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author | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2024-11-27 18:15:59 +0100 |
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Mehrsprachig +fragt der Führer neu hereingelockte Gäste, ob sie Deutsch +verstehn und ob sie schwerhörig sind; das ist aber keine +Beleidigung, sondern betrifft nur die Platzverteilung. Vorn +hat man mehr Luft, hinten versteht man besser. + +Auf weißer Fahne vor mir steht in roter Schrift: *Sight +seeing*. Welch eindringlicher Pleonasmus! — Mit einmal +erhebt sich die ganze rechte Hälfte meiner Fahrtgenossen, +und ich nebst allen andern Linken werde aufgefordert, sitzen +zu bleiben und mein Gesicht dem Photographen preiszugeben, +der dort auf dem Fahrdamm die Kappe vor der Linse lüftet und +mich auf seinem Sammelbild nun endgültig zu einem Stückchen +Fremdenverkehr macht. Fern aus der Tiefe streckt mir eine +eingeborene Hand farbige Ansichtskarten herauf. Wie hoch wir +thronen, wir Rundfahrer, wir Fremden! Der Jüngling vor mir, +der wie ein Dentist aussieht, ersteht ein ganzes +Album, erst zur Erinnerung, später vermutlich fürs +Wartezimmer. Er vergleicht den Alten Fritz auf Glanzpapier +mit dem ehernen wirklichen, an dem wir nun langsam entlang +fahren. Er sitzt recht hoch zu Roß in unvergeßlicher +Haltung, die Hand unterm weiten Mantel in die Seite gestemmt +mit dem Krückstock, den berühmten Dreispitz etwas schief auf +dem Kopf. Er schaut weit über uns weg auf Pilaster und +Fenster der Universität, einst seines Bruders Schloß. +Wohlwollend sieht er gerade nicht aus, soweit wir das von +unten herauf beurteilen können. Wir sind fast in Augenhöhe +mit der gedrängten Helden- und Zeitgenossenschar seines +Sockels. Die hat’s etwas eng zwischen Reliefwand und +Steinabhang. Zusammengehalten wird sie von den vier +Reitersleuten an den Sockelecken, die keinen mehr +herauflassen würden. Nun gleiten wir an der langen Front der +Bibliothek entlang auf der Sonnenseite. Hinter Markisen +eleganter Läden lockt Seidenes, Ledernes, Metallenes. Die +Spitzengardinen vor Hiller erwecken ferne Erinnerungen an +gute Stunden, an fast vergessenen Duft von Hummer und +Chablis, an den alten Portier, der so diskret zu den +*Cabinets particuliers* zu leiten wußte. Ich reiße mich los, +— bin doch Fremder — um gleich wieder eingefangen zu sein. +Reisebüros, Schaufensterrausch aus Weltkarten und Globen, +Zauber der grünen Heftchen mit den roten Zetteln, +verführerische Namen fremder Städte. Ach, all die seligen +Abfahrten von Berlin! Wie herzlos hat man doch immer wieder +die geliebte Stadt verlassen. + +Aber nun aufgepaßt. Wir biegen in die Wilhelmstraße ein. +Unser Führer verkündet in seltsam amerikanisch klingendem +Deutsch: Hier kommen wir in die Regierungsstraße +Deutschlands. Still ist es hier, fast wie in einer +Privatstraße. Und altertümlich einladend stehen vor der +diskreten gelbgetünchten Fassade, hinter der Deutschlands +Außenpolitik gemacht wird, zwei großscheibige Laternen. Was +für ein sanftes Öllicht mag darin gebrannt haben zur Zeit, +als sie zeitgenössisch waren? Eines dieser braunen +Eingangstore, die mit geschnitztem Laubwerk geziert sind, +führte einstmals in die Wohnung der gefeierten Tänzerin +Barberina zu einer Zeit, als sie nicht mehr tanzte und eine +Freiin Barbara von Cocceji geworden war. Und über ein +Jahrhundert später von 1862 bis 1878 hat Bismarck hier +gewohnt. Da war das kleine Arbeitszimmer mit den +dunkelgrünen Fenstervorhängen und dem geblümten Teppich und +daneben der Speisesaal, in dem die Emser Depesche verfaßt +worden ist. Später zog er dann ins Palais Radziwill, wo auch +heute noch der Reichskanzler wohnt, friedlich hinter einem +Gartenhof wie ein paar Häuser vorher der Reichspräsident. +Aber unser Führer erlaubt nicht in diesen Frieden zu +versinken, er reißt den Blick zu dem mächtigen +Gebäudekomplex gegenüber hin und ruft selbst verwundert: +‚Alles Justiz!‘ — ‚Und hier,‘ fährt er fort, ‚vom Keller bis +zum Dach mit Gold gefüllt, das Finanzministerium.‘ Das ist +ein Witz, über den nur die richtigen Fremden lachen können. +Ich tröste mich an der schönen Weite des Wilhelmplatzes, an +des Kaiserhofs flatternden Fahnen, an dem grünen Gerank um +die Pergolasparren des Untergrundbahneingangs und an General +Zietens gebeugtem Husarenrücken. + +Ein Gewirr von Türmen, Buckeln, Zinnen und Drähten: +‚Leipziger Straße, die größte Geschäftsstraße der +Metropole!‘ Aber die durchkreuzen wir einstweilen nur. Wir +fahren die Wilhelmstraße weiter vorbei an vielen +Antiquitätenläden (Erinnerung taucht auf an die +verbrecherisch schöne Inflationszeit. Weißt du noch, +Wendelin, Herrn Krotoschiner damals in seinem Laden zwischen +dem Pommerschen Schrank und dem Trentiner Tisch auf den +Wappenstuhl starrend!), vorbei am Architektenhaus (ältere +Erinnerung an strebsame Jugendzeit, da man nichts zu tun +brauchte als zu lernen, und hier gab’s viel lehrreiche +Vorträge in dem Saal, wo die Fresken von Prell auf uns +herabschauten; besonders jener Pfahlbautenmensch ist mir +unvergeßlich, der sich dort auf dem Wandbild den aus +Vischers ‚Auch Einer‘ berühmten weltgeschichtlichen +Schnupfen holte). + +Das Palais des Prinzen Heinrich, vor dem wir einen +Augenblick halten, um durch die schöne Säulenhalle auf den +alten Hof und die alten Fenster zu sehn, und seine +schlichten mit dienender Tugend sich anschließenden Gebäude +haben die hellbräunliche Farbe, die dem Dichter Laforgue an +vielen Berliner Palais auffiel, als er in den achtziger +Jahren des vorigen Jahrhunderts als Vorleser der Kaiserin in +Berlin war, er nennt sie *couleur café au lait* und sie +erscheint ihm als der vorherrschende Farbton der Kapitale. +Für die Welt der Wilhelmstraße und viele Teile der älteren +Stadt gilt das noch heut. + +An den altvertrauten Museen der Prinz Albrechtstraße hält +unser eiliger Wagen nicht. Die meisten Insassen schauen +hinüber in den großen Garten hinter dem Landtagsgebäude. Ich +sehe in die Fenster, hinter denen die schönen +Kostümbildermappen der herrlichen Lipperheideschen Sammlung +in der Staatlichen Kunstbibliothek auf ruhevolle Betrachter +warten. Am liebsten möchte ich aussteigen und zu den +befreundeten Bildern gehen, aber heute habe ich +Fremdenpflichten, darf auch in Gedanken nicht zu lange bei +dieser Stätte des alten Kunstgewerbemuseums verweilen, die +soviel Auswanderung erlebt hat. Der größte Teil der +Sammlungen ist jetzt im Schloß. Und die Karnevalsfeste der +Kunstgewerbeschüler, einst die schönsten von Berlin, finden +jetzt, da die Kunstschulen nach Charlottenburg verlegt sind, +im dortigen Hause statt, und als richtiger *Laudator temporis +acti* finde ich natürlich, daß sie dort nicht so schön sein +können, wie sie hier waren. Ach, selbst die kleinen Feste, +die nach Verlegung der Kunstschule hier noch im Dachgeschoß +sich abspielten, sind unvergeßlich. Wir gleiten an der +bauchigen Hochrenaissance des Völkerkundemuseums vorbei. +Auch dies wird nur beim Namen genannt und nichts gesagt von +Turfan und Gandhara, von Inka und Maori. Vielmehr verkündet +unser Sprecher schon von weitem: ‚Vaterland, Café Vaterland, +das größte Café der Hauptstadt!‘ Die Fremden stieren auf die +große Prunkkuppel des Baues, und die, welche bereits +abendliche Berliner Erfahrungen haben, raten den andern, +dieses Monsteretablissement mit all seinen Abteilungen, dies +kulinarische Völkermuseum von Kempinski und seine Panoramen +in nächtlicher Bestrahlung zu besichtigen. + +Ja, das sollen sie. Was helfen ihnen unsre alten Paläste und +Museen? Sie wollen doch das Monsterdeutschland. Also nur da +hinein heute abend, meine Herrschaften, in das alte +Piccadilly, jetzt Haus Vaterland! Da wird euch +Vaterländisches und Ausländisches vorgesetzt. Hat Sie der +Fahrstuhl aus dem prächtigen Vestibül hinaufgetragen, so +können Sie bei dem üblichen Rebensaft von der Rheinterrasse +bequem ins Panorama blicken, wo Ihnen über Rebenhügeln, +Strom und Ruine ein Gewittersturm erster Klasse vorgeführt +wird. Heitert sich der Himmel wieder auf, so tanzen Ihnen +rheinische Girls unter Rebenreifen eins vor und samtjackige +Scholaren singen dazu. Das müssen Sie gesehen haben. Von da +taumeln Sie, bitte, in die Bodega, wo Ihnen merkwürdige +Mannsleute mit bunten Binden um Kopf und Bauch was Feuriges +bringen, um Sie in eine spanische Taverne zu versetzen. Die +beiden schüchternen Spanierinnen aus der Ackerstraße dort in +der Ecke werden durch Tanzvorführungen Ihre Stimmung +erhöhen. Beim Betreten der Wildwestbar werden Sie laut +Programm die ganze Romantik der amerikanischen Prärie +empfinden. Kaufen Sie sich auf alle Fälle ein Programm! Da +wissen Sie gleich, wie Ihnen zumute zu sein hat. Was tut im +Grinzinger Heurigen das liebliche Wien? Es liegt in der +Abenddämmerung vor den Augen des Beschauers. Wozu laden vor +der sonnendurchglühten Puszta ungarische Weine ein? Zum +Verweilen. Was empfängt uns im Türkischen Café? +Märchenzauber aus Tausendundeiner Nacht. Versäumen Sie +nicht, dort auf den Taburetts zu sitzen an Tischen mit echt +arabischen Schriftzeichen darauf, und den stärksten aller +berlinisch-türkischen Mocca double zu +trinken. In der Glaswand, die das Bosporuspanorama abtrennt, +können Sie Ihren Nachbarn, den Herrn mit der papiernen +Zigarrenspitze, so gespiegelt sehn, als säße er an dem Tisch +mit der Wasserpfeife, der schon zum Vordergrund des Bildes +gehört. + +Aber nun bekommen Sie Bierdurst und finden in das Münchner +Löwenbräu, das laut Programm ‚lebensfreudig eingerichtet‘ +ist. Die aufwartenden Madeln, die Ihnen zuliebe noch +bayrischer als bayrisch reden, tragen Strohhüte mit Federn, +blaue Jacken, geraffte, gestreifte Röcke und jodeln +bisweilen ermunternd mit, wenn die Musik es nahelegt. Die +wird von den Herren Buam in Hosenträgern gemacht. Auf ihre +Hosenbeine ist bauchabwärts bayrisches Kunstgewerbe +tätowiert. Da ist ja auch das künstlerisch ausgeführte +Glasfenster mit Ausblick auf die ‚wildromantische Szenerie +des Eibsees‘. Und schon geht’s los mit der Attraktion. Der +Saal verdunkelt sich. Am Eibseehotel gehn die Lichter an. +Auch Alpenglühn wird von der Direktion, die keine Kosten +scheut, geboten. Sobald der Saal hell wird, beginnt ein +Trio, Bua, Madl und Depp, ganz wie auf der weiland +Oktoberwiesenausstellung am Kaiserdamm. Dabei zerschlagen +die beiden Nebenbuhler, einer auf des andern Kopf, richtige +Tonnen. Ja, ja, die Direktion scheut keine Kosten. Wollen +Sie noch in den großen Ballsaal, der sich ‚dem Glanz der +schönsten Säle der Welt würdig an die Seite stellen‘ kann, +wollen Sie ‚Tanzgelegenheit auf schwingendem Parkett‘, so +müssen Sie drei Mark extra zahlen, die werden Ihnen aber auf +Speisen und Getränke angerechnet. Dafür sehen Sie in einen +buntgeschliffnen Spiegelhimmel; Palmenschäfte tragen als Säulen +den Saal. Und ‚deutsche Girls‘ streifen, wenn sie zum +Auftreten eilen, mit ihren Gazeschleiern dicht an Ihnen +vorüber. Es tanzt für Sie ein badehosiger starker Jüngling +mit einer Dame, die außer der Badehose nur noch eine Art +Büstenhalter trägt, tanzt mit ihr, wirbelt sie, während sie +nur mit Knöchelschleife um seinen Hals hängt, hantelt mit +ihr. Die deutschen Girls aber rutschen als Ruderballett auf +dem Boden hin und singen von unserer Zeit, der Zeit des +Sports. + +Nun haben Sie wohl ein bißchen Linderung von soviel +Darbietungen. Da, wo überlebensgroß am Fenster der Teddybär +steht, den die vorüberstreifenden Mädchen umarmen, gehn Sie +auf den offnen Balkon und sehn in heller Nacht schön +altberlinisch, gelblichbraun, mild nüchtern den Potsdamer +Bahnhof, denselben, auf den jetzt am Tage unser Sprecher +zeigt. + +Über die Freitreppe zur Station gehen Ausflügler in hellen +Röcken und Waschkleidern. Die Glücklichen, es ist ein so +schöner Herbsttag. Manche gehn auch den schmalen Durchgang +hinüber zu dem kleinen Wannseebahnhof. Ich möchte ihnen am +liebsten nachlaufen. Ein Segelboot oder auch nur ein +Paddelboot. Oder nichts als ein Gang durch einen der +Potsdamer Parke. Potsdam und die Havelseen, die heimliche +Seele, das irdische Jenseits von Berlin! Noch dazu heut, an +einem Wochentag. Aber nun kommen wir auf den Potsdamer +Platz. Von dem ist vor allem zu sagen, daß er kein Platz +ist, sondern das, was man in Paris einen *Carrefour* nennt, +eine Wegkreuzung, ein Straßenkreuz, wir haben kein rechtes +Wort dafür. Daß hier einmal ein Stadttor und Berlin zu Ende +war und die Landstraßen abzweigten, man müßte schon einen +topographisch sehr geschulten Blick haben, um das an der +Form des Straßenkreuzes zu erkennen. Der Verkehr ist hier +offiziell so gewaltig auf ziemlich beengtem Raum, daß man +sich häufig wundert, wie sanft und bequem es zugeht. +Beruhigend wirken auch die vielen bunten Blütenkörbe der +Blumenfrauen. Und in der Mitte steht der berühmte +Verkehrsturm und wacht über dem Spiel der Straßen wie ein +Schiedsrichterstuhl beim Tennis. Seltsam verschlafen und +leer sehn jetzt am hellen Mittag die riesigen Buchstaben und +Bilder der Reklamen an Hauswänden und Dächern aus, sie +warten auf die Nacht, um zu erwachen. Scharf und glatt, +jüngstes Berlin, zieht das umgebaute Haus, das die +altberühmte Konditorei Telschow birgt, seine gläsernen +Linien. Das Josty-Eck bleibt noch eine Weile alte Zeit. Aber +an der andern Seite der Bellevuestraße wächst — einstweilen +noch hinter hoher plakatbedeckter Wand — etwas ganz Neues +herauf, ein Warenhaus mit einem Pariser Namen. Ob es so +schön werden wird, wie da drüben hinterm Laub des Leipziger +Platzes Messels Meisterwerk, das Haus Wertheim? Die +Bellevuestraße, in die wir schnell einen Blick werfen +dürfen, wird immer mehr eine *‚Rue de la Boëtie‘* von +Berlin. Kunstladen gesellt sich zu Kunstladen. Und davon +werden auch die Schaufenster der Modegeschäfte immer +erlesener, immer mehr Stilleben. Und das kommt sogar den +großen und kleinen Privatautos zugute, die in der Bucht der +Auffahrt vor dem Hotel Esplanade warten. Ihre Karosserien, +immer besser werdende Kombinationen von Hülle und Hütte, +haben wunderbare Mantelfarben. