XIII, 9. Dezember 1911

Lieber Herwarth und lieber Kurt. Manchmal sieht Cajus-Majus aus durch das Telephon wie ein Posaunenengel, namentlich zur Ausposaunenstunde in der Dämmerung. Er sitzt mit zwei Flügeln an seinem Schreibtisch, dabei fliegt ihm so alles ins Fenster herein, wie aus dem literarischen Schlaraffenland. Immer gerad, wenn er eine ausgezeichnete Humoriade schreibt, komm ich dazwischen mit meinem verdammten Klingeln. Ich trage noch dazu ein Glöckchen um den Hals. Ich kann direkt manchmal ein Schaf sein. Was brauch ich ihn zu fragen, ob den Leuten meine Norwegischen Briefe gefallen? Er wird immer jemand wissen, der streikt. Gestern hat sich Dein Doktor stirnrunzelnd bei ihm beklagt über sein Vorkommen in meinen Briefen an Euch. Da war ich ja nun platt. Ferner will sich ein Urenkel Bachs das Leben nehmen, (er hat es Cajus-Majus versprochen), falls ich ihn erwähnte in meiner Korrespondenz. Schade um ihn, er hat ein rosiges glorreiches Lächeln um den Mund. Er wird sich nun in die Wellen des heiligen Antonius stürzen, weil eine Dichterin ihm ein Ständchen brachte verwegen mitten im Sturm.

Lieber Kurt. Er drohte mir gestern selbst. Ist meine Antwort juristisch einwandsfrei? Mein Herr. Sie wollen sich das Leben nehmen, falls ich Sie im Sturm erwähne, oder haben Sie vor, mich indirekt auf die Idee zu bringen? Zumal Sie annehmen konnten, daß ich nicht sentimental bin, ich jedem seine Neigungen lasse, vor allen Dingen mirs nicht auf so ein Menschenleben ankomme. Aber bis jetzt kämen Sie für mich noch nicht als Modell in Frage weder als Portrait noch als Karikatur. Zwar ist es mir schon gelungen aus einer prüden Null ein Wort zu formen. Aber gedulden Sie sich, seien Sie guten Mutes. Hochachtungsvoll.

Herwarth, Loos ist kein einfacher Gorilla er ist ein Königsgorilla. Er fragte mich, ob er sich auch mal wieder selbst begegnen würde im Sturm? Weißt du schon, er trägt vorübergehend einen Backenbart, der wirkt milde bei ihm, zur Schonung seiner reinen Gesichtszüge. Die meisten, die Bartbast tragen, wollen damit Männlichkeit markieren, oder breite Mäuler oder lange Kinne überwältigen. Adolf Loos erzählte mir Geschichten aus den afrikanischen Wäldern, seine Augen blickten voll ernster Anmut. 0, er ist gütig und das ist Gotteigenschaft, das höchste was man von einem Menschen sagen kann.

Liebe Kinder, ich habe Karin Michaelis geantwortet: Karin. Ich werfe zuerst ein Sternchen in das K deines Vornamens und grüße dich! Deine Bücher sind verschiedenfarbene Tauben, weiße blaue, aber auch rote, dämonische Tauben und goldene und silberne Wirbelwindtauben sind darunter. Deine Bücher setze ich darum nicht in den Bücherschrankkäfig. Tino von Bagdad.

Herwarth, du kannst folgendes im Sturm veröffentlichen:
Unter blinder Bedeckung Heinrich Manns, reichte der Abbé Max Oppenheimer den Kritikern Münchens das Blut Kokoschkas.

Abbé
Max Oppenheimer reicht den Kritikern Münchens das Blut
Kokoschkas

Abbé Maler Oppenheimer muß heute meine Zeilen empfangen haben: Lieber Max Oppenheimer. Ihre ostentative Kleidung hat mir Freude gemacht dem eingefleischten Publikum gegenüber. Es lag nicht nur Mut, auch Geschmack darin. Ich ging doppelt gerne mit Ihnen nach München in Ihre Bilderausstellung, aber es hingen nicht Ihre Bilder an den Wänden, sondern lauter Oskar Kokoschkas. Und da mußten Sie gerade mich mitnehmen, die Ihr Original kennt. Hielten Sie mich für so kritiklos – oder gehören Sie zu den Menschen, die Worte, Gebärden des Zweiten anzunehmen pflegen, darin sie verliebt sind? Sie sind, nehme ich an, in Kokoschka verliebt und Ihre Bilder sind abgepflückte Werke, darum fehlt ihnen die Wurzel. Das Bild Heinrich Manns hat mir ausnehmend gefallen wie eine glänzende Kopie und ich sah in seinen Farben und Rhythmen außer dem Schriftsteller auch den Maler Oskar Kokoschka, nicht Sie. Steckt etwa Max Oppenheimer in Kokoschkas Bildern? Man kopiert doch ehrlich in den Museen die alten Meister und setzt nicht seinen Namen darunter. Kokoschka ist ein alter Meister, später geboren, ein furchtbares Wunder. Und ich kenne keine Rücksicht in Ewigkeitsdingen, Sie sollten auch pietätvoller der Zeit gegenüber sein. Bin Ihnen sonst ehrenwörtlich wie immer gut gesinnt, Max Oppenmer, lieber Abbé

7. Dezember 1911 Else Lasker-Schüler

Kopf

Wer zweifelt an seinen Urwüchsigkeit? Er nimmt gern seine erste Gestalt an als bäurischer Engel.

