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--- /dev/null
+++ b/das-fraeulein-von-scuderi.rst
@@ -0,0 +1,2764 @@
+Das Fräulein von Scuderi
+========================
+
+In der Straße St. Honoree war das kleine Haus gelegen,
+welches Magdaleine von Scuderi, bekannt durch ihre
+anmuthigen Verse, durch die Gunst Ludwig des XIV. und der
+Maintenon, bewohnte.
+
+Spät um Mitternacht – es mochte im Herbste des Jahres 1680.
+seyn – wurde an dieses Haus hart und heftig angeschlagen,
+daß es im ganzen Flur laut wiederhallte. – Baptiste, der in
+des Fräuleins kleinem Haushalt Koch, Bedienten und
+Thürsteher zugleich vorstellte, war mit Erlaubniß seiner
+Herrschaft über Land gegangen zur Hochzeit seiner Schwester,
+und so kam es, daß die Martiniere, des Fräuleins Kammerfrau,
+allein im Hause noch wachte. Sie hörte die wiederholten
+Schläge, es fiel ihr ein, daß Baptiste fortgegangen, und sie
+mit dem Fräulein ohne weitern Schutz im Hause geblieben sey;
+aller Frevel von Einbruch, Diebstahl und Mord, wie er jemals
+in Paris verübt worden, kam ihr in den Sinn, es wurde ihr
+gewiß, daß irgend ein Haufen Meuter, von der Einsamkeit des
+Hauses unterrichtet, da draußen tobe, und eingelassen ein
+böses Vorhaben gegen die Herrschaft ausführen wolle, und so
+blieb sie in ihrem Zimmer zitternd und zagend, und den
+Baptiste verwünschend sammt seiner Schwester Hochzeit.
+Unterdessen donnerten die Schläge immer fort, und es war
+ihr, als rufe eine Stimme dazwischen: So macht doch nur auf
+um Christuswillen, so macht doch nur auf! Endlich in
+steigender Angst ergriff die Martiniere schnell den Leuchter
+mit der brennenden Kerze, und rannte hinaus auf den Flur; da
+vernahm sie ganz deutlich die Stimme des Anpochenden: Um
+Christuswillen, so macht doch nur auf! »In der That, dachte
+die Martiniere, so spricht doch wohl kein Räuber; wer weiß,
+ob nicht gar ein Verfolgter Zuflucht sucht bei meiner
+Herrschaft, die ja geneigt ist zu jeder Wohlthat. Aber laßt
+uns vorsichtig seyn!« – Sie öffnete ein Fenster und rief
+hinab, wer denn da unten in später Nacht so an der Hausthür
+tobe, und alles aus dem Schlafe wecke, indem sie ihrer
+tiefen Stimme so viel Männliches zu geben sich bemühte, als
+nur möglich. In dem Schimmer der Mondesstrahlen, die eben
+durch die finstern Wolken brachen, gewahrte sie eine lange,
+in einen hellgrauen Mantel gewickelte Gestalt, die den
+breiten Hut tief in die Augen gedrückt hatte. Sie rief nun
+mit lauter Stimme, so, daß es der unten vernehmen konnte:
+Baptiste, Claude, Pierre, steht auf, und seht einmal zu,
+welcher Taugenichts uns das Haus einschlagen will! Da sprach
+es aber mit sanfter, beinahe klagender Stimme von unten
+herauf: Ach! la Martiniere, ich weiß ja, daß ihr es seyd,
+liebe Frau, so sehr ihr Eure Stimme zu verstellen trachtet,
+ich weiß ja, daß Baptiste über Land gegangen ist, und ihr
+mit Eurer Herrschaft allein im Hause seyd. Macht mir nur
+getrost auf, befürchtet nichts. Ich muß durchaus mit Eurem
+Fräulein sprechen, noch in dieser Minute. »Wo denkt ihr hin,
+erwiederte die Martiniere, mein Fräulein wollt ihr sprechen
+mitten in der Nacht? Wißt ihr denn nicht, daß sie längst
+schläft, und daß ich sie um keinen Preis wecken werde aus
+dem ersten süßesten Schlummer, dessen sie in ihren Jahren
+wohl bedarf.« »Ich weiß, sprach der Untenstehende, ich weiß,
+daß Euer Fräulein so eben das Manuscript ihres Romans,
+Clelia geheißen, an dem sie rastlos arbeitet, bei Seite
+gelegt hat, und jetzt noch einige Verse aufschreibt, die sie
+morgen bey der Marquise de Maintenon vorzulesen gedenkt. Ich
+beschwöre Euch Frau Martiniere, habt die Barmherzigkeit, und
+öffnet mir die Thüre. Wißt, daß es darauf ankommt, einen
+Unglücklichen vom Verderben zu retten, wißt, daß Ehre,
+Freiheit, ja das Leben eines Menschen abhängt von diesem
+Augenblick, in dem ich Euer Fräulein sprechen muß. Bedenkt,
+daß Eurer Gebieterin Zorn ewig auf Euch lasten würde, wenn
+Sie erführe, daß Ihr es waret, die den Unglücklichen,
+welcher kam, ihre Hülfe zu erflehen, hartherzig von der
+Thüre wieset.« »Aber warum sprecht ihr denn meines Fräuleins
+Mitleid an in dieser ungewöhnlichen Stunde, kommt morgen zu
+guter Zeit wieder«, so sprach die Martiniere herab; da
+erwiederte der unten: »Kehrt sich denn das Schicksal, wenn
+es verderbend wie der tödtende Blitz einschlägt, an Zeit und
+Stunde? Darf, wenn nur ein Augenblick Rettung noch möglich
+ist, die Hülfe aufgeschoben werden? Oeffnet mir die Thüre,
+fürchtet doch nur nichts von einem Elenden, der schutzlos,
+verlassen von aller Welt, verfolgt, bedrängt von einem
+ungeheuern Geschick Euer Fräulein um Rettung anflehen will
+aus drohender Gefahr!« Die Martiniere vernahm, wie der
+Untenstehende bei diesen Worten vor tiefem Schmerz stöhnte
+und schluchzte; dabei war der Ton von seiner Stimme der
+eines Jünglings, sanft und eindringend tief in die Brust.
+Sie fühlte sich im Innersten bewegt, ohne sich weiter lange
+zu besinnen, holte sie die Schlüssel herbei.
+
+So wie sie die Thüre kaum geöffnet, drängte sich ungestüm
+die im Mantel gehüllte Gestalt hinein und rief, der
+Martiniere vorbeischreitend in den Flur, mit wilder Stimme:
+»Führt mich zu Euerm Fräulein!« Erschrocken hob die
+Martiniere den Leuchter in die Höhe, und der Kerzenschimmer
+fiel in ein todbleiches, furchtbar entstelltes
+Jünglingsantlitz. Vor Schrecken hätte die Martiniere zu
+Boden sinken mögen, als nun der Mensch den Mantel
+auseinanderschlug, und der blanke Griff eines Stilets aus
+dem Brustlatz hervorragte. Es blitzte der Mensch sie an mit
+funkelnden Augen und rief noch wilder als zuvor: »Führt mich
+zu Euerm Fräulein, sage ich Euch!« Nun sah' die Martiniere
+ihr Fräulein in der dringendsten Gefahr, alle Liebe zu der
+theuren Herrschaft, in der sie zugleich die fromme, treue
+Mutter ehrte, flammte stärker auf im Innern, und erzeugte
+einen Muth, dessen sie wohl selbst sich nicht fähig geglaubt
+hätte. Sie warf die Thüre ihres Gemachs, die sie offen
+gelassen, schnell zu, trat vor dieselbe und sprach stark und
+fest: »In der That, Euer tolles Betragen hier im Hause paßt
+schlecht zu Euern kläglichen Worten da draußen, die, wie ich
+nun wohl merke, mein Mitleiden sehr zu unrechter Zeit
+erweckt haben. Mein Fräulein sollt und werdet ihr jetzt
+nicht sprechen. Habt Ihr nichts Böses im Sinn, dürft ihr den
+Tag nicht scheuen, so kommt morgen wieder, und bringt Eure
+Sache an! – jetzt schert Euch aus dem Hause! Der Mensch
+stieß einen dumpfen Seufzer aus, blickte die Martiniere
+starr an mit entsetzlichem Blick, und griff nach dem Stilet.
+Die Martiniere befahl im Stillen ihre Seele dem Herrn, doch
+blieb sie standhaft, und sah dem Menschen keck ins Auge
+indem sie sich fester an die Thüre des Gemachs drückte,
+durch welches der Mensch gehen mußte, um zu dem Fräulein zu
+gelangen. »Laßt mich zu Euerm Fräulein, sage ich Euch, rief
+der Mensch nochmals.« »Thut was ihr wollt, erwiederte die
+Martiniere, ich weiche nicht von diesem Platz, vollendet nur
+die böse That, die ihr begonnen, auch ihr werdet den
+schmachvollen Tod finden auf dem Greveplatz, wie Eure
+verruchten Spießgesellen.« »Ha, schrie der Mensch auf, ihr
+habt recht, la Martiniere! ich sehe aus, ich bin bewaffnet
+wie ein verruchter Räuber und Mörder, aber meine
+Spießgesellen sind nicht gerichtet, sind nicht gerichtet! –
+Und damit zog er, giftige Blicke schießend auf die zum Tode
+geängstete Frau, das Stilet heraus. Jesus! rief sie, den
+Todesstoß erwartend, aber in dem Augenblick ließ sich auf
+der Straße das Geklirr von Waffen, der Huftritt von Pferden
+hören. »Die Marechaussee – die Marechaussee. Hülfe, Hülfe!«
+– schrie die Martiniere. »Entsetzliches Weib, du willst mein
+Verderben – nun ist Alles aus, alles aus! – nimm! – nimm;
+gib das dem Fräulein heute noch – morgen wenn du willst –
+dieß leise murmelnd hatte der Mensch der Martiniere den
+Leuchter weggerissen, die Kerzen verlöscht und ihr ein
+Kästchen in die Hände gedrückt. Um deiner Seligkeit willen,
+gib das Kästchen dem Fräulein, rief der Mensch und sprang
+zum Hause hinaus. Die Martiniere war zu Boden gesunken, mit
+Mühe stand sie auf, und tappte sich in der Finsterniß zurück
+in ihr Gemach, wo sie ganz erschöpft, keines Lautes mächtig,
+in den Lehnstuhl sank. Nun hörte sie die Schlüssel klirren,
+die sie im Schloß der Hausthüre hatte stecken lassen. Das
+Haus wurde zugeschlossen und leise unsichere Tritte nahten
+sich dem Gemach. Fest gebannt, ohne Kraft sich zu regen,
+erwartete sie das Gräßliche; doch wie geschah ihr, als die
+Thüre aufging und sie bei dem Scheine der Nachtlampe auf den
+ersten Blick den ehrlichen Baptiste erkannte; der sah
+leichenblaß aus und ganz verstört. »Um aller Heiligen
+willen, fing er an, um aller Heiligen willen, sagt mir Frau
+Martiniere, was ist geschehen? Ach die Angst! die Angst! –
+Ich weiß nicht was es war, aber fortgetrieben hat es mich
+von der Hochzeit gestern Abend mit Gewalt! – Und nun komme
+ich in die Straße. Frau Martiniere, denk' ich, hat einen
+leisen Schlaf, die wird's wohl hören, wenn ich leise und
+säuberlich anpoche an die Hausthüre, und mich hineinlassen.
+Da kommt mir eine starke Patrouille entgegen, Reuter,
+Fußvolk bis an die Zähne bewaffnet, und hält mich an und
+will mich nicht fortlassen. Aber zum Glück ist Desgrais
+dabei, der Marechaussee-Lieutnant, der mich recht gut kennt;
+der spricht, als sie mir die Laterne unter die Nase halten:
+Ei Baptiste, wo kommst du her des Wegs in der Nacht? Du mußt
+fein im Hause bleiben und es hüten. Hier ist es nicht
+geheuer, wir denken noch in dieser Nacht einen guten Fang zu
+machen. Ihr glaubt gar nicht, Frau Martiniere, wie mir diese
+Worte auf's Herz fielen. Und nun trete ich auf die Schwelle,
+und da stürzt ein verhüllter Mensch aus dem Hause, das
+blanke Stilet in der Faust, und rennt mich um und um – das
+Haus ist offen, die Schlüssel stecken im Schlosse – sagt,
+was hat das Alles zu bedeuten?« Die Martiniere, von ihrer
+Todesangst befreit, erzählte, wie sich Alles begeben. Beide,
+sie und Baptiste, gingen in den Hausflur, sie fanden den
+Leuchter auf dem Boden, wo der fremde Mensch ihn im
+Entfliehen hingeworfen. »Es ist nur zu gewiß, sprach
+Baptiste, daß unser Fräulein beraubt und wohl gar ermordet
+werden sollte. Der Mensch wußte, wie ihr erzählt, daß ihr
+allein wart mit dem Fräulein, ja sogar, daß sie noch wachte
+bei ihren Schriften; gewiß war es einer von den verfluchten
+Gaunern und Spitzbuben, die bis ins Innere der Häuser
+dringen, alles listig auskundschaftend, was ihnen zur
+Ausführung ihrer teuflischen Anschläge dienlich. Und das
+kleine Kästchen, Frau Martiniere, das, denk' ich, werfen wir
+in die Seine, wo sie am tiefsten ist. Wer steht uns dafür,
+daß nicht irgend ein verruchter Unhold unserm guten Fräulein
+nach dem Leben trachtet, daß sie, das Kästchen öffnend,
+nicht todt niedersinkt, wie der alte Marquis von Tournay,
+als er den Brief aufmachte, den er von unbekannter Hand
+erhalten! –« Lange rathschlagend, beschlossen die Getreuen
+endlich, dem Fräulein am andern Morgen Alles zu erzählen und
+ihr auch das geheimnißvolle Kästchen einzuhändigen, das ja
+mit gehöriger Vorsicht geöffnet werden könne. Beide,
+erwägten sie genau jeden Umstand der Erscheinung des
+verdächtigen Fremden, meinten, daß wohl ein besonderes
+Geheimniß im Spiele seyn könne, über das sie eigenmächtig
+nicht schalten dürften, sondern die Enthüllung ihrer
+Herrschaft überlassen müßten. –
+
+------------
+
+Baptiste's Besorgnisse hatten ihren guten Grund. Gerade zu
+der Zeit war Paris der Schauplatz der verruchtesten
+Greuelthaten, gerade zu der Zeit bot die teuflische
+Erfindung der Hölle die leichtesten Mittel dazu dar.
+
+Glaser, ein teutscher Apotheker, der beste Chemiker seiner
+Zeit, beschäftigte sich, wie es bei Leuten von seiner
+Wissenschaft wohl zu geschehen pflegt, mit alchymistischen
+Versuchen. Er hatte es darauf abgesehen, den Stein der
+Weisen zu finden. Ihm gesellte sich ein Italiener zu, Namens
+Exili. Diesem diente aber die Goldmacherkunst nur zum
+Vorwande. Nur das Mischen, Kochen, Sublimiren der
+Giftstoffe, in denen Glaser sein Heil zu finden hoffte,
+wollt' er erlernen, und es gelang ihm endlich, jenes feine
+Gift zu bereiten, das ohne Geruch, ohne Geschmack, entweder
+auf der Stelle oder langsam tödtend, durchaus keine Spur im
+menschlichen Körper zurückläßt, und alle Kunst, alle
+Wissenschaft der Aerzte täuscht, die, den Giftmord nicht
+ahnend, den Tod immer einer natürlichen Ursache zuschreiben
+müssen. So vorsichtig Exili auch zu Werke ging, so kam er
+doch in den Verdacht des Giftverkaufs, und wurde nach der
+Bastille gebracht. In dasselbe Zimmer sperrte man bald
+darauf den Hauptmann Godin de Sainte Croix ein. Dieser hatte
+mit der Marquise de Brinvillier lange Zeit in einem
+Verhältnisse gelebt, welches Schande über die ganze Familie
+brachte, und endlich, da der Marquis unempfindlich blieb für
+die Verbrechen seiner Gemahlin, ihren Vater, Dreux d'Aubray,
+Zivillieutnant zu Paris, nöthigte, das verbrecherische Paar,
+durch einen Verhaftsbefehl zu trennen, den er wider den
+Hauptmann auswirkte. Leidenschaftlich, ohne Charakter,
+Frömmigkeit heuchelnd und zu Lastern aller Art geneigt von
+Jugend auf, eifersüchtig, rachsüchtig bis zur Wuth, konnte
+dem Hauptmann nichts willkommner seyn als Exilis teuflisches
+Geheimniß, das ihm die Macht gab, alle seine Feinde zu
+vernichten. Er wurde Exilis eifriger Schüler, und that es
+bald seinem Meister gleich, so daß er, aus der Bastille
+entlassen, allein fortzuarbeiten im Stande war.
+
+Die Brinvillier war ein entartetes Weib, durch Sainte Croix
+wurde sie zum Ungeheuer. Er vermochte sie nach und nach,
+erst ihren eignen Vater, bei dem sie sich befand, ihn mit
+verruchter Heuchelei im Alter pflegend, dann ihre beiden
+Brüder, und endlich ihre Schwester zu vergiften; den Vater
+aus Rache, die andern der reichen Erbschaft wegen. Die
+Geschichte mehrerer Giftmörder gibt das entsetzliche
+Beispiel, daß Verbrechen der Art zur unwiderstehlichen
+Leidenschaft werden. Ohne weitern Zweck, aus reiner Lust
+daran, wie der Chemiker Experimente macht zu seinem
+Vergnügen, haben oft Giftmörder Personen gemordet, deren
+Leben oder Tod ihnen völlig gleich seyn konnte. Das
+plötzliche Hinsterben mehrerer Armen im Hotel Dieu erregte
+später den Verdacht, daß die Brodte, welche die Brinvillier
+dort wöchentlich auszutheilen pflegte, um als Meister der
+Frömmigkeit und des Wohlthuns zu gelten, vergiftet waren.
+Gewiß ist es aber, daß sie Taubenpasteten vergiftete, und
+sie den Gästen, die sie geladen, vorsetzte. Der Chevalier du
+Guet und mehrere andere Personen fielen als Opfer dieser
+höllischen Mahlzeiten. Sainte Croix, sein Gehülfe la
+Chaussee, die Brinvillier wußten lange Zeit hindurch ihre
+gräßliche Unthaten in undurchdringliche Schleier zu hüllen;
+doch welche verruchte List verworfener Menschen vermag zu
+bestehen, hat die ewige Macht des Himmels beschlossen, schon
+hier auf Erden die Frevler zu richten! – Die Gifte, welche
+Sainte Croix bereitete, waren so fein, daß, lag das Pulver
+(poudre de succession nannten es die Pariser) bei der
+Bereitung offen, ein einziger Athemzug hinreichte, sich
+augenblicklich den Tod zu geben. Sainte Croix trug deßhalb
+bei seinen Operationen eine Maske von feinem Glase. Diese
+fiel eines Tags, als er eben ein fertiges Giftpulver in eine
+Phiole schütten wollte, herab, und er sank, den feinen Staub
+des Giftes einathmend, augenblicklich todt nieder. Da er
+ohne Erben verstorben, eilten die Gerichte herbei, um den
+Nachlaß unter Siegel zu nehmen. Da fand sich in einer Kiste
+verschlossen das ganze höllische Arsenal des Giftmords, das
+dem verruchten Sainte Croix zu Gebote gestanden, aber auch
+die Briefe der Brinvillier wurden aufgefunden, die über ihre
+Unthaten keinen Zweifel ließen. Sie floh nach Lüttich in ein
+Kloster. Desgrais, ein Beamter der Marechaussee, wurde ihr
+nachgesendet. Als Geistlicher verkleidet erschien er in dem
+Kloster, wo sie sich verborgen. Es gelang ihm, mit dem
+entsetzlichen Weibe einen Liebeshandel anzuknüpfen, und sie
+zu einer heimlichen Zusammenkunft in einen einsamen Garten
+vor der Stadt zu verlocken. Kaum dort angekommen wurde sie
+aber von Desgrais Häschern umringt, der geistliche Liebhaber
+verwandelte sich plötzlich in den Beamten der Marechaussee,
+und nöthigte sie in den Wagen zu steigen, der vor dem Garten
+bereit stand, und von den Häschern umringt gerades Wegs nach
+Paris abfuhr. La Chaussee war schon früher enthauptet
+worden, die Brinvillier litt denselben Tod, ihr Körper wurde
+nach der Hinrichtung verbrannt, und die Asche in die Lüfte
+zerstreut.
+
+Die Pariser athmeten auf, als das Ungeheuer von der Welt
+war, das die heimliche mörderische Waffe ungestraft richten
+konnte gegen Feind und Freund. Doch bald that es sich kund,
+daß des verruchten la Croix entsetzliche Kunst sich fort
+vererbt hatte. Wie ein unsichtbares tückisches Gespenst
+schlich der Mord sich ein in die engsten Kreise, wie sie
+Verwandschaft – Liebe – Freundschaft nur bilden können, und
+erfaßte sicher und schnell die unglücklichen Opfer. Der, den
+man heute in blühender Gesundheit gesehen, wankte morgen
+krank und siech umher, und keine Kunst der Aerzte konnte ihn
+vor dem Tode retten. Reichthum – ein einträgliches Amt – ein
+schönes, vielleicht zu jugendliches Weib – das genügte zur
+Verfolgung auf den Tod. Das grausamste Mißtrauen trennte die
+heiligsten Bande. Der Gatte zitterte vor der Gattin – der
+Vater vor dem Sohn – die Schwester vor dem Bruder. –
+Unberührt blieben die Speisen, blieb der Wein bei dem Mahl,
+das der Freund den Freunden gab, und wo sonst Lust und
+Scherz gewaltet, spähten verwilderte Blicke nach dem
+verkappten Mörder. Man sah Familienväter ängstlich in
+entfernten Gegenden Lebensmittel einkaufen, und in dieser,
+jener schmutzigen Garküche selbst bereiten, in ihrem eigenen
+Hause teuflischen Verrath fürchtend. Und doch war manchmal
+die größte, bedachteste Vorsicht vergebens.
+
+Der König, dem Unwesen, das immer mehr überhand nahm, zu
+steuern, ernannte einen eigenen Gerichtshof, dem er
+ausschließlich die Untersuchung und Bestrafung dieser
+heimlichen Verbrechen übertrug. Das war die sogenannte
+Chambre ardente, die ihre Sitzungen unfern der Bastille
+hielt, und welcher la Regnie als President vorstand. Mehrere
+Zeit hindurch blieben Regnies Bemühungen, so eifrig sie auch
+seyn mochten, fruchtlos, dem verschlagenen Desgrais war es
+vorbehalten, den geheimsten Schlupfwinkel des Verbrechens zu
+entdecken. – In der Vorstadt St. Germain wohnte ein altes
+Weib, la Voisin geheißen, die sich mit Wahrsagen und
+Geisterbeschwören abgab, und mit Hülfe ihrer Spießgesellen,
+le Sage und le Vigoureux, auch selbst Personen, die eben
+nicht schwach und leichtgläubig zu nennen, in Furcht und
+Erstaunen zu setzen wußte. Aber sie that mehr als dieses.
