I, 16. September 1911

Liebe Jungens

Dass Kurtchen Dich mitgenommen hat nach Schweden, Herwarth, ist direkt eine Freundestat Kurtchen wird erster Staatsanwalt werden und Euch kann nichts passieren. Aber mir kann was passieren, ich hab Niemand, dem ich meine Abenteuer erzählen kann ausser Peter Baum, der aber aus der alten Wohnung in die neue Wohnung zieht. Im Wirrwarr hat er statt seines Schreibtischsessels seine Matja in den Möbelwagen getragen und sie den Umzugleuten besonders ans Herz gelegt, dass die Quasten nicht abreissen. Am Abend erzählte ich ihm erst meine neue Liebesgeschichte. Ich habe nämlich noch nie so geliebt wie diesmal. Wenn es Euch interessiert: Vorgestern war ich mit Gertrude Barrison in den Lunapark gegangen, leise in die egyptische Ausstellung, als ob wir so etwas süsses vorausahneten. Gertrude erweckte dort in einem Caféhaus die Aufmerksamkeit eines Vollbartarabers; mit ihm zu kokettieren, auf meinen Wunsch, schlug sie mir entsetzt ab, ein für alle mal. Ich hätte nämlich gerne den Lauf seiner sich kräuselnden Lippen beobachtet, die nun durch die Reserviertheit meiner Begleiterin gedämmt wurden. Ich nahm es ihr sehr übel. Aber bei den Bauchtänzerinnen ereignete sich eines der Wunder meines arabischen Buches; ich tanzte mit Minn, dem Sohn des Sultans von Marokko. Wir tanzten, tanzten wie zwei Tanzschlangen, oben auf der Islambühne, wir krochen ganz aus uns heraus, nach den Locktönen der Bambusflöte des Bändigers nach der Trommel, pharaonenalt, mit den ewigen Schellen. Und Gertrude tanzte auch, aber wie eine Muse, nicht muselhaft, wie wir, sie tanzte mit graziösen, schalkhaften Armen die Craquette, ihre Finger wehten wie Fransen. Aber Minn und ich verirrten uns nach Tanger, stiessen kriegerische Schreie aus, bis mich sein Mund küsste so sanft so inbrünstig, und ich hätte mich geniert, mich zu sträuben. Seitdem liebe ich alle Menschen, die eine Nuance seiner Hautfarbe an sich tragen, an sein Goldbrokat erinnern. Ich liebe den Slawen, weil er ähnliche braune Haare hat, wie Minn; ich liebe den Bischof, weil der Blutstein in seiner Krawatte von der Röte des Farbstoffs ist, mit der sich mein königlicher Muselmann die Nägel färbt. Ich kann gar nicht ohne zu brennen an seine Augen denken, schmale lässige Flüsse, schimmernde Iris, die sich in den Nil betten. Was soll ich anfangen? Die Verwaltung des Lunaparks hat mir verboten, wahrscheinlich hat sie Verdacht bekommen, den Park zu betreten. Ich brachte nämlich gestern morgen meinem herrlichen Freund einen grossen Diamant – Deinen, Herwarth; bist Du böse? – und eine Düte Kokusnussbonbons mit. Wenn ich überhaupt jetzt Geld hätte! Und ich habe an den Lunapark einen energischen Brief geschrieben, dass ich diese mir angetanene Beleidigung der Voss mitteilen würde, dass ich Else Lasker-Schüler heisse und Gelegenheitsgedichte dem Khediven lieferte beim Empfang europäischer Kronprinzen. Was nützt mirs, dass sie mich wieder einlassen – immer geht ein Detektiv hinter mir, aber Minn und ich treffen uns bei den Zulus, die leben schwarz und wild am Kehrricht der egyptischen Ausstellung wo kein Weisser hinkommt. Die ganze Geschichte hat mir der Impresario eingebrockt, der behandelt die Muselleute wie Sklaven und ich werde ihn ermorden mit meinem griechischen Dolch, den ich mir erschwang im Lande Minns. Er ist der Jüngste, den der Händler nach Europa brachte, er ist der ben ben ben ben, ben des jugendlichster Vaters im egyptischen Lunagarten. Er ist kein Sklave, Minn ist ein Königssohn, Minn ist ein Krieger, Minn ist mein biblischer Spielgefährte. Er trägt ein hochmütiges Atlaskleid und er träumt nur von mir, weil er mich geküsst hat. Kurtchen, Freund Herwarths, wärst Du doch hier, kein Mensch will mit mir nach Egypten gehn, gestern war eine Hochzeit dort angezeigt an allen Litfasssäulen. Sollt er sich verheiratet haben!

