h4> + +<p> +Neun Ärzte behaupten, daß Samuel Simon an Wahnvorstellungen +leide. Ich füge mich.</p> + +<p> +Seit neunundzwanzig Jahren bin ich in der Anstalt. Man ist +freundlich zu mir. Ich kann tun und lassen, was ich will. +Wenn es warm ist, gehe ich im Garten und horche, wie die +Stunden sterben. Wenn es kalt ist, sitze ich am Fenster und +sinne in den Himmel. Oft schaue ich den Leuten zu, wenn sie +rufen oder arbeiten oder traurig sind … Ich bin froh, daß +ich fern bin. Ich entbehre nicht das Leben. Ich bin +zufrieden, wenn man mir nichts tut und nichts von mir will. +Ich beneide nicht die Menschen.</p> + +<p> +Neunmal in jedem Jahr bringt meine bleiche Frau Blumen. Mein +Sohn Siegmund kommt niemals. Zuletzt habe ich ihn gesehen, +als ich begraben wurde. An meinem neunundvierzigsten +Geburtstag –</p> + +<p> +ich lag in einem schmucklosen Holzsarg. Man fuhr mich auf +einem wagenartigen Gestell. Neben mir schritten neun +schwarzgekleidete Sargträger. Hinter mir der Pastor Leopold +Lehmann, an seiner Seite meine Frau Frieda und mein +neunzehnjähriger Sohn Siegmund. Wenige Verwandte folgten, +die waren stillvergnügt und unterhielten sich von der +Raupenplage.</p> + +<p> +Die Sonne warf warmes Licht. Wind kam dann und wann. Er +krabbelte über den Kies und kitzelte die Frauen um Brüste +und Waden. Wir hielten vor dem aufgeschütteten Grab. Der +Sarg wurde hinuntergelassen, einige Formalitäten und Gebete +wurden erledigt. Darauf fing der Pastor Leopold Lehmann an, +auf Wunsch und auf Kosten meiner Frau eine Gedächtnisrede zu +halten. Er sagte:</p> + +<p> +»Liebe Schwestern und Brüder! Wieder hat ein gütiges +Geschick uns ein teures Menschenleben geraubt. Trauernd +stehen wir am Grab des Dahingeschiedenen und gedenken seiner +in Wehmut.«</p> + +<p> +Mein Sohn Siegmund biß auf die Lippen. Der Pastor sagte: +»Die Erde, die den Körper ausgesondert hat, daß er kurze +Zeit ein beseeltes Eigenleben führe, hat ihn wieder +aufgenommen in den Mutterschoß. Ein edler Mensch ist +heimgegangen –«</p> + +<p> +mein Sohn Siegmund bekam einen Lachanfall. Das Gesicht wurde +rot und ernst … Er lachte, bis er röchelte.</p> + +<p> +Meine Frau schrie.</p> + +<p> +Einem Sargträger entfiel die Schnapsflasche und zerbrach auf +dem Sarg. Der Sargträger blickte wehmütig hinunter.</p> + +<p> +Die Verwandten waren empört. Sie schämten sich für meinen +Sohn Siegmund. Einige Frauen weinten in echte +Spitzentücher.</p> + +<p> +Ich war ganz still.</p> + +<p> +Der Pastor sagte:</p> + +<p> +»Wenn einer nicht weiß, wie er sich zu benehmen hat, soll er +nicht kommen, wenn einer beerdigt wird – Amen.«</p> + +<p> +Er warf etwas Sand auf die zerbrochene Schnapsflasche. Und +entfernte sich. Stolz. Gekränkt. Der Pastor. Leopold +Lehmann.</p> + +<p> +Mein Sohn Siegmund säuberte sich die Fingernägel.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/skizzen/05_der_freund.html b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/05_der_freund.html new file mode 100644 index 0000000..a48ca2b --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/05_der_freund.html @@ -0,0 +1,89 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Der Freund</title> +</head> +<body> + +<h4>Der Freund</h4> + +<p> +Ich liebe die toten Tage. Die haben kein Leuchten, sie sind +ohne Farben und ganz sehnsüchtig. Die Häuser stehen wie +Kulissen vor der grauen Wolke, die Menschen gehen wie in dem +Lichtspiel: Wenn der Abend wird, nicht anders, als sie in +der Frühe gingen. Alle Dinge sind wuchtiger. Und meine +Kammer sieht aus, wie wenn eben einer darin gestorben +wäre.</p> + +<p> +Sooft diese Tage sind, wächst in mir unwillkürlich eine +sinnlose Lust an der Arbeit. Ich tue die alltäglichen +Verrichtungen, als wäre Gottesdienst, was ich tue. Und ich +verliere mich dabei. Fast wie die Träumenden sich verloren +haben. Aber einmal merke ich, daß ich reglos geworden bin +und nach innen starre.