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Grünes Licht am Verkehrsturm. Wir umkreisen den Potsdamer +und fahren an den weißen Säulen der beiden Tortempelchen +vorbei den Leipziger Platz entlang. Rechts und links von dem +erzenen General Brandenburg, der, wie der Berliner Volkswitz +behauptet, mit seinem Visavis, dem General Wrangel, über das +Wetter spricht (‚Was für Wetter ist heut‘, fragt Wrangel und +streckt die Hand mit dem Feldmarschallstab etwas vor. ‚So +hoher Dreck‘, erwidert Brandenburg mit flachgehaltener +Rechten), neben diesem Kriegsmann stehn wieder in langer +Reihe die Blumenfrauen. Vor uns der Seiteneingang und die +stolzsteigenden schmalen Pfeiler und Metallzierate des +Warenhauses Wertheim. Von den neuen strahlenden Stoffen +seiner hohen Schaufenster wandert der Blick hinüber zu den +zartbunten und weißen Schüsseln, Tellern und Schalen aus +Altberliner Porzellan drüben im Hause der staatlichen, einst +königlichen Manufaktur. + +Recht leer und wie zu vermieten sieht das lange Herrenhaus +aus, es soll zurzeit in Ermangelung von Herren ein bißchen +Staatsrat und Volkswohlfahrt darin untergebracht sein. Auch +das benachbarte Kriegsministerium ist ziemlich ehemalig. +Selbst die meisten Reichswehrangelegenheiten werden anderswo +erledigt. Wie Spielzeug von weiland Fürstenkindern, in deren +Schlössern und Gärten man ja auch die +kleinen Spielkanonen sehen kann, stehn überm Portal ein paar +steinern winzige Soldaten in altertümlicher Uniform. Überm +Postministerium, das uns der Cicerone an der nächsten Ecke +zeigt, schleppen sich einige Giganten oder Atlanten mit +einer mächtigen steinernen Weltkugel, die ihnen hoffentlich +nicht verkehrstörend auf die Straße fallen wird. Solcher +Weltkugeln gibt es mehrere in Berlin, sie gehören mit zu den +Schrecken der letzten Jahre des vergangenen Jahrhunderts, +die jetzt an vielen Privatgebäuden in großartiger +Aufräumearbeit weggeputzt werden. Ich kenne persönlich eine +in der größten Geschäftsstraße von Schöneberg, die auf hohem +Eckhause über buckelndem Zwiebelgetürm schräg als +Glasveranda liegt. Diese und eine nicht minder stattliche im +bayrischen Viertel sind aus Glas. Und da sie nicht einmal +von zuverlässigen Giganten gestützt werden, wie hier die +über dem Postministerium, fürchte ich immer, daß sie noch +einmal herunterkugeln, und hoffe, sie werden beim nächsten +Großreinemachen beseitigt. Man könnte sie ja dann in ein zu +gründendes Museum der neowilhelminischen Architektur und +Plastik unterbringen, wohin sich vieles, was jetzt an +öffentlichem und Privatprunk störend herumsteht, entfernen +ließe. Das beste an diesem gewaltigen Eckhaus ist drinnen +eine Sammlung alter Verkehrsmittel; da gibt es Postkutschen +und erste Eisenbahnen *en miniature*, vor allem aber eine +Menge alter Briefmarken und Stempel, ein Erinnerungsfest für +jeden, der als Kind Thurn und Taxis und Alte Preußen, den +Kolibri von Guatemala und den Schwan von Australien +‚getauscht‘ hat, + +Zur Rechten und zur Linken rundet sich an dieser Ecke die +Mauerstraße, angenehme Unterbrechung in dieser Welt der +rechten Winkel. Ihre Kreislinie bezeichnet die Strecke einer +alten Stadtmauer, und der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm +I., der die ganze Friedrichstadt mit hübsch in Reih und +Glied stehenden Häusern hat bebauen lassen, soll seinen +Verdruß an den unvermeidlichen Rundungen der alten Straße +gehabt haben. Eh wir noch eine der beiden gleichfalls +rundlichen Kuppelkirchen deutlicher gesehen haben, zur +Rechten die Bethlehemskirche, zur Linken Schleiermachers +Wirkensstätte, die Dreifaltigkeitskirche, fährt unser Wagen +schon weiter. Und statt auf alte Kirchmauern haben wir auf +Pelz, Leinen, Seide und Stahl der prächtigen Auslagen zu +schauen. Bevor aber die gewaltigen nackten Steinmädchen über +dem Portal uns in das riesige Warenhaus Tietz locken können, +biegen wir in der Richtung auf den Gendarmenmarkt ein. Schon +von weitem haben die beiden patinierten Kirchenkuppeln und +das grüne Flügelpferdchen auf dem Dach des Schauspielhauses +gegen den lichten staubblauen Himmel geleuchtet. Nun halten +wir. Ich starre auf ‚Bühneneingang‘. Ihr andern, ihr +richtigen Fremden, habt hier nie als Schüler gewartet, um +die hehre Darstellerin der Jungfrau von Orleans herauskommen +zu sehn. Ihr bekommt die beiden Kirchen mit den berühmten +Gontardschen Kuppeltürmen, die Friedrich der Große anbauen +ließ, gezeigt und eingeprägt, daß die eine der deutsche, die +andre der französische Dom ist. Die beiden Türme sind +erheblich stattlicher als die zugehörigen älteren Kirchen, +die sich schüchtern neben ihnen ducken. Dafür ist das +Schauspielhaus, das Schinkel auf den stehengebliebenen Mauern nach dem +großen Brande, welcher das frühere Nationaltheater der +Ifflandzeit zerstörte, errichtet hat, eine wunderbare +Einheit. Die schöne Freitreppe zu der stolzen Vorhalle mit +den schlanken ionischen Säulen! Hinaufgegangen ist man sie +zwar nie. Für die einfachen Besucher gab’s da unten unterm +Durchgang den Zuweg. Die Freitreppe war am Ende für den +Hofstaat reserviert, zur Zeit, als dies noch ein königliches +Theater war. Der Begas-Schiller steht etwas unglücklich vor +dem Ganzen. Er wäre hier wohl lieber ein braver +moosansetzender Brunnentriton geworden als so in der Toga +und mit mehreren prätentiösen Damen am Sockel, welche Lyrik, +Drama, Geschichte und Philosophie vertreten, immer geradeaus +repräsentieren zu müssen. + +Die Fremden werden auf die Preußische Staatsbank, die alte +‚Königliche Seehandlung‘, aufmerksam gemacht, indessen +schiele ich hinüber nach der berühmten Weinstube, in der +Ludwig Devrient mit E. Th. A. Hoffmann gezecht hat. Der +wohnte hier an diesem Platze zur Zeit, als noch lauter +Immediatbauten den Gendarmenmarkt umgaben. Und ‚Des Vetters +Eckfenster‘ muß man sich auch hierhin denken und ihn dazu, +wie er in seinem Warschauer Schlafrock und die große Pfeife +in der Hand den munteren berlinischen Markt übersah. + +Wir biegen um eine Ecke und sind wieder auf einem dieser +merkwürdig schrägeckigen Plätze, die in alter Zeit Bastionen +der Stadtmauer waren. Er heißt Hausvogteiplatz und früher +war in der Nähe ein garstiges Haus, das in den vierziger und +fünfziger Jahren politische Gefangene vergitterte. Jetzt ist +ein fleißiges Geschäftsviertel rings umher. Altertümlich ist +hier nur noch der Grundriß, hier beginnt die Gegend der +verschiedenen Wallstraßen und das Gelände des alten +Friedrichwerders, dieses dritten Berlin neben dem, das +jenseits beider Flußarme liegt, und dem näheren Cölln an der +Spree. Hier könnten wir rechtshin fahren, erst an den +Engelchen vorbei, die in den Fensterkreuzen des Hospitals +der Grauen Schwestern von der heiligen Elisabeth beten, und +weiter in die Alte Leipzigerstraße und die wunderlichen +Winkel bei Raules Hof. Statt dessen lenkt unser Gefährt auf +breiterem Damme gen Norden, vorbei an dem rötlichen +Mauerwerk der Reichsbank, einem Werke Hitzigs, des Erbauers +der Börse, der für das reicher werdende Berlin der sechziger +und siebziger Jahre eine Art gediegener Renaissance für +Handel und Industrie schuf, die den bescheidenen +Klassizismus der letzten Schinkel-Schüler ablöste, immer +noch besser war als das, was hinterdrein kam, aber doch den +Weg ins Wilhelminische Spiel mit alten Stilen vorbereitet +hat. Noch recht unschuldig ist dagegen die sogenannte +‚modifizierte Gotik‘, in welcher Schinkel Ende der zwanziger +Jahre die Friedrich Werdersche Kirche am Werderschen Markt, +unserm nächsten Ziel, erbaut hat. Das ist ein brav +altpreußisches Werk, hat den braunen Backsteinton, wie ihn +in unserer guten Stadt eine ganze Reihe Kirchen und Bahnhöfe +haben, mehr pflichtgetreu als fromm aussehend, mehr an ‚Treu +und Redlichkeit‘ als an Mystik gemahnend. Ein strenger +Erzengel tötet überm Portal einen unbefugten Drachen und +schaut dabei nicht träumerisch ins Weite wie seine älteren +Vettern aus Holz, Stein und Farbe, sondern +zielend auf sein Opfer. Ob ihm dabei wohl manchmal die +eleganten Verkäuferinnen und Besucherinnen des großen +Modehauses gegenüber zuschauen? Ob sie es sympathisch +finden, daß er so beschäftigt ist mit seiner Mission oder es +lieber hätten, er träumte ein wenig ins Ungewisse, und +herüber? + +Über die Schleusenbrücke und den Schloßplatz. Denen, die die +Hälse nach dem stolzen Bau recken, verspricht der Führer, +daß wir nachher wieder hierher kommen, doch jetzt erst eine +kleine Tour durch Alt-Berlin machen wollen. Die muß leider +etwas eilig ausfallen, denn wir haben noch so viel zu +absolvieren. Ich aber rate dir, lieber Fremdling und +Rundfahrtnachbar, wenn du noch einmal in diese Gegend kommst +und Zeit hast, dich hier ein wenig zu verirren. Hier gibt es +noch richtige Gassen, noch Häuserchen, die sich +aneinanderdrängen und mit ihren Giebeln vorlugen, gar nicht +weiter berühmt außer bei ein paar Kennern und auch nicht so +leer oder nur so am Rande besiedelt, wie es die richtig +sehenswürdigen Häuser sind. Nein, sie sind dicht bewohnt +von ahnungslosen Leuten, die durch die weit offne Haustür +eine steile Treppe mit breitem Holzgeländer herunter kommen +oder hinter Blumenkästen und Vogelbauern aus schöngerahmten +Fenstern schauen. Sieh, da zur Rechten zweigt so ein Gäßchen +ab, Spreegasse heißt es und ist Raabes Sperlingsgasse, und +da steht auch das Haus, in dem der Dichter gewohnt hat, und +gleich daneben weiß ich eins mit reizenden Steingirlanden +über den Fenstern und wunderbar altgrünem Holz an Tür und +Torfassung. Die Brüderstraße, durch die +wir fahren, hat noch Schwung, und ihre Häuser, ob alt, ob +neu, stehn in bewegter Kurve. Dort in das unscheinbare mußt +du gehn. Das ist eine wichtige Berliner Stätte. Dem +berühmten und berüchtigten Friedrich Nicolai hat es gehört. +Die schöne Barocktreppe, die du innen sehn wirst, hat ein +früherer Bewohner, ein Kriegskommissär, bauen lassen. Eine +Zeitlang hat es der ‚patriotische Kaufmann‘ Gotzkowsky +besessen, der, als er noch reich war, Berlin im +Siebenjährigen Krieg vor Plünderung durch die Russen rettete +und später die Porzellanmanufaktur an Friedrich den Großen +verkaufte. Dies Haus hier kam dann, als er ruiniert war, mit +all seinem Besitz unter den Hammer und ist noch von mehreren +andern bewohnt worden, bis es der Buchhändler Nicolai +erwarb. Da wurde es zum gesellschaftlichen Mittelpunkt von +Berlin. Davon spürst du vielleicht etwas, wenn du in den +großen Saal mit den Wandspiegeln und Paneelen kommst. In den +kleineren Räumen aber, die jetzt ein Lessing-Museum bergen, +haben ein paar entzückende Kinder gespielt und gelernt, +worüber zu lesen in den unvergleichlichen Tagebüchern der +Lily Partey, die des alten Nicolai Enkelin war. Viele +bedeutende und manche kuriose Berliner der +geistig-geselligen Zeit im Anfang des neunzehnten +Jahrhunderts gingen in diesen Räumen ein und aus und waren +zur Sommerszeit in der Gartenwohnung der Parteys zu Besuch, +die in der Blumenstraße lag, draußen bei der Contrescarpe, +dem späteren Alexanderplatz. + +Petrus ist der Patron der Fischer und nach ihm heißt die +Kirche, um die wir jetzt herumfahren. Sie steht an der +Stelle des Heiligtums der Fischer von Alt-Cölln. Einem andern +heiligen Wesen, an dem das Herz der Cöllner und Berliner +hing, ist dort auf der Brücke, über die der Weg zum +Spittelmarkt führt, ein Denkmal, allerdings erst in neuerer +Zeit, errichtet. Das ist Sankt Gertraudt, die Äbtissin, die +Spitäler und Herbergen für Reisende gegründet hat. Der +Spittelmarkt hat seinen Namen von dem Gertraudtenhospital, +als dessen letzter Rest noch bis in die achtziger Jahre die +kleine Spittelkirche stand, mitten auf einem idyllischen +Marktplatz, aus dem mit der Zeit einer der +verkehrsreichsten, von hohen Geschäftshäusern umgebenen +Plätze der Stadt