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authorPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2024-11-27 18:15:59 +0100
committerPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2024-11-27 18:15:59 +0100
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--- /dev/null
+++ b/02-ich-lerne.rst
@@ -0,0 +1,226 @@
+.. include:: global.rst
+
+ICH LERNE
+=========
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`J`\ a, er hat recht, ich muß etwas für meine
+Bildung tun. Mit dem Herumlaufen allein ist es nicht getan.
+Ich muß eine Art Heimatskunde treiben, mich um die
+Vergangenheit und Zukunft dieser Stadt kümmern, dieser
+Stadt, die immer unterwegs, immer im Begriff, anders zu
+werden, ist. Deshalb ist sie wohl auch so schwer zu
+entdecken, besonders für einen, der hier zu Hause ist |ellipsis| Ich
+will mit der Zukunft anfangen.
+
+Der Architekt nimmt mich in sein weites, lichtes Atelier,
+führt von Tisch zu Tisch, zeigt Pläne und plastische Modelle
+für Geländebebauung, Werkstätten und Bürogebäude,
+Laboratorien einer Akkumulatorenfabrik, Entwürfe für eine
+Flugzeugausstellungshalle, Zeichnungen für eine der neuen
+Siedlungen, die Hunderte und Tausende aus Wohnungsnot und
+Mietskasernenelend in Luft und Licht retten sollen. Dazu
+erzählt er, was heute die Baumeister von Berlin alles planen
+und zum Teil im Begriff sind, auszuführen. Nicht nur
+Weichbild und Vorstadt will man durch planmäßige
+Großsiedlung umgestalten, auch in den alten Stadtkörper soll
+neuformend eingegriffen werden. Der künftige Potsdamerplatz
+wird von zwölfgeschossigen Hochhäusern umgeben sein. Das
+Scheunenviertel verschwindet; um den Bülowplatz, um den
+Alexanderplatz entsteht in gewaltigen Baublöcken eine neue
+Welt. Immer neue Projekte werden entworfen, um die Probleme
+der Grundstückwirtschaft und des Verkehrs in Einklang zu
+bringen. Künftig darf nicht mehr der Bauspekulant und der
+Maurermeister durch seine Einzelbauten den Stil der Stadt
+verderben. Das läßt unsere Bauordnung nicht zu.
+
+Der Architekt berichtet von den Ideen seiner Kollegen: Da
+die Stadt allmählich auf dem einen Havelufer Potsdam
+erreichen wird, stellt einer einen Plan mit Bahnen und
+Verkehrslinien auf, dem er die schönen Waldbestände und
+einzelnen Seen einfügt, um schließlich die Havel zwischen
+Pichelsdorf und Potsdam zu einer Art Außenalster zu machen.
+Ein anderer will zwischen Brandenburger Tor und Tiergarten
+einen großen repräsentativen Platz schaffen, so daß erst die
+Siegesallee die Parkgrenze bilden soll. Auf dem Messegelände
+soll die Ausstellungsstadt die Form eines riesigen Eis
+bekommen, mit einem Innen- und Außenring von Hallen, einem
+neuen Sportsforum und einem Kanal, an dessen Endpunkt
+zwischen Gartenterrassen ein Wasserrestaurant liegt.
+Potsdamer und Anhalter Bahnhof sollen auf das Rangiergeleise
+des nächsten Vorortsbahnhofs verlegt werden, um Platz zu
+schaffen für eine breite Avenue mit Kaufhäusern, Hotels und
+Großgaragen. Im Zusammenhang mit der Vollendung des
+Mittellandkanals ändert sich Berlins Wasserstraßennetz, und
+die entsprechende Umgestaltung alter und Erbauung neuer
+Ufer, Brücken, Anlagen stellt wichtige Aufgaben. Und dann
+das neue Baumaterial: Glas und Beton, Glas an Stelle von
+Ziegel und Marmor. Schon gibt es eine Reihe Häuser, deren
+Fußböden und Treppen aus Schwarzglas, deren Wände aus
+Opakglas oder Alabaster bestehn. Dann die Eisenhäuser, ihre
+Verkleidung mit Keramik, ihre Rahmung mit glänzender Bronze
+usw.
+
+Der Architekt bemerkt meine Verwirrung, er lächelt. Also
+schnell ein bißchen Anschauungsunterricht. Hinunter auf die
+Straße und in sein wartendes Auto. Wir sausen den
+Kurfürstendamm entlang an alten architektonischen Schrecken
+und neuen ‚Lösungen‘ und Erlösungen. Wir halten vor den
+Gebäuden des Kabaretts und des Filmpalastes, die eine gerade
+durch ihre leisen Verschiedenheiten so eindringliche Einheit
+bilden, beide beschwingt im Raume kreisend, immer wieder die
+mitreißende Einfachheit ihrer großen Linien ziehend, wobei
+das eine sich mehr in die Breite lagert, das andre mehr
+aufragt. Der Meister neben mir erklärt eines Meisters Werk.