</p> + +<p> +Ich werde sehr wach davon, und ich kann mich nicht mehr +hingeben. Ich gehe zu dem Fenster, da sind wunderliche +Gedanken. Die waren sonst nur in Nächten.</p> + +<p> +Ich fühle mich fremd bei allen Dingen. Sie drängen auf mich +ein, als kennten sie mich nicht: Die Straße und die Menschen +und die Türen in den Häusern und die tausend Bewegungen. Wo +ich hinschaue, werde ich verwirrt.</p> + +<p> +Mein kleiner Tod quält mich, es war doch schon viel Sterben +und größeres. Und daß ich einsam bin. Und daß überall ein +Unbegreifliches droht. Und daß ich mich nicht zurechtfinde. +Und alle die übrigen Traurigkeiten, für die kein Arzt ist, +und die man nicht mitteilen soll. Jeder muß ihnen allein +unterliegen und auf seine Weise. In der Rede sind sie +lächerlich, aber mancher geht an ihnen zugrunde. Ich habe +Grauen, daß ich so fremd mit mir bin und so ohnmächtig. Bis +Erinnerungen kommen. Ungerufen. Aber lieb. Irgendwoher. Sie +betäuben mich.</p> + +<p> +Ich lächle, wenn ich das Weinen des Kindes finde oder den +Tod der Mutter, der gräßlich war und nicht zu sagen ist, +oder die anderen blutigen Köstlichkeiten. Ich lächle, wenn +die Augen meines Freundes plötzlich leben werden und in den +seidigen Schatten sind, daß sie wie aus Schleiern glänzen +und ihr Geheimstes preisgeben. Niemand hat es mir gesagt, +und ihr werdet mich einen Narren nennen … Aber ich weiß, +daß sein Tod schon immer in den Augen gewesen ist wie der +eines andern in den Lungen oder in dem Rückenmark …</p> + +<p> +Seine Augen waren elend und vergangen und heillos +schmerzlich, daß die Leute lachten, wenn er zu ihnen sah. Er +schämte sich seiner Augen, als verrieten sie von sündsamen +Abenteuern, und verbarg sie viel hinter den vergilbten +Lidern. Aber er fühlte, wie man hinstarrte, wenn er eintrat, +wo er unerwartet kam. Oder sich setzte, wo er nicht +selbstverständlich war. Er schaute übertrieben wie ein +Suchender. Hüstelte und hielt die Hand vor den Mund, zog die +Backen nach innen oder wölbte die eine mit der Zunge. War +verlegen. Unglücklich. Wäre gern allein gewesen … In dem +Dunkel.</p> + +<p> +Kinder neigten den Kopf, wenn sein Blick auf ihre Augen kam. +Und wurden rot. Und grinsten scheu und dumm. Frauen +kicherten, sie schauten wie harmlos und klatschten einander +auf die Schenkel oder auf die nackten Schultern und küßten +ihre verwüsteten Männer. In der Nacht lagen sie wach und +sannen sich heiß. Aber die jungen Mädchen wichen ihm +aus.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/skizzen/06_konrad_krause.html b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/06_konrad_krause.html new file mode 100644 index 0000000..131a5e7 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/06_konrad_krause.html @@ -0,0 +1,75 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Konrad Krause</title> +</head> +<body> + +<h4>Konrad Krause</h4> + +<p> +Nicht einmal in der Nacht habe ich hier Ruhe. Häufig reißt +mich eine Hand von dem Schlaf oder ein Wort. Weil alles +finster ist, weiß ich oft am Morgen noch nicht, wer bei mir +war.</p> + +<p> +Ich muß früh aufstehen, um die Kleider zu säubern und die +Stiefel zu reinigen. Die Glieder sind schwer, und die Augen +haben noch die ganze Müdigkeit. Doch die jungen Herren sind +hart, wenn ich etwas versäume, und grausam. Nachts aber sind +sie freundlich und streicheln mich wie eine vornehme +Dame.</p> + +<p> +Nur der alte Herr Konrad Krause ist auch am Tage gut. Wenn +er Wünsche hat, spricht er, ohne mich zu beschämen; und in +dem Klang der Stimme ist, was mich froh macht. Er duldet +nicht, daß in seiner Gegenwart häßlich von mir geredet wird. +Ich habe ihn gern.