geworden ist. Vor der Heiligen auf der +Brücke kniet ein fahrender Schüler, dem sie einen Trunk +reicht. Sieht sie nicht, daß er eine gestohlene Gans an +einer Leine mit sich führt, oder übersieht sie es gnädig? +Als Freundin der Wanderer ist sie auch den Seelen der +Verstorbenen auf ihrer Wanderschaft hold. Die verwandeln +sich nach einer Volkssage in Mäuse und kommen in der ersten +Nacht nach dem Tode zu Sankt Gertraudt, in der zweiten zum +heiligen Michael und erst in der dritten in ihr +Dauerjenseits. Daher die Mäuseschar am Sockel des Denkmals. +Sankt Getraudt hat in der Hand einen Spinnrocken. Sie ist +der Frau Holle und der heidnischen Gottheit, aus der die +Frau Holle wurde, verwandt und beschützt den Flachsbau und +die Spinnerinnen. Die Frühlingsblumen aber, die als Spende +zu ihren Füßen liegen, bedeuten Dankgaben der Landleute, +deren Flur und Feld die Gebieterin der Mäuse vor den Tieren, +die unter ihrem Zauber stehen, schützt. Es ist gerade kein +großes Meisterwerk, das Denkmal, das hier so ausführlich +beschrieben wird, aber es passiert soviel darauf, daß man +davon berichten kann wie Pausanias von dem heiligen +Steinwerk Griechenlands. + +Die Gertraudtenstraße führt uns zum Cöllnischen Fischmarkt, +der einstmals der Hauptplatz von Cölln an der Spree war. +Hier stand bis vor dreißig Jahren das Cöllner Ratshaus. Aber +ein putzigeres Gebäude aus älterer Zeit ist schon seit +Jahrhunderten verschwunden. Das Narrenhäuslein meine ich, in +das man in alten Tagen die Betrunkenen brachte, damit sie +ihren Rausch ausschlafen konnten. Wenn das Narrenhäuslein +nicht mehr steht, so gibt es doch nicht weit von hier ein +uraltes Haus, in dem es auch recht närrisch zugehen kann. +Das ist am Ende der Fischerstraße, die an alten Gassen +vorbei vom Fischmarkt zu der Friedrichsgracht führt, das +Gasthaus zum Nußbaum. Man behauptet, es sei Berlins ältestes +Haus und es sollen hier schon die Landsknechte mit +berlinisch-cöllnischen Dirnen gezecht haben. Es hat einen +hohen mittelalterlichen Giebel. Wer es richtig kennen lernen +will, der muß spät abends hingehen. Da ist eine seltsam +gemischte Gästeschar versammelt. Seidenbluse und Schürze +sieht man nebeneinander am selben Tisch und Fischer- und +Fuhrmannskittel neben Bratenröcken. An der Wand hängen unter +alten Gastwirtsdiplomen echte Zille-Bilder, vom Meister +selbst geschenkt. Hier habe ich zum ersten Male die +neuerdings veränderte Loreley singen hören mit den +schmetternden Strophenanhängseln: + + | ‚Sie kämmt sich mit dem Kamme, + | Sie wäscht sich mit dem Schwamme‘ + +und die Bekanntschaft von Ludeken gemacht, die sich selbst +‚eine Alte von Zille‘ nennt, zu allem, was sie sagt, den +Finger geheimnisvoll an den Mund legt und, wenn sie munter +wird, abwechselnd ihre Papiere und ihre weiße Unterwäsche +zeigt. Sie bekommt von aller Welt zu trinken, gießt aber +doch noch heimlich in ihrer Ecke die Neigen einiger Gläser +zusammen. Tanzen tut sie auch manchmal mit Kavalieren oder +allein, und das ist ein erbaulicher Anblick. Nur wenn ihr +‚Chef‘ kommt, hockt sie sich brav in ihre Ecke. Der Chef ist +einer, dessen Pferde Ludeken in aller Morgenfrühe betreuen +und füttern muß; und dazu nüchtern zu sein, ist nicht +leicht. + +Unser Wagen rollt über den Mühlendamm, das ist die Brücke, +die Cölln und Berlin verband, als es noch ihrer zwei waren, +verband und trennte. Denn auf dieser Stelle haben sich die +Bürger der Nachbarstädte des öftern die Köpfe blutig +geschlagen. Am Brückenrand stehen zwei bronzene Markgrafen: +Albrecht der Bär und Waldemar. Sie sind einem nicht gerade +im Wege, aber sie brauchten nicht unbedingt hier zu stehen, +sie haben ja schon ihren Standort in unserer kompletten +Siegesallee. Hübsch muß, nach den alten Bildern zu +schließen, dieser Mühlendamm gewesen sein, als noch +Bogenhallen und Trödlerläden hier waren. Und die Mühlen +selbst waren gewiß auch erfreulicher anzusehen, als es das +städtische Dammühlengebäude ist, diese falsche Burg aus den +neunziger Jahren, in der jetzt eine städtische Sparkasse +untergebracht ist. Wenn sich das große Bauprojekt für das +Berliner Wasserstraßennetz verwirklichen und die +Mühlendammschleuse umgebaut +werden wird, um den Ansprüchen größerer Schiffe zu genügen, +wird unter anderm auch dies Gebäude fallen, und dann gibt es +schöne Aufgaben für unsere Stadtbaumeister und Architekten. + +Wir halten auf dem Molkenmarkt. Da fällt uns ein schönes +Haus aus friderizianischer Zeit auf, das Palais Ephraim, das +des großen Königs berüchtigter ‚Münzjude‘ erbauen ließ, der +Verfertiger der minderwertigen Friedrichdors, der +sogenannten ‚Grünjacken‘, von denen man reimte: + + | Von außen schön, von innen schlimm, + | Von außen Friederich, von innen Ephraim. + +Innen kann man das schöne Haus nicht besehen, da sitzen +Behörden. Außen bildet es als Eckhaus mit seinen auf +toskanischen Säulen ruhenden Balkonen, den korinthischen +Wandpfeilern, den zierlichen Putten überm Gitterwerk ein +wunderbares Halbrund. Um den Molkenmarkt herum lag die +älteste Ansiedlung auf der berlinischen Seite der Spree, und +hier finden wir auch die einzige ganz erhaltene +mittelalterliche Gasse, den oft beschriebenen und oft +abgebildeten Krögel, der so berühmt ist, daß unser Wagen vor +seiner Einfahrt hält und die Insassen aussteigen und den +schmalen Gassengang nach dem Wasser zu gehn. Ursprünglich +soll hier ein schon in alter Zeit zugeschütteter Kanal oder +Spreearm gewesen sein, der dem Verkehr vom Markte und +Packhof zum Flusse diente. Ein Torweg führt in den inneren +Hof der Gasse. Hier war im Mittelalter das einzige Badehaus +von Berlin. Da bedienten den Badenden die Töchter der Stadt, +von denen man sagte, daß sie ‚an der Unehre saßen‘. Sie +hatten eine Art Berufstracht, kurze Mäntel, und mußten ihr +Haar kurzgeschoren tragen. Es war also wohl sehr +beleidigend, als anno 1364 der Geheimschreiber des +Erzbischofs von Magdeburg, ein leichtfertiger Lebemann, eine +ehrsame Bürgerstochter aufforderte, ihn nach dem Krögel zu +begleiten, und die Wut der Bürger ist zu verstehn, die zum +Hohen Haus zogen, wo des Bischofs Gefolge zu Gaste war, den +Frevler von der Tafel wegrissen und auf dem Markte zu Tode +prügelten. Zu besondern Gelegenheiten sind aber auch ehrsame +Frauen in den Krögel gekommen. Es war Sitte, daß man die +Brautfeierlichkeiten mit einem Bad und Frühstück beim Bader +begann. Dann kam ein bunter, munterer Zug die alte Gasse +herauf, voran die Musiker und der Spaßmacher. Sehr +zartfühlend werden die Scherze nicht gewesen sein, die sich +die Braut gefallen lassen mußte. An eine spätere Zeit +erinnert die alte Sonnenuhr, die noch heute an einer Mauer +zu sehn ist. Sie zeigte die Stunde den Hofleuten fremder +Fürstlichkeiten, die hier einquartiert wurden, wenn ihre +Gebieter beim Kurfürsten zu Gaste waren. Heut sind in den +überhängenden Stockwerken und hinter den kleinen Fenstern +der Erdgeschosse Werkstätten und kleine Wohnungen. Und einer +der Anwohner dieses Restes Mittelalter besitzt ein Museum +mit Waffen, Stichen und altem Hausrat. Zur Sommerzeit hallt +manchmal der lustige Lärm vom neuesten Freibad herüber, das +nach der Waisenbrücke zu und Neucölln am Wasser gegenüber +liegt. Da hat sich aus dem Schutt der Umbauten für die +Untergrundbahn, deren Tunnel hier aus der Spree taucht, eine +Art Strand gebildet. Den hat sich +junges Volk zunutze gemacht und das Freibad Paddensprung +eröffnet. Sonst aber ist es recht still im Krögel, und wenn +abends auch noch die Arbeitsgeräusche der Werkstätten +verstummen, kann im späten Licht mit Fachwerk und Giebel +hier ganz altes Berlin erstehn. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Vom lebhaften Molkenmarkt führt rund eine Gasse auf den +stillen Platz, auf dem die älteste Kirche der Stadt steht, +sie ist dem Schutzpatron der Reisenden und Kaufleute, Sankt +Nikolaus, geweiht gewesen. Von ihrer älteren Mauer ist noch +ein massiver Turmunterbau aus Granitquadern erhalten, alles +andre verbrannte bei einem der vielen Brände, die Berlin +verheert haben, im Jahre 1380. Die späteren Teile, Chor und +Langschiff, sind viel umgebaut worden. Hier mußt du einmal +wochentags mittags eintreten an Tagen, an denen die Orgel zu +stiller Andacht spielt. Unter ihrer Masse erkennt man im +Dämmerlicht die Umrisse eines Erbbegräbnisses, das von +Schlüters Meißel stammt. Je länger man hinschaut, um so +deutlicher tritt die Rundung der Vasen und barocker +Faltenwurf hervor. Die gotische Halle hat viel große und +kleine Kapellen mit Denkmälern aller großen Kunstepochen und +heiligt das Gedächtnis mancher Männer, die weit über den +Stadtbereich hinaus berühmt geworden sind. Da gibt es +Porträts von Militärs, Pröpsten, Gelehrten, Ratsherren und +ihren Ehegattinen. Viel bärtige Häupter in Fältelkragen und +Allongeperücke, gekrönt von allegorischen Frauenhänden mit +Lorbeer oder von Putten mit Sternenkronen. Auf Urnen +rahmt Akanthus alte Wappen. Ein kleiner Amor weint über +Stundenglas und sinkender Fackel. Unter geflügelten +Totenköpfen erscheint auf dunklem Grund ein Bildnis, +umringelt von der Schlange der Ewigkeit. + +Die Nikolaikirche ist wie die Marien- und die Klosterkirche +protestantisch geworden, aber sie hat wie jene noch etwas +von der alten Pracht behalten. Schade, daß es nicht mehr +nach Weihrauch riecht in ihren Hallen. Interessant zu +wissen, daß hier der Ablaßkrämer Tetzel gepredigt hat, +umlagert von dem damaligen *Tout-Berlin*, das ihn mit +Würdenträgern, Zünften, schwarzen und weißen Mönchen vom +Stadttore abgeholt hatte. + +Der stille Platz, der die Kirche umgibt — diese Trauminsel +mitten im Lärm der Großstadt — war und hieß früher +Nikolaikirchhof und das paßte zu den vielen Grabmälern im +Innern der Kirche und außen an der Kirchenwand. An diesem +Platz stehen noch ein paar sehr alte Häuschen, und wenn man +in eines geht, sieht man auf winzig kleine Höfe. In die +Wohnungen führen steile Stiegen, manche der Häuser haben +keine selbständige Giebelmauer, sondern sind ans Nachbarhaus +‚angebacken‘; und eins, das sich rühmt, Berlins kleinstes +Haus zu sein, hat zwar einen Privatmittagstisch, aber keine +Hausnummer, und man kann es nur vom Nachbarhaus her +betreten. Von solchen Häusern können wir bei einer Wanderung +durch die Altstadt noch hie und da einige sehn. Sie sind oft +nur drei Fenster breit. Die Haustür hat zwei Flügel, der +eine öffnet sich direkt vor der Wohnung im Erdgeschoß, der +andre stößt auf die schmale Treppe, die an der Türschwelle +beginnt und ins obere Stockwerk steigt. + +Wir fahren zurück zum Mühlendamm, dann die Straße ‚An der +Fischerbrücke‘ entlang und kommen über die Inselbrücke nach +Neukölln am Wasser. Hier und gegenüber auf der +Friedrichsgracht gibt es wieder einige alte Häuser, teils +mit spitzen Satteldächern, teils mit den hübschen +Mansardendächern der Barockzeit, mit Girlanden unter den +Fenstern und Pilastern, die die Hausfront schön gliedern. +Unser Wagen fährt zu eilig, um das alles anzusehn, wir +müssen es auf eine Fußwanderung durch die Straßen und die +nahen Gassen am Fluß verschieben. Da werden sich neben dem +Malerischen auch einige Kuriosa finden, wie die Riesenrippe +an einem Eckhaus des Molkenmarkts oder an einem Hause in der +Wallstraße das Relief eines Mannes, der eine Tür auf dem +Rücken trägt. Er wird nach der biblischen Sage vom Tore zu +Gaza der Simson genannt. Nach einer Überlieferung soll diese +Gestalt an die Zeit erinnern, da hier das Köpenicker Tor +stand, dessen Haspen seinerzeit in diesem Hause aufbewahrt +worden seien. Witziger aber ist die Deutung, die von einem +armen Schuster zu erzählen weiß, der hier mit seiner +kinderreichen Familie kümmerlich lebte. Als nun Friedrich +der Große mit seinem Lotteriedirektor Casalbigi, den wir aus +Casanovas Memoiren kennen, eine große Lotterie aufmachte, +die ihm viel Geld eintrug und seine Bürger viel Geld +kostete, soll dieser Schuster ein Los gekauft und, da er +fürchtete, seine Kinder könnten es in der engen +Schusterstube beim Spielen verbringen, mit Pech an die +Stubentür geklebt haben. Gerade +dieser Arme hatte Glück und zog das große Los. Um nun seinen +Schein vorzuweisen, blieb ihm nichts übrig, als die Tür aus +den Angeln zu heben und auf den Rücken zu laden. So wanderte +er zur Verwunderung seiner Mitbürger zum Lotteriegebäude. +Und nachdem er sein Geld bekommen, ließ er aus Dankbarkeit +das Bildnis an seinem Hause anbringen. Solcher an Altertümer +anknüpfender Geschichten gibt es auch in unserer nicht +gerade sagenreichen Stadt einige. Die bekannteste ist die +oft erzählte vom Neidkopf in der Poststraße, den der +Soldatenkönig und gute Hausvater Friedrich Wilhelm I. +anbringen ließ, eines fleißigen Goldschmieds neidisches +Gegenüber zu bestrafen. + +Jetzt wollen wir im Vorbeifahren wenigstens auf die Brücken +einen Blick werfen, Waisenbrücke, Inselbrücke und die schöne +Roßstraßenbrücke, welche der Stadtbaurat Ludwig Hoffmann, +dem