+Und um, was seine Worte umfassen, aus der Mitte des Bauwerks
+zu verdeutlichen, verläßt er mit mir den Wagen, führt mich
+durch den breiten Wandelgang, der in dunklem Rot dämmert,
+ins Innere des einen Theaterraums und zeigt mir, wie die
+ganze Schauburg aus der Form des Kreises entwickelt ist und
+wie die hellen Wände ohne vereinzelten und abwegigen Schmuck
+durch flächige Muster gegliedert sind.
+
+Dann fahren wir eine Querstraße hinauf durch ein
+kleinbürgerliches Stück Charlottenburg und am Lietzensee
+vorbei zum Funkturm und den Ausstellungshallen, die er mit
+ein paar Worten zur größeren Messestadt ausbaut. Ehe er
+damit fertig ist, haben wir den Reichskanzlerplatz erreicht
+und er stellt mir das Unterhaltungsviertel dar, das hier
+entstehen soll, die beiden Baublöcke mit Kinos, Restaurants,
+Tanzsälen, einem großen Hotel und dem Lichtturm, der das
+Ganze überragen wird. Wir wenden in eine Parallelstraße des
+Kaiserdamms und halten vor einem weiten Neubaugelände. Hier
+ist mein Führer selbst Bauherr. Werkmeister kommen uns
+entgegen und erstatten ihm Bericht. Indes seh ich in das
+weitläufige Chaos, aus dem sich mir zunächst die beiden
+Pylonen am Eingang, schon im Rohbauskelett deutlich
+gestaltet, entgegenrecken. Dann geh ich mit dem Meister über
+Schutt und Geröll bis an den Rand, hinter dem der Abgrund
+der Mitte beginnt. Der Grundriß, wie man ihn sonst auf dem
+Zeichentisch vom Blatt ablesen muß, dem Notenblatt dieser
+‚gefrorenen Musik‘, liegt nun vor mir ausgebreitet. Dort
+werden die beiden großen Depothallen sich erheben, die
+Schlafstellen der Wagen. Hier werden Geleise entlangführen.
+Am Rande rings werden Gärten entstehen, in denen unter den
+Fenstern vieler lichter Wohnungen die Kinder der Beamten,
+Fahrer, Schaffner spielen sollen. Wir fahren außen die eine
+Seite des großen Vierecks entlang. An einer Stelle ist die
+Straße erst im Entstehen begriffen, und wir müssen ein Stück
+über wuchernde Wege gehn. Und um uns her wächst aus des
+Baumeisters Worten eine ganze Stadt.
+
+Was er mir so am Werdenden sichtbar gemacht hat, kann er mir
+nun auch noch am Vollendeten zeigen. Über die Spreebrücke
+beim Schloß Charlottenburg eilt unser Wagen den Kanal
+entlang und zum weiten Westhafen. Ein Blick auf die düsteren
+Gefängnismauern von Plötzensee. Wir kommen durch die endlose
+Seestraße an Kirchhofsmauer und Mietskasernen hin bis zur
+Müllerstraße. Die mächtige Siedlung der Wagen und Menschen
+taucht auf. Breiter Zugang eröffnet uns den Blick auf drei
+eisengestützte Hallen. Wir durchschreiten das Tor und sehn
+von innen die dreistöckigen Seitenflügel der Wohnstätten,
+die vier Stockwerke der Frontseite und die mächtigen Pylonen
+der Ecken. Dann treten wir überall ein, erst in die Glas-
+und Eisenhalle, in der die Wagen wohnen, sehn dort hinauf
+zum Bahnhofshimmel und hinab in die seltsame Welt der Gänge
+unter den Schienensträngen. Dann in die Verwaltungsräume,
+Reparaturwerkstätten und endlich über einladend ansteigende
+Treppen in einige der hübschen Wohnungen.
+
+Beim Umschreiten des Komplexes begreife ich, ohne es
+bautechnisch ausdrücken zu können, wie der Künstler durch
+Wiederholung bestimmter Motive, Betonung bestimmter Linien,
+durch das Vorziehen scharfer Kanten an den steigenden
+Flächen und ähnliches diesem Riesending aus Backstein,
+welches Bahnhof, Büro und Menschenhaus zugleich sein muß,
+einen unvergeßlich einheitlichen Gesamtcharakter gegeben
+hat.