Denkt mal, ich habe in den Mond gesehn auf der Weidendammerbrücke für zwanzig Pfennige. Ich habe aber nur sehr schattenhaft die Menschen durch das Fernrohr erkannt. Ein Mann hatte die Haare so wie Du geschnitten, Herwarth, oder vielmehr nicht abgeschnitten. Ob die Mondproleten auch immer rufen: lass dir das Haar schneiden? Und einen Herrn mit einer Aktenmappe habe ich ein Brot mit Roastbeef essen sehn, der glich Dir Kurtchen. Und wahrhaftig ein Cafe giebts auch auf dem Mond, es war Nacht, ich hörte aus seinem Innern eine Stimme wie Dr. Caros Stimme singen: »so lasst uns wieder von der Liebe reden, wie einst im Mai«.

Ich habe mich endgültig in den Slawen verliebt – warum – ich frage nur immer die Sterne. Ich liebe ihn ganz anders wie den Muselmann, sein Kuss sitzt noch, ein Goldopasschmetterling, auf meiner Wange. Den Slawen aber möchte ich nur immer anschaun, wie ein Gemälde auf Altmeistergrund. Eine Feuerfarbe hat sein Gesicht, ich verbrenne im Anschaun und muss immer wieder hin. Du brauchst gar keine Angst zu haben, Herwarth, er hat mir auf meinen Liebesbrief gar nicht geantwortet. Ich schrieb ihm: Süsser Slawe, würdest Du in Paris im Louvre gehangen haben, hätte ich Dich statt der Mona Lisa gestohlen. Ich möchte Dich immer anschauen, ich würde gar nicht müde werden; ich würde mir einen Turm bauen lassen, ohne Türe. Ich möchte am liebsten zu Dir kommen, wenn Du schläfst, damit Deine Wimper nicht zuckt im Rahmen. Ich denke gar nicht mehr, als Dich und nur Dich und nie anders, als ob Du in einem Rahmen ständest. So schön wie Du gestern Abend warst, Du warst so schön, man müsste Dich zweimal stehlen, einmal der Welt und einmal Dir selbst; Du weisst am schlechtesten mit dir umzugehen, du hängst Dich immer ins falsche Licht. Ich versichere Dir nochmals, lieber Herwarth, Du brauchst Dir darum keine Sorgen machen, er reichte mir gestern Abend nicht einmal die Hand. Es verriet mir Jemand im Vertrauen, er will sich mit Dir nicht entzwein, er ist Literat. Was sagst Du so solch einer Feigheit? Du hättest mir in seiner Lage wiedergeschrieben, nicht? Ihr braucht also noch lange nicht kommen; vorgestern Nacht träumte ich sogar, ein Eisbär sei Euch beiden Nordpolfahrern begegnet, und hätte Euch gefragt, ob Ihr Euch bei ihm photographieren lassen wolltet.

Was ich ein ausgesuchtes Unglück in der Liebe habe, Ihr auch? Habt Ihr schon Ibsen gesehn und die Hedda Gabler? Und habt Ihr Euch schon eine andere Landschaft betrachtet, wie ein Cafe? Es giebt wohl da oben nur Schneefelder und weisse Berge und was weiss was noch. Die Lappen halten wohl nicht, schick mir aber ein paar Krönländer.