+Exilis Schülerin wie la Croix, bereitete sie wie dieser, das
+feine, spurlose Gift, und half auf diese Weise ruchlosen
+Söhnen zur frühen Erbschaft, entarteten Weibern zum andern
+jüngern Gemahl. Desgrais drang in ihr Geheimniß ein, sie
+gestand alles, die Chambre ardente verurtheilte sie zum
+Feuertode, den sie auf dem Greveplatze erlitt. Man fand bei
+ihr eine Liste aller Personen, die sich ihrer Hülfe bedient
+hatten; und so kam es, daß nicht allein Hinrichtung auf
+Hinrichtung folgte, sondern auch schwerer Verdacht selbst
+auf Personen von hohem Ansehen lastete. So glaubte man, daß
+der Cardinal Bonzy bei der la Voisin das Mittel gefunden,
+alle Personen, denen er als Erzbischof von Narbonne
+Pensionen bezahlen mußte, in kurzer Zeit hinsterben zu
+lassen. So wurden die Herzogin von Bouillon, die Gräfin von
+Soißons, deren Namen man auf der Liste gefunden, der
+Verbindung mit dem teuflischen Weibe angeklagt, und selbst
+Francois Henri de Montmorencie, Boudebelle, Herzog von
+Luxemburg, Pair und Marschall des Reichs, blieb nicht
+verschont. Auch ihn verfolgte die furchtbare Chambre
+ardente. Er stellte sich selbst zum Gefängniß in der
+Bastille, wo ihn Louvois und la Regnies Haß in ein sechs Fuß
+langes Loch einsperren ließ. Monathe vergingen, ehe es sich
+vollkommen ausmittelte, daß des Herzogs Verbrechen keine
+Rüge verdienen konnte. Er hatte sich einmal von le Sage das
+Horoskop stellen lassen.
+
+Gewiß ist es, daß blinder Eifer den Präsidenten la Regnie zu
+Gewaltstreichen und Grausamkeiten verleitete. Das Tribunal
+nahm ganz den Character der Inquisition an, der
+geringfügigste Verdacht reichte hin zu strenger
+Einkerkerung, und oft war es dem Zufall überlassen, die
+Unschuld des auf den Tod Angeklagten darzuthun. Dabei war
+Regnie von garstigem Ansehen und heimtückischem Wesen, so
+daß er bald den Haß derer auf sich lud, deren Rächer oder
+Schützer zu seyn er berufen wurde. Die Herzogin von
+Bouillon, von ihm im Verhöre gefragt, ob sie den Teufel
+gesehen? erwiederte: mich dünkt, ich sehe ihn in diesem
+Augenblick!
+
+Während nun auf dem Greveplatz das Blut Schuldiger und
+Verdächtiger in Strömen floß, und endlich der heimliche
+Giftmord seltner und seltner wurde, zeigte sich ein Unheil
+andrer Art, welches neue Bestürzung verbreitete. Eine
+Gaunerbande schien es darauf angelegt zu haben, alle Juwelen
+in ihren Besitz zu bringen. Der reiche Schmuck, kaum
+gekauft, verschwand auf unbegreifliche Weise, mochte er
+verwahrt seyn wie er wollte. Noch viel ärger war es aber,
+daß Jeder, der es wagte, zur Abendzeit Juwelen bei sich zu
+tragen, auf offener Straße oder in finstern Gängen der
+Häuser beraubt, ja wohl gar ermordet wurde. Die mit dem
+Leben davon gekommen, sagten aus, ein Faustschlag auf den
+Kopf habe sie wie ein Wetterstrahl niedergestürzt, und aus
+der Betäubung erwacht hätten sie sich beraubt, und am ganz
+andern Orte als da, wo sie der Schlag getroffen, wieder
+gefunden. Die Ermordeten, wie sie beinahe jeden Morgen auf
+der Straße oder in den Häusern lagen, hatten alle dieselbe
+tödtliche Wunde. Einen Dolchstich ins Herz, nach dem Urtheil
+der Aerzte so schnell und sicher tödtend, daß der Verwundete
+keines Lautes mächtig zu Boden sinken mußte. Wer war an dem
+üppigen Hofe Ludwig des XIV., der nicht in einen geheimen
+Liebeshandel verstrickt, spät zur Geliebten schlich, und
+manchmal ein reiches Geschenk bei sich trug? – Als stünden
+die Gauner mit Geistern im Bunde, wußten sie genau, wenn
+sich so etwas zutragen sollte. Oft erreichte der
+Unglückliche nicht das Haus, wo er Liebesglück zu genießen
+dachte, oft fiel er auf der Schwelle, ja vor dem Zimmer der
+Geliebten, die mit Entsetzen den blutigen Leichnam fand.
+
+Vergebens ließ Argenson, der Polizeiminister, Alles
+aufgreifen in Paris, was von dem Volk nur irgend verdächtig
+schien, vergebens wüthete la Regnie, und suchte Geständnisse
+zu erpressen, vergebens wurden Wachen, Patrouillen
+verstärkt, die Spur der Thäter war nicht zu finden. Nur die
+Vorsicht, sich bis an die Zähne zu bewaffnen, und sich eine
+Leuchte vortragen zu lassen, half einigermaßen, und doch
+fanden sich Beispiele, daß der Diener mit Steinwürfen
+geängstet, und der Herr in demselben Augenblick ermordet und
+beraubt wurde.
+
+Merkwürdig war es, daß aller Nachforschungen auf allen
+Plätzen, wo Juwelenhandel nur möglich war, unerachtet, nicht
+das mindeste von den geraubten Kleinodien zum Vorschein kam,
+und also auch hier keine Spur sich zeigte, die hätte
+verfolgt werden können.
+
+Desgrais schäumte vor Wuth, daß selbst seiner List die
+Spitzbuben zu entgehen wußten. Das Viertel der Stadt, in dem
+er sich gerade befand, blieb verschont, während den dem
+andern, wo Keiner Böses geahnt, der Raubmord seine reichen
+Opfer erspähte.
+
+Desgrais besann sich auf das Kunststück, mehrere Desgrais zu
+schaffen, sich untereinander so ähnlich an Gang, Stellung,
+Sprache, Figur, Gesicht, daß selbst die Häscher nicht
+wußten, wo der rechte Desgrais stecke. Unterdessen lauschte
+er, sein Leben wagend, allein in den geheimsten
+Schlupfwinkeln, und folgte von weitem diesem oder jenem, der
+auf seinen Anlaß einen reichen Schmuck bei sich trug. Der
+blieb unangefochten; also auch von dieser Maaßregel waren
+die Gauner unterrichtet. Desgrais gerieth in Verzweiflung.
+
+Eines Morgens kommt Desgrais zu dem Präsidenten la Regnie,
+blaß, entstellt, ausser sich. – Was habt ihr, was für
+Nachrichten? – Fandet ihr die Spur? ruft ihm der Präsident
+entgegen. »Ha – gnädiger Herr, fängt Desgrais an, vor Wuth
+stammelnd, ha gnädiger Herr – gestern in der Nacht – unfern
+des Louvres ist der Marquis de la Fare angefallen worden in
+meiner Gegenwart. Himmel und Erde, jauchzt la Regnie auf vor
+Freude – wir haben sie! – O hört nur, fällt Desgrais mit
+bitterm Lächeln ein, o hört nur erst, wie sich Alles
+begeben. – Am Louvre steh' ich also, und passe, die ganze
+Hölle in der Brust, auf die Teufel, die meiner spotten. Da
+kommt mit unsicherm Schritt immer hinter sich schauend eine
+Gestalt dicht bei mir vorüber, ohne mich zu sehen. Im
+Mondesschimmer erkenne ich den Marquis de la Fare. Ich
+konnt' ihn da erwarten, ich wußte, wo er hinschlich. Kaum
+ist er zehn – zwölf Schritte bei mir vorüber, da springt wie
+aus der Erde herauf eine Figur, schmettert ihn nieder und
+fällt über ihn her. Unbesonnen, überrascht von dem
+Augenblick, der den Mörder in meine Hand liefern konnte,
+schrie ich laut auf, und will mit einem gewaltigen Sprunge
+aus meinem Schlupfwinkel heraus auf ihn zusetzen; da
+verwickle ich mich in den Mantel und falle hin. Ich sehe den
+Menschen wie auf den Flügeln des Windes forteilen, ich
+rapple mich auf, ich renne ihm nach – laufend stoße ich in
+mein Horn – aus der Fern antworten die Pfeifen der Häscher –
+es wird lebendig – Waffengeklirr, Pferdegetrappel von allen
+Seiten. – Hierher – hierher – Desgrais – Desgrais! schrie
+ich, daß es durch die Straßen hallt. – Immer sehe ich den
+Menschen vor mir im hellen Mondschein, wie er, mich zu
+täuschen, da – dort – einbiegt; – wir kommen in die Straße
+Nicaise, da scheinen seine Kräfte zu sinken, ich streng die
+meinigen doppelt an – noch fünfzehn Schritte höchstens hat
+er Vorsprung – »Ihr holt ihn ein – ihr packt ihn, die
+Häscher kommen« – schreit la Regnie mit blitzenden Augen,
+indem er Desgrais beim Arm ergreift, als sey der der
+fliehende Mörder selbst. – »Fünfzehn Schritte, fährt
+Desgrais mit dumpfer Stimme und mühsam athmend fort,
+fünfzehn Schritte vor mir springt der Mensch auf die Seite
+in den Schatten und verschwindet durch die Mauer.
+»Verschwindet? – durch die Mauer! – Seyd ihr rasend,« ruft
+la Regnie, indem er zwei Schritte zurück tritt und die Hände
+zusammenschlägt. »Nennt mich, fährt Desgrais fort, sich die
+Stirne reibend wie einer, den böse Gedanken plagen, nennt
+mich, gnädiger Herr, immerhin einen Rasenden, einen
+thörichten Geisterseher, aber es ist nicht anders, als wie
+ich es Euch erzähle. Erstarrt stehe ich vor der Mauer, als
+mehrere Häscher athemlos herbeikommen; mit ihnen der Marquis
+de la Fare, der sich aufgerafft, den bloßen Degen in der
+Hand. Wir zünden die Fackeln an, wir tappen an der Mauer hin
+und her; keine Spur einer Thüre, eines Fensters, einer
+Oeffnung. Es ist eine starke steinerne Hofmauer, die sich an
+ein Haus lehnt, in dem Leute wohnen, gegen die auch nicht
+der leiseste Verdacht aufkommt. Noch heute habe ich Alles in
+genauen Augenschein genommen. – Der Teufel selbst ist es,
+der uns foppt.« – Desgrais Geschichte wurde in Paris
+bekannt. Die Köpfe waren erfüllt von den Zaubereien,
+Geisterbeschwörungen, Teufelsbündnissen der Voisin, des
+Vigoureux, des berüchtigten Priesters le Sage; und wie es
+denn nun in unserer ewigen Natur liegt, daß der Hang zum
+Uebernatürlichen, zum Wunderbaren alle Vernunft überbietet,
+so glaubte man bald nichts Geringeres, als daß, wie Desgrais
+nur im Unmuth gesagt, wirklich der Teufel selbst die
+Verruchten schütze, die ihm ihre Seelen verkauft. Man kann
+es sich denken, daß Desgrais Geschichte mancherlei tollen
+Schmuck erhielt. Die Erzählung davon mit einem Holzschnitt
+darüber, eine gräßliche Teufelsgestalt vorstellend, die vor
+dem erschrockenen Desgrais in die Erde versinkt, wurde
+gedruckt und an allen Ecken verkauft. Genug, das Volk
+einzuschüchtern, und selbst den Häschern allen Muth zu
+nehmen, die nun zur Nachtzeit mit Zittern und Zagen die
+Straßen durchirrten, mit Amuletten behängt, und eingeweicht
+in Weihwasser.
+
+Argenson sah die Bemühungen der Chambre ardente scheitern,
+und ging den König an, für das neue Verbrechen einen
+Gerichtshof zu ernennen, der mit noch ausgedehnterer Macht
+den Thätern nachspüre und sie strafe. Der König, überzeugt,
+schon der Chambre ardente zuviel Gewalt gegeben zu haben,
+erschüttert von dem Greuel unzähliger Hinrichtungen, die der
+blutgierige la Regnie veranlaßt, wies den Vorschlag gänzlich
+von der Hand.
+
+Man wählte ein anderes Mittel, den König für die Sache zu
+beleben.
+
+In den Zimmern der Maintenon, wo sich der König Nachmittags
+aufzuhalten, und wohl auch mit seinen Ministern bis in die
+späte Nacht hinein zu arbeiten pflegte, wurde ihm ein
+Gedicht überreicht im Namen der gefährdeten Liebhaber,
+welche klagen, daß, gebiete ihnen die Galanterie, der
+Geliebten ein reiches Geschenk zu bringen, sie allemal ihr
+Leben daran setzen müßten. Ehre und Lust sey es, im
+ritterlichen Kampf sein Blut für die Geliebte zu
+verspritzen; anders verhalte es sich aber mit dem
+heimtückischen Anfall des Mörders, wider den man sich nicht
+wappnen könne. Ludwig, der leuchtende Polarstern aller Liebe
+und Galanterie, der möge hellaufstrahlend die finstre Nacht
+zerstreuen und so das schwarze Geheimniß, das darin
+verborgen, enthüllen. Der göttliche Held, der seine Feinde
+niedergeschmettert, werde nun auch sein siegreich funkelndes
+Schwert zücken, und wie Herkules die Lernäische Schlange,
+wie Theseus den Minotaur, das bedrohliche Ungeheuer
+bekämpfen, das alle Liebeslust wegzehre, und alle Freude
+verdüstre in tiefes Leid, in trostlose Trauer.
+
+So ernst die Sache auch war, so fehlte es diesem Gedicht
+doch nicht, vorzüglich in der Schilderung, wie die Liebhaber
+auf dem heimlichen Schleichwege zur Geliebten sich ängstigen
+müßten, wie die Angst schon alle Liebeslust, jedes schöne
+Abentheuer der Galanterie im Aufkeimen tödte, an
+geistreichwitzigen Wendungen. Kam nun noch hinzu, daß beim
+Schluß Alles in einen hochtrabenden Panegyrikus auf Ludwig
+den XIV. ausging, so konnt es nicht fehlen, daß der König
+das Gedicht mit sichtlichem Wohlgefallen durchlas. Damit zu
+Stande gekommen drehte er sich, die Augen nicht wegwendend
+von dem Papier, rasch um zur Maintenon, las das Gedicht noch
+einmal mit lauter Stimme ab, und fragte dann anmuthig
+lächelnd, was sie von den Wünschen der gefährdeten Liebhaber
+halte? Die Maintenon, ihrem ernsten Sinne treu und immer in
+der Farbe einer gewissen Frömmigkeit, erwiederte, daß
+geheime verbotene Wege eben keines besondern Schutzes
+würdig, die entsetzlichen Verbrecher aber wohl besonderer
+Maaßregeln zu ihrer Vertilgung werth wären. Der König, mit
+dieser schwankenden Antwort unzufrieden, schlug das Papier
+zusammen, und wollte zurück zu dem Staatssekretair, der in
+dem andern Zimmer arbeitete, als ihm bei einem Blick, den er
+seitwärts warf, die Scuderi ins Auge fiel, die zugegen war,
+und eben unfern der Maintenon auf einem kleinen Lehnsessel
+Platz genommen hatte. Auf diese schritt er nun los; das
+anmuthige Lächeln, das erst um Mund und Wangen spielte, und
+das verschwunden, gewann wieder Oberhand, und dicht vor dem
+Fräulein stehend und das Gedicht wieder auseinander faltend
+sprach er sanft: Die Marquise mag nun einmal von den
+Galanterien unserer verliebten Herren nichts wissen, und
+weicht mir aus auf Wegen, die nichts weniger als verboten
+sind. Aber Ihr, mein Fräulein, was haltet Ihr von dieser
+dichterischen Supplik? – Die Scuderi stand ehrerbietig auf
+von ihrem Lehnsessel, ein flüchtiges Roth überflog wie
+Abendpurpur die blassen Wangen der alten würdigen Dame, sie
+sprach, sich leise verneigend, mit niedergeschlagenen Augen:
+
+ | *Un amant qui craint les voleurs*
+ | *n'est point digne d'amour.*
+
+Der König, ganz erstaunt über den ritterlichen Geist dieser
+wenigen Worte, die das ganze Gedicht mit seinen ellenlangen
+Tiraden zu Boden schlugen, rief mit blitzenden Augen: Beim
+heiligen Dionys, Ihr habt Recht, Fräulein! Keine blinde
+Maaßregel, die den Unschuldigen trifft mit dem Schuldigen,
+soll die Freiheit schützen; mögen Argenson und la Regnie das
+Ihrige thun! –
+
+------------
+
+Alle die Greuel der Zeit schilderte nun die Martiniere mit
+den lebhaftesten Farben, als sie am andern Morgen ihrem
+Fräulein erzählte, was sich in voriger Nacht zugetragen, und
+übergab ihr zitternd und zagend das geheimnißvolle Kästchen.
+Sowohl sie als Baptiste, der ganz verblaßt in der Ecke
+stand, und vor Angst und Beklommenheit die Nachtmütze in den
+Händen knetend kaum sprechen konnte, baten das Fräulein auf
+das wehmütigste um aller Heiligen willen, doch nur mit
+möglichster Behutsamkeit das Kästchen zu öffnen. Die
+Scuderi, das verschlossene Geheimniß in der Hand wiegend und
+prüfend, sprach lächelnd: Ihr seht Beide Gespenster! – Daß
+ich nicht reich bin, daß bei mir keine Schätze, eines Mordes
+werth, zu holen sind, das wissen die verruchten
+Meuchelmörder da draußen, die, wie ihr selbst sagt, das
+Innerste der Häuser erspähen, wohl eben so gut als ich und
+ihr. Auf mein Leben soll es abgesehen seyn? Wem kann was an
+dem Tode liegen einer Person von drei und siebzig Jahren,
+die niemals andere verfolgte als die Bösewichter und
+Friedenstörer in den Romanen, die sie selbst schuf, die
+mittelmäßige Verse macht, welche niemandes Neid erregen
+können, die nichts hinterlassen wird, als den Staat des
+alten Fräuleins, das bisweilen an den Hof ging, und ein paar
+Dutzend gut eingebundene Bücher mit vergoldetem Schnitt! Und
+du, Martiniere! du magst nun die Erscheinung des fremden
+Menschen so schreckhaft beschreiben wie du willst, doch kann
+ich nicht glauben, daß er Böses im Sinne getragen.
+
+Also! –
+
+Die Martiniere prallte drei Schritte zurück, Baptiste sank
+mit einem dumpfen Ach! halb in die Knie, als das Fräulein
+nun an einen hervorragenden stählernen Knopf drückte und der
+Deckel des Kästchens mit Geräusch aufsprang.
+
+Wie erstaunte das Fräulein, als ihr aus dem Kästchen ein
+Paar goldne, reich mit Juwelen besetzte Armbänder, und eben
+ein solcher Halsschmuck entgegen funkelten. Sie nahm das
+Geschmeide heraus, und indem sie die wundervolle Arbeit des
+Halsschmucks lobte, beäugelte die Martiniere die reichen
+Armbänder, und rief einmal über das andere, daß ja selbst
+die eitle Montespan nicht solchen Schmuck besitze. Aber was
+soll das, was hat das zu bedeuten, sprach die Scuderi. In
+dem Augenblick gewahrte sie auf dem Boden des Kästchens
+einen kleinen zusammengefalteten Zettel. Mit Recht hoffte
+sie den Aufschluß des Geheimnisses darin zu finden. Der
+Zettel, kaum hatte sie, was er enthielt, gelesen, entfiel
+ihren zitternden Händen. Sie warf einen sprechenden Blick
+zum Himmel, und sank dann wie halb ohnmächtig in den
+Lehnsessel zurück. Erschrocken sprang die Martiniere, sprang
+Baptiste ihr bei. »O, rief sie nun mit von Thränen halb
+erstickter Stimme, o der Kränkung, o der tiefen Beschämung!
+Muß mir das noch geschehen im hohen Alter! Hab ich denn im
+thörichten Leichtsinn gefrevelt, wie ein junges,
+unbesonnenes Ding? – O Gott, sind Worte, halb im Scherz
+hingeworfen, solcher gräßlichen Deutung fähig! – Darf dann
+mich, die ich der Tugend getreu und der Frömmigkeit tadellos
+blieb von Kindheit an, darf dann mich das Verbrechen des
+teuflischen Bündnisses zeihen?
+
+Das Fräulein hielt das Schnupftuch vor die Augen und weinte
+und schluchzte heftig, so daß die Martiniere und Baptiste
+ganz verwirrt und beklommen nicht wußten, wie ihrer guten
+Herrschaft beistehen in ihrem großen Schmerz.
+
+Die Martiniere hatte den verhängnißvollen Zettel von der
+Erde aufgehoben. Auf demselben stand:
+
+ | *Un amant qui craint les voleurs*
+ | *n'est point digne d'amour.*
+
+.. epigraph::
+
+ »Euer scharfsinniger Geist, hochgeehrte Dame, hat uns,
+ die wir an der Schwäche und Feigheit das Recht des
+ Stärkern üben, und uns Schätze zueignen, die auf
+ unwürdige Weise vergeudet werden sollten, von großer
+ Verfolgung errettet. Als einen Beweis unserer
+ Dankbarkeit nehmet gütig diesen Schmuck an. Es ist das
+ Kostbarste, was wir seit langer Zeit haben auftreiben
+ können, wiewohl Euch, würdige Dame! viel schöneres
+ Geschmeide zieren sollte, als dieses nun eben ist. Wir
+ bitten, daß Ihr uns Eure Freundschaft und Euer
+ huldvolles Andenken nicht entziehen möget.«
+
+ -- Die Unsichtbaren.
+
+Ist es möglich, rief die Scuderi, als sie sich einigermaßen
+erholt hatte, ist es möglich, daß man die schamlose
+Frechheit, den verruchten Hohn so weit treiben kann? – Die
+Sonne schien hell durch die Fenstergardinen von hochrother
+Seide, und so kam es, daß die Brillanten, welche auf dem
+Tische neben dem offenen Kästchen lagen, in röthlichem
+Schimmer aufblitzten. Hinblickend verhüllte die Scuderi voll
+Entsetzen das Gesicht, und befahl der Martiniere, das
+fürchterliche Geschmeide, an dem das Blut der Ermordeten
+klebe, augenblicklich fortzuschaffen. Die Martiniere,
+nachdem sie Halsschmuck und Armbänder sogleich in das
+Kästchen verschlossen, meinte, daß es wohl und am
+gerathensten seyn würde, die Juwelen dem Polizeiminister zu
+übergeben, und ihm zu vertrauen, wie sich alles mit der
+beängstigenden Erscheinung des jungen Menschen, und der
+Einhändigung des Kästchens zugetragen.
+
+Die Scuderi stund auf und schritt schweigend langsam im
+Zimmer auf und nieder, als sinne sie erst nach, was nun zu
+thun sey. Dann befahl sie dem Baptiste, einen Tragsessel zu
+holen, der Martiniere aber, sie anzukleiden, weil sie auf
+der Stelle hin wolle zur Marquise de Maintenon.
+
+Sie ließ sich hintragen zur Marquise gerade zu der Stunde,
+wenn diese, wie die Scuderi wußte, sich allein in ihren
+Gemächern befand. Das Kästchen mit den Juwelen nahm sie mit
+sich.
+
+Wohl mußte die Marquise sich hochverwundern, als sie das
+Fräulein, sonst die Würde, ja trotz ihrer hohen Jahre, die
+Liebenswürdigkeit, die Anmuth selbst, eintreten sah blaß,
+entstellt, mit wankenden Schritten. »Was um aller Heiligen
+willen ist Euch widerfahren?« rief sie der armen,
+beängsteten Dame entgegen, die, ganz ausser sich selbst,
+kaum im Stande, sich aufrecht zu erhalten, nur schnell den
+Lehnsessel zu erreichen suchte, den ihr die Marquise
+hinschob. Endlich des Wortes wieder mächtig, erzählte das
+Fräulein, welche tiefe, nicht zu verschmerzende Kränkung ihr
+jener unbedachtsame Scherz, mit dem sie die Supplik der
+gefährdeten Liebhaber beantwortet, zugezogen habe. Die
+Marquise, nachdem sie Alles von Moment zu Moment erfahren,
+urtheilte, daß die Scuderi sich das sonderbare Ereigniß viel
+zu sehr zu Herzen nehme, daß der Hohn verruchten Gesindels
+nie ein frommes, edles Gemüth treffen könne, und verlangte
+zuletzt den Schmuck zu sehen.
