From a9e3fd1acd0e97ef96ede673a114eabb9e2704d6 Mon Sep 17 00:00:00 2001 From: Patrick Goltzsch Date: Wed, 4 Mar 2020 16:38:55 +0100 Subject: initial commit --- OEBPS/Text/05.html | 114 +++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ 1 file changed, 114 insertions(+) create mode 100644 OEBPS/Text/05.html (limited to 'OEBPS/Text/05.html') diff --git a/OEBPS/Text/05.html b/OEBPS/Text/05.html new file mode 100644 index 0000000..3b5273b --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/05.html @@ -0,0 +1,114 @@ + + + + + + + + V, 14. Oktober 1911 + + + +

V, 14. Oktober 1911

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+Liebe Renntiere. Ich freu mich so auf Euer Geweih! Aber ich +dachte mir gleich, dass Ihr so leicht nicht von der +Schlittengegend fortkämet. Und habe also zu früh Schluss mit +meinen Briefen an Euch gemacht. Uebrigens empfing ich schon +viele bedauernde Anfragen deswegen. also bleibt noch, friert +ein ein bischen. Ganz recht, ich werde anfangen, meine +Briefe an Euch zu sammeln und sie später unter dem Titel +»Herzensbriefe, alleinseligmachender Liebesbriefsteller, +Gesetzl. Gesch. herausgeben. Vorwort: Alle bis dahin +vorhandenen Stellen hinterlassen Uebelkeit und Magendruck. +Und den Deckel muss mir ein Porzellanfabrikant zeichnen, ein +Pärchen zwischen bunten Zwiebelmustern. Oesterheld und Cohn +sagen, dass ist meine erste vernünftige Idee, nur ihr Lektor +Knoblauch war empört darüber. Der Verlag hat sich aber noch +nicht erholt von dem Reinfall in meine Wupper: Und was meint +Ihr – Müller Mahle Mühle hat mir mein Manuskript Essays aus +München wiedergesandt, »sie seien ja sehr hübsch, aber das +Publikum interessiere sich nicht für die Namen.« Ich meine +doch, Julius Lieban, Emmy Destinn, Tilla Durieux, William +Wauer, Peter Baum, St. Peter Hille, Karl Kraus, Adolf Loos, +Oskar Kokoschka, Dr. Alfred Kerr, Maupassant etcetera sind +nicht zu unbekannte Leute. Ausserdem erschienen alle meine +Essays in den ersten Zeitschriften und Zeitungen, das müsste +Herrn Müller doch massgebend gewesen sein. Mahle Mühle +Müller.

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+ Euer Pechvogel

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+Herwarth und Kurt! Ich muss Euch heute Nacht noch etwas ganz +Seltenes erzählen, Stefan George ist mir in der Dunkelheit +eben begegnet. Er trug einen schwarzen Samtrock, liess die +Schulter hängen, wie müde von der Last des Flügels. Ich +schrie ganz laut. Ich bin einem Erzengel begegnet, wie er +gemalt ist auf den Bildern Dürers.

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+Lieber Herwarth und guter Kurt, ich habe das Café satt, aber +damit will ich nicht behaupten, dass ich ihm Lebewohl für +Ewig sage, oder fahre dahin Zigeunerkarren. Im Gegenteil, +ich werde noch oft dort verweilen. Gestern ging es Tür auf, +Tür zu, wie in einem Bazar; nicht alles dort ist echte Ware: +Imitierte Dichter, falsches Wortgeschmeide, Similigedanken, +unmotivierter Zigarettendampf. Der Rechtsanwalt kommt schon +lange nicht mehr hin. Warum es einen so ins Café zieht! Eine +Leiche wird jeden Abend dort in die oberen Räume geführt; +sie kann nicht ruhen. Warum man überhaupt in Berlin wohnen +bleibt? In dieser kalten unerquicklichen Stadt. Eine +unumstössliche Uhr ist Berlin, sie wacht mit der Zeit, wir +wissen, wieviel Uhr Kunst es immer ist. Und ich möchte die +Zeit so gern verschlafen.

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+Kinder, ich langweile mich furchtbar, die ganzen Geliebten +sind mir untreu geworden. Ich komme mir vor wie eine +Ausgestossene, trete ich in den Vorhof unseres Cafés. Den +Slaven kann ich ja nicht mehr ausstehen. Und der Bischof ist +mir zu wertvoll zum Spiel; wenn er das Spiel ertragen +könnte! Wer verträgt aber den Kopf- und Herzsprung! Minn ist +herabgekommen durch die Undamen, ich weiss garnicht mehr, ob +er hier in Berlin ist. Ich bin inwendig wie ein Keller, wie +Sibirien ohne Duft. Ich bin so allein, wäre ich wenigstens +einsam, dann könnte ich davon dichten. Ich bin die letzte +Nuance von Verlassenheit, es kommt nichts mehr danach. Wenn +mir doch jemand was Süsses sagte! Wäre ich doch eine Biene +und könnte mir Honig machen. Was nützen mir Deine lieben +Briefe und lieben Postkarten. Ich kenn Dich und Du kennst +mich, wir können uns nicht mehr überraschen, und ich kann +nur leben von Wundern. Denk Dir ein Wunder aus, bitte.

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+Gestern Abend war ich im Wintergarten mit dem Maler Gangolf. +Ich gehe so gern mit ihm gerade in die Varietés. Er spöttelt +nicht, er kann grossgucken wie ein Kind. Manchmal überkommt +uns auch Romantik – dann schielt er leise nach der Nelke +oder Rose oder Georgine, mit der meine Hand spielt. Ich +schiebe sie dann ganz grundlos auf seinen Schoss. Am besten +gefielen uns die beiden musikalischen Clowns, der eine in +der weissgetünchten Maske Kubeiks, dem Spiel nach war er +selbst darunter versteckt. Der zweite, verkleidet als +Rubinstein, spielte, wie der gespielt haben muss. Ja ja, man +muss Clown werden, um sich mit dem Publikum zu verständigen, +und – damit man dran kommt. Ich habe Dir schon lange gesagt, +Herwarth, ich trete auf als Aujuste und spreche so mit dem +Gänseschnabel meinen Fakir und meinen Ached-Bey und meine +Gedichte. Gangolf war bewegt darüber – er zeigte mir am +Abend noch zur Zerstreuung sein Puppentheater. Er hat eine +Stadt voll von Miniaturmenschen geschaffen. Auch seine +Gemälde sind wirklich geformt vom bunten Blut der Farben. +Leid tat mir, dass er sein hervorragendes Selbstbildnis +zerstört hat, den Mann hinter dem Fenster, der über die +Türme der Stadt blickt. Sie hat ihn verloren und er die +Stadt. Wir wollen jetzt öfters zusammen wieder in die +Varietés gehen. Du hast doch nichts dagegen, Herwarth. Ich +grüsse Dich!

+ + + -- cgit v1.2.3