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diff --git a/OEBPS/Text/06.html b/OEBPS/Text/06.html new file mode 100644 index 0000000..603eee3 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/06.html @@ -0,0 +1,254 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Sechstes Kapitel</title> +</head> +<body> + + <h3 class="spaced center">Sechstes Kapitel</h3> + +<p> +Eine blaue Hutfeder Euphemias besoff sich blitzend in der +grünen Chartreuse.</p> + +<p> +Bebuquin schaute mit seinem linken Bein in die Ecke der Bar, +wo Heinrich Lippenknabe nachdenkerisch in die bronzierte +Nabelhöhle einer Hetäre eine Orchidee arrangierte und sie +mit Kognak begoss.</p> + +<p> +»Wer ist der Vater?« schrie die Buffetdame.</p> + +<p> +Der Schein der elektrischen Lampen fuhr ihr durch die +Spitzen zum Knie, tanzte über die Kristallflacons und die +Sektkühler erregt rückwärts; das sonst anständige +elektrische Licht!</p> + +<p> +»Keiner,« schaute Euphemia mit kreisförmig ausgebreiteten +Augen. »Ich kriegte ihn im Traum.«</p> + +<p> +»Quatsch,« rief Heinrich Lippenknabe, »sie meint ein +vergebliches Präventiv.«</p> + +<p> +»Erstens hatte ich keine Ahnung, wer der Vater sein kann. +Das ist auch gleichgültig.« Sie sah erschreckt drein.</p> + +<p> +»War es vielleicht Böhm?« fragte Bebuquin.</p> + +<p> +Euphemia schrie senkrecht auf.</p> + +<p> +»Der kommt immer, er wird das Kind stillen, er hat jetzt +eine solch milchfarbene Schädelplatte, seit er starb, und er +benutzt seinen Schlingdarm, für den er jetzt keine +Verwendung mehr hat, als Zither und singt sehr ergreifend +dazu den Pythagoreischen Lehrsatz. Er sagte, der Junge müsse +ein ganz intellektueller werden.«</p> + +<p> +»Ja, dein Embryo schrieb doch eine philosophische Arbeit und +doktorierte auf Geburt; nicht wahr, die Geschichte heisst: +die zerstörte Nabelschnur oder das principium individu +ationis.«</p> + +<p> +»Ja,« flüsterte Euphemia, »er hat bereits der Welt entsagt, +er wird geistig, ist ganz wunschlos, unreinlich und +schweigsam. Ausserdem hat er eine sensible Haut, die +wechselt fortwährend Farbe. Kann man ihn nicht als +Reklametransparent benutzen? Man spart farbige Glühlampen.«</p> + +<p> +»Das Alogische wächst, das Alogische siegt, er wird nicht +abgeleitet.«</p> + +<p> +Bebuquin balanzierte auf dem kippligen Barstuhl.</p> + +<p> +»Darum, meine Damen, werden so viele verrückt. Wir entbehren +der Fiktionen, der Positivismus ruiniert.«</p> + +<p> +Die Buffetdame kniete verzückt zwischen den Sektkühlern.</p> + +<p> +»Herr, wir konzipieren zu materiell.«</p> + +<p> +Ihr Spitzenkleid umglitzerte sie, Ornament des Traums.</p> + +<p> +Die Sektkühler, heilige Gefässe des Unsäglichen. »Wir opfern +nichts mehr,« schrie Bebuquin auf die Strasse, »das Sublime +geht verloren. Das Wunder kritisiert Ihr, das Wunder hat nur +Sinn, wenn es leibhaftig ist, aber ihr habt alle Kräfte +zerstört, die über das Menschliche hinausgehen.«</p> + +<p> +»Ich will, dass der Geist sichtbar werde,« stöhnte Heinrich +Lippenknabe.</p> + +<p> +»Das Nichts soll sich materialisieren,« die Dame mit der +Orchidee in der Nabelhöhle.</p> + +<p> +Böhm stand unter ihnen.</p> + +<p> +Er sagte:</p> + +<p> +»Das Naturgesetz soll sich im Alkohol besaufen, bis es +merkt, es gibt irrationale Situationen, und einsieht, +gesetzmässig ist nur der Demokrat mit dem +Reichstagswahlrecht und die Schwachheit. Das Gesetz +realisiert sich seelisch nie, es hängt sinnlos an dem Nagel +irgend eines schlechten Mathematikaxioms.</p> + +<p> +Wenn etwas auf das Gesetz erkannt wird, beweist es nur, die +Sache ist als Erlebnis überlebt. Das Gesetz ist die +Vergangenheit, dem Tod unterworfen.</p> + +<p> +Sic.</p> + +<p> +Es fehlen uns die Ausnahmen.</p> + +<p> +Zu wenig Leute haben den Mut, vollkommenen Blödsinn zu +sagen. Häufig wiederholter Blödsinn wird integrierendes +Moment unseres Denkens; bei einer gewissen Stufe der +Intelligenz interessiert man sich für das Korrekte, +Vernünftige gar nicht mehr.</p> + +<p> +Die Vernunft macht zu viel Grosses, Erhabenes zum Grotesken, +Unmöglichen. An der Vernunft ruinierten wir Gott die +umfassende Idiosinkrasie.