+
+Die Scuderi gab ihr das geöffnete Kästchen, und die Marquise
+konnte sich, als sie das köstliche Geschmeide erblickte, des
+lauten Ausrufs der Verwunderung nicht erwehren. Sie nahm den
+Halsschmuck, die Armbänder heraus und trat damit an das
+Fenster, wo sie bald die Juwelen an der Sonne spielen ließ,
+bald die zierliche Goldarbeit ganz nahe vor den Augen hielt,
+um nur recht zu erschauen, mit welcher wundervollen Kunst
+jedes kleine Häkchen der verschlungenen Ketten gearbeitet
+war.
+
+Auf einmal wandte sich die Marquise rasch um nach dem
+Fräulein und rief: »Wißt ihr wohl, Fräulein! daß diese
+Armbänder, diesen Halsschmuck niemand anders gearbeitet
+haben kann, als René Cardillac? – René Cardillac war damals
+der geschickteste Goldarbeiter in Paris, einer der
+kunstreichsten und zugleich sonderbarsten Menschen seiner
+Zeit. Eher klein als groß, aber breitschultrig und von
+starkem, muskulösem Körperbau hatte Cardillac, hoch in die
+fünfziger Jahre vorgerückt, noch die Kraft, die
+Beweglichkeit des Jünglings. Von dieser Kraft, die
+ungewöhnlich zu nennen, zeugte auch das dicke, krause,
+röthliche Haupthaar und das gedrungene, gleißende Antlitz.
+Wäre Cardillac nicht in ganz Paris als der rechtlichste
+Ehrenmann, uneigennützig, offen, ohne Hinterhalt, stets zu
+helfen bereit, bekannt gewesen, sein ganz besonderer Blick
+aus kleinen, tiefliegenden, grün funkelnden Augen hätten ihn
+in den Verdacht heimlicher Tücke und Bosheit bringen können.
+Wie gesagt, Cardillac war in seiner Kunst der Geschickteste
+nicht sowohl in Paris, als vielleicht überhaupt seiner Zeit.
+Innig vertraut mit der Natur der Edelsteine, wußte er sie
+auf eine Art zu behandeln und zu fassen, daß der Schmuck,
+der erst für unscheinbar gegolten, aus Cardillacs Werkstatt
+hervorging in glänzender Pracht. Jeden Auftrag übernahm er
+mit brennender Begierde und machte einen Preis, der, so
+geringe war er, mit der Arbeit in keinem Verhältniß zu
+stehen schien. Dann ließ ihm das Werk keine Ruhe, Tag und
+Nacht hörte man ihn in seiner Werkstatt hämmern und oft, war
+die Arbeit beinahe vollendet, mißfiel ihm plötzlich die
+Form, er zweifelte an der Zierlichkeit irgend einer Fassung
+der Juwelen, irgend eines kleinen Häkchens – Anlaß genug,
+die ganze Arbeit wieder in den Schmelztiegel zu werfen und
+von neuem anzufangen. So wurde jede Arbeit ein reines,
+unübertreffliches Meisterwerk, das den Besteller in
+Erstaunen setzte. Aber nun war es kaum möglich, die fertige
+Arbeit von ihm zu erhalten. Unter tausend Vorwänden hielt er
+den Besteller hin von Woche zu Woche, von Monat zu Monat.
+Vergebens bot man ihm das Doppelte für die Arbeit, nicht
+einen Louis mehr als den bedungenen Preis wollte er nehmen.
+Mußte er dann endlich dem Andringen des Bestellers weichen,
+und den Schmuck herausgeben, so konnte er sich aller Zeichen
+des tiefsten Verdrusses, ja einer innern Wuth, die in ihm
+kochte, nicht erwehren. Hatte er ein bedeutenderes,
+vorzüglich reiches Werk, vielleicht viele Tausende an Werth,
+bei der Kostbarkeit der Juwelen, bei der überzierlichen
+Goldarbeit abliefern müssen, so war er im Stande, wie
+unsinnig umherzulaufen, sich, seine Arbeit, Alles um sich
+her verwünschend. Aber so wie einer hinter ihm herrannte und
+laut schrie: »René Cardillac, möchtet ihr nicht einen
+schönen Halsschmuck machen für meine Braut – Armbänder für
+mein Mädchen u. s. w.« dann stand er plötzlich still,
+blitzte den an mit seinen kleinen Augen und fragte, die
+Hände reibend: »Was habt ihr denn?« Der zieht nun ein
+Schächtelchen hervor und spricht: »Hier sind Juwelen, viel
+Sonderliches ist es nicht, gemeines Zeug, doch unter euern
+Händen« – Cardillac läßt ihn nicht ausreden, reißt ihm das
+Schächtelchen aus den Händen, nimmt die Juwelen heraus, die
+wirklich nicht viel werth sind, hält sie gegen das Licht und
+ruft voll Entzücken: »Ho ho – gemeines Zeug? – mit nichten!
+– hübsche Steine – herrliche Steine, laßt mich nur machen! –
+und wenn es Euch auf eine Handvoll Louis nicht ankommt, so
+will ich noch ein paar Steinchen hineinbringen, die Euch in
+die Augen funkeln sollen wie die liebe Sonne selbst –« Der
+spricht: »Ich überlasse Euch Alles, Meister René, und zahle,
+was ihr wollt!« Ohne Unterschied, mag er nun ein reicher
+Bürgersmann oder ein vornehmer Herr vom Hofe seyn, reißt ihn
+Cardillac ungestüm an seinen Hals, und drückt und küßt ihn
+und spricht, nun sey er wieder ganz glücklich und in acht
+Tagen werde die Arbeit fertig seyn. Er rennt über Hals und
+Kopf nach Hause, hinein in die Werkstatt, und hämmert drauf
+los, und in acht Tagen ist ein Meisterwerk zu Stande
+gebracht. Aber so wie der, der es bestellte, kommt, mit
+Freuden die geforderte geringe Summe bezahlen, und den
+fertigen Schmuck mitnehmen will, wird Cardillac verdrüßlich,
+grob, trotzig. – Aber Meister Cardillac, bedenkt, morgen ist
+meine Hochzeit. Was schert mich Eure Hochzeit, fragt in
+vierzehn Tagen wieder nach. – Der Schmuck ist fertig, hier
+liegt das Geld, ich muß ihn haben. – Und ich sage Euch, daß
+ich noch manches an dem Schmuck ändern muß, und ihn heute
+nicht heraus geben werde. – Und ich sage Euch, daß wenn ihr
+mir den Schmuck, den ich Euch allenfalls doppelt bezahlen
+will, nicht herausgebt im Guten, ihr mich gleich mit
+Argensons dienstbaren Trabanten anreuten sehen sollt. Nun so
+quäle Euch der Satan mit hundert glühenden Kneipzangen, und
+hänge drei Centner an den Halsschmuck, damit er Eure Braut
+erdroßle! – Und damit steckt Cardillac dem Bräutigam den
+Schmuck in die Busentasche, ergreift ihn beim Arm, wirft ihn
+zur Stubenthür hinaus, daß er die ganze Treppe hinabpoltert,
+und lacht wie der Teufel zum Fenster hinaus, wenn er sieht,
+wie der arme junge Mensch, das Schnupftuch vor der blutigen
+Nase, aus dem Hause hinaus hinkt. – Gar nicht zu erklären
+war es auch, daß Cardillac oft, wenn er mit Enthusiasmus
+eine Arbeit übernahm, plötzlich den Besteller mit allen
+Zeichen des im Innersten aufgeregten Gemüths, mit den
+erschütterndsten Betheurungen, ja unter Schluchzen und
+Thränen, bei der Jungfrau und allen Heiligen beschwor, ihm
+das unternommene Werk zu erlassen. Manche der von dem
+Könige, von dem Volke hochgeachtetsten Personen hatten
+vergebens große Summen geboten, um nur das kleinste Werk von
+Cardillac zu erhalten. Er warf sich dem Könige zu Füßen und
+flehte um die Huld, nichts für ihn arbeiten zu dürfen. Eben
+so verweigerte er der Maintenon jede Bestellung, ja mit dem
+Ausdruck des Abscheues und Entsetzens verwarf er den Antrag
+derselben, einen kleinen, mit den Emblemen der Kunst
+verzierten Ring zu fertigen, den Racine von ihr erhalten
+sollte.
+
+»Ich wette, sprach daher die Maintenon, ich wette, daß
+Cardillac, schicke ich auch hin zu ihm, um wenigstens zu
+erfahren, für wen er diesen Schmuck fertigte, sich weigert
+herzukommen, weil er vielleicht eine Bestellung fürchtet und
+doch durchaus nichts für mich arbeiten will. Wiewohl er seit
+einiger Zeit abzulassen scheint von seinem starren
+Eigensinn, denn wie ich höre, arbeitet er jetzt fleißiger
+als je, und liefert seine Arbeit ab auf der Stelle, jedoch
+noch immer mit tiefem Verdruß und weggewandtem Gesicht.« Die
+Scuderi, der auch viel daran gelegen, daß, sey es noch
+möglich, der Schmuck bald in die Hände des rechtmäßigen
+Eigenthümers komme, meinte, daß man dem Meister Sonderlich
+ja gleich sagen lassen könne, wie man keine Arbeit, sondern
+nur sein Urtheil über Juwelen verlange. Das billigte die
+Marquise. Es wurde nach Cardillac geschickt, und, als sey er
+schon auf dem Wege gewesen, trat er nach Verlauf weniger
+Zeit in das Zimmer.
+
+Er schien, als er die Scuderi erblickte, betreten und wie
+einer, der, von dem Unerwarteten plötzlich getroffen, die
+Ansprüche des Schicklichen, wie sie der Augenblick
+darbietet, vergißt, neigte er sich zuerst tief und
+ehrfurchtsvoll vor dieser ehrwürdigen Dame, und wandte sich
+dann erst zur Marquise. Die frug ihn hastig, indem sie auf
+das Geschmeide wies, das auf dem dunkelgrün behängten Tisch
+funkelte, ob das seine Arbeit sey? Cardillac warf kaum einen
+Blick darauf und packte, der Marquise ins Gesicht starrend,
+Armbänder und Halsschmuck schnell ein in das Kästchen, das
+daneben stand, und das er mit Heftigkeit von sich weg schob.
+Nun sprach er, indem ein häßliches Lächeln auf seinem rothen
+Antlitz gleißte: »In der That, Frau Marquise, man muß René
+Cardillac's Arbeit schlecht kennen, um nur einen Augenblick
+zu glauben, daß irgend ein anderer Goldschmidt in der Welt
+solchen Schmuck fassen könne. Freilich ist das meine
+Arbeit.« So sagt denn, fuhr die Marquise fort, für wen Ihr
+diesen Schmuck gefertigt habt. Für mich ganz allein,
+erwiederte Cardillac, ja Ihr möget, fuhr er fort, als beide,
+die Maintenon und die Scuderi ihn ganz verwundert
+anblickten, jene voll Mißtrauen, diese voll banger
+Erwartung, wie sich nun die Sache wenden würde, ja ihr möget
+das nun seltsam finden, Frau Marquise, aber es ist dem so.
+Bloß der schönen Arbeit willen suchte ich meine besten
+Steine zusammen, und arbeitete aus Freude daran fleißiger
+und sorgfältiger als jemals. Vor weniger Zeit verschwand der
+Schmuck aus meiner Werkstatt auf unbegreifliche Weise. »Dem
+Himmel sey es gedankt«, rief die Scuderi, indem ihr die
+Augen vor Freude funkelten, und sie rasch und behende wie
+ein junges Mädchen von ihrem Lehnsessel aufsprang, auf den
+Cardillac losschritt, und beide Hände auf seine Schultern
+legte, »empfangt, sprach sie dann, empfangt, Meister René,
+das Eigenthum, das Euch verruchte Spitzbuben raubten, wieder
+zurück.« Nun erzählte sie ausführlich, wie sie zu dem
+Schmuck gekommen. Cardillac hörte alles schweigend mit
+niedergeschlagenen Augen an. Nur mitunter sties er ein
+unvernehmliches Hm! – So! – Ey! – Hoho! – aus und warf bald
+die Hände auf den Rücken, bald streichelte er leise Kinn und
+Wange. Als nun die Scuderi geendet, war es, als kämpfe
+Cardillac mit ganz besondern Gedanken, die während dessen
+ihm gekommen, und als wolle irgend ein Entschluß sich nicht
+fügen und fördern. Er rieb sich die Stirne, er seufzte, er
+fuhr mit der Hand über die Augen, wohl gar um
+hervorbrechenden Thränen zu steuern. Endlich ergriff er das
+Kästchen, das ihm die Scuderi darbot, ließ sich auf ein Knie
+langsam nieder und sprach: »Euch, edles, würdiges Fräulein!
+hat das Verhängniß diesen Schmuck bestimmt. Ja nun weiß ich
+es erst, daß ich während der Arbeit an Euch dachte, ja für
+Euch arbeitete. Verschmäht es nicht, diesen Schmuck als das
+Beste, was ich wohl seit langer Zeit gemacht, von mir
+anzunehmen und zu tragen.« Ey, ey, erwiederte die Scuderi
+anmuthig scherzend, wo denkt ihr hin, Meister René, steht es
+mir denn an, in meinen Jahren mich noch so herauszuputzen
+mit blanken Steinen? – Und wie kömmt Ihr denn dazu, mich so
+überreich zu beschenken? Geht, geht, Meister René, wär' ich
+schön wie die Marquise de Fontange und reich, in der That,
+ich ließe den Schmuck nicht aus den Händen, aber was soll
+diesen welken Armen die eitle Pracht, was soll diesem
+verhüllten Hals der glänzende Putz? Cardillac hatte sich
+indessen erhoben und sprach, wie ausser sich, mit
+verwildertem Blick, indem er fortwährend das Kästchen der
+Scuderi hinhielt: »Thut mir die Barmherzigkeit, Fräulein,
+und nehmt den Schmuck. Ihr glaubt es nicht, welche tiefe
+Verehrung ich für Eure Tugend, für Eure hohe Verdienste im
+Herzen trage! Nehmt doch mein geringes Geschenk nur für das
+Bestreben an, Euch recht meine innerste Gesinnung zu
+beweisen.« – Als nun die Scuderi immer noch zögerte und
+zögerte, nahm die Maintenon das Kästchen aus Cardillac's
+Händen, sprechend: »Nun beim Himmel, Fräulein, immer redet
+Ihr von Euern hohen Jahren, was haben wir, ich und Ihr mit
+den Jahren zu schaffen und ihrer Last! – Und thut Ihr denn
+nicht eben wie ein junges verschämtes Ding, das gern
+zulangen möchte nach der dargebotnen süßen Frucht, könnte
+das nur geschehen ohne Hand und ohne Finger. – Schlagt dem
+wackern Meister René nicht ab, das freiwillig als Geschenk
+zu empfangen, was tausend Andere nicht erhalten können,
+alles Goldes, alles Bittens und Flehens unerachtet. –«
+
+Die Maintenon hatte der Scuderi das Kästchen während dessen
+aufgedrungen und nun stürzte Cardillac nieder auf die Knie –
+küßte der Scuderi den Rock – die Hände – stöhnte – seufzte –
+weinte – schluchzte – sprang auf – rannte wie unsinnig,
+Sessel – Tische umstürzend, daß Porzellain, Gläser
+zusammenklirten, in toller Hast von dannen. –
+
+Ganz erschrocken rief die Scuderi: Um aller Heiligen willen,
+was widerfährt dem Menschen! Doch die Marquise, in
+besonderer heiterer Laune bis zu sonst ihr ganz fremdem
+Muthwillen, schlug eine helle Lache auf und sprach: »Da
+haben wir's Fräulein, Meister René ist in Euch sterblich
+verliebt, und beginnt nach richtigem Brauch und bewährter
+Sitte ächter Galanterie Euer Herz zu bestürmen mit reichen
+Geschenken.« Die Maintenon führte diesen Scherz weiter aus,
+indem sie die Scuderi ermahnte, nicht zu grausam zu seyn
+gegen den verzweifelten Liebhaber, und diese wurde, Raum
+gebend angeborner Laune, hingerissen in den sprudelnden
+Strom tausend lustiger Einfälle. Sie meinte, daß sie,
+stünden die Sachen nun einmal so, endlich besiegt wohl nicht
+werde umhin können der Welt das unerhörte Beispiel einer
+drei und siebzig jährigen Goldschmidts-Braut von untadeligem
+Adel aufzustellen. Die Maintenon erbot sich, die Brautkrone
+zu flechten und sie über die Pflichten einer guten Hausfrau
+zu belehren, wovon freilich so ein kleiner Kick in der Welt
+von Mädchen nicht viel wissen könne.
+
+Da nun endlich die Scuderi aufstand, um die Marquise zu
+verlassen, wurde sie alles lachenden Scherzes ungeachtet
+doch wieder sehr ernst, als ihr das Schmuckkästchen zur Hand
+kam. Sie sprach: Doch, Frau Marquise! werde ich mich dieses
+Schmuckes niemals bedienen können. Er ist, mag es sich nun
+zugetragen haben wie es will, einmal in den Händen jener
+höllischen Gesellen gewesen, die mit der Frechheit des
+Teufels, ja wohl gar in verdammtem Bündniß mit ihm, rauben
+und morden. Mir graußt vor dem Blute, das an dem funkelnden
+Geschmeide zu kleben scheint. – Und nun hat selbst
+Cardillacs Betragen, ich muß es gestehen, für mich etwas
+sonderbar Aengstliches und Unheimliches. Nicht erwehren kann
+ich mir einer dunklen Ahnung, daß hinter diesem allem irgend
+ein grauenvolles, entsetzliches Geheimniß verborgen, und
+bringe ich mir die ganze Sache recht deutlich vor Augen mit
+jedem Umstande, so kann ich doch wieder gar nicht auch nur
+ahnen, worin das Geheimniß bestehe, und wie überhaupt der
+ehrliche, wackere Meister René, das Vorbild eines guten,
+frommen Bürgers, mit irgend etwas Bösem, Verdammlichen zu
+thun haben soll. So viel ist aber gewiß, daß ich niemals
+mich unterstehen werde, den Schmuck anzulegen.
+
+Die Marquise meinte, das hieße die Scrupel zu weit treiben;
+als nun aber die Scuderi sie auf ihr Gewissen fragte, was
+sie in ihrer, der Scuderi Lage, wohl thun würde, antwortete
+sie ernst und fest: weit eher den Schmuck in die Seine
+werfen, als ihn jemals tragen.
+
+Den Auftritt mit dem Meister René brachte die Scuderi in gar
+anmuthige Verse, die sie den folgenden Abend in den
+Gemächern der Maintenon dem Könige vorlas. Wohl mag es seyn,
+daß sie auf Kosten Meister René's, alle Schauer unheimlicher
+Ahnung besiegend, das ergötzliche Bild der drei und siebzig
+jährigen Goldschmidts-Braut von uraltem Adel mit lebendigen
+Farben darzustellen gewußt. Genug, der König lachte bis ins
+Innerste hinein und schwur, daß Boileau Despreux seinen
+Meister gefunden, weshalb der Scuderi Gedicht für das
+Witzigste galt, das jemals geschrieben.
+
+Mehrere Monate waren vergangen, als der Zufall es wollte,
+daß die Scuderi in der Glaskutsche der Herzogin von
+Montansier über den Pontneuf fuhr. Noch war die Erfindung
+der zierlichen Glaskutschen so neu, daß das neugierige Volk
+sich zudrängte, wenn ein Fuhrwerk der Art auf den Straßen
+erschien. So kam es denn auch, daß der gaffende Pöbel auf
+dem Pontneuf die Kutsche der Montansier umringte, beinahe
+den Schritt der Pferde hemmend. Da vernahm die Scuderi
+plötzlich ein Geschimpfe und Gefluche und gewahrte, wie ein
+Mensch mit Faustschlägen und Rippenstößen sich Platz machte
+durch die dickste Masse. Und wie er näher kam, trafen sie
+die durchbohrenden Blicke eines todtbleichen, durch Gram
+verstörten Jünglings Antlitzes. Unverwandt schaute der junge
+Mensch sie an, während er mit Ellbogen und Fäusten rüstig
+vor sich wegarbeitete, bis er an den Schlag des Wagens kam,
+den er mit stürmender Hastigkeit aufriß, der Scuderi einen
+Zettel in den Schoß warf, und Stöße, Faustschläge
+austheilend und empfangend verschwand wie er gekommen. Mit
+einem Schrei des Entsetzens war, so wie der Mensch am
+Kutschenschlage erschien, die Martiniere, die sich bei der
+Scuderi befand, entseelt in die Wagenkissen zurück gesunken.
+Vergebens riß die Scuderi an der Schnur, rief dem Kutscher
+zu, der, wie vom bösen Geiste getrieben, peitschte auf die
+Pferde los, die den Schaum von den Mäulern wegspritzend, um
+sich schlugen, sich bäumten, endlich in scharfem Trab
+fortdonnerten über die Brücke. Die Scuderi goß ihr
+Riechfläschchen über die ohnmächtige Frau aus, die endlich
+die Augen aufschlug und zitternd und bebend, sich krampfhaft
+festklammernd an die Herrschaft, Angst und Entsetzen im
+bleichen Antlitz, mühsam stöhnte: Um der heiligen Jungfrau
+willen! was wollte der fürchterliche Mensch? – Ach! er war
+es ja, er war es, derselbe, der Euch in jener schauervollen
+Nacht das Kästchen brachte! – Die Scuderi beruhigte die
+Arme, indem sie ihr vorstellte, daß ja durchaus nichts Böses
+geschehen, und daß es nur darauf ankomme, zu wissen, was der
+Zettel enthalte. Sie schlug das Blättchen auseinander und
+fand die Worte:
+
+.. epigraph::
+
+ Ein böses Verhängniß, das Ihr abwenden konntet, stößt
+ mich in den Abgrund! – Ich beschwöre Euch, wie der Sohn
+ die Mutter, von der er nicht lassen kann, in der vollsten
+ Glut kindlicher Liebe, den Halsschmuck und die Armbänder,
+ die Ihr durch mich erhieltet, unter irgend einem Vorwand
+ – um irgend etwas daran bessern – ändern zu lassen, zum
+ Meister René Cardillac zu schaffen; Euer Wohl, Euer Leben
+ hängt davon ab. Thut Ihr es nicht bis übermorgen, so
+ dringe ich in Eure Wohnung und ermorde mich vor Euern
+ Augen! –
+
+Nun ist es gewiß, sprach die Scuderi, als sie dies gelesen,
+daß, mag der geheimnißvolle Mensch auch wirklich zu der
+Bande verruchter Diebe und Mörder gehören, er doch gegen
+mich nichts Böses im Schilde führt. Wäre es ihm gelungen,
+mich in jener Nacht zu sprechen, wer weiß, welches
+sonderbare Ereigniß, welch dunkles Verhältniß der Dinge mir
+klar worden, von dem ich jetzt auch nur die leiseste Ahnung
+vergebens in meiner Seele suche. Mag aber auch die Sache
+sich nun verhalten, wie es will, das was mir in diesem Blatt
+geboten wird, will ich thun, und geschähe es auch nur um den
+unseligen Schmuck los zu werden, der mir ein höllischer
+Talismann des Bösen selbst dünkt. Cardillac wird ihn doch
+wohl nun, seiner alten Sitte getreu, nicht so leicht wieder
+aus den Händen geben wollen.