Berlin so viel verdankt, gebaut hat. Nirgends ist die +Spree so sehr wie in dieser Gegend ein Teil der +Stadtlandschaft geworden und geblieben. Hoffmann und seine +Mitarbeiter haben es verstanden, was neu zu bauen war, dem +alten anzupassen ohne in Historismus und Abhängigkeit zu +verfallen wie die ‚romanischen‘ Baumeister Wilhelms II. An +einem der Meisterwerke dieses Künstlerkreises kommen wir +jetzt vorbei, dem Märkischen Museum. Cöllnischer Park heißt +der Garten, an dem dies stolze Bauwerk sich erhebt, und im +Grünen lagern Säulenstücke und stehen brüchige Engel, +zwischen denen man umherspazieren, spielenden Kindern +zusehen oder die eine Front der Museumsburg anschauen kann. +Um den dicken eckigen Turm sind in Backstein allerlei +märkische Stilperioden, +wie sie in reicher bedachten Städten, Tangermünde, +Brandenburg usw., vertreten sind, vereinigt. Und diese +Vielgliedrigkeit paßt gut zu dem Museumscharakter des +Ganzen. Im Innern läßt sich reichlich Heimatskunde treiben, +von ältester Zeit bis in Theodor Fontanes Tage. Hier kann +man Hosemanns Kleinbürgerstadt kennen lernen, Berliner +Zimmer aus der Biedermeierzeit sehn, eine Putzstube wie die, +von der Felix Eberty erzählt; man könnte allerdings aus +Berliner Privatbesitz noch viel mehr Biedermeier sammeln, +all den rührenden Kleinkram an Etuis und Bestecks, +Spieldosenhäuschen aus Zitronenholz, Stammbuchbildern, das +viele herbstliche Goldgelb der Möbel aus flammender Birke +und das Mahagoni der Schränke. Ja, ich könnte mir ein ganzes +Museum Berliner Inneneinrichtung denken, wo als Kuriosum +auch das späte neunzehnte Jahrhundert mit Plüsch und Nippes, +verdunkelnden Butzenscheiben, Gipsengeln und Reisealben zu +sehen wäre. Eine sehr reizvolle Abteilung des Märkischen +Museums ist auch die Flora- und Faunasammlung: schöne +Schachtelhalm- und Weidenarten, Rohr, Farren und Getreide +und die Schnecken und die wunderbaren Ornamente der +Wespennester. + +Vor dem Museum steht ein Roland, der dem Roland von +Brandenburg nachgebildet ist. Seinen eignen Roland hat +Berlin schon früh verloren. Er soll als Sinnbild der +städtischen Selbständigkeit auf dem Molkenmarkt oder da in +der Nähe gestanden haben. Und Friedrich II. der Kurfürst, +der der Stadt ihre Macht raubte und den Bären ihres Wappens +unter den Adler des seinen zwang, soll ihn haben fortnehmen +und in seine Zwingburg bringen lassen. Da man aber nie ein +Stück von diesem Roland auffand, entstand die Sage, der +Kurfürst habe ihn in die Spree geworfen. Nun neuerdings hat +Berlin wieder Rolande, den am Kemperplatz, welcher den +träumerisch grünen sogenannten Wrangelbrunnen unserer +Kindheit und seine freundlichen Meergötter verdrängt hat. +Und den, der als eine Art Brunnenbübchen vor dem einen der +unglücklichen romanischen Häuser an der Kaiser +Wilhelm-Gedächtniskirche steht. Der wird aber, wie wir +hören, demnächst dem überhandnehmenden Verkehr aus dem Wege +geschafft werden. + +Wir fahren über die Waisenbrücke zurück und sehen zur +Rechten, da, wo die alte Jannowitzbrücke abgebrochen wird, +ein wunderbares Schauspiel aus Ruinen und Neubauwelt. +Zwischen Kranen und Kähnen, Schuttbergen und Baggermaschinen +schwimmt der Trümmerrest der alten Brücke, ein ‚Ponte rotto‘ +mitten in der Spree. Auch an dem Stadtbahnbogen da oben wird +gearbeitet und sein aufgebrochenes Mauerwerk ist ein von +Erinnerungen angeräuchertes Stück Tempel des Dampfes, dieser +schon altertümlich gewordenen Lokomotion. + +Die Stralauerstraße führt uns an dem mächtigen Stadthaus +entlang, das Ludwig Hoffmann gebaut hat. Wir blicken hinauf +zu dem hohen Turm mit seinen zwei Säulengeschossen und der +‚welschen Haube‘, die ihn deckt. Wir biegen in die +Jüdenstraße ein und sehen an dem Eingang zur Festhalle des +Stadthauses den bronzenen Bären von Wrba, der hier als +wackeres Totemtier des Berliner Volkes Wache steht. Der gute +Bär von Berlin, er muß durch irgend eine immerhin +begreifliche Volksetymologie zu seiner Stadttierwürde +gekommen sein. Denn das Wort Berlin hat nichts mit Bär zu +tun, sagen die Gelehrten, vielmehr bedeutet es hier wie an +mehreren andern Orten, wo Plätze so heißen, auf wendisch das +Wehr. Und solch ein Wehr oder Wasserrechen verband in der +wendischen Vorzeit das rechte und das linke Spreeufer, so +daß schon vor den Zeiten des Mühlendamms eine Gemeinschaft +zwischen den späteren Orten Berlin und Cölln bestand. Aber +nun ist der Bär einmal unser Stadttier geworden und der von +Wrba ist besonders sympathisch. Jetzt schaut der spitze +grüne Turm der Parochialkirche auf uns nieder, in dem ein +schönes Glockenspiel Sonntag und Mittwoch mittags erklingt. + +In der benachbarten Parochialstraße stehn ein paar uralte +Häuschen, die bald abgerissen werden sollen. Sie sind so +baufällig, daß die Baupolizei den Aufenthalt von Menschen +darin nicht länger dulden kann. Man weiß aber oft gar nicht +recht, wer da wohnt, und so werden denn die unbekannten +Einwohner durch Anschläge aufgefordert, die Stätte zu +räumen. Eins heißt bei den Nachbarn das Spukhaus, dessen +‚Schwarzmieter‘ lassen sich tags überhaupt nicht sehn. Da +sind die Fenster und Türen zum Teil schon herausgenommen. +Ein andres ist die provisorische Stätte einer sehr +merkwürdigen Ausstellung. Da hat ein Friedensfreund sein +‚Antikriegsmuseum‘ aufgemacht. Als Blumentöpfe hat er vor +dem Laden Helme aufgehängt, wie man sie im Schützengraben +trug. In der Auslage gibt es vielversprechende Sprüche und +Bilder. Stufen führen hinunter in einen kellerähnlichen +Raum, der hinterwärts an ein schon im Abbruch begriffenes Stück +Haus stößt. Ein Todesgrinsen liegt auf den Photographien +gräßlich Verwundeter, den Waffenteilen, Geschoßstücken, den +Mobilmachungsbefehlen und Aufforderungen zu goldnes +Zeitalter verheißenden Kriegsanleihen. Helmchen und +Säbelchen für die lieben Kinder zu Weihnachten, Kissen, auf +denen gestickt zu lesen ist ‚Unserm tapfern Krieger‘, +Erkennungsmarken, Auslandskarikaturen auf die Großen der +großen Zeit, Seifenkarten, Brennholzscheine, ‚deutscher‘ Tee +neben Bleisoldaten und Tassen mit der Inschrift ‚Gott strafe +England‘. Eine lehrreiche Sammlung, die hoffentlich eine +würdige Stätte finden wird, wenn hier alles abgerissen ist. + +Ein paar Schritte weiter die Jüdenstraße hinauf öffnet sich +zwischen den Häusern ein Durchgang zum sogenannten Großen +Jüdenhof — wie schon das Beiwort andeutet, hat es außer ihm +ehedem noch einen kleinen nicht weit von hier gegeben, der +inzwischen einer Straßenverbreiterung zum Opfer gefallen +ist. Der große aber ist noch ganz vorhanden und umgibt mit +einem Dutzend Häuser einen stillen hofartigen Platz. Vor dem +stattlichsten der Häuser, in das eine Freitreppe mit +Eisengitter führt, steht ein alter Akazienbaum. Unter diesem +Baum ‚vor dem Haus mit der Treppe‘ sollen die Juden, als sie +wieder einmal vertrieben wurden, ihr Gold vergraben haben — +sie wußten gewiß, der Markgraf oder Kurfürst, der sie +fortjagte, werde bald wieder seine ‚Kammerknechte‘, so +nannte man sie, nicht entbehren können. Das war in der Zeit, +als sie hier hinter Eisentoren hausten, die des Nachts +verschlossen und bewacht wurden. Auf der Straße +durften sie sich nur in ihrer Zwangsuniform, Kaftanen von +bestimmten Farben und spitzen Hüten, zeigen. Festen Wohnsitz +durften sie nicht erwerben, auch nicht während der Märkte +und Messen Handel treiben, und sie mußten hohe Schutzgelder +zahlen. Offenbar wird es ihnen hier doch gefallen haben, +denn aus jeder Verbannung sind sie, sobald sie konnten, +wieder hierher zurückgekehrt, haben Reichtümer erworben, +sich verdächtigen und foltern lassen. In ausführlichen +Darstellungen und Bildern ist die Geschichte jenes Lippold +erhalten, der an des Kurfürsten Hof in hohem Ansehen stand, +aber von dem Sohn und Nachfolger seines Gönners schwer +beschuldigt und zu qualvollem Sterben verurteilt wurde. Der +Henker im hellgrauen Hut mit der roten Binde mußte ihn auf +dem Armesünderkarren von Stätte zu Stätte führen, wo der +Karren an einer Ecke hielt, gräßlich martern und endlich auf +dem Markte vierteilen. Die Gassenbuben liefen hinterdrein +von Ecke zu Ecke, es war ein Fest für sie zuzusehen, wie der +Henker dem Verurteilten den Staupbesen gab. Als dann +humanere Zeiten kamen, bezogen die Juden Quartiere außerhalb +des alten Ghettos, das nun ganz zum Idyll mitten in der +lärmenden Stadt geworden ist. + +Etwas Ghettoähnliches gibt es noch heut an andrer Stelle, +übrigens auch nur noch für kurze Zeit, denn das +Scheunenviertel mit seinen vielen Gassen zwischen +Alexanderplatz und Bülowplatz, das dieses Wahlghetto birgt, +ist im Begriff, vom Erdboden zu verschwinden. Man muß sich +beeilen, wenn man das Leben in den Straßen mit den +merkwürdig militärischen, garnicht ans Alttestamentarische +erinnernden Namen wie Dragoner- und Grenadierstraße, noch kennen lernen +will. Schon erheben sich die neuen Häuserblöcke und +überragen die Reste, die langsam Ruine werden. Aber eine +Zeitlang gehen noch die Männer mit den altertümlichen Bärten +und Schläfenlocken in langsamen, die schwarzhaarigen +Fleischertöchter in munteren Gruppen den Damm ihrer Straße +auf und nieder und reden Jiddisch. An Läden und +Stehbierhallen sind hebräische Inschriften. Noch sind diese +Straßen eine Welt für sich und den ewigen Fremden eine Art +Heimat, bis sie, die vor noch nicht langer Zeit von einem +Schub aus dem Osten hergetragen worden sind, sich soweit in +Berlin akklimatisiert haben, daß es sie verlockt, tiefer in +den Westen vorzudringen und die allzu deutlichen Zeichen +ihrer Eigenart abzutun. Es ist oft schade darum, sie sind +eigentlich so, wie sie im Scheunenviertel herumgehen, +schöner als nachher in der Konfektion und an der Börse. + +Böse Zungen haben die schmale Privatstraße, die von der +Potsdamer an alten Gärten entlang führt und zur Lützowstraße +umbiegt, das neue Ghetto genannt. Dieses Scherzes sind die, +welche hinter dem Gitter des Durchgangs wohnen, wohl kaum +würdig, man wird da keinen Kaftan und keine Schläfenlocke +finden. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Rasch fährt unser Wagen durch die Klosterstraße. Er hält +nicht vor den Wandelgängen des alten Gymnasiums zum Grauen +Kloster, dem ältesten Berlins. Es ist aus dem Kloster +der Franziskaner oder Grauen Brüder hervorgegangen und +enthält in seinen Mauern noch Konvent- und Kapitelsaal. Im +Hofraum erhebt sich die Klosterkirche. Sie ist von dem +großen Brande des Jahres 1380 bis auf den Turm unversehrt +geblieben, und ihre Mauern bergen das meiste Mittelalter von +allen Berliner Kirchen. Im dämmerigen Chor wird der Besucher +die fünfzig Gestühle der Mönche bewundern, sie sind aus +Eichenholz, mit reichem gewundenen Schnitzwerk geziert. Über +ihnen sind in der Wandbekleidung geschnitzte Sinnbilder, +merkwürdige Allegorien der Passionsgeschichte, ein Zählbrett +mit Silberlingen, das den Verrat des Judas, zwei +aneinandergeschmiegte Köpfe, die seinen Kuß bedeuten, Fackel +und Laterne gemahnen an die nächtliche Verhaftung im Garten +Gethsemane, Ketten an Jesu Fesseln, Schwert und Ohr an Petri +Hieb nach dem Knecht der Hohenpriester. + +Als das Gymnasium gegründet wurde, bekam es nur die Hälfte +der Klostergebäude, die andre, und zwar die nach dem +sogenannten Lagerhause zu, bekam Leonhard Thurneysser, der +Tausendkünstler aus Basel. Er hatte hier und in dem +Lagerhause selbst seine Buchdruckerei, Schriftgießerei, +Werkstätten für Holzschnitt und Kupferstich, er machte +Goldtinkturen und Perlenelixiere, Amethyst- und +Bernsteinessenzen, ja auch Schönheitswässer für die Damen +der hohen Gesellschaft, die ihn jede einzeln in Dankbriefen +baten, er solle doch ja keiner andern den gleichen +Zaubersaft zukommen lassen. Man erzählte sich von ihm, daß +er Satan in Gestalt eines Skorpions in einem Glase gefangen +halte und daß täglich drei schwarze Mönche mit ihm speisten, +die gewiß Abgesandte der Hölle seien. + +Das Lagerhaus war hervorgegangen aus dem Hohen Hause, der +alten Markgrafenresidenz, die der erste Zollernkurfürst +bezog und seine Nachfolger erst verließen, als ihre +Zwingburg zu Cölln an der Spree vollendet war. Da wurde dann +das Lagerhaus wie alles in dieser Gegend Burglehen. Was in +diesen Burglehen hauste, war abgabenfrei, aber zum +Schloßschutz verpflichtet. Aus den Burglehen sind die +späteren Freyhäuser geworden, deren noch eine Reihe an den +Inschriften überm Hauseingang kenntlich sind. Die Geschichte +des Hohen und späteren Lagerhauses ist interessant: hier +wurde von Friedrich II. der Schwanenorden gestiftet. Bei der +Aufteilung kam es an einen Ritter von Wardenfels und nach +ihm an eine Reihe Adliger und Geistlicher. Im siebzehnten +Jahrhundert wurde es eine Zeitlang Privatbesitz, im +achtzehnten Ritterakademie. Dann gab es Friedrich Wilhelm I. +dem Staatsminister Johannes Andreas Kraut als Lagerhaus für +Wollwaren. Der König, der für sein Militär kein +ausländisches Tuch kaufen wollte, begünstigte