</p> + +<p> +Neulich lachte ich über ihn. Ich wurde durch Geräusche +geweckt, die kamen von dem Gang vor meiner Kammer. Da war +ein Gespräch. Ich fand zwei Stimmen: Eine verlor ich viel, +da sie flüsterte; wenn ich sie fing, war sie jung und roh. +Eine griff ich, ohne zu suchen; deutlich wie einen Körper. +Ich fühlte, daß sie zu fett war und Runzeln hatte.</p> + +<p> +Ich hörte von der rohen Stimme: »Willst du auch zu ihr, +Vater –«</p> + +<p> +ich hörte von der fetten Stimme: »Geh du erst, mein Sohn –«</p> + +<p> +als Herr Heinz in die Kammer trat, erschrak er laut, weil +ich so lachte. Und dann mußte er niesen. ..</p> + +<p> +Aber dies werde ich bald vergessen. Ich weiß sogar nicht +mehr, wann der alte Herr Konrad Krause sagte, er habe mich +lieb. Das war noch netter.</p> + +<p> +Ich erinnere mich nur, daß der Schreibtisch, vor dem er saß, +schon dunkel war, als ich den Tee brachte. Er fragte, wer zu +Hause sei; ich sagte: »Niemand« – und wollte den Tee +eingießen. Er zeigte aber auf die Oberschenkel und sagte: +»Setzen Sie sich« – ich sagte: »Ich bin so frei« – und +setzte mich. Er sagte: »Stellen Sie doch die Teekanne auf +den Schreibtisch.« Ich tat das. Und dann sahen wir uns innig +an, ich war aber sehr schüchtern. Plötzlich faßte er meine +Hand und drückte sie an seinen Bauch. Sagte: »Geliebte.«</p> + +<p> +Wir zitterten heftig –</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/skizzen/07_die_familie.html b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/07_die_familie.html new file mode 100644 index 0000000..820d4e9 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/07_die_familie.html @@ -0,0 +1,59 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Die Familie</title> +</head> +<body> + +<h4>Die Familie</h4> + +<p> +Die Familie kommt in jedem Monat einmal zusammen. Die +Frauen mit den Kindern treffen sich schon nachmittags.</p> + +<p> +Der Kaffee ist ausgetrunken. Die Kinder sind fortgeschickt. +Sollen spielen. Müssen nicht alles hören.</p> + +<p> +Die Frauen aber flüstern. Sie haben mitleidige Gesichter. +Sie sprechen von einem, der sehr krank ist.</p> + +<p> +Wenn es dämmrig wird, erzählen sie über Geistergeschichten +und wunderbare Heilungen. Sie fürchten sich. Rufen die +Kinder. Drücken die Kinder an die Brust.</p> + +<p> +Dann wird Obst gegessen.</p> + +<p> +Kommen die Männer. Gespräche über Haartrachten, über +Geschäfte. Und so weiter. Die Unterhaltung geht ruckweise. +Bleibt immer plötzlich stehen wie eine defekte Uhr. Furcht, +sie werde ganz aufhören. Ein junges Mädchen wird rot –</p> + +<p> +aber einmal schweigt alles. Man glaubt zu ersticken. Fühlt +sich unsicher wie in einer Schaukel, hilflos wie in einer +Rutschbahn.. . Kommt sich lächerlich vor. Man hört, wie der +Wind um die Dächer fegt. Regen schlägt an die grauen +Fenster.</p> + +<p> +Immer noch Schweigen.</p> + +<p> +Da –</p> + +<p> +ob es so schlimm sei … Mit ihm – wie das enden solle … +Man sieht aneinander vorbei.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/skizzen/08_leopold_lehmann.html b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/08_leopold_lehmann.html new file mode 100644 index 0000000..3c6a92d --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/08_leopold_lehmann.html @@ -0,0 +1,48 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Leopold Lehmann</title> +</head> +<body> + +<h4>Leopold Lehmann</h4> + +<p> +Ich bin Beamter einer Bank. Da ich keine Protektion habe, +auch nicht ungewöhnlich tüchtig bin, komme ich nicht +vorwärts. Ich bearbeite seit mehr als dreißig Jahren in +derselben Abteilung dieselben Buchstaben. Deshalb hält man +mich für gewissenhaft.