+
+Schon andern Tages gedachte die Scuderi, sich mit dem
+Schmuck zu dem Goldschmidt zu begeben. Doch war es, als
+hätten alle schönen Geister von ganz Paris sich verabredet,
+gerade an dem Morgen das Fräulein mit Versen, Schauspielen,
+Anekdoten zu bestürmen. Kaum hatte la Chapelle die Szene
+eines Trauerspiels geendet, und schlau versichert, daß er
+nun wohl Racine zu schlagen gedenke, als dieser selbst
+eintrat, und ihn mit irgend eines Königs pathetischer Rede
+zu Boden schlug, bis Boileau seine Leuchtkugeln in den
+schwarzen tragischen Himmel steigen ließ, um nur nicht ewig
+von der Colonnade des Louvre schwatzen zu hören, in die ihn
+der architektische Doktor Perrault hineingemengt.
+
+Hoher Mittag war geworden, die Scuderi mußte zur Herzogin
+Montansier, und so blieb der Besuch bei Meister René
+Cardillac bis zum andern Morgen verschoben.
+
+Die Scuderi fühlte sich von einer besonderen Unruhe
+gepeinigt. Beständig vor Augen stand ihr der Jüngling und
+aus dem tiefsten Innern wollte sich eine dunkle Erinnerung
+aufregen, als habe sie dies Antlitz, diese Züge schon
+gesehen. Den leisesten Schlummer störten ängstliche Träume,
+es war ihr, als habe sie leichtsinnig, ja strafwürdig
+versäumt, die Hand hülfreich zu erfassen, die der
+Unglückliche, in den Abgrund versinkend, nach ihr
+emporgestreckt, ja als sey es an ihr gewesen, irgend einem
+verderblichen Ereigniß, einem heillosen Verbrechen zu
+steuern! – So wie es nur hoher Morgen, ließ sie sich
+ankleiden, und fuhr, mit dem Schmuckkästchen versehen, zu
+dem Goldschmidt hin.
+
+Nach der Straße Nicaise, dorthin, wo Cardillac wohnte,
+strömte das Volk, sammelte sich vor der Hausthüre – schrie,
+lärmte, tobte – wollte stürmend hinein, mit Mühe abgehalten
+von der Marechaussee, die das Haus umstellt. Im wilden,
+verwirrten Getöse riefen zornige Stimmen: Zerreißt, zermalmt
+den verfluchten Mörder! – Endlich erscheint Desgrais mit
+zahlreicher Mannschaft, die bildet durch den dicksten Haufen
+eine Gasse. Die Hausthüre springt auf, ein Mensch mit Ketten
+belastet wird hinausgebracht und unter den greulichsten
+Verwünschungen des wüthenden Pöbels fortgeschleppt. – In dem
+Augenblick, als die Scuderi halb entseelt vor Schreck und
+furchtbarer Ahnung dies gewahrt, dringt ein gellendes
+Jammergeschrei ihr in die Ohren. »Vor! – weiter vor! ruft
+sie ganz ausser sich dem Kutscher zu, der mit einer
+geschickten, raschen Wendung den dicken Haufen
+auseinanderstäubt und dicht vor Cardillacs Hausthüre hält.
+Da sieht die Scuderi Desgrais und zu seinen Füßen ein junges
+Mädchen, schön wie der Tag, mit aufgelösten Haaren, halb
+entkleidet, wilde Angst, trostlose Verzweiflung im Antlitz,
+die hält seine Knie umschlungen und ruft mit dem Ton des
+entsetzlichsten, schneidendsten Todesschmerzes: Er ist ja
+unschuldig! – er ist unschuldig! Vergebens sind Desgrais,
+vergebens seiner Leute Bemühungen, sie loszureissen, sie vom
+Boden aufzurichten. Ein starker, ungeschlachter Kerl
+ergreift endlich mit plumpen Fäusten die Arme, zerrt sie mit
+Gewalt weg von Desgrais, strauchelt ungeschickt, läßt das
+Mädchen fahren, die hinabschlägt die steinernen Stufen, und
+lautlos – todt auf der Straße liegen bleibt. Länger kann die
+Scuderi sich nicht halten. In Christus Namen, was ist
+geschehen, was geht hier vor? ruft sie, öffnet rasch den
+Schlag, steigt aus. – Ehrerbietig weicht das Volk der
+würdigen Dame, die, als sie sieht, wie ein paar mitleidige
+Weiber das Mädchen aufgehoben, auf die Stufen gesetzt haben,
+ihr die Stirne mit starkem Wasser reiben, sich dem Desgrais
+nähert, und mit Heftigkeit ihre Frage wiederholt. Es ist das
+Entsetzliche geschehen, spricht Desgrais, René Cardillac
+wurde heute Morgen durch einen Dolchstich ermordet gefunden.
+Sein Geselle Olivier Brußon ist der Mörder. Eben wurde er
+fortgeführt ins Gefängniß. Und das Mädchen, ruft die
+Scuderi? ist, fällt Desgrais ein, ist Madelon, Cardillacs
+Tochter. Der verruchte Mensch war ihr Geliebter. Nun weint
+und heult sie, und schreit einmal übers andere, daß Olivier
+unschuldig sey, ganz unschuldig. Am Ende weiß sie von der
+That und ich muß sie auch nach der Conciergerie bringen
+lassen.« Desgrais warf, als er dies sprach, einen
+tückischen, schadenfrohen Blick auf das Mädchen, vor dem die
+Scuderi erbebte. Eben begann das Mädchen leise zu athmen,
+doch keines Lauts, keiner Bewegung mächtig, mit
+geschlossenen Augen lag sie da, und man wußte nicht, was zu
+thun, sie ins Haus bringen, oder ihr noch länger beistehen
+bis zum Erwachen. Tief bewegt, Thränen in den Augen blickte
+die Scuderi den unschuldsvollen Engel an, ihr graute vor
+Desgrais und seinen Gesellen. Da polterte es dumpf die
+Treppe herab, man brachte Cardillacs Leichnam. Schnell
+entschlossen rief die Scuderi laut: »Ich nehme das Mädchen
+mit mir, ihr möget für das Uebrige sorgen, Desgrais! Ein
+dumpfes Murmeln des Beifalls lief durch das Volk. Die Weiber
+hoben das Mädchen in die Höhe, alles drängte sich hinzu,
+hundert Hände mühten sich, ihnen beizustehen, und wie in den
+Lüften schwebend wurde das Mädchen in die Kutsche getragen
+indem Segnungen der würdigen Dame, die die Unschuld dem
+Blutgericht entrissen, von allen Lippen strömten.
+
+Serons, des berühmtesten Arztes in Paris, Bemühungen gelang
+es endlich, Madelon, die stundenlang in starrer
+Bewußtlosigkeit gelegen, wieder zu sich selbst zu bringen.
+Die Scuderi vollendete, was der Arzt begonnen, indem sie
+manchen milden Hoffnungsstrahl leuchten ließ in des Mädchens
+Seele, bis ein heftiger Thränenstrom, der ihr aus den Augen
+stürzte, ihr Luft machte. Sie vermochte, indem nur dann und
+wann die Uebermacht des durchbohrendsten Schmerzes die Worte
+in tiefem Schluchzen erstickte, zu erzählen, wie sich alles
+begeben.
+
+Um Mitternacht war sie durch leises Klopfen an ihrer
+Stubenthüre geweckt worden, und hatte Oliviers Stimme
+vernommen, der sie beschworen, doch nur gleich aufzustehen,
+weil der Vater im Sterben liege. Entsetzt sey sie
+aufgesprungen und habe die Thüre geöffnet. Olivier, bleich
+und entstellt, von Schweiß triefend sey, das Licht in der
+Hand, mit wankenden Schritten nach der Werkstatt gegangen,
+sie ihm gefolgt. Da habe der Vater gelegen mit starren Augen
+und geröchelt im Todeskampfe. Jammernd habe sie sich auf ihn
+gestürzt und nun erst sein blutiges Hemde bemerkt. Olivier
+habe sie sanft weggezogen und sich dann bemüht, eine Wunde
+auf der linken Brust des Vaters mit Wundbalsam zu waschen
+und zu verbinden. Während dessen sey des Vaters Besinnung
+zurückgekehrt, er habe zu röcheln aufgehört, und sie, dann
+aber Olivier mit seelenvollem Blick angeschaut, ihre Hand
+ergriffen, sie in Oliviers Hand gelegt und beide hastig
+gedrückt. Beide, Olivier und sie, wären bei dem Lager des
+Vaters auf die Knie gefallen, er habe sich mit einem
+schneidenden Laut in die Höhe gerichtet, sey aber gleich
+wieder zurückgesunken und mit einem tiefen Seufzer
+verschieden. Nun hätten sie Beide laut gejammert und
+geklagt. Olivier habe erzählt, wie der Meister auf einem
+Gange, den er mit ihm auf sein Geheiß in der Nacht habe
+machen müssen, in seiner Gegenwart ermordet worden, und wie
+er mit der größten Anstrengung den schweren Mann, den er
+nicht auf den Tod verwundet gehalten, nach Hause getragen.
+So wie der Morgen angebrochen, wären die Hausleute, denen
+das Gepolter, das laute Weinen und Jammern in der Nacht
+aufgefallen, heraufgekommen und hätten sie noch ganz
+trostlos bei der Leiche des Vaters kniend gefunden. Nun sey
+Lärm entstanden; die Marechaussee eingedrungen und Olivier
+als Mörder seines Meisters ins Gefängniß geschleppt worden.
+Madelon fügte nun die rührendste Schilderung von der Tugend,
+der Frömmigkeit, der Treue ihres geliebten Oliviers hinzu.
+Wie er den Meister, als sey er sein eigener Vater, hoch in
+Ehren gehalten, wie dieser seine Liebe in vollem Maaß
+erwiedert, wie er ihn trotz seiner Armuth zum Eidam
+erkohren, weil seine Geschicklichkeit seiner Treue, seinem
+edlen Gemüth gleichgekommen. Das Alles erzählte Madelon aus
+dem innersten Herzen heraus und schloß damit, daß, wenn
+Olivier in ihrem Beiseyn dem Vater den Dolch in die Brust
+gestoßen hätte, sie dies eher für ein Blendwerk des Satans
+halten, als daran glauben würde, daß Olivier eines solchen
+entsetzlichen, grauenvollen Verbrechens fähig seyn könne.
+
+Die Scuderi, von Madelons namenlosen Leiden auf das tiefste
+gerührt und ganz geneigt, den armen Olivier für unschuldig
+zu halten, zog Erkundigungen ein, und fand Alles bestätigt,
+was Madelon über das häusliche Verhältniß des Meisters mit
+seinem Gesellen erzählt hatte. Die Hausleute, die Nachbaren
+rühmten einstimmig den Olivier als das Muster eines
+sittigen, frommen, treuen, fleißigen, Betragens, niemand
+wußte Böses von ihm und doch, war von der gräßlichen That
+die Rede, zuckte jeder die Achseln und meinte, darin liege
+etwas Unbegreifliches.
+
+Olivier, vor die Chambre ardente gestellt, läugnete, wie die
+Scuderi vernahm, mit der größten Standhaftigkeit, mit dem
+hellsten Freimuth die ihm angeschuldigte That, und
+behauptete, daß sein Meister in seiner Gegenwart auf der
+Straße angefallen und niedergestoßen worden, daß er ihn aber
+noch lebendig nach Hause geschleppt, wo er sehr bald
+verschieden sey. Auch dies stimmte also mit Madelons
+Erzählung überein.
+
+Immer und immer wieder ließ sich die Scuderi die kleinsten
+Umstände des schrecklichen Ereignisses wiederholen. Sie
+forschte genau, ob jemals ein Streit zwischen Meister und
+Gesellen vorgefallen, ob vielleicht Olivier nicht ganz frei
+von jenem Jähzorn sey, der oft wie ein blinder Wahnsinn die
+gutmüthigsten Menschen überfällt und zu Thaten verleitet,
+die alle Willkühr des Handelns auszuschließen scheinen. Doch
+je begeisterter Madelon von dem ruhigen häuslichen Glück
+sprach, in dem die drei Menschen in innigster Liebe
+verbunden lebten, desto mehr verschwand jeder Schatten des
+Verdachts wider den auf den Tod angeklagten Olivier. – Genau
+alles prüfend, davon ausgehend, daß Olivier unerachtet alles
+dessen, was laut für seine Unschuld spräche, dennoch
+Cardillacs Mörder gewesen, fand die Scuderi im Reich der
+Möglichkeit keinen Beweggrund zu der entsetzlichen That, die
+in jedem Fall Oliviers Glück zerstören mußte. – Er ist arm,
+aber geschickt. – Es gelingt ihm, die Zuneigung des
+berühmtesten Meisters zu gewinnen, er liebt die Tochter, der
+Meister begünstigt seine Liebe, Glück, Wohlstand für sein
+ganzes Leben wird ihm erschlossen! – Sey es aber nun, daß,
+Gott weiß, auf welche Weise gereizt, Olivier vom Zorn
+übermannt seinen Wohlthäter, seinen Vater mörderisch anfiel,
+welche teuflische Heuchelei gehört dazu, nach der That sich
+so zu betragen, als es wirklich geschah! – Mit der festen
+Ueberzeugung von Oliviers Unschuld faßte die Scuderi den
+Entschluß, den unschuldigen Jüngling zu retten, koste es,
+was es wolle.
+
+Es schien ihr, ehe sie die Huld des Königs selbst vielleicht
+anrufe, am gerathensten, sich an den Präsidenten la Regnie
+zu wenden, ihn auf alle Umstände, die für Oliviers Unschuld
+sprechen mußten, aufmerksam zu machen, und so vielleicht in
+des Präsidenten Seele eine innere, dem Angeklagten günstige
+Ueberzeugung zu erwecken, die sich wohlthätig den Richtern
+mittheilen sollte.
+
+La Regnie empfing die Scuderi mit der hohen Achtung, auf die
+die würdige Dame, von dem Könige selbst hoch geehrt,
+gerechten Anspruch machen konnte. Er hörte richtig alles an,
+was sie über die entsetzliche That, über Oliviers
+Verhältnisse, über seinen Charakter vorbrachte. Ein feines,
+beinahe hämisches Lächeln war indessen Alles, womit er
+bewies, daß die Betheurungen, die von häufigen Thränen
+begleiteten Ermahnungen, wie jeder Richter nicht der Feind
+des Angeklagten seyn, sondern auch auf Alles achten müsse,
+was zu seinen Gunsten spräche, nicht an gänzlich tauben
+Ohren vorüber glitten. Als das Fräulein nun endlich ganz
+erschöpft, die Thränen von den Augen wegtrocknend, schwieg,
+fing Regnie an: Es ist ganz Eures vortrefflichen Herzens
+würdig, mein Fräulein, daß Ihr, gerührt von den Thränen
+eines jungen, verliebten Mädchens, alles glaubt, was sie
+vorbringt, ja daß Ihr nicht fähig seyd, den Gedanken einer
+entsetzlichen Unthat zu fassen, aber anders ist es mit dem
+Richter, der gewohnt ist, frecher Heuchelei die Larve
+abzureissen. Wohl mag es nicht meines Amts seyn, jedem, der
+mich frägt, den Gang eines Kriminalprozesses zu entwickeln.
+Fräulein! ich thue meine Pflicht, wenig kümmert mich das
+Urtheil der Welt. Zittern sollen die Bösewichter vor der
+Chambre ardente, die keine Strafe kennt als Blut und Feuer.
+Aber vor Euch, mein würdiges Fräulein, möcht' ich nicht für
+ein Ungeheuer gehalten werden an Härte und Grausamkeit,
+darum vergönnt mir, daß ich Euch mit wenigen Worten die
+Blutschuld des jungen Bösewichts, der, dem Himmel sey es
+gedankt! der Rache verfallen ist, klar vor Augen lege. Euer
+scharfsinniger Geist wird dann selbst die Gutmüthigkeit
+verschmähen, die Euch Ehre macht, mir aber gar nicht
+anstehen würde. – Also! – Am Morgen wird René Cardillac
+durch einen Dolchstoß ermordet gefunden. Niemand ist bei
+ihm, als sein Geselle Olivier Brußon und die Tochter. In
+Oliviers Kammer, unter allem Greuel, findet man einen Dolch
+von frischem Blute gefärbt, der genau in die Wunde paßt.
+»Cardillac ist, spricht Olivier, in der Nacht vor meinen
+Augen niedergestoßen worden. – Man wollte ihn berauben? Das
+weiß ich nicht! – Du gingst mit ihm, und es war dir nicht
+möglich, dem Mörder zu wehren? – ihn fest zu halten? um
+Hülfe zu rufen? Fünfzehn, wohl zwanzig Schritte vor mir ging
+der Meister, ich folgte ihm. Warum in aller Welt so
+entfernt? – Der Meister wollt' es so. Was hatte überhaupt
+Meister Cardillac so spät auf der Straße zu thun? – Das kann
+ich nicht sagen. Sonst ist er aber doch niemals nach neun
+Uhr Abends aus dem Hause gekommen? – Hier stockt Olivier, er
+ist bestürzt, er seufzt, er vergießt Thränen, er betheuert
+bei allem, was heilig, daß Cardillac wirklich in jener Nacht
+ausgegangen sey, und seinen Tod gefunden habe.« Nun merkt
+aber wohl auf, mein Fräulein. Erwiesen ist es bis zur
+vollkommensten Gewißheit, daß Cardillac in jener Nacht das
+Haus nicht verließ, mithin Oliviers Behauptung, er sey mit
+ihm wirklich ausgegangen, eine freche Lüge ist. Die
+Hausthüre ist mit einem schweren Schloß versehen, welches
+bei dem Auf- und Zuschließen ein durchdringendes Geräusch
+macht, dann aber bewegt sich der Thürflügel widrig knarrend
+und heulend in den Angeln, so daß, wie es angestellte
+Versuche bewährt haben, selbst im obersten Stock des Hauses
+das Getöse wiederhallt. Nun wohnt in dem untersten Stock,
+also dicht neben der Hausthüre, der alte Meister Claude
+Patru mit seiner Aufwärterin, einer Person von beinahe
+achtzig Jahren, aber noch munter und rührig. Diese beiden
+Personen hörten, wie Cardillac nach seiner gewöhnlichen
+Weise an jenem Abend Punkt neun Uhr die Treppe hinab kam,
+die Thüre mit vielem Geräusch verschloß und verrammelte,
+dann wieder hinauf stieg, den Abendsegen laut las und dann,
+wie man es an dem Zuschlagen der Thüre vernehmen konnte, in
+sein Schlafzimmer ging. Meister Claude leidet an
+Schlaflosigkeit, wie es allen alten Leuten wohl zu gehen
+pflegt. Auch in jener Nacht konnte er kein Auge zuthun. Die
+Aufwärterin schlug daher, es mochte halb zehn Uhr seyn, in
+der Küche, in die sie über den Hausflur gehend gelangt,
+Licht an und setzte sich zum Meister Claude an den Tisch mit
+einer alten Chronik, in der sie las, während der Alte seinen
+Gedanken nachhängend bald sich in den Lehnstuhl setzte, bald
+wieder aufstand und um Müdigkeit und Schlaf zu gewinnen im
+Zimmer leise und langsam auf und abschritt. Es blieb alles
+still und ruhig bis nach Mitternacht. Da hörte sie über sich
+scharfe Tritte, einen harten Fall, als stürze eine schwere
+Last zu Boden, und gleich darauf ein dumpfes Stöhnen. In
+Beide kam eine seltsame Angst und Beklommenheit. Die Schauer
+der entsetzlichen That, die eben begangen, gingen bei ihnen
+vorüber. – Mit dem hellen Morgen trat dann ans Licht, was in
+der Finsterniß begonnen. – Aber, fiel die Scuderi ein, aber
+um aller Heiligen willen, könnt ihr bei allen Umständen, die
+ich erst weitläuftig erzählte, Euch denn irgend einen Anlaß
+zu dieser That der Hölle denken? – Hm, erwiederte la Regnie,
+Cardillac war nicht arm – im Besitz vortrefflicher Steine.
+Bekam, fuhr die Scuderi fort, bekam denn nicht alles die
+Tochter? – Ihr vergeßt, daß Olivier Cardillacs Schwiegersohn
+werden sollte. Er mußte vielleicht theilen oder gar nur für
+Andere morden, sprach la Regnie. Theilen, für Andere morden?
+fragte die Scuderi in vollem Erstaunen. Wißt, fuhr der
+Präsident fort, wißt mein Fräulein! daß Olivier schon längst
+geblutet hätte auf dem Greveplatz, stünde seine That nicht
+in Beziehung mit dem dicht verschleierten Geheimniß, das
+bisher so bedrohlich über ganz Paris waltete. Olivier gehört
+offenbar zu jener verruchten Bande, die alle Aufmerksamkeit,
+alle Mühe, alles Forschen der Gerichtshöfe verspottend ihre
+Streiche sicher und ungestraft zu führen wußte. Durch ihn
+wird – muß Alles klar werden. Die Wunde Cardillacs ist denen
+ganz ähnlich, die alle auf der Straße, in den Häusern
+Ermordete und Beraubte trugen. Dann aber das
+Entscheidendste, seit der Zeit, daß Olivier Brußon verhaftet
+ist, haben alle Mordthaten, alle Beraubungen aufgehört.
+Sicher sind die Straßen zur Nachtzeit wie am Tage. Beweis
+genug, daß Olivier vielleicht an der Spitze jener Mordbande
+stand. Noch will er nicht bekennen, aber es gibt Mittel, ihn
+sprechen zu machen wider seinen Willen. Und Madelon, rief
+die Scuderi, und Madelon, die treue, unschuldige Taube – Ei,
+sprach la Regnie mit einem giftigen Lächeln, ei wer steht
+mir dafür, daß sie nicht mit im Complott ist. Was ist ihr an
+dem Vater gelegen, nur dem Mordbuben gelten ihre Thränen.
+Was sagt ihr, schrie die Scuderi, es ist nicht möglich; den
+Vater! dieses Mädchen! – O! fuhr la Regnie fort, o! denkt
+doch nur an die Brinvillier! Ihr möget es mir verzeihen,
+wenn ich mich vielleicht bald genöthigt sehe, Euch Euern
+Schützling zu entreissen und in die Conciergerie werfen zu
+lassen. – Der Scuderi ging ein Graußen an bei diesem
+entsetzlichen Verdacht. Es war ihr, als könne vor diesem
+schrecklichen Manne keine Treue, keine Tugend bestehen, als
+spräche er in den tiefsten, geheimsten Gedanken Mord und
+Blutschuld. Sie stand auf. Seyd menschlich, das war Alles,
+was sie beklommen, mühsam athmend hervorbringen konnte.
+Schon im Begriff, die Treppe hinabzusteigen, bis zu der der
+Präsident sie mit zeremoniöser Artigkeit begleitet hatte,
+kam ihr, selbst wußte sie nicht wie, ein seltsamer Gedanke.