sehr die +Fabrik seines Getreuen. Sie ist erst im Anfang des 19. +Jahrhunderts eingegangen. Die Räume wurden staatliche +Dienstlokale. Eine Zeitlang war das Geheime Königliche +Staatsarchiv darin. Jetzt steht an den Erdgeschoßfenstern +des immer noch stattlichen Hauses ‚Zu vermieten‘. + +An dem mächtigen Gebäude des Land- und Amtgerichts entlang +kommen wir zu den Stadtbahnbögen und dem Alexanderplatz, auf +dem es zurzeit recht unordentlich aussieht, +weil hier ein ganzes Stadtviertel eingerissen und umgebaut +wird. Die Heimlichkeiten der Umgebung dieses Platzes zu +erforschen, ist hier vom Fremdenwagen aus keine Zeit. Das +muß einem Spaziergang nach dem Osten vorbehalten bleiben. +Ein Stück Neue Friedrich- und ein Stück Kaiser Wilhelmstraße +fahren wir bis zum Neuen Markt. Zu Fuß wären wir dahin die +schmale Kalandsgasse gegangen und hätten uns der etwas +rätselhaften Kalandsbrüder erinnert, von denen sie ihren +Namen hat und deren Kalandshof hier im Schatten von Sankt +Marien stand. Die alte Elendsgilde dieser Gesellen, deren +Name rätselhaft bleibt (die Deutung nach calendae wird +angezweifelt), verwandelte sich mit der Zeit aus einer nach +gestrengen, in manchem an Templersitten gemahnenden Gesetzen +lebenden Bruderschaft der ‚elenden Priester der Propstei‘ in +eine recht wüste Rotte, deren Lebensweise bewirkte, daß man +hierzulande unter ‚Kalandern‘ eine besonders wüste Art +Müßiggang verstand. + +Auf dem Neuen Markt steht vor der Marienkirche ein großes +Lutherdenkmal. Da ist der Reformator mit obligater Bibel +nebst seinem ganzen Stabe zu sehen. Die Mitstreiter bewohnen +sitzend und stehend den breiten Sockel des großen +Steinwerks, und zwei sitzen sogar noch auf den +Treppenwangen. + +In alter Zeit hat hier ein Galgen gestanden für Soldaten, +die zu einem schimpflichen Tode verurteilt waren. Als er +errichtet wurde, war gerade Peter der Große von Rußland bei +König Friedrich Wilhelm I. zu Besuch. Der Zar interessierte +sich sehr für das neue Hinrichtungsinstrument und bat den +König, an einem seiner langen Kerle den Apparat +auszuprobieren. Als der König sich entrüstet weigerte, sagte +Peter: ‚Nun, dann können wir’s mit einem aus meinem Gefolge +versuchen.‘ Hoffentlich haben die Monarchen von diesem +Versuch Abstand genommen. Es ist immerhin besser, daß jetzt +da kein Galgen, sondern nur ein Denkmal steht. Am besten +aber stünde gar nichts oder nur die bunten Buden eines +Marktes wie in früheren Zeiten. Die Marienkirche hat breite +Steinquadern, Granit der Findlingsblöcke, aus der Zeit, +bevor man in der Mark mit Backstein baute. + +Diese Kirche, mein lieber Fremder, mußt du dir innen +anschauen, wenn du irgend Zeit hast. Da ist eine wunderbare +Kanzel von Schlüter. Und das Ergreifendste an dieser Kanzel +sind zwei große Engel, welche die Ekstase von den tastenden +Zehen bis zu den emporgedrehten Hälsen bewegt. Im Flaum +ihrer mächtigen Marmorflügel zittert Verzückung. In den +Kapellen schöne Grabmonumente: hinter schmiedeeisernem +Gitter das reichverzierte Grabmal eines Patrizierehepaars. +Zwischen derben Engeln ein wackrer Reitersmann mit dem +würdigen Vorbauch der Wallensteinzeit, halbleibs über einem +Totenkopf betend. Eine süß lagernde Barockputte zeigt auf +das Reliefbildnis einer Verstorbenen. Im Chor das große +Grabmal des Grafen Sparr, der ein Wohltäter der Kirche war; +ein Antwerpner Künstler soll das geschaffen haben. Der +Feldmarschall kniet mit den bepanzerten Beinen in +säulenumgebener Kapelle vor seinem Betpult auf einem +Marmorkissen. Unterm Pult aber legt ein Hündchen die Pfote +über die Leiste und schaut zu seinem Herrn hinauf. Das hat +ihm einmal, als er auf Feldwacht war, des Feindes Ankunft +durch Bellen verraten, darum ist es hier zu Füßen seines +Herrn begraben. Hinter dem Grafen steht ein schöner Page und +hält den federngeschmückten Helm seines Herrn. An Sparrs +Türkensiege erinnern die Gestalten von Mars und Minerva, die +da oben von rechts und links her sein Wappen halten. Zu +ihren Füßen hocken je zwei mit Fesseln an Kanonenrohre +geschmiedete Sarazenen. Hier wie in Sankt Nikolai und in der +Klosterkirche sah sich der Adel und die Patrizierschaft von +den Grabmälern der Ahnen umgeben, und sie sind eine Welt für +sich: die aufrecht stehenden Grabsteine an den Wänden, die +abgetretenen Sandsteinplatten, auf denen die Wappen mit den +reichen Helmen dem Hinschauenden langsam deutlicher werden, +die Holztafeln mit Bildern der Stifter, umgeben von steinern +rankender Allegorie. Zu all diesem Grabgestein in der Kirche +und an ihren Außenmauern muß man nun noch die Gräber des +Volkes hinzudenken, die vor der Kirche auf Plätzen waren, +über welche Herden weideten und die auch zur Bleiche oder +als Seilerbahn dienten. Mehr und mehr sind diese Friedhöfe +von den Kirchen abgewandert. Nur ganz wenige sind noch bei +ihrem Gotteshaus wie der alte Parochialfriedhof. Schon unter +Friedrich Wilhelm I. fing man an, die Begräbnisplätze der +Gemeinden vor die Tore der Stadt zu verlegen. + +In der Marienkirche findet sich noch etwas, wovon ich +sprechen muß, und zwar in der Turmhalle. Da läuft ein über +zwanzig Meter langes Fresko die Kirchenwand hin, das man +erst vor einem halben Jahrhundert unter der Tünche +entdeckt hat, mit der es bilderfeindliche Zeiten verbargen. +Vor blauem Himmel und grünem Anger bewegen sich zwischen den +tanzführenden Toden geistliche und weltliche Gestalten. +Neben der Kanzel des braunbekutteten Franziskaners, zu +dessen Füßen teuflische Fratzenungeheuer den Tanz lauernd +und musizierend verfolgen, beginnt den Reigen der Küster im +Chorhemd, von einem Tode angefaßt, der seine Linke dem +nächsten Geistlichen reicht, den verbindet der grausige +Nachbar mit dem grauen Augustiner, den wieder einer mit dem +Kirchherrn in rotem Gewand, und so geht es weiter über den +Kartäuser, den Doktor — den zählte das Mittelalter auch zu +der Geistlichkeit und ließ ihn mit frommem Schauer die +Flüssigkeit in seinem Glase beschauen —, den zierlichen +Domherrn, den feisten Abt, den prunkenden Bischof, den roten +Hut des Kardinals bis zu des Papstes dreifacher Tiara. +Hinter dem Papste bildet die Wand eine Ecke, und da ist der +Tanz durch das Bildnis des Gekreuzigten unterbrochen, zu dem +die Mutter und der Lieblingsjünger betende Hände erheben. +Dann kommen die Weltlichen. Zunächst wird hier der Kaiser +mit Zepter und Krone und blau-golden gekleidet vom Tode zur +Kaiserin hingetanzt, die ihr Schleppgewand rafft. Sehr jung +in seinen hellen Tuchschuhen ist der König. Im Harnisch muß +der Ritter, in pelzverbrämter Schaube der Bürgermeister sich +zum Tanze bequemen und sich’s gefallen lassen, daß, nur eine +Todesbreite von ihm entfernt, der Wucherer, nicht minder +vornehm und verbrämt angetan, denselben Reigen tritt. Der +Junker in Joppe und prallem Beinkleid, der Handwerksmann im +Kittel und ein +armer stolpernder Bauer folgen. Den Abschluß aber macht im +Schellenkleid der Narr. Der immer selbe und immer +verschiedene Tod, der bald schreitend, schleifend, bald mit +erhobenem Fuße hüpfend die Menschenkinder zum Reigen +vereint, ist nicht eigentlich als Gerippe dargestellt wie +auf den meisten Totentänzen, sein magerer Leib ist nur +umrissen, nicht Skelett, auf den spitzigen Knochen seines +Gesichtes wechseln in reicher Variation die Grimassen +starren und belebteren Hohnes. Um die Schultern hängt ihm +als Mantel, der seinen Leib frei läßt, das weiße Grabtuch. +Und einmal in der Gestalt, die nach dem Heiligen Vater +greift, ist er ganz nackt. + +Es ist das älteste Stück Berliner Malerei, was wir hier im +Kirchendämmer wandentlang wandern sehen. Und in altem +Niederdeutsch stehen, zum Teil erloschen, bittere Reime +darunter, die von der Unabwendbarkeit des Reigens reden. Der +ist ja nicht so berühmt wie die Totentänze von Lübeck, +Straßburg, Basel usw., aber er hat ergreifende Realität und +berlinische Helle und Kühle. Die Menschen, für die dieses +Bild gemalt wurde, haben übrigens das große Sterben und +die Lebenslust mit einem wirklich getanzten Reigen gefeiert, +der Totentanz hieß. Der kam nach einem der großen Pestjahre +auf, in einer Zeit, in der, wie immer nach der furchtbaren +Seuche (und oft schon, während sie wütete, ihr zum Trotz), +die Freude am Dasein besonders stark war. Bei diesem Tanze +traten jung und alt unter Jubel und Gelächter zu einem +Reigen zusammen. Plötzlich hörte die muntere Musik mit einer +schrillen Dissonanz auf, eine leise düstere Melodie +hob langsam an und ging in einen Trauermarsch über, wie er +bei Begräbnissen gespielt wurde. Währenddessen legte sich +ein junger Mann auf den Boden und blieb dort regungslos +ausgestreckt wie ein Toter. Die Frauen und Mädchen tanzten +um ihn herum gaben ihrer Trauer in komischer, höhnischer +Weise Ausdruck und sangen lustig ein Trauerlied dazu, dem +allgemeines Lachen Echo machte. Dann traten sie eine nach +der andern an den Toten heran und suchten ihn durch Küsse +ins Leben zu rufen. Eine Ronde der ganzen Gesellschaft +beschloß den ersten Teil der grotesken Zeremonie. Beim +zweiten Teil tanzten Männer und Jünglinge um eine, die die +Tote spielte. Ging es dann ans Küssen, war des Jubels kein +Ende. + +Wir kreuzen die Spandauerstraße. Eh wir südlich wenden, ein +Blick auf die Heiligegeistkapelle. Sie ist erhalten +geblieben, indem man ein neues Haus, die Handelshochschule, +ihr anbaute und sie diesem Hause so einfügte, daß sich in +ihrem tief herabreichenden Ziegeldach mit den +Mansardenfenstern das Dach der Hochschule fortsetzt. Innen +ist sie jetzt Vortragssaal. Zu dem gotischen Sterngewölbe +steigen Belehrungen über Bilanz, Buchführung und Bankwesen +empor. Im Mittelalter lag sie am Armenhospital zum Heiligen +Geist. Viel Efeu rankt um die spitzbogigen Fenster. + +Wir kommen an der Hauptpost vorbei und zum Ratshaus, dem +‚Roten Hause‘ aus Ziegelstein und Terrakotta. Den hohen Turm +mit den schmalen Säulen an den durchbrochenen Eckvorsprüngen +haben wir auf unserer Fahrt schon ein paarmal über alle +Dächer ragen sehn und er wird uns noch ein ganzes +Stück nachschauen. Von dem alten Ratshause, an dessen Stelle +dies Gebäude in den sechziger Jahren des vorigen +Jahrhunderts errichtet worden ist, gibt es in dem Park des +Schlosses Babelsberg bei Potsdam noch einen Rest zu sehn, +die Gerichtslaube mit ihrem allegorischen Zierat, dem Affen +der Wollust, dem Adler des Raubes und Mordes, dem +Wildschwein der Verkommenheit und einem seltsamen Vogel mit +Menschengesicht und Eselsohren, dem blutsaugenden Vampir der +Habsucht und des Wuchers. + +Nun fahren wir die Königstraße bis zur Spree und erreichen +die ‚Lange Brücke,‘ die jetzt Kurfürstenbrücke heißt. Da +läßt unser Führer halten, um uns das berühmte Denkmal des +Großen Kurfürsten zu erklären. Während unten am Sockel die +Sklaven grollend sich ducken, einer die gefesselten Hände zu +dem stolzen Überwinder hebt, der Führer von Schlüters +Entwurf und von Johann Jacobis Erzguß berichtet, denke ich +an die Volkssage, nach welcher der da oben in seinem +Imperatorenmantel auf seinem ehern schreitenden Roß in der +Neujahrsnacht Schlag zwölf mit einem Geistersprung das hohe +Postament verläßt und durch seine gute Stadt reitet, zu +sehen, was aus ihr geworden ist. Vor ihm auf dem Sattel +sitzt dann das Kind von Fehrbellin, welches er selbst aus +dem brennenden Hause gerettet hat, in dem die Schweden alle +andern Lebendigen erschlagen hatten, und das sein +schützender Engel wurde. Schlag ein Uhr kehrt er auf seinen +Sockel zurück. Unter diesem Sockel aber ruht ein reicher +Schatz. Diesen Hort darf nur der Preußenfürst heben und der +auch nur, wenn er in großer Not ist. + +Der Führer zeigt uns von hier teils rekapitulierend, teils +ankündigend Ausblicke auf das Dammühlengebäude, das Rathaus +und die ältesten Teile des Schlosses, den grünen Hut und die +Schloßapotheke, erzählt uns dabei von der kleinen Zwingburg +des zweiten Zollernkurfürsten und dem Renaissanceschloß, das +Kaspar Theyss für Joachim II. erbaute. Das hören ein paar +Straßenjungen mit an. Denen kommen wir armen Fremden recht +lächerlich vor. Sie machen des Führers erklärende Gebärden +nach und rufen ‚Det da drüben is Wasser und die ins Auto +sind Zoologscher Jarten‘. + +Wir dulden still, bis der Wagen weiterfährt, um vor dem +Neptunsbrunnen und den herrlichen Säulen und Pilastern an +der Südfassade des schönen Schlüterbaues wieder zu halten. + +Etwas zu lange verweilt unser Führer bei dem Brunnen, an +dessen Rand es immerhin eine gut lagernde Nixe mit einem +Fischnetz im Schoße gibt, und dem ehemaligen königlichen +Marstall drüben, von dem nur zu sagen ist, daß er stattliche +Breiten- und Höhenmaße aufweist und jetzt eine städtische +Bibliothek mit vielen interessanten Büchern über Berlin +enthält. Ich bleibe während seiner Erläuterungen mit den +Augen auf Schlüters Pilastern, Fensterfassungen und den +Statuen über dem Gitter des Balkons. Auf diesem Balkon mußte +am 19. März 1848 König Friedrich Wilhelm IV. erscheinen, um +die Bürgerleichen zu sehen, die von der Breiten Straße nach +dem Schloß angefahren wurden. Die Volksmenge sang und schrie +und alles hatte den Kopf entblößt, nur der König hatte die +Mütze auf, da hieß es gebieterisch ‚Die Mütze herunter!