From 18a83d0cde82fa72532407a3f13de05873376409 Mon Sep 17 00:00:00 2001 From: Patrick Goltzsch Date: Wed, 4 Mar 2020 16:45:23 +0100 Subject: initial commit --- .../geschichten/06_gespraech_ueber_beine.html | 108 +++++++++++++++++++++ 1 file changed, 108 insertions(+) create mode 100644 OEBPS/Text/prosa/geschichten/06_gespraech_ueber_beine.html (limited to 'OEBPS/Text/prosa/geschichten/06_gespraech_ueber_beine.html') diff --git a/OEBPS/Text/prosa/geschichten/06_gespraech_ueber_beine.html b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/06_gespraech_ueber_beine.html new file mode 100644 index 0000000..45b816d --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/geschichten/06_gespraech_ueber_beine.html @@ -0,0 +1,108 @@ + + + + + + + + Gespräch über Beine + + + +

Gespräch über Beine

+ +

+I

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+Als ich im Coupé saß, sagte der Herr gegenüber: »Ihnen kann +man die Beine nicht abtreten.«
+Ich sagte: »Wieso?«
+Der Herr sagte: »Sie haben keine Beine.«
+Ich sagte: »Merkt man das?«
+Der Herr sagte: »Natürlich.«
+Ich nahm meine Beine aus dem Rucksack. Ich hatte sie in +Seidenpapier eingewickelt. Und als Andenken +mitgenommen.
+Der Herr sagte: »Was ist das?«
+Ich sagte: »Meine Beine.«
+Der Herr sagte: »Sie nehmen die Beine in die Hand und kommen +dennoch nicht weiter.«
+Ich sagte: »Leider.«
+Nach einer Pause sagte der Herr: »Was gedenken Sie ohne +Beine eigentlich zu tun.«
+Ich sagte: »Darüber habe ich mir den Kopf noch nicht +zerbrochen.«
+Der Herr sagte: »Ohne Beine können Sie nicht einmal ohne +Schwierigkeit Selbstmord begehen.«
+Ich sagte: »Das ist aber ein fauler Witz.«
+Der Herr sagte: »Nicht doch. Wenn Sie sich erhängen wollen, +müßte Sie einer erst auf das Fensterbrett heben. Und wer +wird Ihnen den Gashahn öffnen, wenn Sie sich vergiften +wollen? Den Revolver könnten Sie sich nur heimlich durch +einen Dienstmann besorgen lassen. Wie aber, wenn Ihnen der +Schuß davonläuft? Um sich zu ertränken, müßten Sie ein Auto +nehmen und sich auf einer Tragbahre von zwei Pflegern in den +Fluß schleppen lassen, der Sie an das jenseitige Ufer +befördern soll.«
+Ich sagte: »Das ist doch wohl meine Sorge.«
+Der Herr sagte: »Sie irren, ich überlege, seitdem Sie da +sind, wie man Sie aus dieser Welt schaffen könnte. Meinen +Sie, ein Mensch ohne Beine sei ein sympathischer Anblick? +Habe auch Existenzberechtigung? Im Gegenteil, Sie stören das +ästhetische Gefühl Ihrer Mitmenschen erheblich.«
+Ich sagte: »Ich bin ordentlicher Professor für Ethik und +Ästhetik an der Universität. Darf ich mich +vorstellen?«
+Der Herr sagte: »Wie wollen Sie das machen? Sie können sich +selbstverständlich nicht vorstellen, wie unmöglich Sie +sind.«
+Ich betrachtete melancholisch meine Stummel.

+ +

+II

+ +

+Alsbald sagte die Dame gegenüber:
+»Keine Beine haben muß ein komisches Gefühl sein.«
+Ich sagte: »Ja.«
+Die Dame sagte: »Ich möchte einen Mann, der keine Beine hat, +nicht anfassen.«
+Ich sagte: »Ich bin sehr sauber.«
+Die Dame sagte: »Ich muß einen großen erotischen Abscheu +überwinden, um mit Ihnen zu reden, geschweige denn Sie +anzusehen.«
+Ich sagte: »Nanu.«
+Die Dame sagte: »Ich glaube nicht, daß Sie ein Verbrecher +sind. Sie mögen ein kluger und ursprünglich liebenswerter +Mensch sein. Aber ich könnte mit Ihnen wegen der Ihnen +fehlenden Beine beim besten Willen nicht verkehren.«
+Ich sagte: »Man gewöhnt sich an alles.«
+Die Dame sagte: »Daß einer keine Beine hat, verursacht bei +dem natürlich empfindenden Weibe ein unerklärliches Gefühl +tiefsten Grauens. Als ob Sie eine ekelhafte Sünde begangen +hätten.«
+Ich sagte: »Ich bin aber unschuldig. Das eine Bein kam mir +in der Aufregung abhanden, als ich zum ersten Mal meinen +Professorenstuhl einnahm, das zweite habe ich verloren, als +ich, in Gedanken versunken, jenes wichtige ästhetische +Gesetz fand, das zu grundlegenden Änderungen in unserer +Disziplin führte.«
+Die Dame sagte: »Wie heißt dieses Gesetz?«
+Ich sagte: »Das Gesetz heißt: Es kommt nur auf die Struktur +der Seele und des Geistes an. Wenn Seele und Geist edel ist, +muß man einen Körper schön finden, mag er äußerlich noch so +bucklig und entstellt sein.«
+Die Dame hob ostentativ ihr Kleid und zeigte dadurch bis an +den oberen Rand der Oberschenkel wunderschöne, in allerhand +Seide gehüllte, Beine, die wie blühende Zweige aus dem +saftigen Leibe ragten.
+Unterdessen sagte die Dame endgültig: »Sie mögen recht +haben, obwohl man ebensogut das Gegenteil behaupten könnte. +Jedenfalls ist ein Mensch mit Beinen etwas erheblich anderes +als einer ohne.«
+Damit ließ sie mich sitzen, stolz davonschreitend.

+ + + -- cgit v1.2.3