+»Würd' es mir wohl erlaubt seyn, den unglücklichen Olivier
+Brußon zu sehen?« So fragte sie den Präsidenten sich rasch
+umwendend. Dieser schaute sie mit bedenklicher Miene an,
+dann verzog sich sein Gesicht in jenes widrige Lächeln, das
+ihm eigen. »Gewiß, sprach er, gewiß wollt Ihr nun, mein
+würdiges Fräulein, Euerm Gefühl, der innern Stimme mehr
+vertrauend als dem, was vor unsern Augen geschehen, selbst
+Oliviers Schuld oder Unschuld prüfen. Scheut ihr nicht den
+düstern Aufenthalt des Verbrechens, ist es Euch nicht
+gehässig, die Bilder der Verworfenheit in allen Abstufungen
+zu sehen, so sollen für Euch in zwei Stunden die Thore der
+Conciergerie offen seyn. Man wird Euch diesen Olivier,
+dessen Schicksal Eure Theilnahme erregt, vorstellen.«
+
+In der That konnte sich die Scuderi von der Schuld des
+jungen Menschen nicht überzeugen. Alles sprach wider ihn, ja
+kein Richter in der Welt hätte anders gehandelt, wie la
+Regnie, bei solch entscheidenden Thatsachen. Aber das Bild
+häuslichen Glücks, wie es Madelon mit den lebendigsten Zügen
+der Scuderi vor Augen gestellt, überstrahlte jeden bösen
+Verdacht, und so mochte sie lieber ein unerklärliches
+Geheimniß annehmen, als daran glauben, wogegen ihr ganzes
+Inneres sich empörte.
+
+Sie gedachte, sich von Olivier noch einmal Alles, wie es
+sich in jener verhängnißvollen Nacht begeben, erzählen zu
+lassen, und so viel möglich in ein Geheimniß zu dringen, das
+vielleicht den Richtern verschlossen geblieben, weil es
+werthlos schien, sich weiter darum zu bekümmern.
+
+In der Conciergerie angekommen, führte man die Scuderi in
+ein großes helles Gemach. Nicht lange darauf vernahm sie
+Kettengerassel. Olivier Brußon wurde gebracht. Doch so wie
+er in die Thüre trat, sank auch die Scuderi ohnmächtig
+nieder. Als sie sich erholt hatte, war Olivier verschwunden.
+Sie verlangte mit Heftigkeit, daß man sie nach dem Wagen
+bringe, fort, augenblicklich fort wollte sie aus den
+Gemächern der frevelnden Verruchtheit. Ach! – auf den ersten
+Blick hatte sie in Olivier Brußon den Jungen Menschen
+erkannt, der auf dem Pontneuf jenes Blatt ihr in den Wagen
+geworfen, der ihr das Kästchen mit den Juwelen gebracht
+hatte. – Nun war ja jeder Zweifel gehoben, la Regnies
+schreckliche Vermuthung ganz bestättigt. Olivier Brußon
+gehört zu der fürchterlichen Mordbande, gewiß ermordete er
+auch den Meister! – Und Madelon? – So bitter noch nie vom
+innern Gefühl getäuscht, auf den Tod angepackt von der
+höllischen Macht auf Erden, an deren Daseyn sie nicht
+geglaubt, verzweifelte die Scuderi an aller Wahrheit. Sie
+gab Raum dem entsetzlichen Verdacht, daß Madelon mit
+verschworen seyn und Theil haben könne an der gräßlichen
+Blutschuld. Wie es denn geschieht, daß der menschliche
+Geist, ist ihm ein Bild aufgegangen, ämsig Farben sucht und
+findet, es greller und greller auszumahlen, so fand auch die
+Scuderi, jeden Umstand der That, Madelons Betragen in den
+kleinsten Zügen erwägend, gar Vieles, jenen Verdacht zu
+nähren. So wurde Manches, was ihr bisher als Beweis der
+Unschuld und Reinheit gegolten, sicheres Merkmal frevelicher
+Bosheit, studierter Heuchelei. Jener herzzerreißende Jammer,
+die blutigen Thränen konnten wohl erpreßt seyn von der
+Todesangst, nicht den Geliebten bluten zu sehen, nein –
+selbst zu fallen unter der Hand des Henkers. Gleich sich die
+Schlange, die sie im Busen nähre, vom Halse zu schaffen; mit
+diesem Entschluß stieg die Scuderi aus dem Wagen. In ihr
+Gemach eingetreten warf Madelon sich ihr zu Füßen. Die
+Himmelsaugen, ein Engel Gottes hat sie nicht treuer, zu ihr
+emporgerichtet, die Hände vor der wallenden Brust
+zusammengefaltet, jammerte und flehte sie laut um Hülfe und
+Trost. Die Scuderi sich mühsam zusammenfassend sprach, indem
+sie dem Ton ihrer Stimme so viel Ernst und Ruhe zu geben
+suchte, als ihr möglich: Geh' – geh' – tröste dich nur über
+den Mörder, den die gerechte Strafe seiner Schandthaten
+erwartet – Die heilige Jungfrau möge verhüten, daß nicht auf
+dir selbst eine Blutschuld schwer laste. »Ach nun ist alles
+verloren!« – Mit diesem gellenden Ausruf stürzte Madelon
+ohnmächtig zu Boden. Die Scuderi überließ die Sorge um das
+Mädchen der Martiniere und entfernte sich in ein anderes
+Gemach. –
+
+Ganz zerrissen im Innern, entzweit mit allem Irdischen
+wünschte die Scuderi, nicht mehr in einer Welt voll
+höllischen Truges zu leben. Sie klagte das Verhängniß an,
+das in bitterm Hohn ihr so viele Jahre vergönnt, ihren
+Glauben an Tugend und Treue zu stärken, und nun in ihrem
+Alter das schöne Bild vernichte, welches ihr im Leben
+geleuchtet.
+
+Sie vernahm, wie die Martiniere Madelon fortbrachte, die
+leise seufzte und jammerte: Ach! – auch sie – auch sie haben
+die Grausamen bethört. – Ich Elende – armer, unglücklicher
+Olivier! – Die Töne drangen der Scuderi ins Herz, und aufs
+neue regte sich aus dem tiefsten Innern heraus die Ahnung
+eines Geheimnisses, der Glaube an Oliviers Unschuld.
+Bedrängt von den widersprechenden Gefühlen, ganz ausser sich
+rief die Scuderi: Welcher Geist der Hölle hat mich in die
+entsetzliche Geschichte verwickelt, die mir das Leben kosten
+wird! – In dem Augenblick trat Baptiste hinein, bleich und
+erschrocken, mit der Nachricht, daß Desgrais draussen sey.
+Seit dem abscheulichen Prozeß der la Voisin war Desgrais
+Erscheinung in einem Hause der gewiße Vorbote irgend einer
+peinlichen Anklage, daher kam Baptiste's Schreck, deshalb
+fragte ihn das Fräulein mit mildem Lächeln: Was ist dir
+Baptiste? – Nicht wahr! – der Name Scuderi befand sich auf
+der Liste der la Voisin? Ach um Christus willen, erwiederte
+Baptiste, am ganzen Leibe zitternd, wie möget Ihr nur so
+etwas aussprechen, aber Desgrais – der entsetzliche
+Desgrais, thut so geheimnißvoll, so dringend, er scheint es
+gar nicht erwarten zu können, Euch zu sehen! – Nun, sprach
+die Scuderi, nun Baptiste, so führt ihn nur gleich herein
+den Menschen, der Euch so fürchterlich ist, und der mir
+wenigstens keine Besorgniß erregen kann. – Der Präsident,
+sprach Desgrais, als er ins Gemach getreten, der Präsident
+la Regnie schickt mich zu Euch, mein Fräulein, mit einer
+Bitte, auf deren Erfüllung er gar nicht hoffen würde, kennte
+er nicht Euere Rechtschaffenheit, Euern Muth, läge nicht das
+letzte Mittel, eine böse Blutschuld an den Tag zu bringen,
+in Euern Händen, hättet Ihr nicht selbst schon Theil
+genommen an dem bösen Prozeß, der die Chambre ardente, uns
+alle in Athem hält. Olivier Brußon, seit dem er Euch gesehen
+hat, ist halb rasend. So sehr er schon zum Bekenntniß sich
+zu neigen schien, so schwört er doch jetzt aufs neue bei
+Christus und allen Heiligen, daß er an dem Morde Cardillacs
+ganz unschuldig sey, wiewohl er den Tod gern leiden wolle,
+den er verdient habe. Bemerkt, mein Fräulein, daß der letzte
+Zusatz offenbar auf andere Verbrechen deutet, die auf ihm
+lasten. Doch vergebens ist alle Mühe, nur ein Wort weiter
+herauszubringen, selbst die Drohung mit der Tortur hat
+nichts gefruchtet. Er fleht, er beschwört uns, ihm eine
+Unterredung mit Euch zu verschaffen, Euch nur, Euch allein
+will er Alles gestehen. Laßt Euch herab, mein Fräulein,
+Brußons Bekenntniß zu hören. Wie! rief die Scuderi ganz
+entrüstet, soll ich dem Blutgericht zum Organ dienen, soll
+ich das Vertrauen des unglücklichen Menschen mißbrauchen,
+ihn aufs Blutgerüst zu bringen? – Nein Desgrais! – mag
+Brußon auch ein verruchter Mörder seyn, nie wär' es mir doch
+möglich, ihn so spitzbübisch zu hintergehen. Nichts mag ich
+von seinen Geheimnissen erfahren, die wie eine heilige
+Beichte in meiner Brust verschlossen bleiben würden.
+Vielleicht, versetzte Desgrais mit einem feinen Lächeln,
+vielleicht, mein Fräulein, ändert sich Eure Gesinnung, wenn
+Ihr Brußon gehört habt. Batet Ihr den Präsident nicht
+selbst, er sollte menschlich seyn? Er thut es, indem er dem
+thörichten Verlangen Brußons nachgibt, und so das letzte
+Mittel versucht, ehe er die Tortur verhängt, zu der Brußon
+längst reif ist. Die Scuderi schrack unwillkührlich
+zusammen. Seht, fuhr Desgrais fort, seht, würdige Dame, man
+wird Euch keineswegs zumuthen, noch einmal in jene finstere
+Gemächer zu treten, die Euch mit Grausen und Abscheu
+erfüllen. In der Stille der Nacht, ohne alles Aufsehen
+bringt man Olivier Brußon wie einen freien Menschen zu Euch
+in Euer Haus. Nicht einmal belauscht, doch wohl bewacht mag
+er Euch dann zwanglos Alles bekennen, was auf ihm lastet.
+Daß Ihr für Euch selbst nichts von dem Elenden zu fürchten
+habt, dafür stehe ich Euch mit meinem Leben ein. Er spricht
+von Euch mit inbrünstiger Verehrung. Er schwört, daß nur das
+düstre Verhängniß, welches ihm verwehrt habe, Euch früher zu
+sehen, ihn in den Tod gestürzt. Und dann steht es ja bei
+Euch, von dem, was Euch Brußon entdeckt, so viel zu sagen,
+als Euch beliebt. Kann man Euch zu mehrerem zwingen?
+
+Die Scuderi sah tief sinnend vor sich nieder. Es war ihr,
+als müsse sie der höheren Macht gehorchen, die den Aufschluß
+irgend eines entsetzlichen Geheimnisses von ihr verlange,
+als könne sie sich nicht mehr den wunderbaren
+Verschlingungen entziehen, in die sie willenlos gerathen.
+Plötzlich entschlossen sprach sie mit Würde: Gott wird mir
+Fassung und Standhaftigkeit geben; führt den Brußon her, ich
+will ihn sprechen.
+
+So wie damals, als Brußon das Kästchen brachte, wurde um
+Mitternacht an die Hausthüre der Scuderi gepocht. Baptiste,
+von dem nächtlichen Besuch unterrichtet, öffnete. Eiskalter
+Schauer überlief die Scuderi, als sie an den leisen Tritten,
+an dem dumpfen Gemurmel wahrnahm, daß die Wächter, die den
+Brußon gebracht, sich in den Gängen des Hauses vertheilten.
+
+Endlich ging leise die Thüre des Gemachs auf. Desgrais trat
+herein, hinter ihm Olivier Brußon, fesselfrei, in
+anständigen Kleidern. Hier ist, sprach Desgrais, sich
+ehrerbietig verneigend, hier ist Brußon, mein würdiges
+Fräulein! und verließ das Zimmer.
+
+Brußon sank vor der Scuderi nieder auf beide Knie, flehend
+erhob er die gefalteten Hände, indem häufige Thränen ihm aus
+den Augen rannen.
+
+Die Scuderi schaute erblaßt, keines Wortes mächtig, auf ihn
+herab. Selbst bei dem entstellten, ja durch Gram, durch
+grimmen Schmerz verzerrten Zügen strahlte der reine Ausdruck
+des treusten Gemüths aus dem Jünglingsantlitz. Je länger die
+Scuderi ihre Augen auf Brußons Gesicht ruhen ließ, desto
+lebhafter trat die Erinnerung an irgend eine geliebte Person
+hervor, auf die sie sich nur nicht deutlich zu besinnen
+vermochte. Alle Schauer wichen von ihr, sie vergaß, daß
+Cardillacs Mörder vor ihr knie, sie sprach mit dem
+anmuthigen Tone des ruhigen Wohlwollens, der ihr eigen: Nun
+Brußon, was habt ihr mir zu sagen? Dieser, noch immer
+kniend, seufzte auf vor tiefer, inbrünstiger Wehmuth und
+sprach dann: O mein würdiges, mein hochverehrtes Fräulein,
+ist denn jede Spur der Erinnerung an mich verflogen? Die
+Scuderi, ihn noch aufmerksamer betrachtend, erwiederte, daß
+sie allerdings in seinen Zügen die Aehnlichkeit mit einer
+von ihr geliebden Person gefunden, und daß er nur dieser
+Aehnlichkeit es verdanke, wenn sie den tiefen Abscheu vor
+dem Mörder überwinde und ihn ruhig anhöre. Brußon, schwer
+verletzt durch diese Worte, erhob sich schnell und trat, den
+finstern Blick zu Boden gesenkt, einen Schritt zurück. Dann
+sprach er mit dumpfer Stimme: Habt ihr denn Anne Guiot ganz
+vergessen? – ihr Sohn Olivier – der Knabe, den Ihr oft auf
+Euern Knien schaukeltet, ist es, der vor Euch steht. »O um
+aller Heiligen willen!« rief die Scuderi, indem sie mit
+beiden Händen das Gesicht bedeckend in die Polster
+zurücksank. Das Fräulein hatte wohl Ursache genug, sich auf
+diese Weise zu entsetzen. Anne Guiot, die Tochter eines
+verarmten Bürgers, war von klein auf bei der Scuderi, die
+sie, wie die Mutter das liebe Kind, erzog mit aller Treue
+und Sorgfalt. Als sie nun herangewachsen, fand sich ein
+hübscher sittiger Jüngling, Claude Brußon geheißen, ein, der
+um das Mädchen warb. Da er nun ein grundgeschickter
+Uhrmacher war, der sein reichliches Brod in Paris finden
+mußte, Anne ihn auch herzlich lieb gewonnen hatte, so trug
+die Scuderi gar kein Bedenken, in die Heirath ihrer
+Pflegetochter zu willigen. Die jungen Leute richteten sich
+ein, lebten in stiller, glücklicher Häuslichkeit, und was
+den Liebesbund noch fester knüpfte, war die Geburt eines
+wunderschönen Knaben, der holden Mutter treues Ebenbild.
+
+Einen Abgott machte die Scuderi aus dem kleinen Olivier, den
+sie Stunden, Tage lang der Mutter entriß, um ihn zu
+liebkosen, zu hätscheln. Daher kam es, daß der Junge sich
+ganz an sie gewöhnte, und eben so gern bei ihr war, als bei
+der Mutter. Drei Jahre waren vorüber, als der Brodneid der
+Kunstgenossen Brußons es dahin brachte, daß seine Arbeit mit
+jedem Tage abnahm, so daß er zuletzt kaum sich kümmerlich
+ernähren konnte. Dazu kam die Sehnsucht nach seinem schönen
+heimatlichen Genf, und so geschah es, daß die kleine Familie
+dorthin zog, des Widerstrebens der Scuderi, die alle nur
+mögliche Unterstützung versprach, unerachtet. Noch ein
+paarmal schrieb Anne an ihre Pflegmutter, dann schwieg sie,
+und diese mußte glauben, daß das glückliche Leben in Brußons
+Heimat das Andenken an die früher verlebten Tage nicht mehr
+aufkommen lasse.
+
+Es waren jetzt gerade drei und zwanzig Jahre her, als Brußon
+mit seinem Weibe und Kinde Paris verlassen und nach Genf
+gezogen.
+
+O entsetzlich, rief die Scuderi, als sie sich einigermaßen
+wieder erholt hatte, o entsetzlich! – Olivier bist du? – der
+Sohn meiner Anne! – Und jetzt! – »Wohl, versetzte Olivier
+ruhig und gefaßt, wohl, mein würdiges Fräulein, hättet Ihr
+nimmer mehr ahnen können, daß der Knabe, den Ihr wie die
+zärtlichste Mutter hätscheltet, dem Ihr, auf Euerm Schooß
+ihn schaukelnd, Näscherei auf Näscherei in den Mund
+stecktet, dem Ihr die süßesten Namen gabt, zum Jünglinge
+gereift dereinst vor Euch stehen würde, gräßlicher
+Blutschuld angeklagt! – Ich bin nicht vorwurfsfrei, die
+Chambre ardente kann mich mit Recht eines Verbrechens
+zeihen; aber, so wahr ich selig zu sterben hoffe, sey es
+auch durch des Henkers Hand, rein bin ich von jeder
+Blutschuld, nicht durch mich, nicht durch mein Verschulden
+fiel der unglückliche Cardillac!« – Olivier gerieth bei
+diesen Worten in ein Zittern und Schwanken. Stillschweigend
+wies die Scuderi auf einen kleinen Sessel, der Olivier zur
+Seite stand. Er ließ sich langsam nieder.
+
+Ich hatte Zeit genug, fieng er an, mich auf die Unterredung
+mit Euch, die ich als die letzte Gunst des versöhnten
+Himmels betrachte, vorzubereiten, und so viel Ruhe und
+Fassung zu gewinnen als nöthig, Euch die Geschichte meines
+entsetzlichen, unerhörten Mißgeschicks zu erzählen. Erzeigt
+mir die Barmherzigkeit, mich ruhig anzuhören, so sehr Euch
+auch die Entdeckung eines Geheimnisses, das Ihr gewiß nicht
+geahnet, überraschen, ja mit Grausen erfüllen mag. – Hätte
+mein armer Vater Paris doch niemals verlassen! – So weit
+meine Erinnerung an Genf reicht, finde ich mich wieder, von
+den trostlosen Eltern mit Thränen benetzt, von ihren Klagen,
+die ich nicht verstand, selbst zu Thränen gebracht. Später
+kam mir das deutliche Gefühl, das volle Bewußtseyn des
+drückendsten Mangels, des tiefen Elends, in dem meine Eltern
+lebten. Mein Vater fand sich in allen seinen Hoffnungen
+getäuscht. Von tiefem Gram niedergebeugt, erdrückt, starb er
+in dem Augenblick, als es ihm gelungen war, mich bei einem
+Goldschmid als Lehrjunge unterzubringen. Meine Mutter sprach
+viel von Euch, sie wollte Euch Alles klagen, aber dann
+überfiel sie die Muthlosigkeit, welche vom Elend erzeugt
+wird. Das und auch wohl falsche Scham, die oft an dem
+todtwunden Gemüthe nagt, hielt sie von ihrem Entschluß
+zurück. Wenige Monden nach dem Tod meines Vaters folgte ihm
+meine Mutter ins Grab.« Arme Anne! arme Anne! rief die
+Scuderi von Schmerz überwältigt. »Dank und Preis der ewigen
+Macht des Himmels, daß sie hinüber ist, und nicht fallen
+sieht den geliebten Sohn unter der Hand des Henkers, mit
+Schande gebranntmarkt.« So schrie Olivier laut auf, indem er
+einen wilden, entsetzlichen Blick in die Höhe warf. Es wurde
+draussen unruhig, man ging hin und her. »Ho ho, sprach
+Olivier mit einem bittern Lächeln, Desgrais weckt seine
+Spießgesellen, als ob ich hier entfliehen könnte. – Doch
+weiter! – Ich wurde von meinem Meister hart gehalten,
+unerachtet ich bald am besten arbeitete, ja wohl endlich den
+Meister weit übertraf. Es begab sich, daß einst ein Fremder
+in unsere Werkstatt kam, um einiges Geschmeide zu kaufen.
+Als der nun einen schönen Halsschmuck sah, den ich
+gearbeitet, klopfte er mir mit freundlicher Miene auf die
+Schultern, indem er, den Schmuck beäugelnd, sprach: Ei ei!
+mein junger Freund, das ist ja ganz vortreffliche Arbeit.
+Ich wüßte in der That nicht, wer Euch noch anders
+übertreffen sollte, als René Cardillac, der mir freilich der
+erste Goldschmid ist, den es auf der Welt gibt. Zu dem
+solltet Ihr hingehen; mit Freuden nimmt er Euch in seine
+Werkstatt, denn nur Ihr könnt ihm beistehen in seiner
+kunstvollen Arbeit, und nur von ihm allein könnt Ihr dagegen
+noch lernen. Die Worte des Fremden waren tief in meine Seele
+gefallen. Ich hatte keine Ruhe mehr in Genf, mich zog es
+fort mit Gewalt. Endlich gelang es mir, mich von meinem
+Meister los zu machen. Ich kam nach Paris. René Cardillac
+empfing mich kalt und barsch. Ich ließ nicht nach, er mußte
+mir Arbeit geben, so geringfügig sie auch seyn mochte. Ich
+sollte einen kleinen Ring fertigen. Als ich ihm die Arbeit
+brachte, sah er mich starr an mit seinen funkelnden Augen,
+als wollt' er hineinschauen in mein Innerstes. Dann sprach
+er: Du bist ein tüchtiger, wackerer Geselle, Du kannst zu
+mir ziehen und mir helfen in der Werkstatt. Ich zahle Dir
+gut, Du wirst mit mir zufrieden seyn. Cardillac hielt Wort.
+Schon mehrere Wochen war ich bei ihm, ohne Madelon gesehen
+zu haben, die, irr' ich nicht, auf dem Lande bei irgend
+einer Muhme Cardillacs damals sich aufhielt. Endlich kam
+sie. O du ewige Macht des Himmels, wie geschah mir, als ich
+das Engelsbild sah'! – Hat je ein Mensch so geliebt als ich!
+Und nun! – O Madelon!«
+
+Olivier konnte vor Wehmuth nicht weiter sprechen. Er hielt
+beide Hände vors Gesicht und schluchzte heftig. Endlich mit
+Gewalt den wilden Schmerz, der ihn erfaßt, niederkämpfend
+sprach er weiter.