</p> + +<p> +Welches Recht hat die Vernunft dazu? Sie sitzt auf der +Einheit.</p> + +<p> +Da sitzt die Gemeinheit.</p> + +<p> +Es gibt so viele Welten, die gar nichts miteinander zu tun +haben, so wenig, wie grüne Chartreuse mit den Visionen, in +die sie sich umsetzt. Wenn ein sympathischer Zeitgenosse +sich mit Ausserordentlichem abgibt, sperren sie ihn ins +Irrenhaus.</p> + +<p> +Meine Herren, der Mann interessiert sich nur nicht für Ihre +rationale Welt. Warum wollen Sie denn nicht einsehen, +wenigstens dass Ihre Vernunft langweilig ist?</p> + +<p> +Alles stilisiert die Vernunft, das meiste verschleisst sie +zu angeblich belanglosen Uebergängen, das andere ist Kanon, +das Wertvolle, das Langweilige, Demokratische, das Stabile.</p> + +<p> +Meine Herren, die Intelligenz und Phantasie der Leute hat +sich darin zu zeigen, dass man den Blitz einfängt, +differenzieren Sie. Ich versichere Ihnen, ich zum Beispiel +lebe nur, weil ich mich mir suggeriere; in Wirklichkeit bin +ich tot. Sie wissen doch, ich liess mich einsargen. Aber ich +versprach mir, als Reklame für das Unwirkliche +herumzulaufen, bis irgend ein Idiot ein Wunder an mir +erlebt. Sehet, Babys, unwirklich, nichts, das sind +Bezeichnungen für eure schlechten Augen. Wenn es eine +künftige Fülle gibt, dann kommt sie aus dem Nichts, dem +Unwirklichen. Das ist die einzige Garantie für die Zukunft.</p> + +<p> +Der Utilist und der Vernünftler sagen für das Imaginäre Trug +und Maja, für das Nichts Vacuum oder Aether. Das sind Leute, +die wollen alles in den Mund nehmen und essen oder zu einer +Moral aufschneiden. Aber das Nichts ist die indifferente +Voraussetzung allen Seins. Das Nichts ist die Grundlage, nur +darf man nicht an Robert Meyer glauben und alle Existenz ist +doch nur eine Einschränkung des Nichts. Die Existenz in +Formen ist ein Sofa, eine Schlummerrolle, eine ebenso +unverbindliche, wie langweilende Konvention. Wenn man frei +und kühn zum Leben in vielen Formen ist, wenn man den Tod +als ein Vorurteil, einen Mangel an Phantasie ansieht, dann +geht man aufs Phantastische, das ist die Unermüdlichkeit in +allen möglichen Formen.</p> + +<p> +Ich gebe zu, die Vernunft macht alles bequem, sie +konzentriert, aber sie zerstört zu viel, macht zu vieles +lächerlich und gerade das Grösste Man muss das Unmögliche so +lange anschauen, bis es eine leichte Angelegenheit ist. Das +Wunder ist eine Frage des Trainings. Euphemia, euch mangelt +ein Kult.</p> + +<p> +Der Romantiker sagt: seht, ich habe Phantasie, und ich habe +Vernunft, ich bin sonderlich und sage mitunter Sachen, die +es nicht gibt, wie euch das meine Vernunft hinten nach +zeigt. Wenn ich sehr poetisch sein will, sage ich dann die +Geschichte hat mir geträumt. Aber, das ist mein sublimstes +Mittel, damit muss man sparen. Und dann kommen noch Masken +und Spiegelbild als romantischer Apparat. Aber, +Herrschaften, da ist Aethetizismus bei. Beim Romantiker +macht man einen Schritt vorwärts und zwei zurück. Das ist +ein zuckendes Klebpflaster.</p> + +<p> +Er begoss die noch nicht Verschiedenen mit Absinth.</p> + +<p> +Hier ein Mittel des Dilettanten.</p> + +<p> +Bebuquin fuhr Euphemia an die Nase und umarmte sie zugleich +leidenschaftlich.</p> + +<p> +Ein Sturmregen pointilliert die grossen Scheibenfenster.</p> + +<p> +Wir bedürfen einer Sündflut.</p> + +<p> +Man hat bis jetzt die Vernunft benutzt, die Sinne zu +vergröbern, die Wahrnehmung zu reduzieren, zu vereinfachen. +Im ganzen, die Vernunft verarmte; die Vernunft verarmte Gott +bis zur Indifferenz; töten wir die Vernunft; die Vernunft +hat den gestaltlosen Tod produziert, wo es nichts mehr zu +sehen gibt. Noch für Dante war der Tod ein Vorwand für +Glanz, Farbe, Reichtum und Lust. Nehmen wir unsere Sinne, +entreissen wir sie der Ruhe der Stupidität platonischer +Ideen, beobachten wir den Moment, der viel eigenartiger ist, +als die Ruhe, weil er differenziert und charakteristisch +ist, gar keine Einheit hat, sondern sich zwischen vorn und +hinten restlos aufteilt.«</p> + +<p> +Der tote Böhm tanzte dankend auf Euphemias Hut und versank +im Buffet; er legte sich wieder in eine seltsame +Kognaksorte, die er von jeher geliebt.</p> + +</body> +</html> + |