</p> + +<p> +Seit einem halben Jahr habe ich einen neuen Assistenten. Der +heißt Leopold Lehmann. Er weiß alles besser als ich. Er ist +der Neffe des stellvertretenden Direktors. Er nennt sich +Volontär. Er hört sich gern reden. Am liebsten spricht er +von sich. Daher kenne ich seinen Lebenslauf.</p> + +<p> +Leopold Lehmann ist, wie er hervorhebt, eine ungeschickt +ausgeführte Zangengeburt. Der Kopf ist nudelförmig +deformiert. Die Nase auch. Er hat die üblichen Krankheiten +durchgemacht. Er erfreut sich einer komplizierten Lues. Sie +hat in den Körper Lehmanns faustgroße Löcher gefressen.</p> + +<p> +Leopold Lehmann will die Tätigkeit in der Bank aufgeben, +Theologie studieren. Daß er schon gekündigt hat, glaube ich.</p> + +<p> +Lehmann verkehrt ausschließlich mit Theologen und mit mir. +Und mit dem stellvertretenden Direktor.</p> + +<p> +Der hat Rückenmarkschwindsucht.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/00.html b/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/00.html new file mode 100644 index 0000000..8b5d1f9 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/00.html @@ -0,0 +1,16 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Sonstige Prosa</title> +</head> + +<body> +<h3 class="section center">Sonstige Prosa</h3> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/01_randbemerkung.html b/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/01_randbemerkung.html new file mode 100644 index 0000000..c509b6c --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/01_randbemerkung.html @@ -0,0 +1,45 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Randbemerkung</title> +</head> +<body> + +<h4>Randbemerkung</h4> + +<p> +Lacht nur. Euer Lachen ist uns Antrieb … Schreit. +Euer Schreien ist uns Heiterkeit … Heult … +Heult …</p> + +<p> +überseht uns. Wir sind doch da, ihr Erschütterten – +dreimal da … Und stark. Und jubelnd.</p> + +<p> +Wir wissen unsern Sieg, deshalb singen wir euern +Untergang.</p> + +<p> +Wir kommen über euch, Lieblinge: Morgen schon. Heute +schon.</p> + +<p> +Wehrt euch, aber unsere Schwerter sind jung.</p> + +<p> +Sagt wehe, wehe. Denn wir schlagen euch alle ein wenig tot, +Lieblinge …</p> + +<p> +Das wird aber ein fröhliches Leichenfest werden. Huhu +– ha … Ha… Ha – – +–</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/02_lebensschatten.html b/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/02_lebensschatten.html new file mode 100644 index 0000000..b5df13a --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/02_lebensschatten.html @@ -0,0 +1,116 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Lebensschatten</title> +</head> +<body> + +<h4>Lebensschatten</h4> + +<p> +Drama in vier Aufzügen und einem Vorspiel von J. +Jacobsthal und Ernst Epstein</p> + +<p> +selten hat mich etwas so sehr gerührt wie die +Schmierenaufführung des Schauerdramas: Lebensschatten, die +ich neulich im Theatersaal der Königl. Akadem. Hochschule +für Musik erleben durfte.<br /> +Ich will versuchen, das »Drama« zu schildern. Es beginnt mit +einem Ende, dem sogenannten »Vorspiel«: Asta, die todkranke +Tochter des Muskel- und Gewaltsmenschen Eisen … +(Eisen!)… Eisenring und seiner schwächlichen Frau Eva, muß +wohl sterben, ehe noch das Vorspiel aus ist. So leid es +allen tut. Asta verschwindet zu diesem Zweck aus der +quatschigen, grünen Bühnenstube, gestützt auf die alte Amme +Kathuschka. Ein unglaublich überflüssiger alter Nathan – ein +pathologisch guter, jüdelnder Menschenfreund – Frau Eva und +der selbstverständliche Arzt Doktor Normann (mit edlem +unheilverkündenden Mienenspiel) reden inzwischen +gefühlerisch allerlei über die allgemein bekannte Tatsache +des Sterbens. Zu meinem Glück kommt Ämmchen Kathuschka bald +schreiend und stürzend wieder auf die Bühne, weil die arme +Asta – o ahnendes Publikum! –Jetzt wirklich mausetot ist. +Ein Aufseufzen der Erleichterung in dem