+
+»Madelon blickte mich an mit freundlichen Augen. Sie kam
+öfter und öfter in die Werkstatt. Mit Entzücken gewahrte ich
+ihre Liebe. So streng der Vater uns bewachte, mancher
+verstohlne Händedruck galt als Zeichen des geschlossenen
+Bundes, Cardillac schien nichts zu merken. Ich gedachte,
+hätte ich erst seine Gunst gewonnen, und konnte ich die
+Meisterschaft erlangen, um Madelon zu werben. Eines Morgens,
+als ich meine Arbeit beginnen wollte, trat Cardillac vor
+mich hin, Zorn und Verachtung im finstern Blick. Ich bedarf
+Deiner Arbeit nicht mehr, fing er an, fort aus dem Hause
+noch in dieser Stunde, und laß Dich nie mehr vor meinen
+Augen sehen. Warum ich Dich hier nicht mehr dulden kann,
+brauche ich Dir nicht zu sagen. Für Dich armen Schlucker
+hängt die süße Frucht zu hoch, nach der Du trachtest! Ich
+wollte reden, er packte mich aber mit starker Faust und warf
+mich zur Thüre hinaus, daß ich niederstürzte und mich hart
+verwundete an Kopf und Arm. – Empört, zerrissen vom grimmen
+Schmerz verließ ich das Haus, und fand endlich am äussersten
+Ende der Vorstadt St. Martin einen gutmüthigen Bekannten,
+der mich aufnahm in seine Bodenkammer. Ich hatte keine Ruhe,
+keine Rast. Zur Nachtzeit umschlich ich Cardillacs Haus,
+wähnend, daß Madelon meine Seufzer, meine Klage vernehmen,
+daß es ihr vielleicht gelingen werde, mich vom Fenster herab
+unbelauscht zu sprechen. Allerlei verwogene Pläne kreuzten
+in meinem Gehirn, zu deren Ausführung ich sie zu bereden
+hoffte. An Cardillacs Haus in der Straße Nicaise schließt
+sich eine hohe Mauer mit Blenden und alten, halb
+zerstückelten Steinbildern darin. Dicht bei einem solchen
+Steinbilde stehe ich in einer Nacht und sehe hinauf nach den
+Fenstern des Hauses, die in den Hof gehen, den die Mauer
+einschließt. Da gewahre ich plötzlich Licht in Cardillacs
+Werkstatt. Es ist Mitternacht, nie war sonst Cardillac zu
+dieser Stunde wach, er pflegte sich auf den Schlag neun Uhr
+zur Ruhe zu begeben. Mir pocht das Herz vor banger Ahnung,
+ich denke an irgend ein Ereigniß, das mir vielleicht den
+Eingang bahnt. Doch gleich verschwindet das Licht wieder.
+Ich drücke mich an das Steinbild, in die Blende hinein, doch
+entsetzt pralle ich zurück, als ich einen Gegendruck fühle,
+als sey das Bild lebendig worden. In dem dämmernden Schimmer
+der Nacht gewahre ich nun, daß der Stein sich langsam dreht,
+und hinter demselben eine finstere Gestalt hervorschlüpft,
+die leisen Trittes die Straße hinabgeht. Ich springe an das
+Steinbild hinan, es steht wie zuvor dicht an der Mauer.
+Unwillkührlich, wie von einer innern Macht getrieben,
+schleiche ich hinter der Gestalt her. Gerade bei einem
+Marienbild schaut die Gestalt sich um, der volle Schein der
+hellen Lampe, die vor dem Bilde brennt, fällt ihr ins
+Antlitz. Es ist Cardillac! Eine unbegreifliche Angst, ein
+unheimliches Grauen überfällt mich. Wie durch Zauber fest
+gebannt muß ich fort – nach – dem gespenstischen
+Nachtwanderer. Dafür halte ich den Meister, unerachtet nicht
+die Zeit des Vollmonds ist, in der solcher Spuck die
+Schlafenden bethört. Endlich verschwindet Cardillac
+seitwärts in den tiefen Schatten. An einem kleinen, wiewohl
+bekannten Räuspern gewahre ich indessen, daß er in die
+Einfahrt eines Hauses getreten ist. Was bedeutet das, was
+wird er beginnen? – So frage ich mich selbst voll Erstaunen,
+und drücke mich dicht an die Häuser. Nicht lange dauerts, so
+kommt singend und trillerirend ein Mann daher mit
+leuchtendem Federbusch und klirrenden Sporen. Wie ein Tiger
+auf seinen Raub, stürzt sich Cardillac aus seinem
+Schlupfwinkel auf den Mann, der in demselben Augenblick
+röchelnd zu Boden sinkt. Mit einem Schrei des Entsetzens
+springe ich heran, Cardillac ist über den Mann, der zu Boden
+liegt, her. Meister Cardillac, was thut ihr, rufe ich laut.
+»Vermaledeiter!« brüllt Cardillac, rennt mit Blitzesschnelle
+bei mir vorbei und verschwindet. Ganz ausser mir, kaum der
+Schritte mächtig, nähere ich mich dem Niedergeworfenen. Ich
+knie bei ihm nieder, vielleicht, denk' ich, ist er noch zu
+retten, aber keine Spur des Lebens ist mehr in ihm. In
+meiner Todesangst gewahre ich kaum, daß mich die
+Marechaussee umringt hat. »Schon wieder einer von den
+Teufeln niedergestreckt – he he – junger Mensch, was machst
+du da – bist einer von der Bande? – fort mit dir!« So
+schrien sie durcheinander und packen mich an. Kaum vermag
+ich zu stammeln, daß ich solche gräßliche Unthat ja gar
+nicht hätte begehen können, und daß sie mich im Frieden
+ziehen lassen möchten. Da leuchtet mir einer ins Gesicht und
+ruft lachend: Das ist Olivier Brußon der Goldschmidsgeselle,
+der bei unserm ehrlichen, braven Meister René Cardillac
+arbeitet! – ja – der wird die Leute auf der Straße morden! –
+sieht mir recht darnach aus – ist recht nach der Art der
+Mordbuben, daß sie beim Leichnam lamentiren und sich fangen
+lassen werden. – Wie war's Junge? – erzähle dreist. »Dicht
+vor mir, sprach ich, sprang ein Mensch auf den dort los,
+stieß ihn nieder und rannte blitzschnell davon, als ich laut
+aufschrie. Ich wollt' doch sehen, ob der Niedergeworfene
+noch zu retten wäre.« Nein, mein Sohn, ruft einer von denen,
+die den Leichnam aufgehoben, der ist hin, durchs Herz, wie
+gewöhnlich, geht der Dolchstich. Teufel, spricht ein
+anderer, kamen wir doch wieder zu spät wie vorgestern; damit
+entfernen sie sich mit dem Leichnam.
+
+Wie mir zu Muthe war, kann ich gar nicht sagen; ich fühlte
+mich an, ob nicht ein böser Traum mich necke, es war mir,
+als müßt ich nun gleich erwachen und mich wundern über das
+tolle Trugbild. – Cardillac – der Vater meiner Madelon, ein
+verruchter Mörder! – Ich war kraftlos auf die steinerne
+Stufen eines Hauses gesunken. Immer mehr und mehr dämmerte
+der Morgen herauf, ein Offizierhut, reich mit Federn
+geschmückt, lag vor mir auf dem Pflaster. Cardillacs blutige
+That, auf der Stelle begangen, wo ich saß, ging vor mir hell
+auf. Entsetzt rannte ich von dannen.
+
+Ganz verwirrt, beinahe besinnungslos sitze ich in meiner
+Dachkammer, da geht die Thür auf und René Cardillac tritt
+herein. Um Christus willen! was wollt ihr? schrie ich ihm
+entgegen. Er, das gar nicht achtend, kommt auf mich zu und
+lächelt mich an mit einer Ruhe und Leutseligkeit, die meinen
+innern Abscheu vermehrt. Er rückt sich einen alten,
+gebrechlichen Schemmel heran und setzt sich zu mir, der ich
+nicht vermag, mich von dem Strohlager zu erheben, auf das
+ich mich geworfen. »Nun Olivier, fängt er an, wie geht es
+dir, armer Junge? Ich habe mich in der That garstig
+übereilt, als ich dich aus dem Hause stieß, du fehlst mir an
+allen Ecken und Enden. Eben jetzt habe ich ein Werk vor, das
+ich ohne deine Hülfe gar nicht vollenden kann. Wie wär's,
+wenn du wieder in meiner Werkstatt arbeitetest? – Du
+schweigst? – Ja ich weiß, ich habe dich beleidigt. Nicht
+verheelen wollt' ich's dir, daß ich auf dich zornig war,
+wegen der Liebelei mit meiner Madelon. Doch recht überlegt
+habe ich mir das Ding nachher, und gefunden, daß bei deiner
+Geschicklichkeit, deinem Fleiß, deiner Treue ich mir keinen
+bessern Eidam wünschen kann als eben dich. Komm also mit mir
+und siehe zu, wie du Madelon zur Frau gewinnen magst.«
+
+Cardillacs Worte durchschnitten mir das Herz, ich erbebte
+vor seiner Bosheit, ich konnte kein Wort hervorbringen. »Du
+zauderst, fuhr er nun fort mit scharfem Ton, indem seine
+funkelnden Augen mich durchbohren, du zauderst? – du kannst
+vielleicht heute noch nicht mit mir kommen, du hast andere
+Dinge vor! – du willst vielleicht Desgrais besuchen, oder
+dich gar einführen lassen bei d'Argenson oder la Regnie.
+Nimm dich in Acht, Bursche, daß die Krallen, die du
+hervorlocken willst zu anderer Leute Verderben, dich nicht
+selbst fassen und zerreissen.« Da macht sich mein tief
+empörtes Gemüth plötzlich Luft. Mögen die, rufe ich, mögen
+die, die sich gräßlicher Unthat bewußt sind, jene Namen
+fühlen, die Ihr eben nanntet, ich darf das nicht – ich habe
+nichts mit ihnen zu schaffen. »Eigentlich, spricht Cardillac
+weiter, eigentlich, Olivier, machte es dir Ehre, wenn du bei
+mir arbeitest, bei mir, dem berühmtesten Meister seiner
+Zeit, überall hochgeachtet wegen seiner Treue und
+Rechtschaffenheit, so daß jede böse Verläumdung schwer
+zurückfallen würde auf das Haupt des Verläumders. – Was nun
+Madelon betrifft, so muß ich dir nur gestehen, daß du meine
+Nachgiebigkeit ihr allein verdankest. Sie liebt dich mit
+einer Heftigkeit, die ich dem zarten Kinde gar nicht
+zutrauen konnte. Gleich als du fort warst, fiel sie mir zu
+Füßen, umschlang meine Knie und gestand unter tausend
+Thränen, daß sie ohne dich nicht leben könne. Ich dachte,
+sie bilde sich das nur ein, wie es denn bei jungen
+verliebten Dingern zu geschehen pflegt, daß sie gleich
+sterben wollen, wenn das erste Milchgesicht sie freundlich
+angeblickt. Aber in der That, meine Madelon wurde siech und
+krank, und wie ich ihr denn das tolle Zeug ausreden wollte,
+rief sie hundertmal deinen Namen. Was konnt' ich endlich
+thun, wollt' ich sie nicht verzweifeln lassen. Gestern Abend
+sagt' ich ihr, ich willige in Alles und werde dich heute
+holen. Da ist sie über Nacht aufgeblüht wie eine Rose, und
+harrt nun auf dich ganz ausser sich vor Liebessehnsucht.« –
+Mag es mir die ewige Macht des Himmels verzeihen, aber
+selbst weiß ich nicht, wie es geschah, daß ich plötzlich in
+Cardillacs Hause stand, daß Madelon laut aufjauchzend:
+Olivier – mein Olivier – mein Geliebter – mein Gatte auf
+mich gestürzt, mich mit beiden Armen umschlang, mich fest an
+ihre Brust drückte, daß ich im Uebermaaß des höchsten
+Entzückens bei der Jungfrau und allen Heiligen schwor, sie
+nimmer, nimmer zu verlassen!«
+
+Erschüttert von dem Andenken an diesen entscheidenden
+Augenblick mußte Olivier innehalten. Die Scuderi, von
+Grausen erfüllt über die Unthat eines Mannes, den sie für
+die Tugend, die Rechtschaffenheit selbst gehalten, rief:
+Entsetzlich! – René Cardillac gehört zu der Mordbande, die
+unsere gute Stadt so lange zur Räuberhöhle machte? »Was sagt
+ihr, mein Fräulein, sprach Olivier, zur Bande? Nie hat es
+eine solche Bande gegeben. Cardillac allein war es, der mit
+verruchter Thätigkeit in der ganzen Stadt seine
+Schlachtopfer suchte und fand. Daß er es allein war, darin
+liegt die Sicherheit, womit er seine Streiche führte, die
+unüberwundene Schwürigkeit, dem Mörder auf die Spur zu
+kommen. – Doch laßt mich fortfahren, der Verfolg wird Euch
+die Geheimnisse des verruchtesten und zugleich
+unglücklichsten aller Menschen aufklären. – Die Lage, in der
+ich mich nun bei dem Meister befand, jeder mag die sich
+leicht denken. Der Schritt war geschehen, ich konnte nicht
+mehr zurück. Zuweilen war es mir, als sey ich selbst
+Cardillacs Mordgehülfe geworden, nur in Madelons Liebe
+vergaß ich die innere Pein, die mich quälte, nur bei ihr
+konnt' es mir gelingen, jede äussere Spur namenlosen Grams
+weg zu tilgen. Arbeitete ich mit dem Alten in der Werkstatt,
+nicht ins Antlitz vermochte ich ihm zu schauen, kaum ein
+Wort zu reden vor dem Grausen, das mich durchbebte in der
+Nähe des entsetzlichen Menschen, der alle Tugenden des
+treuen, zärtlichen Vaters, des guten Bürgers erfüllte,
+während die Nacht seine Unthaten verschleierte. Madelon, das
+fromme, engelsreine Kind, hing an ihm mit abgöttischer
+Liebe. Das Herz durchbohrt' es mir, wenn ich daran dachte,
+daß, träfe einmal die Rache den verlarvten Bösewicht, sie
+ja, mit aller höllischen List des Satans getäuscht, der
+gräßlichsten Verzweiflung unterliegen müsse. Schon das
+verschloß mir den Mund, und hätt' ich den Tod des
+Verbrechers darum dulden müßen. Unerachtet ich aus den Reden
+der Marechaussee genug entnehmen konnte, waren mir
+Cardillacs Unthaten, ihr Motiv, die Art, sie auszuführen,
+ein Räthsel: die Aufklärung blieb nicht lange aus. Eines
+Tages war Cardillac, der sonst meinen Abscheu erregend, bei
+der Arbeit in der heitersten Laune, scherzte und lachte,
+sehr ernst in sich gekehrt. Plötzlich warf er das
+Geschmeide, woran er eben arbeitete, bei Seite, daß Stein
+und Perlen auseinander rollten, stand heftig auf und sprach:
+Olivier! – es kann zwischen uns Beiden nicht so bleiben,
+dies Verhältniß ist mir unerträglich. – Was der feinsten
+Schlauigkeit Desgrais und seiner Spießgesellen nicht gelang
+zu entdecken, das spielte dir der Zufall in die Hände. Du
+hast mich geschaut in der nächtlichen Arbeit, zu der mich
+mein böser Stern treibt, kein Widerstand ist möglich. – Auch
+dein böser Stern war es, der dich mir folgen ließ, der dich
+in undurchdringliche Schleier hüllte, der deinem Fußtritt
+die Leichtigkeit gab, daß du unhörbar wandeltest wie das
+kleinste Thier, so daß ich, der ich in der tiefsten Nacht
+klar schaue wie der Tiger, der ich Straßen weit das kleinste
+Geräusch, das Sumsen der Mücke vernehme, dich nicht
+bemerkte. Dein böser Stern hat dich, meinen Gefährten, mir
+zugeführt. An Verrath ist, so wie du jetzt stehst, nicht
+mehr zu denken. Darum magst du Alles wissen. »Nimmermehr
+werd' ich dein Gefährte seyn, heuchlerischer Bösewicht.« So
+wollt' ich aufschreien, aber das innere Entsetzen, das mich
+bei Cardillacs Worten erfaßt, schnürte mir die Kehle zu.
+Statt der Worte vermochte ich nur einen unverständigen Laut
+auszustossen. Cardillac setzte sich wieder in seinen
+Arbeitsstuhl. Er trocknete sich den Schweiß von der Stirne.
+Er schien, von der Erinnerung des Vergangenen hart berührt,
+sich mühsam zu fassen. Endlich fing er an: Weise Männer
+sprechen viel von den seltsamen Eindrücken, deren Frauen in
+guter Hoffnung fähig sind, von dem wunderbaren Einfluß solch
+lebhaften, willenlosen Eindrucks von aussen her auf das
+Kind. Von meiner Mutter erzählte man mir eine wunderliche
+Geschichte. Als die mit mir im ersten Monat schwanger ging,
+schaute sie mit andern Weibern einem glänzenden Hoffest zu,
+das in Trianon gegeben wurde. Da fiel ihr Blick auf einen
+Cavalier in spanischer Kleidung mit einer blitzenden
+Juwelenkette um den Hals, von der sie die Augen gar nicht
+mehr abwenden konnte. Ihr ganzes Wesen war Begierde nach den
+funkelnden Steinen, die ihr ein überirdisches Gut dünkten.
+Derselbe Cavalier hatte vor mehreren Jahren, als meine
+Mutter noch nicht verheirathet, ihrer Tugend nachgestellt,
+war aber mit Abscheu zurückgewiesen worden. Meine Mutter
+erkannte ihn wieder, aber jetzt war es ihr, als sey er im
+Glanz der strahlenden Diamanten ein Wesen höherer Art, der
+Inbegriff aller Schönheit. Der Cavalier bemerkte die
+sehnsuchtsvollen, feurigen Blicke meiner Mutter. Er glaubte
+jetzt glücklicher zu seyn als vormals. Er wußte sich ihr zu
+nähern, noch mehr, sie von ihren Bekannten fort an einen
+einsamen Ort zu locken. Dort schloß er sie brünstig in seine
+Arme, meine Mutter faßte nach der schönen Kette, aber in
+demselben Augenblick sank er nieder und riß meine Mutter mit
+sich zu Boden. Sey es, daß ihn der Schlag plötzlich
+getroffen, oder aus einer andern Ursache; genug, er war
+todt. Vergebens war das Mühen meiner Mutter, sich den im
+Todeskrampf erstarrten Armen des Leichnams zu entwinden. Die
+hohlen Augen, deren Sehkraft erloschen, auf sie gerichtet,
+wälzte der Todte sich mit ihr auf dem Boden. Ihr gellendes
+Hülfsgeschrei drang endlich bis zu in der Ferne
+Vorübergehenden, die herbeieilten und sie retteten aus den
+Armen des grausigen Liebhabers. Das Entsetzen warf meine
+Mutter auf ein schweres Krankenlager. Man gab sie, mich
+verloren, doch sie gesundete und die Entbindung war
+glücklicher, als man je hatte hoffen können. Aber die
+Schrecken jenes fürchterlichen Augenblicks hatten mich
+getroffen. Mein böser Stern war aufgegangen und hatte den
+Funken hinabgeschossen, der in mir eine der seltsamsten und
+verderblichsten Leidenschaften entzündet. Schon in der
+frühesten Kindheit gingen mir glänzende Diamanten, goldenes
+Geschmeide über Alles. Man hielt das für gewöhnliche
+kindische Neigung. Aber es zeigte sich anders, denn als
+Knabe stahl ich Gold und Juwelen, wo ich sie habhaft werden
+konnte. Wie der geübteste Kenner unterschied ich aus
+Instinkt unächtes Geschmeide von ächtem. Nur dieses lockte
+mich, unächtes so wie gemeinnütziges Gold ließ ich
+unbeachtet liegen. Den grausamsten Züchtigungen des Vaters
+mußte die angeborne Begierde weichen. Um nur mit Gold und
+edlen Steinen handthieren zu können, wandte ich mich zur
+Goldschmids-Profession. Ich arbeitete mit Leidenschaft und
+wurde bald der erste Meister dieser Art. Nun begann eine
+Periode, in der der angeborne Trieb, so lange
+niedergedrückt, mit Gewalt empordrang und mit Macht wuchs,
+Alles um sich her wegzehrend. So wie ich ein Geschmeide
+gefertigt und abgeliefert, fiel ich in eine Unruhe, in eine
+Trostlosigkeit, die mir Schlaf, Gesundheit – Lebensmuth
+raubte. – Wie ein Gespenst stand Tag und Nacht die Person,
+für die ich gearbeitet, mir vor Augen, geschmückt mit meinem
+Geschmeide, und eine Stimme raunte mir in die Ohren: Es ist
+ja dein – es ist ja dein – nimm es doch – was sollen die
+Diamanten dem Todten! – Da legt' ich mich endlich auf
+Diebeskünste. Ich hatte Zutritt in den Häusern der Großen,
+ich nützte schnell jede Gelegenheit, kein Schloß widerstand
+meinem Geschick und bald war der Schmuck, den ich
+gearbeitet, wieder in meinen Händen. – Aber nun vertrieb
+selbst das nicht meine Unruhe. Jene unheimliche Stimme ließ
+sich dennoch vernehmen und höhnte mich und rief: Ho ho, dein
+Geschmeide trägt ein Todter! – Selbst wußte ich nicht, wie
+es kam, daß ich einen unaussprechlichen Haß auf die warf,
+denen ich Schmuck gefertigt. Ja! im tiefsten Innern regte
+sich eine Mordlust gegen sie, vor der ich selbst erbebte. –
+In dieser Zeit kaufte ich dieses Haus. Ich war mit dem
+Besitzer Handels einig worden, hier in diesem Gemach saßen
+wir erfreut über das geschlossene Geschäft beisammen, und
+tranken eine Flasche Wein. Es war Nacht worden, ich wollte
+aufbrechen, da sprach mein Verkäufer: Hört, Meister René,
+ehe Ihr fortgeht, muß ich Euch mit einem Geheimniß dieses
+Hauses bekannt machen. Darauf schloß er jenen in die Mauer
+eingeführten Schrank auf, schob die Hinterwand fort, trat in
+ein kleines Gemach, bückte sich nieder, hob eine Fallthür'
+auf. Eine steile, schmale Treppe stiegen wir hinab, kamen an
+ein schmales Pförtchen, das er aufschloß, traten hinaus in
+den freien Hof. Nun schritt der alte Herr, mein Verkäufer,
+hinan an die Mauer, schob an einem nur wenig hervorragenden
+Eisen, und alsbald drehte sich ein Stück Mauer los, so daß
+ein Mensch bequem durch die Oeffnung schlüpfen und auf die
+Straße gelangen konnte. Du magst einmal das Kunststück
+sehen, Olivier, das wahrscheinlich schlaue Mönche des
+Klosters, welches ehemals hier lag, fertigen ließen, um
+heimlich aus- und einschlüpfen zu können. Es ist ein Stück
+Holz, nur von aussen gemörtelt und getüncht, in das von
+aussenher eine Bildsäule, auch nur von Holz, doch ganz wie
+Stein, eingefügt ist, welches sich mit sammt der Bildsäule
+auf verborgenen Angeln dreht. – Dunkle Gedanken stiegen in
+mir auf, als ich diese Einrichtung sah, es war mir, als sey
+vorgearbeitet solchen Thaten, die mir selbst noch Geheimniß
+blieben. Eben hatt' ich einem Herrn vom Hofe einen reichen
+Schmuck abgeliefert, der, ich weiß es, einer Operntänzerin
+bestimmt war. Die Todesfolter blieb nicht aus – das Gespenst
+hing sich an meine Schritte – der lispelnde Satan an mein
+Ohr! – Ich zog ein in das Haus. In blutigem Angstschweiß
+gebadet wälzte ich mich schlaflos auf dem Lager! Ich seh' im
+Geiste den Menschen zu der Tänzerin schleichen mit meinem
+Schmuck. Voller Wuth springe ich auf – werfe den Mantel um –
+steige herab die geheime Treppe – fort durch die Mauer nach
+der Straße Nicaise. – Er kommt, ich falle über ihn her, er
+schreit auf, doch von hinten festgepackt stoße ich ihm den
+Dolch ins Herz – der Schmuck ist mein! – Dies gethan fühlte
+ich eine Ruhe, eine Zufriedenheit in meiner Seele, wie sonst
+niemals. Das Gespenst war verschwunden, die Stimme des
+Satans schwieg. Nun wußte ich, was mein böser Stern wollte,
+ich mußt' ihm nachgeben oder untergehen! – Du begreifst
+jetzt mein ganzes Thun und Treiben, Olivier! – Glaube nicht,
+daß ich darum, weil ich thun muß, was ich nicht lassen kann,
+jenem Gefühl des Mitleids, des Erbarmes, was in der Natur
+des Menschen bedingt seyn soll, rein entsagt habe. Du weißt,
+wie schwer es mir wird, einen Schmuck abzuliefern; wie ich
+für manche, deren Tod ich nicht will, gar nicht arbeite, ja
+wie ich sogar, weiß ich, daß am morgenden Tage Blut mein
+Gespenst verbannen wird, heute es bei einem tüchtigen
+Faustschlage bewenden lasse, der den Besitzer meines
+Kleinods zu Boden streckt, und mir dieses in die Hand
+liefert. –« Dies alles gesprochen, führte mich Cardillac in
+das geheime Gewölbe und gönnte mir den Anblick seines
+Juwelen-Kabinets. Der König besitzt es nicht reicher. Bei
+jedem Schmuck war auf einem kleinen, daran gehängten Zettel
+genau bemerkt, für wen es gearbeitet, wann es durch
+Diebstahl, Raub oder Mord genommen worden. »An deinem
+Hochzeitstage, sprach Cardillac dumpf und feierlich, an
+deinem Hochzeitstage, Olivier, wirst du mir, die Hand gelegt
+auf des gekreuzigten Christus Bild, einen heiligen Eid
+schwören, so wie ich gestorben, alle diese Reichthümer in
+Staub zu vernichten durch Mittel, die ich dir dann bekannt
+machen werde. Ich will nicht, daß irgend ein menschlich
+Wesen, und am wenigsten Madelon und Du, in dem Besitz des
+mit Blut erkauften Horts komme.« Gefangen in diesem
+Labyrinth des Verbrechens, zerrissen von Liebe und Abscheu,
+von Wonne und Entsetzen, war ich dem Verdammten zu
+vergleichen, dem ein holder Engel mild lächelnd hinaufwinkt,
+aber mit glühenden Krallen festgepackt hält ihn der Satan,
+und des frommen Engels Liebeslächeln, in dem sich alle
+Seligkeit des hohen Himmels abspiegelt, wird ihm zur
+grimmigsten seiner Qualen. – Ich dachte an Flucht – ja an
+Selbstmord – aber Madelon! – Tadelt mich, tadelt mich, mein
+würdiges Fräulein, daß ich zu schwach war, mit Gewalt eine
+Leidenschaft niederzukämpfen, die mich an das Verbrechen
+fesselte; aber büße ich nicht dafür mit schmachvollem Tode?