Ihr könnt lachen, ich hab aber die ganze Nacht nicht geschlafen, einmal war es kalt, einmal heiss, dann stürmte es Herbst, und dazwischen glühte Eure Mitternachtssonne. Als ob der September mir alles nachäffe. Ich weiss nämlich gar nicht genau, wen ich liebe: den Slawen oder den Bischof? Oder sollte ich mich noch immer nicht von Minn trennen können? Der Bischof ist seit gestern von mir zum Erzbischof ernannt worden. Aber der Slawe wird wohlweislich bald seinen Abschied einreichen, seine diplomatischen Experimente mit mir sind demokratisch. Ich bat ihn meinen Liebesbrief mir wiederzugeben, zum Donnerwetter. Ich hab doch zum Donnerwetter Ehre im Leib. Er hat ihn mir noch nicht zurückgesandt – ob er mir ein paar Worte dazu schreiben wird! Aber was hilft das nur, der Erzbischof spricht wie ich träume, ganz genau so, auch versteht er unausgesprochen meine Wünsche zu erfüllen. Er wandelt mit mir durch schwermütige Wälder über Rosenpfade, oder wir suchen mitten in der Gespensterstunde rissige Strassen auf, die auf die Spree blicken, finster wie das Auge des Arbeiters. Und jeden Tag bekomme ich vom Bischof einen Brief, es sind die schönsten Briefe, die ich je gelesen habe, ich lese sie laut mit der Stimme des Slawen. Und wie geht es Euch? Ihr seid wohl schon am Wendekreis des Schneehuhns angelangt? Erkälte Dich nur ja nicht, Herwarth. Vor allen Dingen bekomme keinen Schnupfen, ich werde wahnsinnig vom Rauschen der Nase. Kommt Ihr bald nach Hause? Der Erzbischof und der Bischof sind heute vor elf Uhr schon aufgestanden und verliessen das Cafe. Ich wäre gern so sans facon mit ihnen fortgegangen, aber Ihr kennt die Leute noch nicht im Cafe. Wenn sich nun der Erzbischof und der Slawe alles sagen! Der dicke Cajus-Majus blieb bei mir am Tisch sitzen, Cajus-Majus, Cäsar von Rom; wenn er nur nicht immer von Literatur redete. So lange es von meinen Versen handelt, geht es ja noch, aber fängt er von Dante und Aristophanes an zu quatschen, soll ihn Dantes Hölle holen. Er vertraute mir an, er liebe Lucrezia Borgia. Als ich ihn fragte wer das Frauenzimmer sei, bekam er einen Lachkrampf. Ohne Dich, Herwarth, geht es hier doch nicht. Du hilfst mir immer in der Geschichte, auch genier ich mich Jemand zu bitten, mir die Kommas zu machen. Auf einmal kam gestern Dein Freund, der Doktor, wieder ins Cafe mit der Marie Borchardt und ihrer Freundin der Margret König. Die ist auch Schauspielerin, wusstest Du das? Du, sie ist reizend. Ich schickte ihr im ausgerauchten Zigarrenschächtelchen des Slawen einen Chokoladencaces und eine Zigarette. Sie ist eine süsse Silhouette. Immer steht sie, ein goldenes Nymphchen, zwischen meinen bunten, plätschernden Gedanken. Darum ging ich auch heute Abend in den Vortrag der Marie Borchardt, nicht um meine Gedichte zu hören, der Margret wegen. Aber ich war sehr überrascht von der Vorlesung der Marie, die ist eine italienische Sprecherin, in ihrer Stimme tönen venezianische Glasblumen, und echte Spitzen aus den Palästen knistern unter ihren Worten. Ausgesehn hat sie in ihrem Terrakottakleid und in ihrem Turban mit der Goldfranse wie eine kleine Dogenprinzessin. Wenn ich einen Dogen wüsste, ich liess sie entführen in einer Gondel. Es kann doch nicht alle Tage dasselbe ausser mir passieren. Du sagst zwar immer, ich soll mich nicht um andere Menschen bekümmern, aber mich ärgern ebenso sehr die unkünstlerischen, wie die künstlerischen Vorgänge mich im Leben erfreuen. Ich glaube, es ist schon zwölf Uhr, ich bin tatsächlich zu bange heute den Flur meiner Wohnung alleine zu betreten. Ich bin nervös. Ich werde Dir mein Wort nicht halten können und vor Morgen schon in meinem Bett liegen. Ich werde bei dem Billetfräulein am Halenseeer Bahnhof schlafen auf ihrem blutlosen, alten Kanape. Sie erzählt mir den Rest der Dunkelheit von ihren Liebhabern. Gute Nacht Herwarth, liebes Kurtchen.

Ich bin nun zwei Abende nicht im Cafe gewesen, ich fühlte mich etwas unwohl am Herzen. Dr. Döblin vom Urban kam mit seiner lieblichen Braut, um eine Diagnose zu stellen. Er meint, ich leide an der Schilddrüse, aber in Wirklichkeit hatte ich Sehnsucht nach dem Café. Er bestand aber darauf, mir die Schilddrüse zu entfernen, die aufs Herz indirekt drücke; ein klein wenig Cretin könnte ich davon werden, aber wo ich so aufgeweckt wäre, käm ich nur wieder ins Gleichgewicht. Ich hab ihm nämlich gebeichtet, dass ich mir ausserdem das Leben meiner beiden Freunde wegen hätte nehmen wollen am Gashahn, der aber abgestellt worden sei; der ganze Gasometer ist geholt worden. Ich konnte die Gasrechnung nicht bezahlen, auch in der Milch kann ich mich nicht ersäufen, Bolle bringt keine mehr. Wie soll ich nun, ohne zu erröten, wieder ins Cafe kommen? Ein Mensch wie ich müsste sein Wort halten. Ich werde den beiden, dem Bischof und dem Slawen, vorschwindeln, du wirst Dich zu sehr erschrecken.