‘ +und er nahm sie ab. Die Leichen wurden durchs Schloß nach +dem Dom gefahren. Auf dem innern Schloßhof machte der Zug +halt und dort mußte wiederum der König auf der Galerie +erscheinen, vieles anhören und das Haupt entblößen. + +Wir fahren um die Ecke und halten vor dem Eosanderportal. +Hier zwingt der Erklärer unsere Blicke, statt sie auf diesem +barock gesteigerten Severusbogen von Berlin zu lassen, +hinüber zu den Steinfalten, Allegorien, trophäenraffenden +Löwen und Umbauten des Begasschen Nationaldenkmals für +Kaiser Wilhelm I., dem da oben eine Balletteuse sein +Zirkuspferd gängelt, und er behauptet, das Portal und +darüber die Kuppel der Kapelle komme erst recht zur Geltung, +seit das Nationaldenkmal die alten Gebäude der +Schloßfreiheit verdrängt habe. + +Da kann man andrer Meinung sein und sich nach dem bescheiden +gedrängten Holz- und Mauerwerk zurücksehnen, wie man es auf +alten Stichen sieht. Es hat gewiß das Königsschloß +gesteigert wie in alten Städten Marktbude und angelehnte +Häuschenschar die Kathedrale, von der sie überschattet und +gehegt wurden in den Tagen, als echte Pracht gut inmitten +echter Armut wohnte. + +Unter dem Portal ist der Eingang in das Schloßmuseum. Im +Erdgeschoß und einem Teil des ersten Obergeschosses ist seit +einigen Jahren Kunstgewerbe untergebracht. Es ist ja noch +nicht lange her, da wohnten hier die Letzten von der +Familie, der man dies Schloß gebaut hat. Wir haben sie noch +herausfahren sehn aus den Portalen und auf dem Balkon +stehen, von dem aus sie zu dem Volk sprechen konnten. Nun +sind alle Räume des Riesenbaus Museum geworden. Außer den +richtig zu Museenzwecken eingerichteten Räumen kann man nun +auch die andern, die Königskammern und Repräsentationsräume +und sogar die historischen Wohnräume jederzeit besichtigen. +Meistens ist leider ein Führer dabei. Es wird einem nicht +leicht gemacht, Schlösser anzusehn. In manchen, wie dem +reizenden Gartenschlößchen Monbijou, welches das +Hohenzollernmuseum birgt, kann man ungestört herumgehn und +Krückstöcke, Uhren, Porzellan und Prunktabaksdosen des alten +Fritzen, die Zimmer seiner Mutter, das chinesische Kabinett, +die kuriosen Wachsbilder der Fürsten und Fürstinnen usw. in +aller Ruhe betrachten. Aber so gut hat man es sonst in +Berlin, Charlottenburg und Potsdam selten. Meist wird man +geführt, und was der Führer erzählt, steht besser, +prägnanter und wissender im Baedeker. Und was das Schlimmste +ist, das Tempo der Betrachtung hängt ganz von ihm und seiner +Herde ab. Wenn man nicht Gelegenheit zu einer Sonderführung +bekommt, bleibt einem also nichts übrig, als auf gut Glück +vor einem schönen Möbel oder Bilde zu verweilen, während der +Fremdenwärter sein Sprüchlein über den ganzen Saal aufsagt. +Manchmal empfiehlt sich’s auch, statt der Altertümer die +drollige Gegenwart des Kunst- und Fürstenportiers und seiner +filzpantoffelschlurfenden Herde, welche die Anwesenheit von +Sehenswürdigkeiten mit merkwürdigen Ausrufen und Aussprüchen +begutachtet, zu genießen. Während wir uns freuen, die Räume, +die im Berliner Schloß der letzte Kaiser bewohnt hat, in den +Zustand zurückversetzt zu finden, in dem seine Vorfahren sie +ihm hinterließen, meint der Kundige, der uns nun herumführt und der +die letzte Pracht noch gekannt hat, die Räume seien jetzt +etwas kalt, und beschreibt ausführlich, was hier vor zehn +Jahren an Perserteppichen gelegen, an Schlachtenbildern und +Porträts gehangen habe. Er zeigt uns sogar die Stelle, wo +die hochmodernen elektrischen Zigarrenanzünder von damals +waren. Wenn er in die Zimmer der Kaiserin kommt, muß der +Kunstfreund die ganze Zeit, die jener über ihre Gewohnheiten +und Lieblingsgegenstände spricht, nutzen, um mit einiger +Gründlichkeit die herrlichen Watteaus zu betrachten, die +sich als verwunderte Fremdlinge in den Zimmern dieser +watteau-fernsten aller denkbaren Damen befinden. Und wenn im +Charlottenburger Schloß der Wanderwart die gräßliche +Trompetenuhr aufzieht und blasen läßt, von der er behauptet, +sie habe Napoleon, als er hier übernachtete, aus dem Schlafe +geschreckt, halte man sich die Ohren zu und sehe so lange +die süße Seide um den Schlaf der hübschen munteren Königin +Luise an, ihre kleinen Öfchen oder ihr apartes Bild in +Totenhusarentracht. In solchen Räumen müßte man lange allein +oder unter seinesgleichen sich aufhalten dürfen, um mit den +Geistern derer zu verkehren, für die einst die Schlüter und +Schinkel und ihre Schüler und Helfer gearbeitet haben, und +die großen Zeiten des älteren Berlin, das preußische Barock +und Rokoko und den preußischen Klassizismus zu erleben. + +Einiges wird einem vielleicht auch auf den ersten Blick +zuteil, die strotzend blühende Pracht im Rittersaal, den +Schlüters Gruppen der vier Erdteile schmücken, die reinen +Formen und angenehmen Farben des Parolesaals mit Schadows +Marmorgruppe der jugendlichen Kronprinzessin Luise und ihrer +Schwester, das Gold und Grün des runden Kuppelkabinetts, das +Friedrichs des Großen Schreibzimmer war. Und nach +Herzenslust verweilen kann man in dem innern Schloßhof vor +Schlüters Bogenhallen. Die Höfe nämlich versperrt uns kein +König mehr und kein Führer zwingt hier zur Eile. + +Wir halten an der Lustgartenseite des Schlosses vor den +beiden Rossebändigern, die der russische Kaiser dem +Preußenkönige in den vierziger Jahren geschenkt hat. Der +Berliner Volkswitz nannte sie den gehemmten Fortschritt und +den beförderten Rückschritt. + +Aus dieser Zeit stammen auch die einzelstehenden Säulen aus +geschliffenem Granit an den Ecken der Terrasse, auf denen +goldne Adler horsten. Varnhagen, der als kritischer +Zeitgenosse beobachtete, fand diese Verzierung zu elegant +für das mächtige, schwerfällige, düstre Gebäude und diese +Sucht, zu schmücken, sehr geschmacklos. »Die Leute«, +schreibt er, »stehen davor und machen ihre Bemerkungen +darüber, sie finden die Sache unnötig, man vergleicht sie +mit den Achselklappen der königlichen Lakaien, die waren dem +König auch zu einfach, es mußte eine Krone hinein.« Den +einen goldnen Adler an der Ecke nannten die bösmäuligen +Berliner den ‚größten Eckensteher‘ — anspielend auf die +vielbewitzelten, etwas faulen und versoffenen Vorläufer des +Berliner Dienstmanns. Und sie meinten: Nun weiß man doch, +wie das Hotel heißt, das Schild sagt’s: ‚Zum goldenen +Adler.‘ Zu dieser Zeit kurz nach den Revolutionstagen 1848 +waren immer noch viel Aufläufe von Arbeitergruppen und +Studenten und Lehrburschen +unter den Linden und vorm Schloß, da ließ ein +Hofmarschall Eisengitter an die Schloßportale befestigen. +Die Bürgerwehr konnte nicht verhindern, daß ein großes +Gitter von den Arbeitern ausgerissen und an der +Kurfürstenbrücke in die Spree geworfen wurde, ein andres, +kleineres schleppten die Studenten auf die Universität. +Später ließ man alles ruhig geschehen und sah die Gitter als +Denkmal des 18. März an, das Schloß, sagte man, sei dadurch +zum Käfig geworden, der König bemitleidenswert, und es sei +ein Schildbürgerstreich von ihm, Gitter nach der Gefahr zu +machen. Die Adler gibt es noch, die Gitter sind gefallen. +Das Schloß ist von der Lustgartenseite gesehen schöner, +ehrwürdiger und historischer denn je. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Der große weite Platz dem Schloß gegenüber, der Lustgarten, +geht bis an die Stufen des Alten Museums und die führen in +ein wunderbares Eiland mitten in der Stadt. Es ist nicht nur +topographisch richtig, daß dieser von schützenden Wassern +umflossene Stadtteil die Museumsinsel genannt wird. Die +Welt, die hier mit Schinkels jonischer Säulenhalle beginnt, +ist des jungen Berliners Akademoshain — oder war es +wenigstens für meine Generation — und was er auch später im +Louvre und Vatikan, in den Museen von Florenz, Neapel, Athen +wird zu sehen bekommen, er kann darüber die Säle des Alten +und Neuen Museums und unserer großen Bildergalerien nicht +vergessen, ja selbst die Wandelgänge hinter den Säulen hier +nach dem Platz zu und innen am Neuen +Museum entlang und rings um die Nationalgalerie sind ihm +dauernder Besitz und Stätte unvergeßlicher Stunden. + +Doch wir wollen in der Stadt und auf der Straße bleiben. Für +einen kurzen Besuch der Museen unterrichtet der Baedeker +ausgezeichnet, seine einfachen und Doppelsternchen +orientieren über das, was eine Art *consensus gentium* +letzthin für besonders schön und wertvoll hält, und das +hindert niemanden, seine eignen Entdeckungen zu machen. + +Aus der Vorhalle des Alten Museums gelangt man unter die +Kuppelwölbung der Rotunde, die mit meist römischen +Nachbildungen griechischer Statuen ins Eigentliche einlädt. +Es ist schön, in dem Kreis dieser Marmorwesen zu sein, ohne +sie genauer anzusehen, und seine Kräfte zu sammeln für all +das Wunderbare, was uns im archaischen Saal und in den Sälen +des 5. und 4. Jahrhunderts, der Spätzeit und bei den Römern +erwartet. Im Oberstock versammelt das Antiquarium die +Kleinkunst in Bronze, Gold und Silber, Schmucksachen und die +grotesken und reizenden Terrakotten der Meister von Tanagra +und ihrer Schüler. In Stülers Neuem Museum wirst du, wenn +ich dir raten darf, Fremder, dich nicht allzu lange in dem +großen Treppenhaus mit den riesigen Fresken von Kaulbach +aufhalten, die sich bekanntlich mit den Hauptmomenten der +Weltgeschichte befassen und als Anschauungsunterricht für +Volksschulen vielleicht nicht allzuviel Schaden anrichten. +Du wirst in der ägyptischen Abteilung gewaltige Statuen und +Sarkophage und die holden kleinen Köpfe der Königinnen Teje +und Nefretete finden, und bei schwarz- und rotfigurigen +Vasen in den Dämmerzustand versinken, in dem man nicht weiß: fließt draußen die +Seine oder der Tiber? Werden wir auf dem Posilipp oder im +Savoy frühstücken? Gibts bestimmt eine Gegenwart? Fürs +Kupferstichkabinett laß dir etwas Zeit, sieh nicht nur an, +was an den Wänden hängt oder in den Glaskästen ausliegt. Man +gibt dir gern eine der vielen schönen Mappen, einen guten +Platz, und du kannst dich ein Stündchen gebärden wie ein +Kunstgelehrter. Es lohnt. Bis diese Zeilen in deine Hand +kommen, ist vielleicht auch schon der Museumsneubau endlich +vollendet, den Alfred Messel begonnen hat. Dann wirst du den +herrlichen Altar von Pergamon aufgebaut sehn mit seinen +Göttern und Giganten. Was die Nationalgalerie anbetrifft, so +muß ich als dein Führer durch Berlin dich besonders auf die +Bilder hinweisen, in denen Berlinisches verewigt ist. +Menzels wunderbares Balkonzimmer und sein Schlafzimmer, das +höfische Ballsouper, den Palaisgarten des Prinzen Albrecht, +die alte Berlin-Potsdamer Bahn, ferner die Maler des alten +Stadtbildes und Volkslebens, vor allen Theodor Hosemann, und +Franz Krügers Porträts und seine großen Paradebilder. +Berliner Romantik wirst du in den Landschaftsbildern des +großen Schinkel, der ja eigentlich kein Maler, sondern ein +Baumeister war, finden. Er hat sie für eines der alten +Patrizierhäuser in der Brüderstraße gemalt und wenn du Muße +dafür hast, so lies, was Hans Mackowsky in seinen ‚Häusern +und Menschen im alten Berlin‘ darüber schreibt, und lies +weiter, was er von diesem Haus und andern berichtet, das +wird dir eine vergangene Stadt mitten in der gegenwärtigen +aufbauen. Über das Kaiser Friedrich-Museum, das nach dem Manne, der es zu einer +Weltberühmtheit gemacht hat, besser Wilhelm von Bode-Museum +hieße — statt sich auf den recht kunstfreundlichen Herrn zu +beziehen, dessen garstiges Reiterdenkmal leider vor der Tür +dieser Schatzkammer steht — über diese Welt von Bildern und +Bildwerken habe ich hier nichts aufzuschreiben, denn wenn +sie auch höchster Ruhm von Berlin ist, so hat sie doch mit +unserer guten Stadt selbst nichts zu tun. Man ist hier von +ihr noch weiter fort als in den Sälen der griechischen +Bildwerke, nach denen doch in den Versuchen des preußischen +Klassizismus eine Sehnsucht — nüchtern abgeblaßt, verhalten, +prunkfeindlich und redlich bemüht — hindrängt. + +Aber zurück aus dieser schönen Ferne zum Lustgarten und +unseren Rundfahrtwagen. Die weite Fläche dieses Platzes hat +auch schon etwas inselhaft Ruhevolles. Von der langen +Schloßfront mit den breiten Portalen ist — hoffentlich auf +recht lange Zeit — keinerlei Gegenwart vorauszusehen. Die +einzige Unruhe an dieser gelassenen Stätte ist der Dom mit +seinen vielen Hochrenaissanceeinzelheiten, Nischen, Hallen, +Kuppelaufsätzen. Er macht sich da breit, wo noch bis in die +neunziger Jahre ein kleinerer aus Friedrichs Tagen stand. Er +bedeckt eine Fläche von 6270 qm, während der Kölner Dom es +nur bis zu 6160 qm gebracht hat. Es ist höchst überflüssig, +hineinzugehen, denn auch