+– Eines Tages kam Cardillac nach Hause ungewöhnlich heiter.
+Er liebkoste Madelon, warf mir die freundlichsten Blicke zu,
+trank bei Tische eine Flasche edlen Weins, wie er es nur an
+hohen Fest- und Feiertagen zu thun pflegte, sang und
+jubilirte. Madelon hatte uns verlassen, ich wollte in die
+Werkstatt: »Bleib sitzen, Junge, rief Cardillac, heut' keine
+Arbeit mehr, laß uns noch eins trinken auf das Wohl der
+allerwürdigsten, vortrefflichsten Dame in Paris.« Nachdem
+ich mit ihm angestoßen und er ein volles Glas geleert hatte,
+sprach er: Sag' an, Olivier! wie gefallen dir die Verse:
+
+ | Un amant qui craint les voleurs
+ | n'est point digne d'amour !
+
+Er erzählte nun, was sich in den Gemächern der Maintenon mit
+Euch und dem Könige begeben und fügte hinzu, daß er Euch von
+jeher verehrt habe, wie sonst kein menschliches Wesen, und
+daß Ihr, mit solch hoher Tugend begabt, vor der der böse
+Stern kraftlos erbleiche, selbst den schönsten von ihm
+gefertigten Schmuck tragend, niemals ein böses Gespenst,
+Mordgedanken in ihm erregen würdet. »Höre, Olivier, sprach
+er, wozu ich entschlossen. Vor langer Zeit sollt' ich
+Halsschmuck und Armbänder fertigen für Henriette von England
+und selbst die Steine dazu liefern. Die Arbeit gelang mir
+wie keine andere, aber es zerriß mir die Brust, wenn ich
+daran dachte, mich von dem Schmuck, der mein Herzenskleinod
+geworden, trennen zu müssen. Du weißt der Prinzessin
+unglücklichen Tod durch Meuchelmord. Ich behielt den Schmuck
+und will ihn nun als ein Zeichen meiner Ehrfurcht, meiner
+Dankbarkeit dem Fräulein von Scuderi senden im Namen der
+verfolgten Bande. – Ausserdem, daß die Scuderi das
+sprechende Zeichen ihres Triumphs erhält, verhöhne ich auch
+Desgrais und seine Gesellen, wie sie es verdienen. – Du
+sollst ihr den Schmuck hintragen.« So wie Cardillac Euern
+Namen nannte, Fräulein, war es, als würden schwarze Schleier
+weggezogen, und das schöne, lichte Bild meiner glücklichen
+frühen Kinderzeit ginge wieder auf in bunten, glänzenden
+Farben. Es kam ein wunderbarer Trost in meine Seele, ein
+Hoffnungsstrahl, vor dem die finstern Geister schwanden.
+Cardillac mochte den Eindruck, den seine Worte auf mich
+gemacht, wahrnehmen und nach seiner Art deuten. »Dir
+scheint, sprach er, mein Vorhaben zu behagen. Gestehen kann
+ich wohl, daß eine tief' innere Stimme, sehr verschieden von
+der, welche Blutopfer verlangt wie ein gefräßiges Raubthier,
+mir befohlen hat, daß ich solches thue. – Manchmal wird mir
+wunderlich im Gemüthe – eine innere Angst, die Furcht vor
+irgend etwas Entsetzlichem, dessen Schauer aus einem fernen
+Jenseits herüber wehen in die Zeit, ergreift mich gewaltsam.
+Es ist mir dann sogar, als ob das, was der böse Stern
+begonnen durch mich, meiner unsterblichen Seele, die daran
+keinen Theil hat, zugerechnet werden könne. In solcher
+Stimmung beschloß ich, für die heilige Jungfrau in der
+Kirche St. Eustache eine schöne Diamanten-Krone zu fertigen.
+Aber jene unbegreifliche Angst überfiel mich stärker, so oft
+ich die Arbeit beginnen wollte, da unterließ ich's ganz.
+Jetzt ist es mir, als wenn ich der Tugend und Frömmigkeit
+selbst demuthsvoll ein Opfer bringe und wirksame Fürsprache
+erflehe, indem ich der Scuderi den schönsten Schmuck sende,
+den ich jemals gearbeitet. –« Cardillac, mit Eurer ganzen
+Lebensweise, mein Fräulein, auf das genaueste bekannt, gab
+mir nun Art und Weise so wie die Stunde an, wie und wann ich
+den Schmuck, den er in ein sauberes Kästchen schloß,
+abliefern solle. Mein ganzes Wesen war Entzücken, denn der
+Himmel selbst zeigte mir durch den frevelichen Cardillac den
+Weg, mich zu retten aus der Hölle, in der ich, ein
+verstoßener Sünder, schmachte. So dacht' ich. Ganz gegen
+Cardillacs Willen wollt' ich bis zu Euch dringen. Als Anne
+Brußons Sohn, als Euer Pflegling gedacht ich, mich Euch zu
+Füßen zu werfen und Euch Alles – Alles zu entdecken. Ihr
+hättet, gerührt von dem namenlosen Elend, das der armen,
+unschuldigen Madelon drohte bei der Entdeckung, das
+Geheimniß beachtet, aber Euer hoher, scharfsinniger Geist
+fand gewiß sichre Mittel, ohne jener Entdeckung der
+verruchten Bosheit Cardillacs zu steuern. Fragt mich nicht,
+worin diese Mittel hätten bestehen sollen, ich weiß es nicht
+– aber daß Ihr Madelon und mich retten würdet, davon lag die
+Ueberzeugung fest in meiner Seele, wie der Glaube an die
+trostreiche Hülfe der heiligen Jungfrau. - Ihr wißt,
+Fräulein, daß meine Absicht in jener Nacht fehlschlug. Ich
+verlor nicht die Hoffnung, ein andermal glücklicher zu seyn.
+Da geschah es, daß Cardillac plötzlich alle Munterkeit
+verlor. Er schlich trübe umher, starrte vor sich hin,
+murmelte unverständliche Worte, focht mit den Händen,
+Feindliches von sich abwehrend, sein Geist schien gequält
+von bösen Gedanken. So hatte er es einen ganzen Morgen
+getrieben. Endlich setzte er sich an den Werktisch, sprang
+unmuthig wieder auf, schaute durch's Fenster, sprach ernst
+und düster: Ich wollte doch, Henriette von England hätte
+meinen Schmuck getragen! – Die Worte erfüllten mich mit
+Entsetzen. Nun wußt ich, daß sein irrer Geist wieder erfaßt
+war von dem abscheulichen Mordgespenst, daß des Satans
+Stimme wieder laut worden vor seinen Ohren. Ich sah Euer
+Leben bedroht von dem verruchten Mordteufel. Hatte Cardillac
+nur seinen Schmuck wieder in Händen, so war't Ihr gerettet.
+Mit jedem Augenblick wuchs die Gefahr. Da begegnete ich Euch
+auf dem Pontneuf, drängte mich an Eure Kutsche, warf Euch
+jenen Zettel zu, der Euch beschwor, doch nur gleich den
+erhaltenen Schmuck in Cardillacs Hände zu bringen. Ihr kommt
+nicht. Meine Angst stieg bis zur Verzweiflung, als andern
+Tages Cardillac von nichts anderm sprach, als von dem
+köstlichen Schmuck, der ihm in der Nacht vor Augen gekommen.
+Ich konnte das nur auf Euern Schmuck deuten, und es wurde
+mir gewiß, daß er über irgend einen Mordanschlag brüte, den
+er gewiß schon in der Nacht auszuführen sich vorgenommen.
+Euch retten mußt' ich, und soll' es Cardillacs Leben kosten.
+So wie Cardillac nach dem Abendgebet sich wie gewöhnlich
+eingeschlossen, stieg ich durch ein Fenster in den Hof,
+schlüpfte durch die Oeffnung in der Mauer und stellte mich
+unfern in den tiefen Schatten. Nicht lange dauerte es, so
+kam Cardillac heraus und schlich leise durch die Straße
+fort. Ich hinter ihm her. Es ging nach der Straße St.
+Honorée, mir bebte das Herz. Cardillac war mit einemmal mir
+entschwunden. Ich beschloß, mich an Euere Hausthüre zu
+stellen. Da kommt singend und trillernd, wie damals, als der
+Zufall mich zum Zuschauer von Cardillacs Mordthat machte,
+ein Offizier bei mir vorüber, ohne mich zu gewahren. Aber in
+demselben Augenblick springt eine schwarze Gestalt hervor
+und fällt über ihn her. Es ist Cardillac. Diesen Mord will
+ich hindern, mit einem lauten Schrei bin ich in zwei – drei
+Sätzen zur Stelle – Nicht der Offizier – Cardillac sinkt zum
+Tode getroffen röchelnd zu Boden. Der Offizier läßt den
+Dolch fallen, reißt den Degen aus der Scheide, stellt sich,
+wähnend ich sey des Mörders Geselle, kampffertig mir
+entgegen, eilt aber schnell davon, als er gewahrte, daß ich,
+ohne mich um ihn zu kümmern, nur den Leichnam untersuche.
+Cardillac lebte noch. Ich lud ihn, nachdem ich den Dolch,
+den der Offizier hatte fallen lassen, zu mir gesteckt, auf
+die Schultern und schleppe ihn mühsam fort nach Hause, und
+durch den geheimen Gang hinauf in die Werkstatt. – Das
+Uebrige ist Euch bekannt. Ihr seht, mein würdiges Fräulein,
+daß mein einziges Verbrechen nur darin besteht, daß ich
+Madelons Vater nicht den Gerichten verrieth und so seinen
+Unthaten ein Ende machte. Rein bin ich von jeder Blutschuld.
+– Keine Marter wird mir das Geheimniß von Cardillacs
+Unthaten abzwingen. Ich will nicht, daß der ewigen Macht,
+die der tugendhaften Tochter des Vaters gräßliche Blutschuld
+verschleierte, zum Trotz, das ganze Elend der Vergangenheit,
+ihres ganzen Seyns noch jetzt tödtend auf sie einbreche, daß
+noch jetzt die weltliche Rache den Leichnam aufwühle aus der
+Erde, die ihn deckt, daß noch jetzt der Henker die
+vermoderten Gebeine mit Schande brandmarke. – Nein! – mich
+wird die Geliebte meiner Seele beweinen als den unschuldig
+Gefallenen, die Zeit wird ihren Schmerz lindern, aber
+unüberwindlich würde der Jammer seyn über des geliebten
+Vaters entsetzliche Thaten der Hölle! –«
+
+Olivier schwieg, aber nun stürzte plötzlich ein Thränenstrom
+aus seinen Augen, er warf sich der Scuderi zu Füßen und
+flehte: »Ihr seyd von meiner Unschuld überzeugt – gewiß Ihr
+seyd es! – Habt Erbarmen mit mir, sagt, wie steht es um
+Madelon? –« Die Scuderi rief der Martiniere, und nach
+wenigen Augenblicken flog Madelon an Oliviers Hals. »Nun ist
+alles gut, da du hier bist – ich wußt' es ja, daß die
+edelmüthigste Dame dich retten würde!« So rief Madelon
+einmal über das andere, und Olivier vergaß sein Schicksal,
+alles was ihm drohte, er war frei und selig. Auf das
+rührendste klagten Beide sich, was sie um einander gelitten,
+und umarmten sich dann aufs neue und weinten vor Entzücken,
+daß sie sich wieder gefunden.
+
+Wäre die Scuderi nicht von Oliviers Unschuld schon überzeugt
+gewesen, der Glaube daran müßte ihr jetzt gekommen seyn, da
+sie die Beiden betrachtete, die in der Seligkeit des
+innigsten Liebesbündnisses die Welt vergaßen und ihr Elend
+und ihr namenloses Leiden. »Nein, rief sie, solch seliger
+Vergessenheit ist nur ein reines Herz fähig.«
+
+Die hellen Strahlen des Morgens brachen durch die Fenster.
+Desgrais klopfte leise an die Thüre des Gemachs und
+erinnerte, daß es Zeit sey, Olivier Brußon fortzuschaffen,
+da ohne Aufsehen zu erregen das später nicht geschehen
+könne. Die Liebenden mußten sich trennen. –
+
+Die dunklen Ahnungen, von denen der Scuderi Gemüth befangen
+seit Brußons erstem Eintritt in ihr Haus, hatten sich nun
+zum Leben gestaltet auf furchtbare Weise. Den Sohn ihrer
+geliebten Anne sah sie schuldlos verstrickt auf eine Art,
+daß ihn vom schmachvollen Tod zu retten kaum denkbar schien.
+Sie ehrte des Jünglings Heldensinn, der lieber schuldbeladen
+sterben, als ein Geheimniß verrathen wollte, das seiner
+Madelon den Tod bringen mußte. Im ganzen Reiche der
+Möglichkeit fand sie kein Mittel, den Aermsten dem grausamen
+Gerichtshofe zu entreissen. Und doch stand es fest in ihrer
+Seele, daß sie kein Opfer scheuen müsse, das
+himmelschreiende Unrecht abzuwenden, das man zu begehen im
+Begriffe war. – Sie quälte sich ab mit allerlei Entwürfen
+und Plänen, die bis an das Abentheuerliche streiften, und
+die sie eben so schnell verwarf als auffaßte. Immer mehr
+verschwand jeder Hoffnungsschimmer, so daß sie verzweifeln
+wollte. Aber Madelons unbedingtes, frommes kindliches
+Vertrauen, die Verklärung, mit der sie von dem Geliebten
+sprach, der nun bald, freigesprochen von jeder Schuld, sie
+als Gattin umarmen werde, richtete die Scuderi in eben dem
+Grad wieder auf, als sie davon bis tief ins Herz gerührt
+wurde.
+
+Um nun endlich etwas zu thun, schrieb die Scuderi an la
+Regnie einen langen Brief, worin sie ihm sagte, daß Olivier
+Brußon ihr auf die glaubwürdigste Weise seine völlige
+Unschuld an Cardillacs Tode dargethan habe, und daß nur der
+heldenmüthige Entschluß, ein Geheimniß in das Grab zu
+nehmen, dessen Enthüllung die Unschuld und Tugend selbst
+verderben würde, ihn zurückhalte, dem Gericht ein Geständniß
+abzulegen, das ihn von dem entsetzlichen Verdacht nicht
+allein, daß er Cardillac ermordet, sondern daß er auch zur
+Bande verruchter Mörder gehöre, befreien müße. Alles was
+glühender Eifer, was geistvolle Beredsamkeit vermag, hatte
+die Scuderi aufgeboten, la Regnie hartes Herz zu erweichen.
+Nach wenigen Stunden antwortete la Regnie, wie es ihn
+herzlich freue, wenn Olivier Brußon sich bei seiner hohen,
+würdigen Gönnerin gänzlich gerechtfertigt habe. Was Oliviers
+heldenmüthigen Entschluß betreffe, ein Geheimniß, das sich
+auf die That beziehe, mit ins Grab nehmen zu wollen, so thue
+es ihm leid, daß die Chambre ardente dergleichen Heldenmuth
+nicht ehren könne, denselben vielmehr durch die kräftigsten
+Mittel zu brechen suchen müsse. Nach drei Tagen hoffte er in
+dem Besitz des seltsamen Geheimnisses zu seyn, das
+wahrscheinlich geschehene Wunder an den Tag bringen werde.
+
+Nur zu gut wußte die Scuderi, was der fürchterliche la
+Regnie mit jenen Mitteln, die Brußons Heldenmuth brechen
+sollen, meinte. Nun war es gewiß, daß die Tortur über den
+Unglücklichen verhängt war. In der Todesangst fiel der
+Scuderi endlich ein, daß, um nur Aufschub zu erlangen, der
+Rath eines Rechtsverständigen dienlich seyn könne. Pierre
+Arnaud d'Andilly war damals der berühmteste Advokat in
+Paris. Seiner tiefen Wissenschaft, seinem umfassenden
+Verstande war seine Rechtschaffenheit, seine Tugend gleich.
+Zu dem begab sich die Scuderi und sagte ihm Alles, so weit
+es möglich war, ohne Brußons Geheimniß zu verletzen. Sie
+glaubte, daß d'Andilly mit Eifer sich des Unschuldigen
+annehmen werde, ihre Hoffnung wurde aber auf das bitterste
+getäuscht. D'Andilly hatte ruhig alles angehört und
+erwiederte dann lächelnd mit Boileaus Worten: *Le vrai peut
+quelque fois n'etre pas vraisemblable.* – Er bewies der
+Scuderi, daß die auffallendsten Verdachtsgründe wider Brußon
+sprächen, daß la Regnies Verfahren keineswegs grausam und
+übereilt zu nennen, vielmehr ganz gesetzlich sey, ja daß er
+nicht anders handeln könne, ohne die Pflichten des Richters
+zu verletzen. Er, d'Andilly, selbst getraue sich nicht durch
+die geschickteste Vertheidigung Brußon von der Tortur zu
+retten. Nur Brußon selbst könne das entweder durch
+aufrichtiges Geständniß oder wenigstens durch die genaueste
+Erzählung der Umstände bei dem Morde Cardillacs, die dann
+vielleicht erst zu neuen Ausmittlungen Anlaß geben würden.
+»So werfe ich mich dem Könige zu Füßen, und flehe um Gnade,«
+sprach die Scuderi ganz ausser sich mit von Thränen halb
+erstickter Stimme. »Thut das, rief d'Andilly, thut das um
+des Himmels willen nicht, mein Fräulein! – Spart Euch dieses
+letzte Hülfsmittel auf, das, schlug es einmal fehl, Euch für
+immer verloren ist. Der König wird nimmer einen Verbrecher
+der Art begnadigen, der bitterste Vorwurf des gefährdeten
+Volks würde ihn treffen. Möglich ist es, daß Brußon durch
+Entdeckung seines Geheimnisses oder sonst Mittel findet, den
+wider ihn streitenden Verdacht aufzuheben. Dann ist es Zeit,
+des Königs Gnade zu erflehen, der nicht darnach fragen, was
+vor Gericht bewiesen ist, oder nicht, sondern seine innere
+Ueberzeugung zu Rathe ziehen wird. – Die Scuderi mußte dem
+tief erfahrnen d'Andilly nothgedrungen beipflichten. – In
+tiefen Kummer versenkt, sinnend und sinnend, was um der
+Jungfrau und aller Heiligen willen sie nun anfangen solle,
+um den unglücklichen Brußon zu retten, saß sie am späten
+Abend in ihrem Gemach, als die Martiniere eintrat und den
+Grafen von Miossens, Obristen von der Garde des Königs,
+meldete, der dringend wünsche, das Fräulein zu sprechen.
+
+»Verzeiht, sprach Miossens, indem er sich mit soldatischem
+Anstande verbeugte, verzeiht, mein Fräulein, wenn ich Euch
+so spät, so zu ungelegener Zeit überlaste. Wir Soldaten
+machen es nicht anders, und zu dem bin ich mit zwei Worten
+entschuldigt. – Olivier Brußon führt mich zu Euch.« Die
+Scuderi, hochgespannt, was sie jetzt wieder erfahren werde,
+rief laut: Olivier Brußon? der Unglücklichste aller
+Menschen? – was habt ihr mit dem? – Dacht' ich's doch,
+sprach Miossens lächelnd weiter, daß Eures Schützlings Namen
+hinreichen würde, mir bei Euch ein geneigtes Ohr zu
+verschaffen. Die ganze Welt ist von Brußons Schuld
+überzeugt. Ich weiß, daß Ihr eine andere Meinung hegt, die
+sich freilich nur auf die Betheurungen des Angeklagten
+stützen soll, wie man gesagt hat. Mit mir ist es anders.
+Niemand als ich kann besser überzeugt seyn von Brußons
+Unschuld an dem Tode Cardillacs. »Redet, o redet, rief die
+Scuderi, indem ihr die Augen glänzten vor Entzücken. »Ich,
+sprach Miossens mit Nachdruck, ich war es selbst, der den
+alten Goldschmid niederstiß in der Straße St. Honorée unfern
+Eurem Hause.« Um aller Heiligen willen, Ihr – Ihr! rief die
+Scuderi. »Und, fuhr Miossens fort, und ich schwöre es Euch,
+mein Fräulein, daß ich stolz bin auf meine That. Wisset, daß
+Cardillac der verruchteste, heuchlerischte Bösewicht, daß er
+es war, der in der Nacht heimtückisch mordete und raubte,
+und so lange allen Schlingen entging. Ich weiß selbst nicht,
+wie es kam, daß ein innerer Verdacht sich in mir gegen den
+alten Bösewicht regte, als er voll sichtlicher Unruhe den
+Schmuck brachte, den ich bestellt, als er sich genau
+erkundigte, für wen ich den Schmuck bestimmt, und als er auf
+recht listige Art meinen Kammerdiener ausgefragt hatte, wenn
+ich eine gewisse Dame zu besuchen pflege. – Längst war es
+mir aufgefallen, daß die unglücklichen Schlachtopfer der
+abscheulichsten Raubgier alle dieselbe Todeswunde trugen. Es
+war mir gewiß, daß der Mörder auf den Stoß, der
+augenblicklich tödten mußte, eingeübt war und darauf
+rechnete. Schlug der fehl, so galt es den gleichen Kampf.