Zuschauerraum … +Ein schwindsüchtiger Schrei der Mama, hinterher das übliche +verhaltene Stöhnen… Ein Hinausgehen des Normann und des +Nathan, dabei jenes Achselzucken, das da sagt: Ach, wie +traurig ist doch das Dasein! Seht ihr's. Und herein kommt +Robert Eisenring, Vertreter der Kraft & Gesundheit. Er war +lange fern (in den Krallen eines anderen Weibes), da er +keinen Sinn für Familie und Lebensschatten zu haben scheint. +Eva verhehlt ihm den Tod Astas keineswegs. Ein innerer Kampf +tobt in ihm. Dann will er mit seiner Frau ein »neues Leben« +(so nennt er das) beginnen. Die schwächliche Eva hat +umgehend einen Wutanfall. Sie quietscht überschnappend, sie +hasse ihn schon lange (geballte Fäuste!). Er habe sie bisher +schlecht behandelt. Jetzt wolle sie nichts mehr von ihm +wissen. Sie tritt heroisch ab. Eisenring aber spricht einen +Monolog: –– Tochter tot – – Frau weg –– Schicksal, +verwünschtes – – ein Eisenring – – läßt sich nicht +unterkriegen von Lebensschatten – – nie – – niemals – – man +sieht noch, wie er in ein neues Leben steigt. Da schließt +sich sanft der blutrote Vorhang.<br /> +Dies war das Vorspiel. Nach der Pause (zehn Jahre später) +ist der Eisenring nicht mehr Athlet, sondern ein reicher +Kaufmann. Er hat einen leichtsinnigen Freund Hans und eine +leichtfertige Braut Meta, die im zweiten Aufzug schon seine +Frau ist. Im dritten Aufzug kommt ein mehrjähriges Kind Ruth +hinzu, dessen Mutter Meta, dessen Vater eigentlich +(heimlich) Hans ist. Hans hat außerdem bedeutende +Unterschlagungen in dem Geschäft Eisenrings gemacht. Deshalb +ist der reiche Eisenring im letzten Aufzug wieder ziemlich +arm. Man merkt deutlich, daß die Lebensschatten jetzt auch +über ihn gekommen sind. Er ist wohl schwer +rückenmarkleidend, ahnt alles. Er überrascht den ruchlosen +Hans mit der meta. Die Katastrophe folgt auf dem Fuße: +Eisenring enterbt Meta, läßt den Hans ins Gefängnis bringen, +dann fällt er tot (Herzschlag) auf eine Chaiselongue. Die +Enterbte will sich jetzt auch entleiben. (Das Publikum nimmt +die Geschichte schon lange komisch. Es hätte sicher einen +vergnüglichen Skandal gegeben, wenn die unglückliche Meta +Wort gehalten hätte.) Aber ein Redakteur spricht zu ihr +ungefähr die weisen Worte: Nicht durch voreiligen Tod sühnt +man, sondern durch langes und edles Leben. Wollen Sie? … +Meta und das »intellektuelle« Publikum jubeln: Ja – –! Und +der sanfte Blutrote schließt sich endgültig. +»Lebensschatten« ist ein trostlos schlechtes Theaterstück. +Trotzdem war ich ergriffen wie bei einem Ibsendrama. Noch +nirgends offenbarte sich mir so deutlich und rein die +Kommistragödie vom (dichterischen) Dilettantismus. Ich mußte +immer daran denken, daß alle die schalen beschränkten +Schwafeleien, die dummen tolpatschigen Geschehnisse, die +pappigen Kolportagegestalten aus der selben heilig +schmerzlichen Himmelssehnsucht geschaffen sind wie Goethes +oder Rilkes unsterbliche Werke. Ich habe dem winzigen Herrn +<span class="spaced">J. Jacobsthal</span>, so oft er sich, +halb betäubt von seiner plötzlichen Wichtigkeit, unter +vielen linkischen Verbeugungen an die Rampe schieben ließ, +von Herzen zugeklatscht, weil ich kundtun wollte, daß ich +(zwar keinen Dichter) einen von Tod und Dasein gequälten +Menschen grüße. So einer ist gewaltig höher zu schätzen als +sein besser angezogenes, tantiges, beschaulich grinsendes +Publikum. Und sein Stück – das unmögliche – ist +mir hundertmal lieber als ein unverschämt routiniertes +Nichts des Herrn Dreyer oder des Herrn Philippi.