Ich ging heute in Begleitung meines Dienstmädchens durch die Friedrichsruherpeterbaumstraße in Halensee an den Bahnschienen entlang. Mein Dienstmädchen ist mein Galleriesonntagspublikum zu halben Preisen. Ich kann mich nie so recht, neben ihr gehend, meiner Gedanken freuen oder daran zu Grunde gehn, sie bringt mich immer aus meinen Inspirationen. Sie tut nämlich nur so, in Wirklichkeit ist ihr alles langweilig, aber sie hat sich schon an den Rhythmus der Bahnlinien meiner Sprache gewöhnt, wenn auch mit Hindernissen; manchmal entgleist sie, doch immer kommt sie über mich hinweg zu ihrem Schatz; an ihn denkt sie irdisch, unterirdisch, sie wühlt, wenn ich ihr vom Himmlichsten erzähle. Warum habe ich ihr von St. Peter Hille erzählt, vom Angesicht Stefan Georges? Welches Ausnahmeglück es für mich bedeuten würde, in sein Angesicht eine lange Stunde blicken zu dürfen, und noch einige Menschen möchte ich wohl betrachten, wie die Gottwerke alter Dome und Tempel. »Nur St. Peter Hille konnte man nicht anblicken, er war unsichtbar, er war eine Sonne, die anblickte.« Ich erzählte sicher ohne Pathetik, ich sprach wie zu einem Kind und dennoch schäme ich mich seitdem vor dem Geschöpf; so habe ich mich in der Schule schon geschämt meiner schönsten Geschenke wegen; die Welt ist angefüllt von Dienstmädchen und Knechten (von armen und reichen, von gebildeten und rohen); der Deutsche verwechselt immer Roheit mit Urwuchs; und doch würde mich eine Kartoffelknolle eher verstehn wie so ein urwüchsiger Mensch. Ich hasse die Liebe unter den Alltäglichen, wenn der Prophet noch lebte, ich würde an ihn einen Hirtenbrief schreiben, daß er die Liebe verbiete. St. Peter Hille war Aesthet. Lieben dürfen sich Tristan und Isolde, Carmen und Escamillo, Ratcliff und Marie, Sappho und Aphrodite, der Mohr von Venedig und Desdemona, Wilhelm von Kevlaar, Du, Herwarth, und Gretchen, Romeo und Julia, Faust und Margarete, Mephisto und die Venus von Siam, der weiße Panther und Joseph der Egypter, Sascha der gefangene Prinz und Scheheresade – »er« nannte mich Scheheresade. Gute Nacht.

Liebe Kinder, heute besuchte mich der Bildhauer Georg Koch und brachte mir Chokoladenbonbons mit. Ich aß alle die süßen Dinger mit Marzipan und Zuckerfüllung hintereinander auf. Die waren in silbergrünes Papier eingewickelt mit Goldsternen, Iich spielte die ganze Nacht damit; erst trug, ich einen Mantel aus dem seligen Märchenschein, dann standen meine Füße in silbergrünen Schuhen mit Sternen, eine Krone glänzte in meinen Haaren, ich saß plötzlich im Zirkus mit Lorchen Hundertmark, die durfte mich begleiten, – das kleine Kutscherkind, – ihr Vater fährt die Wagen spazieren von meiner allerliebsten Tante Johanna. Lorchen und ich sind beide zehn Jahre alt und schwärmen heimlich für Joy Hodgini; wir stoßen uns großblickend an und nennen ihn Traumbild. Es hat kein Mensch gehört, alles guckt in die große runde Manège und viele, viele Hände klaschen. Lieschen Hundertmark hat eine Kommode, darauf stehen: ein Muschelkästchen, in seinen Spiegel starrt der goldene Porzellanengel vom Sockel. Ein kleiner, blauer Glasleuchter mit einer gelben, gerippten Weihnachtskerze und ein Wachsherz auf einer Karte liegt neben einem glitzernden Osterei, man sieht darin das Feenreich. Und daneben liegt ein Gebetbuch aus grünem Samt, aus ihm hing ein Buchzeichen aus silbergrünen Glanzstaniol mit goldenen Sternen,

Weißt du schon, Herwarth, daß Paul Zech aus Elberfeld nach Berlin zieht? Ich riet ihm zu dem Stadtwechsel, er braucht Dir nicht erst immer seine Verse schicken. Aus seinem letzten Gedicht qualmen Schornsteine, Ruß liegt auf jedem Wort. Er ist der einzige Heimatdichter im großen Stil.

Lieber Herwarth, ich habe diese Nacht wieder verbummelt geträumt. Ich schlenderte über den Kurfürstendamm wie ein Strolch angezogen, in zerlumpten Hosen und grünlich, abgetragenem Rock, ich dachte nur stumpfe Dinge, auch war ich angetrunken – aus – Traurigkeit. – Der Wind heulte meine rote Nase an. Du kennst doch so einen Zustand – gemildert – bei mir, wenn Du verreist warst und wiederkamst, und mich hier oben am Henriettenplatz trafst, als ob ich obdachlos sei. Diesmal kam mir im Traum Kete Parsenow entgegen, die Venus von Siam. Sie sann nach irgend einem Wort, dann ergriff sie mich mit ihren Händen aus Elfenbein, aber mit der Energie eines Gensdarms – »Tino!«

Drache

Herwarth, Kurtchen, ich vergesse immer seinen Namen – er ist aus dem sächsischen Tirol, schrieb ein Buch über gemalte Irdenkochtöpfe, angehender Direktor der Museen hier. Mehr weiß ich nicht von ihm. Uebrigens besitzt er eine eigene Möblierung von der Urgroßtante geerbt; und eine ländliche Base der Mona Lisa hat er an der geblümten Tapete hängen, das Gemälde erbte er auch von seiner Erztante Isabella.

Drache