innen verletzt dieses Riesengefüge +aus eitel Quantität, Material und schlecht angewandter +Gelehrsamkeit jedes religiöse und menschliche Gefühl. Die +Akustik soll übrigens ausgezeichnet sein, und +um sie zu verstärken, hängen eigens noch Bindfäden von der +Innenkuppel des Mittelbaues. Mit Recht verkündet ein +marmorner Engel ‚Er ist nicht hier, Er ist auferstanden‘. +Wahrhaftig, hier ist Er sicher nicht. Schade um ein paar +schöne Sarkophage, mit denen die Namen Peter Vischers und +Schlüters verbunden sind. Vielleicht kommt noch einmal eine +Zeit, in der man dieses Gebäude und manches andre so kurz +entschlossen abreißt, wie man es jetzt mit häßlich +gewordenen störenden Privathäusern tut. Dann wird diese +Stätte ganz der Vergangenheit und Ruhe gewidmet sein. + +Belebt wird sie auch jetzt immer wieder nur, wenn +Volksversammlungen sich ihrer bemächtigen, und dafür ist sie +sehr geeignet, seit der Lustgarten nichts als ein großer +Sandplatz ist. Sein Name erinnert noch an eine ganz andre +Zeit, die der Parkkunst, der Grotten und Grottierer. In des +Großen Kurfürsten und seines Sohnes Tagen waren hier ein +Kolossalneptun mit Grotten und Wasserstürzen zu sehen, +Vexierspringbrunnen und die Riesenmuscheln an Meinhards +Lusthaus. Da hatten die ‚Grottenmeister, Sprützenmacher und +Stukkateure‘ reichlich Arbeit wie später wieder unterm +Großen Friedrich, dem sie in Sanssouci eine Neptunsgrotte, +im Neuen Palais einen Muschelsaal bauten. Auf der Remusinsel +zu Rheinsberg schufen sie das chinesische Haus. Und später +hat dann noch der Erbauer des schlichten Landschlößchens zu +Paretz in einem Parkwinkel als eine Art Relikt aus der +Rokokozeit ein muschelbuntes japanisches Tempelchen +errichtet. Die letzten Nachklänge dieser Grottenkunst aber +sind mitten in der Großstadt die schaurigen +Tropfsteingebilde an den +Aufgängen zu veralteten Nachtlokalen und an den Bühnenrahmen +verstaubter Tingeltangel. Den nüchtern verständigen +Friedrich Wilhelm I. verdrossen die Blumenparterres und +Lusthäuser dieses Paradieses seiner Vorfahren. +‚Alfanzereien‘ nannte er das und machte aus dem +Pomeranzenhaus eine Tapetenfabrik mit einer Art Börse im +oberen Stockwerk und aus den Blumenparterres einen +Exerzierplatz für seine Grenadiere. Seit hier nun nicht mehr +exerziert wird, kann das freie Volk seine Versammlungen +abhalten. Da kann man mit Fahnen und Fähnchen zum Beispiel +die Kommunisten demonstrieren und lagern sehen. Rote +Pfingsten: Sie sind weither gekommen aus allen Teilen +Deutschlands, Textilproleten aus dem Erzgebirge, Kumpel aus +den Zechen in Hamm und in der Kanonenstadt Essen, die eine +Hochburg der Rotfront geworden ist, dazu rote Marine von der +Waterkant. Aber auch das fernere Europa und die weite Welt +senden ihre Vertreter; die Schutzwehr der Schweizer +Arbeiterschaft, die tschechische Arbeiterwehr rückt an mit +Fahnen und Plakaten, und ehrfürchtig wird die +Sowjetstandarte begrüßt. In langen Zügen sind sie +hermarschiert von den Enden der Stadt, seltsame +Musikinstrumente wandern ihnen voran, Trompeten mit mehreren +Schlünden, Jazztuben, Negertrommeln. Diese Kämpfer sind +uniformiert, wie auch die es waren, die sie kämpfend ablösen +wollen. Kriegerisch gegürtet sind die grauen Blusen und +braunen Kittel. Und wie einst von den Tressen der +Chargierten wird jetzt das Wanderbild des Zuges skandiert +von den roten Armbinden der festleitenden Flügelmänner. +Sogar die Kinder haben ihre Uniform. +In weißen Hemdblusen mit rot flatternden Krawatten +haben sie ihr Lastauto erklommen, dessen Aufschrift die +Abschaffung der entwürdigenden Prügel verlangt. So einen Zug +hab ich begleitet von der Bülowpromenade im Südwesten her, +die Yorkstraße hin unter den Bahnübergängen, deren +Eisenbrücken das ‚Rot Front!‘ und das ‚Seid bereit!‘ mächtig +widerhallten. Von den bürgerlichen Klebebalkons der langen +Avenuen schauten etwas verdrossen alte Männer und Frauen auf +das muntre Volk, das waren vielleicht pensionierte Beamte, +die sich noch nicht ‚umgestellt‘ haben. Aus den +Seitenstraßen aber wehten rote Fahnen von den Häusern, und +ein paar Jungen auf Rädern, deren Reifen rot umwickelt +waren, schlossen sich an. So ging es weiter das Planufer hin +und über die Kanalbrücke in die Altstadt. In der Alten +Jakobstraße stand auf einem Altan, das Haar im Wind, ein +graues Weib wie eine Parze des Weltgeschicks oder Furie der +neuen Begeisterung. Jüngere lagen sonntäglich träge mit +nackten Armen auf ihren Fensterkissen und freuten sich an +dieser Musik und Menge wie ehedem am Aufmarsch der +Soldatenkompagnien. Die Geschäftshäuser der Markgrafenstraße +waren ganz menschenleer. Nur auf einem hohen Dach bewegte +sich ein Wesen und winkte mit einem winzigen Fähnchen. In +der Oberwallstraße wehte dem Zug eine tiefe Stille entgegen +von dem Torbogen, der die verträumte Auffahrt und die alten +Balkone und Mansardenfenster des Prinzessinnenpalais +abschließend schützt vor aller Gegenwart. Durch dies Tor +drang der Zug, um auf dem Platz vor dem Zeughaus mit den +Zügen aus andern Vorstädten zusammenzutreffen. +Eine unabsehbare Menge erfüllte in Einzelgruppen und Zügen +von der Schloßbrücke bis zur Kaiser Wilhelmsbrücke den +ganzen Lustgarten und die Schloßfreiheit. Die Schloßfront +entlang liefen an den Gittern rote Plakatbänder, hinter +denen sowohl die Bronzestandbilder der niederländischen +Fürsten und des Admirals Coligny wie auch die der beiden +liberalen Rossebändiger fast verschwanden, abgetan von den +flammenden Buchstabenbändern. Auf der obersten Stufe der +Domtreppe stand ein Redner, dessen verkündigende Schlußworte +die Menge unten wiederholte wie die Gläubigen in der Litanei +des Priesters Worte. Rings auf dem Anstieg zum Denkmal +Friedrich Wilhelms des Gerechten, der seinen Luftritt +beklommen fortsetzte, und um die Granitschale herum und auf +der Museumstreppe unter der Amazone, die den Tiger abwehrt, +und unter dem Löwenkämpfer lagerten die Massen und sahen +hinunter auf die vielen hin und her wandernden Züge mit +ihren Fahnen, Plakaten und Karikaturpuppen, die den Genfer +Völkerbund verhöhnten, und hinüber zu der +Meetingsbevölkerung des Kaiser Wilhelms- und +Nationaldenkmals an der Schloßfreiheit. + +Den Dom, von dem ich wegschaue, so gut es geht, erspart uns +der Rundfahrtführer nicht, er läßt eine schrecklich lange +halbe Minute vor ihm halten und nennt ihn ‚sehr hübsch, +besonders innen‘. Aber mir zum Trost ist hier dicht vor uns +an der Bordschwelle ein holdes kleines Gefährt gelandet. Auf +roten Kinderwagenrädern bauen sich zwei Etagen auf mit +Glasscheiben, darinnen stehen blinkende Nickelmaschinen mit +Tellerchen und Löffelchen. Ein Eisverkauf: eine niedliche +Zwergenwirtschaft, durchschimmernd wie Schneewittchens +Sarg. + +Ein Blick übers Wasser auf die Börse in der Burgstraße. Von +ihren ‚Renaissanceformen‘ gilt, was schon über die +Reichsbank gesagt wurde. Sie ist der erste Bau aus echtem +Sandstein im neueren Berlin. Für uns ist das Innere des +Gebäudes erheblich interessanter als seine Architektur und +Skulptur. Mir ist einmal gestattet worden, von der Galerie +auf die drei großen Säle hinunterzusehn, in denen sich die +Berliner Kaufmannschaft zur Mittagszeit versammelt. Ich sah +die vereidigten Makler hinter ihren Schranken, die wilde +Menge, welche sich um ihre beweglicheren Kollegen schart, +die Gebärden des Kaufs und Verkaufs, erhobene Hände, die +‚Brief‘ winkten, gespitzte Finger, die ‚Geld‘ bedeuteten, +sah die Nischen der Großbanken, die Tische der kleineren, +viel Lebhaftes im Saal der Industriepapiere, Gelinderes im +Saal der Banken und in dem des Getreides die Tüten und +blauen Kästchen mit Roggen- und Weizenproben in den Händen +der Händler. Man könnte stundenlang niedersehen auf dies +Meer von Glatzen, unruhigen Schultern, winkenden Händen, auf +die Schicksalszahlen, welche auf den Tafeln sinkend und +fallend wechseln, auf die gelben und blauen Lichter, die, +besondre Winke bedeutend, in den Ecken aufflammen. Vor dem +Ausgang zur Burgstraße warten allerlei Händler und Bettler; +und aus der Art, wie ihre Gegenwart von den heraustretenden +Handelsherren berücksichtigt wird, könnte man Schlüsse auf +die guten oder schlechten Geschäfte machen, von denen sie +kommen. + +Wir fahren über die Schloßbrücke, deren schöner Schwung und +gußeiserne Brüstung auf Schinkel zurückgeht. Die berühmten +acht Marmorgruppen: Kriegs-und Siegesgöttinnen, junge +Krieger lehrend, erwachsene geleitend, habe ich leider nie +mit ernsten Blicken ansehen können, da in meiner +Schuljungenzeit so unvergeßliche, nicht zu wiederholende +Witze über ihre besondre Art von Nacktheit gemacht wurden. +Nun lese ich in Varnhagens Tagebüchern, der Kultusminister +Raumer habe an den König Friedrich Wilhelm IV. den Antrag +gestellt, die nackten Bildsäulen von der Schloßbrücke wieder +abnehmen zu lassen und sie im Zeughaus zu verwahren. +Erfreulicher ist, daß um dieselbe Zeit Bettina von Arnim zu +Varnhagen sagte, auch sie verdamme die Schloßbrückengruppen, +aber nicht aus Nacktheitsgründen. Er selbst notiert, daß sie +wohl schön gearbeitet seien. ‚Aber das Antike ist nicht +antik genug, ist wider Willen modern, ohne zu den andern +Bildsäulen, denen der Generale, zu passen. Sie stehen auch +zu hoch.‘ Brummig fügte er hinzu: ‚Ein Unstern waltet über +unserm Kunstwesen, nie etwas Rechtes, Ganzes, +Übereinstimmendes.‘ Nun, wir wollen das nicht weiter +erörtern, sondern lieber einen raschen Blick werfen auf eine +Berliner Sehenswürdigkeit, die kein Reisebuch verzeichnet. + +Ich meine da rechts unten im Wasser, dessen Ufer am Zeughaus +entlang geht, den angeketteten Spreekahn. Den habe ich vor +kurzem zum erstenmal besichtigt. Ich kam zufällig vorüber +und sah auf dem Brettersteg, der zu dem Kahn hinüberführt, +ein paar Straßenjungen stehen, die +wollten sich gerne den großen Walfisch ansehn, der seit +vielen Jahren in dem Kahn hausen soll. Ich war, als ich im +Alter dieser Jungen stand, auch immer sehr neugierig +gewesen, ob da ein wirklicher Walfisch liege, und nie hatte +man diese Neugier befriedigt. So ist es wohl zu begreifen, +daß ich mit den kleinen Burschen an die Kasse gegangen bin. +Es war sehr billig, ein Programm bekam ich gratis dazu und +das ist ganz besonders schön und jedem Besucher, ja auch +Liebhabern älterer Druckschriften zu empfehlen. Sein +Titelblatt lautet: ‚Das größte Säugetier der Welt und sein +Fang. 22m 56cm lang, vollständig geruchlos präpariert. +Herausgegeben von der Direktion der Walfischausstellung.‘ +Ist das nicht ein schöner Anfang? Und dann lernen wir, daß +dieser Koloß wie wir rotes warmes Blut hat und lebendige +Junge zur Welt bringt, ‚welche von der Mutter gesäugt und +mit Aufopferung eigner Lebensgefahr verteidigt werden.‘ Da +liegt er, präpariert nach einer damals ganz neuen Methode, +und sieht aus, als wäre er aus Papiermache, riecht gar nicht +nach Tran, nur nach Kahn. Man möchte sich durch Anfassen +überzeugen, ob das da auch wirklich keine Pappe ist. Aber es +steht angeschrieben: Nicht berühren! Giftig! Eine Zeitlang +schauen wir ihm in den Schlund und auf die berühmten Barten, +aus denen, wie wir lernen, das Fischbein gewonnen wird. Dann +wenden wir uns der Sonderausstellung zu, wo des Riesen +Bestandteile ausgeweideterweise im Einzelnen uns breiteren +Volksschichten zum Studium zugänglich gemacht sind. Da ist +zum Beispiel der sogenannte Heringssack, worin das Tier zwei +bis drei Tonnen Heringe aufnehmen kann. ‚Denn — so lehrt +das Programm — die +Nahrung spielt bei solch einem Riesentier die Hauptrolle.