+
+An der Nordostseite schauen wir weit über Feld, und ganz nah
+bekomme ich des Riesen winzigen Nachbar gezeigt, ein
+Häuschen, ‚so windebang‘, das da tief im Felde steht. Das
+‚schmale Handtuch‘ nennen es die Leute. Das Nebeneinander
+der ragenden Hallen und dieser Hütte ist wie ein Wahrzeichen
+des Weichbildes von Berlin.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Am Abend dieses übervollen Tages bin ich bei einer alten
+Dame zu Gaste gewesen, die aus Sekretär und Truhe
+Erinnerungsstücke hervorholte, Dinge, die ihrer Ahnin im
+alten Haus an der Stralauerstraße gehört haben, die große
+englische Puppe im ergrauten Musselinempirekleid mit den
+kreuzweis gebundenen, immer noch rosenfarbenen
+Seidenschuhen; Tellerchen und Leuchterchen, sorglich aus
+Holz geschnitten, mit denen diese Ahnin als Kind im Garten
+spielte ganz nah an der Spree und der hölzernen
+Waisenbrücke, von der Menzel auf seinem berühmten Stich
+Chodowiecki ins Wasser schauen läßt. Aus einer Blechkapsel
+nimmt sie die Hauspapiere mit den Wachssiegeln. Zierliche
+Stammbücher der Urgroßtanten darf ich aufschlagen, in denen
+die haarscharfen Schnörkelbuchstaben poetischer Widmungen
+den kolorierten Buketts und hauchzarten Landschaften
+befreundeter Maler gegenüberstehn. In den Landschaften
+findet sich als Staffage bisweilen ein Reitersmann in gelbem
+Frack und Stulpstiefeln oder eine Reiterin in violettem
+Kleid. Die Buketts sind in Form und Farbe verwandt dem, was
+mit spitzem Pinsel die Porzellanmaler auf Teller und Vasen
+und Schalen ‚Königlich Berlin‘ setzten.
+
+Ich bekomme sogar eine Brautkrone von anno 1765 in die Hand,
+mit grüner Seide umsponnenen, blütenbildenden Draht. Eine
+Tabakdose aus Achat darf ich betasten. Die gütige Besitzerin
+all dieser Schätze langt kleine Familienporträts von den
+Wänden, Frauenköpfe in gelocktem, leichtgepudertem Haar und
+zartfarbigem Schleiertuch, Herren in Perücke und
+dunkelblauem Frack. Und dann erzählt sie von der Berliner
+Putzstube, der schöneren Vorgängerin all der ‚guten Stuben‘
+mit Mahagonimöbeln und der blauen und roten Salons, die wir
+bei unseren Großeltern gekannt haben, von der Putzstube,
+die ein verschlossenes Heiligtum war, das die Kinder nur zu
+besondern Gelegenheiten betreten durften. Wir schlagen eines
+ihrer Lieblingsbücher, die Jugenderinnerungen eines alten
+Berliners von Felix Eberty, auf und lesen: »Die Wände waren
+hellgrau gestrichen, Tapeten kamen nur bei den reichsten
+Leuten vor. Auf die Wand hatte Wilhelm Schadow, der
+nachherige Direktor der Düsseldorfer Akademie und meines
+Vaters Jugendfreund, demselben als Hochzeitsgeschenk die
+vier Jahreszeiten grau in grau und mit weißen Lichtern
+gehöht schön und plastisch gemalt, so daß es ein Relief zu
+sein schien. Ein herrlicher Teppich, Erdbeerblätter, Blüten
+und Früchte zeigend, bedeckte den Fußboden, die Möbel waren
+sehr zierlich aus weißem Birkenmaserholz gefertigt. Ein
+kleiner Kronleuchter zu vier Lichtern, an Glasketten
+hängend, schien uns überaus prächtig und ein unnahbares
+Kunstwerk zu sein, das wir gar zu gern mit den Händen
+berührt hätten, wenn es nicht aufs strengste verboten
+gewesen wäre; denn die Möglichkeit, diese Begierde zu
+befriedigen, war vorhanden, weil die Zimmerhöhe gestattet
+hätte, mittels eines Stuhls die glänzenden Glasstückchen zu
+erreichen.«
+
+Wir sprechen von noch älteren Berliner Interieurs. Sie hat
+Bilder von Zimmern, in denen die mit Tapisseriearbeit
+überzogenen L’Hombre-Tische standen, die ausgenähten
+Fauteuils, die Servanten mit den schönbemalten
+Porzellantassen, auf der Kommode englische Repetieruhren, in
+der Ecke ‚wohlkonditionierte‘ lackierte Flügel der
+friderizianischen Zeit. Sie weiß von den hohen Betten, zu
+denen mehrstufige Tritte führten, von Himmelbetten *à la
+duchesse* und denen *à tombeau*, vom Bettzopf, Nachthabit
+und Nachthandschuhen, von Tapeten *en hautelisse* mit
+Personnagen nach französischen Dessins. Immer mehr Besitz
+kramt sie heraus, Daguerreotypien, ausgetuschte
+Kupferstiche, ausgeschnittene, aufgeklebte und mit
+Lackfirnis überzogene Figuren |ellipsis|
+
+Über uns hängt eine Ampel, ein bronzenes Blumenkörbchen, aus
+dem Blätter von grünem Glas und hellfarbige gläserne Winden
+hangen und sich heben. Das Stück ist aus den dreißiger,
+vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als eine neue
+Vorliebe für das Rokoko aufkam. Das Licht flackert im
+Nachtwind, als wäre es nicht elektrisch, sondern Öllicht
+einer Astraganlampe. Es ist spät geworden für alte Damen.
+Und ich merke, wie müde ich bin von soviel Berlin.