</p> + +<p> +Die Schauspieler waren nicht Dilettanten, sondern +mittelmäßige und schlechte Schauspieler. Die meisten kommen +von der Schmiere, andere gehen erst zur Schmiere. Ich könnte +noch manches über die Darstellung und die Regie (die aus +lauter Fehlern bestanden) sagen, aber die Einzelheiten haben +für den Leser kaum Interesse. Und schließlich ist Schiller +und Sudermann leichter zu spielen als J. Jacobsthal. Dann +noch: Der unfähigste, wüsteste Schmierenschauspieler hat – +so behaupte ich… Und will es hier nicht beweisen – +tieferen menschlichen Wert als ein Krämer, ein Beamter und +vielleicht ein praktischer Rechtsanwalt.</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/03_die_verse_des_alfred_lichtenstein.html b/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/03_die_verse_des_alfred_lichtenstein.html new file mode 100644 index 0000000..c9ba1f7 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/03_die_verse_des_alfred_lichtenstein.html @@ -0,0 +1,193 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Die Verse des Alfred Lichtenstein</title> +</head> +<body> + +<h4>Die Verse des Alfred Lichtenstein</h4> +<h5>Selbstkritik I</h5> + +<p> +I</p> + +<p> +weil ich glaube, daß viele die Verse Lichtensteins nicht +verstehen, nicht richtig verstehen, nicht klar verstehen –</p> + +<p> +II</p> + +<p> +die ersten achtzig Gedichte sind lyrisch. Im landläufigen +Sinn. Sie unterscheiden sich wenig von Gartenlaubenpoesie. +Der Inhalt ist die Not der Liebe, des Todes, der allgemeinen +Sehnsucht. So weit sie »zynisch« (im Kabaretton) sind, mag +beispielsweise der Wunsch, sich überlegen zu fühlen, den +Anstoß zu ihrer Formulierung gegeben haben. Die meisten der +achtzig Gedichte sind unbedeutend. öffentlich sind sie nicht +mitgeteilt. Bis auf eins. (Eins der letzten.) Das ist:</p> + +<p> +Ich will in Nacht mich bergen,<br /> +nackt und scheu.<br /> +Und um die Glieder Dunkelheiten decken<br /> +und warmen Glanz.<br /> +Ich will weit hinter die Hügel der Erde wandern.<br /> +Tief hinter die gleitenden Meere.<br /> +Vorbei den singenden Winden.<br /> +Dort treffe ich die stillen Sterne.<br /> +Die tragen den Raum durch die Zeit.<br /> +Und wohnen am Tode des Seins.<br /> +Und zwischen ihnen sind graue,<br /> +einsame Dinge.<br /> +Welke Bewegung<br /> +von Welten, die lange verwesten.<br /> +Verlorner Laut.<br /> +Wer will das wissen.<br /> +Mein blinder Traum wacht fern den Wünschen der Erde.</p> + +<p> +III</p> + +<p> +Die folgenden Gedichte können in drei Gruppen geteilt +werden. Eine vereinigt phantastische, halb spielerische +Gebilde: Der Traurige, Die Gummischuhe, Capriccio, Der +Lackschuh, Wüstes Schimpfen eines Wirtes. (Zuerst erschienen +in der Aktion, im Simplicissimus, im März, Pan und +anderswo.) Freude an reiner Artistik ist unverkennbar.</p> + +<p> +Beispiele: Der Athlet: Im Hintergrund ist Demonstration von +Weltanschauung. Der Athlet … Bedeutet: Daß der Mann auch +geistig seine Notdurft verrichten muß, ist entsetzlich. – +Die Gummischuhe: Man ist mit Gummischuhen ein anderer Mensch +als ohne.</p> + +<p> +IV</p> + +<p> +Das früheste Gedicht einer zweiten Gruppe ist:</p> + +<p> +Die Dämmerung*)</p> + +<p> +Absicht ist, die Unterschiede der Zeit und des Raumes +zugunsten der Idee des Gedichtes zu beseitigen. Das Gedicht +will die Einwirkung der Dämmerung auf die Landschaft +darstellen. In diesem Fall ist die Einheit der Zeit bis zu +einem gewissen Grade notwendig. Die Einheit des Raumes ist +nicht erforderlich, deshalb nicht beachtet. In den zwölf +Zeilen ist die Dämmerung am Teich, am Baum, am Feld, am +Fenster, irgendwo … In ihrer Einwirkung auf die +Erscheinung eines Jungen, eines Windes, eines Himmels, +zweier Lahmer, eines Dichters, eines Pferdes, einer Dame, +eines Mannes, eines Jünglings, eines Weibes, eines Clowns, +eines Kinderwagens, einiger Hunde bildhaft dargestellt. (Der +Ausdruck ist schlecht, aber ich finde keinen besseren.)