Die folgenden Gedichte können in drei Gruppen geteilt werden. Eine vereinigt phantastische, halb spielerische Gebilde: Der Traurige, Die Gummischuhe, Capriccio, Der Lackschuh, Wüstes Schimpfen eines Wirtes. (Zuerst erschienen in der Aktion, im Simplicissimus, im März, Pan und anderswo.) Freude an reiner Artistik ist unverkennbar. Ein Beispiel:
Einer ging in zerrissenen Hausschuhen
hin und her durch das kleine Zimmer,
das er bewohnte.
Er sann über die Geschehnisse,
von denen in dem Abendblatt berichtet war.
Und gähnte traurig,
Wie nur einer gähnt,
Der viel und Seltsames gelesen hat.
Und der Gedanke überkam ihn plötzlich –
Wie wohl den Furchtsamen die Gänsehaut
Und wie das Aufstoßen den Uebersättigten,
Wie Mutterwehen –
das große Gähnen sei vielleicht ein Zeichen,
ein Wink des Schicksals, sich zur Ruh zu legen…
Und der Gedanke ließ ihn nicht mehr los.
Und also fing er an, sich zu entkleiden…
Als er ganz nackt war, hantelte er etwas.
Im Hintergrund ist Demonstration von Weltanschauung. Der Athlet … Bedeutet: Daß der Mann auch geistig seine Notdurft verrichten muß, ist entsetzlich.
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Das früheste Gedicht einer zweiten Gruppe ist:
Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
als wäre ihm die Schminke ausgegangen.
Auf lange Krücken schief herabgebückt
(und schwatzend) kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.
An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit. Und Hunde fluchen.
Absicht ist, die Unterschiede der Zeit und des Raumes zugunsten der Idee zu beseitigen. Das Gedicht will die Einwirkung der Dämmerung auf die Landschaft darstellen. In diesem Fall ist die Einheit der Zeit bis zu einem gewissen Grade notwendig. Die Einheit des Raumes ist nicht erforderlich, deshalb nicht beachtet. In den zwölf Zeilen ist die Dämmerung am Teich, am Baum, am Feld, am Fenster, irgendwo … In ihrer Einwirkung auf die Erscheinung eines Jungen, eines Windes, eines Himmels, zweier Lahmer, eines Dichters, eines Pferdes, einer Dame, eines Mannes, eines Jünglings, eines Weibes, eines Clowns, eines Kinderwagens, einiger Hunde, bildhaft dargestellt. (Der Ausdruck ist schlecht, aber ich finde keinen besseren.)
Der Urheber des Gedichtes will nicht eine als real denkbare Landschaft geben. Vorzug der Dichtkunst vor der Malkunst ist, daß sie »ideeliche« Bilder hat. Das bedeutet – angewandt auf die Dämmerung: Der dicke Knabe, der den großen Teich als Spielzeug benutzt und die beiden Lahmen auf Krücken über dem Feld und die Dame in einer Straße der Stadt, die von einem Wagenpferd im Halbdunkel umgestoßen wird, und der Dichter, der voll verzweifelter Sehnsucht in den Abend sinnt (wahrscheinlich aus einer Dachluke), und der Zirkusclown, der sich in dem grauen Hinterhaus seufzend die Stiefel anzieht, um pünktlich zu der Vorstellung zu kommen, in der er lustig sein muß – können ein dichterisches »Bild« hergeben, obwohl sie malerisch nicht komponierbar sind. Die meisten leugnen das noch, erkennen daher beispielsweise in der Dämmerung und ähnlichen Gebilden nichts als ein sinnloses Durcheinander komischer Vorstellungen. Andere glauben sogar – zu Unrecht –, daß auch in der Malerei derartige »ideeliche« Bilder möglich sind. (Man denke an die Futuristenmanschepansche.)
Absicht ist weiterhin, die Reflexe der Dinge unmittelbar – ohne überflüssige Reflexionen aufzunehmen. Lichtenstein weiß, daß der Mann nicht an dem Fenster klebt, sondern hinter ihm steht. Daß nicht der Kinderwagen schreit, sondern das Kind in dem Kinderwagen. Da er nur den Kinderwagen sieht, schreibt er: Der Kinderwagen schreit. Lyrisch unwahr wäre, wenn er schriebe: Ein Mann steht hinter einem Fenster.
Zufällig auch begrifflich nicht unwahr ist: Ein Junge spielt mit einem Teich. Ein Pferd stolpert über eine Dame. Hunde fluchen. Zwar muß man sonderbar lachen, wenn man sehen lernt: Daß ein Junge einen Teich tatsächlich als Spielzeug benutzt. Wie Pferde die hilflose Bewegung des Stolperns haben … Wie menschlich Hunde der Wut Ausdruck geben …
Zuweilen ist die Darstellung der Reflexion wichtig. Ein Dichter wird vielleicht verrückt – macht einen tieferen Eindruck als – ein Dichter sieht starr vor sich hin –
Anderes nötigt in dem Gedicht: Angst (Zweite Lyriknummer der Aktion) und ähnlichen zu Reflexionen wie: Alle Menschen müssen sterben … oder: Ich bin nur ein kleines Bilderbuch … Das soll hier nicht auseinandergesetzt werden.
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Daß die Dämmerung und andere Gedichte die Dinge komisch nehmen (das Komische wird tragisch empfunden. Die Darstellung ist »grotesk«), das Unausgeglichene, nicht Zusammengehörige der Dinge, das Zufällige, das Durcheinander bemerken… ist jedenfalls nicht das Charakteristische des »Stils«. Beweis ist: In dieser Nummer sind Gedichte abgedruckt, in denen das »Groteske« unbetont hinter dem »Ungrotesken« verschwindet.
Auch andere Verschiedenheiten zwischen älteren Gedichten (z.B. Die Dämmerung) und später entstandenen (z. B. Die Angst) Gedichten desselben Stils sind nachweisbar. Man möge beachten, daß immer häufiger besondersartige Reflexionen das Landschaftsbild scheinbar durchbrechen. Wohl nicht ohne bestimmte künstlerische Absichten.
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Die dritte Gruppe sind die Gedichte des Kuno Kohn.
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Von Lichtenstein sind zwanzig Gedichte unter dem Titel: Die
Dämmerung in dem Verlag A. R. Meyer erschienen.
Alfred Lichtenstein (Wilmersdorf)
* Man erinnere sich des schönen: Weltende … des Jacob van Hoddis, erschienen im ersten Jahre der AKTION. Tatsache ist, dass A. Li. (Wi.) dies Gedicht gelesen hatte, bevor er selbst »Derartiges« schrieb. Ich glaube also, dass van Hoddis das Verdienst hat, diesen »Stil« gefunden zu haben, Li. das geringere, ihn ausgebildet, bereichert, zur Geltung gebracht zu haben. [Anmerkung von Franz Pfemfert.]
Die Aktion, 4. Oktober 1913, S.942