+
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+
+Dies ließ mich eine Vorsichtsmaßregel brauchen, die so
+einfach ist, daß ich nicht begreife, wie andere nicht längst
+darauf fielen und sich retteten von dem bedrohlichen
+Mordwesen. Ich trug einen leichten Brustharnisch unter der
+Weste. Cardillac fiel mich von hinten an. Er umfaßte mich
+mit Riesenkraft, aber der sicher geführte Stoß glitt ab an
+dem Eisen. In demselben Augenblick entwandt ich mich ihm und
+stieß ihm den Dolch, den ich in Bereitschaft hatte, in die
+Brust.« »Und Ihr schweigt, fragte die Scuderi, Ihr zeigtet
+den Gerichten nicht an, was geschehen?« »Erlaubt, sprach
+Miossens weiter, erlaubt, mein Fräulein, zu bemerken, daß
+eine solche Anzeige mich, wo nicht gerade zu ins Verderben,
+doch in den abscheulichsten Prozeß verwickeln konnte. Hätte
+la Regnie, überall Verbrechen witternd, mir's denn geradehin
+geglaubt, wenn ich den rechtschaffenen Cardillac, das Muster
+aller Frömmigkeit und Tugend, des versuchten Mordes
+angeklagt? Wie wenn das Schwert der Gerechtigkeit seine
+Spitze wider mich selbst gewandt?« »Das war nicht möglich,
+rief die Scuderi, Eure Geburt – Euer Stand –« »O, fuhr
+Miossens fort, denkt doch an den Marschall von Luxemburg,
+den der Einfall, sich von le Sage das Horoskop stellen zu
+lassen, in den Verdacht des Giftmordes und in die Bastille
+brachte. Nein, beim St Dionys, nicht eine Stunde Freiheit,
+nicht meinen Ohrzipfel geb ich Preis dem rasenden la Regnie,
+der sein Messer gern an unsere alten Kehlen setzte.« »Aber
+so bringt Ihr ja den unschuldigen Brußon auf's Schaffott?«
+fiel ihm die Scuderi ins Wort. »Unschuldig, erwiederte
+Miossens, unschuldig, mein Fräulein, nennt Ihr des
+verruchten Cardillacs Spießgesellen? – der ihm beistand in
+seinen Thaten? der den Tod hundertmal verdient hat? – Nein
+in der That, der blutet mit Recht, und daß ich Euch, mein
+hochverehrtes Fräulein, den wahren Zusammenhang der Sache
+entdeckte, geschah in der Voraussetzung, daß Ihr, ohne mich
+in die Hände der Chambre ardente zu liefern, doch mein
+Geheimniß auf irgend eine Weise für Euren Schützling zu
+nützen verstehen würdet.«
+
+Die Scuderi, im Innersten entzückt, ihre Ueberzeugung von
+Brußons Unschuld auf solch entscheidende Weise bestättigt zu
+sehen, nahm gar keinen Anstand, dem Grafen, der Cardillacs
+Verbrechen ja schon kannte, alles zu entdecken und ihn
+aufzufordern, sich mit ihr zu d'Andilly zu begeben. Dem
+sollte unter dem Siegel der Verschwiegenheit Alles entdeckt
+werden, der solle dann Rath ertheilen, was nun zu beginnen.
+
+D'Andilly, nachdem die Scuderi ihm Alles auf das genaueste
+erzählt hatte, erkundigte sich nochmals nach den
+geringfügigsten Umständen. Insbesondere fragte er den Grafen
+Miossens, ob er auch die feste Ueberzeugung habe, daß er von
+Cardillac angefallen, und ob er Olivier Brußon als
+denjenigen würde wieder erkennen können, der den Leichnam
+fortgetragen. Ausserdem, erwiederte Miossens, daß ich in der
+mondhellen Nacht den Goldschmid recht gut erkannte, habe ich
+auch bei la Regnie selbst den Dolch gesehen, mit dem
+Cardillac niedergestoßen wurde. Es ist der meinige,
+ausgezeichnet durch die zierliche Arbeit des Griff's. Nur
+einen Schritt von ihm stehend gewahrte ich alle Züge des
+Jünglings, dem der Hut vom Kopf gefallen, und würde ihn
+allerdings wieder erkennen können.«
+
+D'Andilly sah schweigend einige Augenblicke vor sich nieder,
+dann sprach er: »Auf gewöhnlichem Wege ist Brußon aus den
+Händen der Justiz nun ganz und gar nicht zu retten. Er will
+Madelons halber Cardillac nicht als Mordräuber nennen. Das
+mag er thun, denn selbst, wenn es ihm gelingen müßte, durch
+Entdeckung des heimlichen Ausgangs, des zusammengeraubten
+Schatzes dies nachzuweisen, würde ihn doch als
+Mitverbundenen der Tod treffen. Dasselbe Verhältniß bleibt
+stehen, wenn der Graf Miossens die Begebenheit mit dem
+Goldschmid, wie sie wirklich sich zutrug, den Richtern
+entdecken sollte. Aufschub ist das Einzige, wornach
+getrachtet werden muß. Graf Miossens begiebt sich nach der
+Conciergerie, läßt sich Olivier Brußon vorstellen und
+erkennt ihn für den, der den Leichnam Cardillacs
+fortschaffte. Er eilt zu la Regnie und sagt: In der Straße
+St. Honorée sah ich einen Menschen niederstoßen, ich stand
+dicht neben dem Leichnam, als ein Anderer hinzusprang, sich
+zum Leichnam niederbückte, ihn, da er noch Leben spürte, auf
+die Schultern lud und forttrug. In Olivier Brußon habe ich
+diesen Menschen erkannt. Diese Aussage veranlaßt Brußons
+nochmalige Vernehmung, Zusammenstellung mit dem Grafen
+Miossens. Genug, die Tortur unterbleibt und man forscht
+weiter nach. Dann ist es Zeit, sich an den König selbst zu
+wenden. Euerm Scharfsinn, mein Fräulein! bleibt es
+überlassen, dies auf die geschickteste Weise zu thun. Nach
+meinem Dafürhalten würd' es gut seyn, dem Könige das ganze
+Geheimniß zu entdecken. Durch diese Aussage des Grafen
+Miossens werden Brußons Geständnisse unterstützt. Dasselbe
+geschieht vielleicht durch geheime Nachforschung in
+Cardillacs Hause. Keinen Rathsspruch, aber des Königs
+Entscheidung, auf inneres Gefühl, das da, wo der Richter
+strafen muß, Gnade ausspricht, gestützt, kann das alles
+begründen. –« Graf Miossens befolgte genau, was d'Andilly
+gerathen, und es geschah wirklich, was dieser vorhergesehen.
+
+Nun kam es darauf an, den König anzugehen, und dies war der
+schwürigste Punkt, da er gegen Brußon, den er allein für den
+entsetzlichen Raubmörder hielt, welcher so lange Zeit
+hindurch ganz Paris in Angst und Schrecken gesetzt hatte,
+solchen Abscheu hegte, daß er, nur leise erinnert an den
+berüchtigten Prozeß, in den heftigsten Zorn gerieth. Die
+Maintenon, ihrem Grundsatz, dem Könige nie von unangenehmen
+Dingen zu reden, getreu, verwarf jede Vermittlung, und so
+war Brußons Schicksal ganz in die Hand der Scuderi gelegt.
+Nach langem Sinnen faßte sie einen Entschluß eben so schnell
+als sie ihn ausführte. Sie kleidete sich in eine schwarze
+Farbe von schwerem Seidenzeug, schmückte sich mit Cardillacs
+köstlichem Geschmeide, hing einen langen, schwarzen Schleier
+über, und erschien so in den Gemächern der Maintenon zur
+Stunde, da eben der König zugegen. Die edle Gestalt des
+ehrwürdigen Fräuleins in diesem feierlichen Anzuge hatte
+eine Majestät, die tiefe Ehrfurcht erwecken mußte selbst bei
+dem losen Volk, das gewohnt ist, in den Vorzimmern sein
+leichtsinnig nichts beachtendes Wesen zu treiben. Alles wich
+scheu zur Seite, und als sie nun eintrat, stand selbst der
+König ganz verwundert auf und kam ihr entgegen. Da blitzten
+ihm die köstlichen Diamanten des Halsbands, der Armbänder
+ins Auge und er rief: Beim Himmel, das ist Cardillacs
+Geschmeide! Und dann sich zur Maintenon wendend fügte er mit
+anmuthigem Lächeln hinzu: Seht Frau Marquise, wie unsere
+schöne Braut um ihren Bräutigam trauert. »Ei gnädiger Herr,
+fiel die Scuderi wie den Scherz fortsetzend ein, wie würd'
+es ziemen einer Schmerz erfüllten Braut, sich so glanzvoll
+zu schmücken? Nein, ich habe mich ganz losgesagt von diesem
+Goldschmid, und dächte nicht mehr an ihn, träte mir nicht
+manchmal das abscheuliche Bild, wie er ermordet dicht bei
+mir vorübergetragen wurde, vor Augen. Wie, fragte der König,
+wie! Ihr habt ihn gesehen, den armen Teufel? Die Scuderi
+erzählte nun mit kurzen Worten, wie sie der Zufall (noch
+erwähnte sie nicht der Einmischung Brußons) vor Cardillacs
+Haus gebracht, als eben der Mord entdeckt worden. Sie
+schilderte Madelons wilden Schmerz, den tiefen Eindruck, den
+das Himmelskind auf sie gemacht, die Art, wie sie die Arme
+unter Zujauchzen des Volks aus Desgrais Händen gerettet. Mit
+immer steigendem und steigendem Interesse begannen nun die
+Szenen mit la Regnie – mit Desgrais – mit Olivier Brußon
+selbst. Der König, hingerissen von der Gewalt des
+lebendigsten Lebens, das in der Scuderi Rede glühte,
+gewahrte nicht, daß von dem gehäßigen Prozeß des ihm
+abscheulichen Brußons die Rede war, vermochte nicht ein Wort
+hervorzubringen, konnte nur dann und wann mit einem Ausruf
+Luft machen der innern Bewegung. Ehe er sichs versah, ganz
+ausser sich über das Unerhörte, was er erfahren und noch
+nicht vermögend alles zu ordnen, lag die Scuderi schon zu
+seinen Füßen und flehte um Gnade für Olivier Brußon. »Was
+thut Ihr, brach der König los, indem er sie bei beiden
+Händen faßte und in den Sessel nöthigte, was thut Ihr, mein
+Fräulein! – Ihr überrascht mich auf seltsame Weise! – Das
+ist ja eine entsetzliche Geschichte! – Wer bürgt für die
+Wahrheit der abentheuerlichen Erzählung Brußons?« Darauf die
+Scuderi: Miossens Aussage – die Untersuchung in Cardillacs
+Hause – innere Ueberzeugung – ach! Madelons tugendhaftes
+Herz, das gleiche Tugend in dem unglücklichen Brußon
+erkannte! – Der König, im Begriff, etwas zu erwiedern,
+wandte sich auf ein Geräusch um, das an der Thüre entstand.
+Louvois, der eben im andern Gemach arbeitete, sah hinein mit
+besorglicher Miene. Der König stand auf und verließ Louvois
+folgend das Zimmer. Beide, die Scuderi, die Maintenon
+hielten diese Unterbrechung für gefährlich, denn einmal
+überrascht, mochte der König sich hüten, in die gestellte
+Falle zum zweitenmal zu gehen. Doch nach einigen Minuten
+trat der König wieder hinein, schritt rasch ein paarmal im
+Zimmer auf und ab, stellte sich dann, die Hände über den
+Rücken geschlagen, dicht vor der Scuderi hin und sprach,
+ohne sie anzublicken, halb leise: Wohl möcht' ich Eure
+Madelon sehen! – Darauf die Scuderi: O mein gnädiger Herr,
+welches hohen – hohen Glücks würdigt Ihr das arme,
+unglückliche Kind – ach, nur Eures Winks bedürft es ja, die
+Kleine zu Euren Füßen zu sehen. Und trippelte dann, so
+schnell sie es in den schweren Kleidern vermochte, nach der
+Thür und rief hinaus, der König wolle Madelon Cardillac vor
+sich lassen, und kam zurück und weinte und schluchzte vor
+Entzücken und Rührung. Die Scuderi hatte solche Gunst
+geahnet, und daher Madelon mitgenommen, die bei der Marquise
+Kammerfrau wartete mit einer kurzen Bittschrift in den
+Händen, die ihr d'Andilly aufgesetzt. In wenig Augenblicken
+lag sie sprachlos dem Könige zu Füßen. Angst – Bestürzung –
+scheue Ehrfurcht – Liebe und Schmerz – trieben der Armen
+rascher und rascher das siedende Blut durch alle Adern. Ihre
+Wangen glühten in hohem Purpur – die Augen glänzten von
+hellen Thränenperlen, die dann und wann hinabfielen durch
+die seidenen Wimpern auf den schönen Lilienbusen. Der König
+schien betroffen über die wunderbare Schönheit des
+Engelskinds. Er hob das Mädchen sanft auf, dann machte er
+eine Bewegung, als wolle er ihre Hand, die er gefaßt,
+küssen. Er ließ sie wieder und schaute das holde Kind an mit
+thränenfeuchtem Blick, der von der tiefsten innern Rührung
+zeugte. Leise lispelte die Maintenon der Scuderi zu: Sieht
+sie nicht der la Valliere ähnlich auf ein Haar, das kleine
+Ding? – Der König schwelgt in den süßesten Erinnerungen.
+Euer Spiel ist gewonnen. – So leise dies auch die Maintenon
+sprach, doch schien es der König vernommen zu haben. Eine
+Röthe überflog sein Gesicht, sein Blick streifte bei der
+Maintenon vorüber, er las die Supplik, die Madelon ihm
+überreicht, und sprach dann mild und gütig: Ich will's wohl
+glauben, daß du, mein liebes Kind, von deines Geliebten
+Unschuld überzeugt bist, aber hören wir, was die Chambre
+ardente dazu sagt! – Eine sanfte Bewegung mit der Hand
+verabschiedete die Kleine, die in Thränen verschwimmen
+wollte. – Die Scuderi gewahrte zu ihrem Schreck, daß die
+Erinnerung an die Valliere, so ersprießlich sie anfangs
+geschienen, des Königs Sinn geändert hatte, so wie die
+Maintenon den Namen genannt. Mocht' es seyn, daß der König
+sich auf unzarte Weise daran erinnert fühlte, daß er im
+Begriff stehe, das strenge Recht der Schönheit aufzuopfern,
+oder vielleicht ging es dem Könige wie dem Träumer, dem,
+hart angerufen, die schönen Zauberbilder, die er zu umfassen
+gedachte, schnell verschwinden. Vielleicht sah er nun nicht
+mehr seine Valliere vor sich, sondern dachte nur an die
+Soeur Louise de la misericorde (der Valliere Klostername bei
+den Carmeliternonnen), die ihn peinigte mit ihrer
+Frömmigkeit und Buße. – Was war jetzt anders zu thun, als
+des Königs Beschlüsse ruhig abzuwarten.
+
+Des Grafen Miossens Aussage vor der Chambre ardente war
+indessen bekannt geworden, und wie es zu geschehen pflegt,
+daß das Volk leicht getrieben wird von einem Extrem zum
+andern, so wurde derselbe, den man erst als den
+verruchtesten Mörder verfluchte und den man zu zerreissen
+drohte, noch ehe er die Blutbühne bestiegen, als
+unschuldiges Opfer einer barbarischen Justiz beklagt. Nun
+erst erinnerten sich die Nachbarsleute seines tugendhaften
+Wandels, der großen Liebe zu Madelon, der Treue, der
+Ergebenheit mit Leib und Seele, die er zu dem alten
+Goldschmidt gehegt. – Ganze Züge des Volks erschienen oft
+auf bedrohliche Weise vor la Regnies Pallast und schrien:
+Gieb uns Olivier Brußon heraus, er ist unschuldig, und
+warfen wohl gar Steine nach den Fenstern, so daß la Regnie
+genöthigt war, bei der Marechaussee Schutz zu suchen vor dem
+erzürnten Pöbel.
+
+Mehrere Tage vergingen, ohne daß der Scuderi von Olivier
+Brußons Prozeß nur das mindeste bekannt wurde. Ganz trostlos
+begab sie sich zur Maintenon, die aber versicherte, daß der
+König über die Sache schweige, und es gar nicht gerathen
+scheine, ihn daran zu erinnern. Fragte sie nun noch mit
+sonderbarem Lächeln, was denn die kleine Valliere mache? so
+überzeugte sich die Scuderi, daß tief im Innern der stolzen
+Frau sich ein Verdruß über eine Angelegenheit regte, die den
+reizbaren König in ein Gebiet locken konnte, auf dessen
+Zauber sie sich nicht verstand. Von der Maintenon konnte sie
+daher gar nichts hoffen.
+
+Endlich mit d'Andilly's Hülfe gelang es der Scuderi,
+auszukundschaften, daß der König eine lange geheime
+Unterredung mit dem Grafen Miossens gehabt. Ferner, daß
+Bontems, des Königs vertrautester Kammerdiener und
+Geschäftsträger in der Conciergerie gewesen, und mit Brußon
+gesprochen, daß endlich in einer Nacht eben derselbe Bontems
+mit mehreren Leuten in Cardillacs Hause gewesen und sich
+lange darin aufgehalten. Claude Patru, der Bewohner des
+untern Stocks, versicherte, die ganze Nacht habe es über
+seinem Kopfe gepoltert, und gewiß sey Olivier dabei gewesen,
+denn er habe seine Stimme genau erkannt. So viel war also
+gewiß, daß der König selbst dem wahren Zusammenhange der
+Sache nachforschen ließ, unbegreiflich blieb aber die lange
+Verzögerung des Beschlusses. La Regnie mochte alles
+aufbieten, das Opfer, das ihm entrissen werden sollte,
+zwischen den Zähnen fest zu halten. Das verdarb jede
+Hoffnung im Aufkeimen.
+
+Beinahe ein Monat war vergangen, da ließ die Maintenon der
+Scuderi sagen, der König wünsche sie heute Abend in ihren,
+der Maintenon, Gemächern zu sehen.
+
+Das Herz schlug der Scuderi hochauf, sie wußte, daß Brußons
+Sache sich nun entscheiden würde. Sie sagt es der armen
+Madelon, die zur Jungfrau, zu allen Heiligen inbrünstig
+betete, daß sie doch nur in dem König die Ueberzeugung von
+Brußons Unschuld erwecken möchten.
+
+Und doch schien es, als habe der König die ganze Sache
+vergessen, denn wie sonst, weilend in anmuthigen Gesprächen
+mit der Maintenon und der Scuderi, gedachte er nicht mit
+einer Sylbe des armen Brußons. Endlich erschien Bontems,
+näherte sich dem Könige und sprach einige Worte so leise,
+daß beide Damen nichts davon verstanden. – Die Scuderi
+erbebte im Innern. Da stand der König auf, schritt auf die
+Scuderi zu und sprach mit leuchtenden Blicken: Ich wünsche
+Euch Glück, mein Fräulein! – Euer Schützling, Olivier
+Brußon, ist frei! – Die Scuderi, der die Thränen aus den
+Augen stürzten, keines Wortes mächtig, wollte sich dem
+Könige zu Füßen werfen. Der hinderte sie daran, sprechend:
+Geht, geht! Fräulein, Ihr solltet Parlementsadvokat seyn und
+meine Rechtshändel ausfechten, denn, beim heiligen Dionys,
+Eurer Beredsamkeit widersteht Niemand auf Erden. – Doch,
+fügte er ernster hinzu, doch, wen die Tugend selbst in
+Schutz nimmt, mag der nicht sicher seyn vor jeder bösen
+Anklage, vor der Chambre ardente und allen Gerichtshöfen in
+der Welt! – Die Scuderi fand nun Worte, die sich in den
+glühendsten Dank ergoßen. Der König unterbrach sie, ihr
+ankündigend, daß in ihrem Hause sie selbst viel feurigerer
+Dank erwarte, als er von ihr fordern könne, denn
+wahrscheinlich umarme in diesem Augenblick der glückliche
+Olivier schon seine Madelon. »Bontems, so schloß der König,
+Bontems soll Euch tausend Louis auszahlen, die gebt in
+meinem Namen der Kleinen als Brautschatz. Mag sie ihren
+Brußon, der solch ein Glück gar nicht verdient, heurathen,
+aber dann sollen Beide fort aus Paris. Das ist mein Wille.
+
+Die Martiniere kam der Scuderi entgegen mit raschen
+Schritten, hinter ihr her Baptiste, Beide mit vor Freude
+glänzenden Gesichtern, Beide jauchzend, schreiend: Er ist
+hier – er ist frei! – o die lieben jungen Leute! Das selige
+Paar stürzte der Scuderi zu Füßen. O ich habe es ja gewußt,
+daß Ihr, Ihr allein mir den Gatten retten würdet, rief
+Madelon. Ach der Glaube an Euch, meine Mutter, stand ja fest
+in meiner Seele, rief Olivier, und Beide küßten der würdigen
+Dame die Hände und vergoßen tausend heiße Thränen. Und dann
+umarmten sie sich wieder und betheuerten, daß die
+überirdische Seligkeit dieses Augenblicks alle namenlose
+Leiden der vergangenen Tage aufwiege; und schworen, nicht
+voneinander zu lassen bis in den Tod.
+
+Nach wenigen Tagen wurden sie verbunden durch den Segen des
+Priesters. Wäre es auch nicht des Königs Wille gewesen,
+Brußon hätte doch nicht in Paris bleiben können, wo ihn
+Alles an jene entsetzliche Zeit der Unthaten Cardillacs
+erinnerte, wo irgend ein Zufall das böse Geheimniß, nun noch
+mehreren Personen bekannt worden, feindselig enthüllen und
+sein friedliches Leben auf immer verstören konnte. Gleich
+nach der Hochzeit zog er, von den Segnungen der Scuderi
+begleitet, mit seinem jungen Weibe nach Genf. Reich
+ausgestattet durch Madelons Brautschatz, begabt mit seltner
+Geschicklichkeit in seinem Handwerk, mit jeder bürgerlichen
+Tugend, ward ihm dort ein glückliches, sorgenfreies Leben.
+Ihm wurden die Hoffnungen erfüllt, die den Vater getäuscht
+hatten bis in das Grab hinein.
+
+Ein Jahr war vergangen seit der Abreise Brußons, als eine
+öffentliche Bekanntmachung erschien, gezeichnet von Harloy
+de Chamvalon, Erzbischof von Paris, und von dem
+Parlaments-Advokaten Pierre Arnaud d'Andilly, des Inhalts,
+daß ein reuiger Sünder unter dem Siegel der Beichte der
+Kirche einen reichen geraubten Schatz an Juwelen und
+Geschmeide übergeben. Jeder, dem etwa bis zum Ende des
+Jahres 1680 vorzüglich durch mörderischen Anfall auf
+öffentlicher Straße ein Schmuck geraubt worden, sollte sich
+bei d'Andilly melden, und werde, treffe die Beschreibung des
+ihm geraubten Schmucks mit irgend einem vorgefundenen
+Kleinod genau überein, und finde sonst kein Zweifel gegen
+die Rechtmäßigkeit des Anspruchs statt, den Schmuck wieder
+erhalten. – Viele, die in Cardillacs Liste als nicht
+ermordet, sondern bloß durch einen Faustschlag betäubt
+aufgeführt waren, fanden sich nach und nach bei dem
+Parlamentsadvokaten ein, und erhielten zu ihrem nicht
+geringen Erstaunen das ihnen geraubte Geschmeide zurück. Das
+Uebrige fiel dem Schatz der Kirche zu St. Eustache anheim.