</p> + +<p> +Der Verfasser des Gedichtes will nicht eine als real +denkbare Landschaft geben. Vorzug der Dichtkunst vor der +Malkunst ist, daß sie »ideeliche« Bilder hat. Das bedeutet – +angewandt auf die Dämmerung: Der dicke Knabe, der den großen +Teich als Spielzeug benutzt, und die beiden Lahmen auf +Krücken über dem Feld und die Dame in einer Straße der +Stadt, die von einem Wagenpferd im Halbdunkel umgestoßen +wird, und der Dichter, der voll verzweifelter Sehnsucht in +den Abend sinnt (wahrscheinlich aus einer Dachluke), und der +Zirkusclown, der sich in dem grauen Hinterhaus seufzend die +Stiefel anzieht, um pünktlich zu der Vorstellung zu kommen, +in der er lustig sein muß – können ein dichterisches »Bild« +hergeben, obwohl sie malerisch nicht komponierbar sind. Die +meisten leugnen das noch, erkennen daher beispielsweise in +der »Dämmerung« und ähnlichen Gebilden nichts als ein +sinnloses Durcheinander komischer Vorstellungen. Andere +glauben sogar – zu Unrecht –, daß auch in der Malerei +derartige »ideeliche« Bilder möglich sind. (Man denke an +die Futuristenmanschepansche.)</p> + +<p> +Absicht ist weiterhin, die Reflexe der Dinge unmittelbar – +ohne überflüssige Reflexionen aufzunehmen. Lichtenstein +weiß, daß der Mann nicht an dem Fenster klebt, sondern +hinter ihm steht. Daß nicht der Kinderwagen schreit, sondern +das Kind in dem Kinderwagen. Da er nur den Kinderwagen +sieht, schreibt er: Der Kinderwagen schreit. Lyrisch unwahr +wäre, wenn er schriebe: Ein Mann steht hinter einem +Fenster.</p> + +<p> +Zufällig auch begrifflich nicht unwahr ist: Ein Junge spielt +mit einem Teich. Ein Pferd stolpert über eine Dame. Hunde +fluchen. Zwar muß man sonderbar lachen, wenn man sehen +lernt: Daß ein Junge einen Teich tatsächlich als Spielzeug +benutzt. Wie Pferde die hilflose Bewegung des Stolperns +haben … Wie menschlich Hunde der Wut Ausdruck geben +…</p> + +<p> +Zuweilen ist die Darstellung der Reflexion wichtig. Ein +Dichter wird vielleicht verrückt – macht einen tieferen +Eindruck als – ein Dichter sieht starr vor sich hin –</p> + +<p> +IV</p> + +<p> +anderes nötigt in dem Gedicht: Angst und ähnlichen zu +Reflexionen wie: Alle Menschen müssen sterben … Oder: Ich +bin nur ein kleines Bilderbuch … Das soll hier nicht +auseinandergesetzt werden.</p> + +<p> +V</p> + +<p> +Daß die Dämmerung und andere Gedichte die Dinge komisch +nehmen (das Komische wird tragisch empfunden. Die +Darstellung ist »grotesk«), das Unausgeglichene, nicht +Zusammengehörige der Dinge, das Zufällige, das Durcheinander +bemerken… Ist jedenfalls nicht das Charakteristische des +»Stils«. Beweis ist: Lichtenstein schrieb Gedichte, in denen +das »Groteske« unbetont hinter dem »Ungrotesken« +verschwindet.</p> + +<p> +Auch andere Verschiedenheiten zwischen älteren Gedichten +(z.B. Die Dämmerung) und später entstandenen (z. B. Die +Angst) Gedichten desselben Stils sind nachweisbar. Man möge +beachten, daß immer häufiger besondersartige Reflexionen das +Landschaftsbild scheinbar durchbrechen. Wohl nicht ohne +bestimmte künstlerische Absichten.</p> + +<p> +VI</p> + +<p> +Die dritte Gruppe sind die Gedichte des Kuno Kohn.</p> + +<p> +Alfred Lichtenstein<br /> +(Wilmersdorf)</p> + +<p class="footnote"> +* man erinnere sich des schönen: Weltende … des Jacob van +Hoddis, erschienen im ersten Jahr der Berliner Wochenschrift +»Die Aktion«. Tatsache ist, daß A. Li. (Wi.) dies Gedicht +gelesen hatte, bevor er selbst »Derartiges« schrieb. ich +glaube also, daß van Hoddis das Verdienst hat, diesen »Stil« +gefunden zu haben, Li. das geringere, ihn ausgebildet, +bereichert, zur Geltung gebracht zu haben. [Anmerkung von +Franz Pfemfert.]</p> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/04_retter_des_theaters.html b/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/04_retter_des_theaters.html new file mode 100644 index 0000000..e91c804 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/04_retter_des_theaters.html @@ -0,0 +1,93 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Retter des Theaters</title> +</head> +<body> + +<h4>Retter des Theaters</h4> + +<p> +Die Theater sollten aufhören, den Kinos Konkurrenz zu +machen. Sie erreichen dadurch – freut euch, Theaterfreunde – +das Gegenteil von dem, was sie wollen: Sie krepieren.</p> + +<p> +Am besten erhalten sich diejenigen Theaterbetriebe, die dem +Kino nicht das geringste einräumen: Weder in der Auswahl der +Stücke Konzessionen machen, noch in dem Rahmen. Dies ist +erklärlich. Was die Kinos – nachgebend den Instinkten der +Menge – bieten, werden die Theater in derselben Masse und +Fülle niemals produzieren können, gebunden an ihre +Schranken. Das Publikum bemerkt kopfschüttelnd das hilflose +Bemühen. Und läuft in die Kinos. Denn was das Publikum an +das Theater fesseln sollte: Die Kunst, wird zumeist +schandhaft vernachlässigt. (Wie wenn Filzhutfabrikanten den +Einfall hätten, zu einer Zeit, wo allgemein Strohhüte +getragen werden, Filzhüte in Form und Farbe von Strohhüten +auf den Markt zu bringen.)</p> + +<p> +Bevor die Kinos kamen, waren die vielen »Theater« minderen +Ranges die bei weitem größere Gefahr des Theaters. +Charakteristischerweise sind durch die Kinos Institute +dieser Art am meisten bedroht. Einige werden durch die +Geschicklichkeit ihrer Direktoren oder durch andere Zufälle +noch eine Weile erhalten bleiben. Unzweifelhaft ist das +»Aussterben« der minderwertigen Theaterbetriebe binnen +kurzer Zeit. Das Publikum, das an derlei Geschmack fand, hat +im Kino erheblich üppigeren Ersatz: Mord und Totschlag in +Hülle und Fülle. Komik bis zum Platzen. Fett aufgemachte +Rührung. Und der Kinomime mit seinen faustdicken +Unterstreichungen – etwa in einer tragischen, bunt +kolorierten Ehebruchsgeschichte (in historischen Trachten) – +übertrifft den Schmieren-Hamlet bedeutend an +herzergreifender Wirkung.</p> + +<p> +Die Theater, die sich erhalten wollen, sind gezwungen, sich +wieder auf sich zu besinnen. Die Direktoren müssen reine +Schauspielkunst pflegen. Die Schauspieler – im Gegensatz zu +den »Filmern«, besser »Kinistern« oder »Kinikern« –, um +ihren Ruf zu wahren, alle Mätzchen und Scherze fallen +lassen. Das Publikum, das trotz des Kinos in die Theater +geht, ist anspruchsvoll und läßt sich nichts vormachen.</p> + +<p> +Es können nicht genug Kinos entstehen. Ich würde +kulturpolizeilich verordnen, daß in jeder Straße ein halbes +Dutzend aufgemacht werde.<br /> +Je mehr die Menschen sich in die Kinos stürzen, desto eher +wird ein Teil des Schwindels überdrüssig werden. Von den +Hunderttausenden, die Kinos bevölkern, werden jährlich +einige Hundert sich wieder zum Theater bekehren.</p> + +<p> +Die Zahl der Theater wird in Zukunft geringer sein, aber +ihre Qualität durchschnittlich unverhältnismäßig besser. Die +unfähigen Direktoren, Dramaturgen, sonstigen Krachleute, die +bisher am Theater schma-rotzten, werden im Kinobetrieb einen +geeigneteren Ort für ihre Fähigkeiten entdecken. Die vielen +mittelmäßigen und schlechten Schauspieler, die jetzt noch +allerorten die Preise drücken und den Weg versperren, können +vorzügliche Kiniker werden. Ein talentierter Schuster wird +künftig nicht in die Theaterschule, sondern in die +Kinoschule gehen. Lispeler, Schiefe, Bucklige, Stumme, +ähnliche Defizitmimiker werden ihre persönliche Note +leichter und glücklicher am Kino austoben können.</p> + +<p> +(Das Kino der unbegrenzten Möglichkeiten …)</p> + +<p> +Aber – das Theater wird, dank dem Kino freigeworden von +hemmendem Ballast und ungünstigen Einflüssen, zurückkehren +<span class="spaced">müssen</span>: Zur heiligen Schauspielkunst.</p> + +</body> +</html> |