‘ +Wir bekommen im Extrakasten die Schwanzflosse zu sehn, von +der — immer laut Programm — die Erfindung der Dampfschraube +angeregt worden sein soll. Und außer den Knorpelschichten, +Rückenfinnen, Ohren und Augen des Wals gibt es noch andre +Tiefseetiere seiner Umgebung zu sehen, und darunter finden +sich einige Namen, die nach Christian Morgensterns Verskunst +verlangen, wie zum Beispiel die Kammeidechse und der +Seestier oder Kofferfisch. + +Daß ich mich so ausführlich über diese bemerkenswerte +Walfischausstellung auslasse, hat seinen Grund: ich getraue +mich nicht recht, über das benachbarte Zeughaus etwas zu +sagen. Es ist zu vollkommen, um gepriesen zu werden. +Preußisch ist es und barock, berlinisch und dabei +phantastisch, übersichtlich gegliederte Maße und schön +verschwendeter Schmuck, breite Phalanx des Sieges und +schlanke Trophäe. Herrlich sind Schlüters Panoplien auf der +Balustrade und Schlußsteine der Fensterbögen. Da hat er auf +den vier Außenseiten Helme angebracht, die lebendige Antike +sind, und innen im Lichthof die Köpfe sterbender Krieger, +deren grausige Todesgrimasse schürzender Steinknoten der +Fensterwölbungen, Agraffe des Gewandes, Zierat ist. + +Für den Waffen- und Kriegskundigen finden sich innen unter +Gewölbejochen in düstern Hallen die ältesten Kanonen, +morgenländische Säbel, Prunkharnische für Mann und Roß, +Standarten, Uniformen der Feldherren und Könige, Zietens +Zobelmütze und Pantherfell und der letzte Soldatenrock des +Großen Königs. + +Das ehemalige Kronprinzenpalais dem Zeughaus gegenüber ist +von außen kein sehr erfreulicher Anblick. Hohe Säulen tragen +einen breiten Balkon, hinter welchem das aufgesetzte +Stockwerk niedrig erscheint. Besonders wenn man von einem so +wohlproportionierten Gebilde, wie es das Zeughaus ist, +herüberschaut. Und es hilft nichts zu wissen, daß dies +Palais früher einmal besser beschaffen war und seine jetzige +Gestalt erst in den fünfziger Jahren bekam, als es für den +damaligen Kronprinzen, spätern Kaiser Friedrich III. +umgebaut wurde. Im Innern aber erfüllt es, seit es keine +Fürsten mehr beherbergt, eine würdige Aufgabe. Die moderne +Abteilung der Nationalgalerie ist hier untergebracht. Um +auch hier als Fremdenführer nur auf das speziell Berlinische +hinzuweisen, man findet manches wertvolle Stück +Stadtlandschaft, berlinische Geschichte und märkische +Landschaft in den unzähligen Blättern der Menzelmappen, in +einigen Bildern Liebermanns, Lesser Urys und jüngerer +Künstler, auch manches Porträt bedeutender Berliner +Persönlichkeiten innerhalb der reichen Sammlung +impressionistischer und zeitgenössischer Malerei. Eine +Flanke des Palais stößt an den Schinkelplatz, an dessen +Südseite im oberen Stockwerk eines schöneren Gebäudes +wiederum ein Teil Nationalgalerie beherbergt ist, die große +Bildnissammlung, die an Malern und Gemalten ein gut Teil +Berliner Kunst- und Kulturgeschichte veranschaulicht. Das +Haus, das diese Schätze birgt, ist die Bauakademie, die +Schinkel in rotem Backstein mit schön eingefügter +Terrakotta erbaut und in den letzten Jahren seines +Lebens bewohnt hat. Der Platz vor der Akademie trägt den +Namen des Meisters und außer seinem Standbild noch zwei +andre erzene, einen ‚Begründer des wissenschaftlichen +Landbaus‘ und einen um die industrielle Entwicklung +verdienten Mann, Männer, deren Namen wir Halbgebildeten +meist nur als Straßennamen kennen, weshalb ich sie erst gar +nicht nennen will. Aber die Reliefs auf ihren Sockeln muß +man ansehn. Da sind kuriose Musterbeispiele der echt +berlinischen Mischung aus Klassizismus und Realismus, +antikisierte Maschinen und Herren im togaähnlichen +Bratenrock. + +Daß diese Mischung bei Uniformen besser glückte als bei +Zivil, beweisen Rauchs erzene Feldherren, zu denen wir nun, +am Prinzessinnenpalais vorbei, den Lindentunnel überquerend, +gelangen. Wie der alte Blücher in Wirklichkeit war, ist aus +dem Allerlei von Berichten, Bildern, Urteilen schwer zu +entnehmen, aber für uns ist sein Wesen dauernd verwirklicht +in dieser Erzgestalt im Soldatenmantel, in der Faust den +gezogenen Säbel, den Fuß auf das Kanonenrohr gestellt. Die +nachdenklicheren und, wie die Kriegswissenschaft lehrt, +bedeutenderen Strategen, Gneisenau und York, zu seiner +Rechten und Linken umgeben neidlos sein munteres Kriegertum. +Bülow und Scharnhorst, die den drei Erzenen gegenüber bei +der Neuen Wache stehen, sind marmorn. Warum, das habe ich +mich schon als Kind gefragt und gemeint, es bedeute einen +andern Grad des Heldentums, eine höhere Milde. Aber es wird +wohl, zumal die zwei früher aufgestellt worden sind als die +drei, sinnfälligere und vernünftigere Gründe haben. +Die Neue Wache, die nun außer ihnen beiden niemand mehr +bewacht, Schinkels schönes ‚römisches Castrum‘ mit den +mächtigen dorischen Säulen, jetzt innen leer — nur die +klassischen Gewehrständer sind geblieben — ist ganz Denkmal +und Altertum geworden. Es ist besser so, aber manche +Berliner denken mit einer gewissen Wehmut zurück an die +Stunden, als noch die Wache aufzog. + +Unterhaltend zu lesen ist, was der Franzose Jules Laforgue +aufgezeichnet hat, der als Vorleser der Kaiserin Augusta in +dem gegenüberliegenden Prinzessinnenpalais seine +Dienstwohnung und somit oft Gelegenheit hatte, diesen +Vorgang zu beobachten. Er freute sich über die wartenden +Straßenjungen am Gitter und die Spatzen oben am Relief des +Giebels. Er beschreibt, wie sich vom Brandenburger Tor her +die Truppe nähert. »Die Pfeifen spielen die herb monotonen +Melodien, welche die Berliner Straßenjungen *en flânant* +pfeifen. Kurz vor dem Palais (nämlich dem des alten Kaisers +jenseits des Opernplatzes) gibt der Tamburmajor ein Zeichen, +die Pfeifen schweigen und die Musik beginnt. Merkwürdig ist +die Standarte, die der Musik vorangeht. Man stelle sich +einen silbernen Stern vor, über dem mit ausgebreiteten +Flügeln ein Adler schwebt, über dem Adler regen sich die +Glöckchen eines *chapeau chinois*, der seinerseits einen +Halbmond trägt, von dessen Spitzen zwei Roßschweife, ein +roter und ein weißer, hängen. In der Höhe des Palais machen +die Soldaten Stechschritt, wobei sie wütend mit den Sohlen +aufprallen, und fixieren alle mit gestrecktem Hals des +Kaisers Eckfenster. *L’heure culminante, l’heure militaire +...*« Ausführlich beschreibt er +auch, wie es zuging, wenn die Wache +herausgerufen wurde. Erst den Ruhezustand. »Vorn sind +zwischen Gitter und Portikus in zwei Reihen die vierzig +Piquets, jede mit einer Gewehrstütze, aufgestellt. Diese +Piquets bezeichnen den Platz eines jeden der Soldaten und +erleichtern die genaue Reih- und Gliedstellung. Bemalt sind +sie in Preußens Farben wie die Schilderhäuser. Am letzten +hängt die Trommel, die kleine flache preußische Trommel, die +so trocken klingt. Eine Schildwache, die nicht auf und ab +geht, sondern stillsteht, gibt nach rechts und links acht. +Sobald ein Hofwagen erscheint, schon von weitem erkennbar an +Achselband und Hutbord des Kutschers, und der Kutscher +deutet durch die Haltung seiner Peitsche an, daß der Wagen +nicht leer ist, wendet sich die Schildwache zum Portikus, +legt die Hand an den Mund und brüllt ‚Raus!‘ (Abkürzung von +Heraus). Gleich steht alles in Reih und Glied. Der Trommler +hat seine Trommel umgehängt, der Offizier hält sich bereit, +mit dem Degen zu grüßen. Der Wagen fährt vorbei. Die Wache +präsentiert, der Tambour schlägt seinen Wirbel. Und wer saß +im Wagen? Zwei Gouvernanten mit Prinzenbabys auf dem Schoß. +Trommel gerührt wird nur für die kaiserliche Familie. Für +einen General kommt die Wache nur halb heraus.« + +Laforgue beschreibt vortrefflich das militärische Aussehen +und Wesen, das dieser Platz und die Straße Unter den Linden +und ganz Berlin in den achtziger Jahren hatten. Einmal +bleibt er in einem *moment de torpeur involontaire* wie im +Traume Ecke Linden und Friedrichstraße stehen. Da hört er +nur das beherrschende Geräusch der Straße: das eines +nachschleppenden Säbels. Diese Zeiten, da sich unter den Linden +die komischen kleinen Kadetten steif grüßten, da der +militärische Gruß in allen Ständen gang und gäbe war, sind — +bis auf einige Reste — ja nun vorüber. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Solange wir an der Neuen Wache halten, wirf auch einen Blick +auf das kleine Kunsttempelchen da hinten, halb von Laub +verdeckt. Das ist die Singakademie, Zelters, des +Goethefreundes Werkstatt, nachdem der Maurermeister ein +Musikmeister geworden war. Die kleine Büste im Grünen vor +dem Gebäude, das ist Zelters Lehrer und der Begründer des +Vereins, aus dem die Singakademie hervorgegangen ist, lange +bevor sie hier dieses mitten in der Stadt schön abseits +liegende Haus bezog. Das Leben dieses Mannes, er hieß David +Christian Fasch, hat Zelter selbst in seinem handfesten und +dabei klassischen Deutsch beschrieben. Und aus seinem +Büchlein erfahren wir, wie der Hofmusikant in der +Privatkapelle Friedrichs des Großen und seines Nachfolgers +eine junge vortreffliche Demoiselle Dieterich unterrichtete +und accompagnierte. In dem Hause dieser edlen +Musikliebhaberin fanden sich öfters noch zwei oder drei +Musiklustige ein; daraus entstand sehr bald ein kleines +Vokalkonzert, für das Fasch fünf- und sechsstimmige Stücke +komponierte. Diese Gesellschaft, die sich erst nur ‚wie von +ongefähr‘ zusammengefunden, bestimmte nun gewisse Tage zu +ordentlichen Singübungen und wuchs durch Zutritt neuer +Mitglieder, bis dann eine andre würdige Freundin des Schönen +ihren größeren Saal hergab. Schließlich +bekam die Gesellschaft von den Kuratorien der Kgl. Akademie +einen der Säle des Akademiegebäudes. ‚Im Jahre 1796 ward es +durch das ordnungsgemäße und eifrige Bestreben der Rendantur +so weit gebracht, daß |ellipsis| die Frauenzimmer der Gesellschaft +bei einem mäßigen Zuschuß zur Kasse in Wagen abgeholet und +wieder zu Hause gefahren werden konnten.‘ Und bald hatte die +Singakademie zu Mitgliedern und Zuhörern ‚die Blüte des +schönen Berlin, die Jugend und das Alter, Adel und +Mittelstand‘. An diesen Verein und seine Kunststätte hier +hinter den Büschen knüpft sich ein gut Teil Berliner +Musikgeschichte zu den Zeiten Zelters und Mendelssohns, und +mehr als das, ein Stück Leben der besten Berliner +Gesellschaft, die es bisher gegeben hat, jener meist +ziemlich eingeschränkt lebenden bürgerlichen Menschen der +ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, in deren Stammbücher +die besten Maler Landschaften tuschten, die besten Dichter +mit der anmutig fließenden Schrift von damals Gedichte +schrieben. In allen Künsten Liebhaber zu sein, in der guten +alten Bedeutung des Wortes zu dilettieren, war eine +gesellige, zwanglose und eifrige Gewohnheit, die bisweilen +ans Rührend-Komische streifen mochte, aber doch an der +erfreulichen Einheit des Empfindens, Gebahrens und somit +auch des Stadtbildes mitschuf. + +In dieser Zeit wurde aus dem nächstfolgenden Gebäude, dem +ehemaligen Palais des Prinzen Heinrich, des Bruders +Friedrichs des Großen, die Universität. Und die beiden +Männer, die davor recht bequem auf ihren marmornen +Lehnsesseln sitzen, die Brüder Humboldt, haben bald aus +unmittelbarer +Nähe, bald aus römischer und überseeischer Ferne die +geistigen und wissenschaftlichen Bedürfnisse der Berliner +Gesellschaft gesteigert. + +Das Gebäude ist der nördliche Abschluß des jetzt Kaiser +Franz Joseph-Platz, ehemals Platz am Opernhaus heißenden +‚Forum Fridericianum‘, dessen Südhälfte durch die Alte +Bibliothek, jetzt Aulagebäude der Universität, und das +Opernhaus flankiert werden. Friedrichs Baumeister, der große +Knobelsdorff, hatte für dies Palais Schöneres geplant, als +dann gebaut worden ist, er wollte seinem Opernhause +gegenüber ein ähnliches Gebilde aus Tempel und Palast +schaffen und der ganzen Nordhälfte des Platzes so +monumentale Gestalt geben, wie er es am Opernhause +unternahm. Wenn nun auch sein großer Plan nicht ausgeführt +wurde, so kam doch auf Grund seiner Pläne unter der +Bauleitung Boumanns des Älteren etwas recht Imposantes +zustande. Aber dieser Palast stand meist öde, der Prinz +liebte Berlin nicht und blieb gern in seiner Rheinsberger +Solitude. 1810 wurde die Friedrich Wilhelms-Universität hier +gegründet und ihr erster vom Senat erwählter Rektor war +Fichte. Aus den 300 Studenten des ersten Jahres sind mit der +Zeit 10.000 geworden. Ob die Wissenschaft sehr durch diesen +Zuwachs gewonnen hat, darüber wollen wir uns lieber jeder +Meinung enthalten und nur schüchtern äußern, daß es vor +zwei, drei Jahrzehnten angenehmer war, sich in den Räumen +der Alma Mater aufzuhalten. Es gab noch nicht so viel +examensüchtige Gesichter. Auch war dazumal der Vorgarten +noch nicht so überfüllt mit berühmten Männern aus Marmor und +Bronze, die weder das würdige +Behagen der beiden freundlichen Humboldts vor dem Garten, +noch den steinernen Schwung der neuen Statuen Savignys und +Fichtes vor dem Aulagebäude drüben haben. Dies Gebäude, +einst Bibliothek, soll Friedrich der Große nach wienerischem +Vorbild, und zwar nach einem Fassadenentwurf des großen +Fischer von Erlach haben bauen lassen. Im Volksmund heißt es +die ‚Alte Kommode‘ und eine anzuzweifelnde Anekdote läßt den +König seinen Baumeistern ein geschweiftes Rokokomöbel als +Vorbild hinstellen. Das paßt zu der Geschichte, die über den +Bau der pantheonähnlichen runden Hedwigskirche im +Hintergrunde des Platzes überliefert wird: es kamen einst +die Katholiken Berlins zum Alten Fritzen und baten, er möge +ihnen in Berlin eine schöne Kirche bauen. Der König saß +gerade beim Frühstück, war gut gelaunt und +‚wohlaffektioniert‘. Als sie ihn dann fragten, wie die +Kirche, deren Erbauung er ihnen versprach, aussehen werde, +nahm Friedrich seine Kaffeetasse, stülpte sie um und sagte: +‚So soll sie aussehen.‘ So kam es, daß der Baumeister die +Kirche ganz rund machte und eine runde Kuppel daraufsetzte. +Laterne und Kreuz, die wir heute über der Kuppel erblicken, +stammen erst aus den achtziger Jahren des vorigen +Jahrhunderts. Aus dieser Zeit ist auch der wunderbar grüne +Kupferbelag der Kuppel, einer der wärmsten Farbflecken auf +dem immer noch etwas zu grauen Bilde Berlin. + +An unserer Oper, dem Meisterwerk Knobelsdorffs, haben Zeiten +und Menschen allerlei verändert und nicht gerade zu ihrem +Vorteil. Immerhin können wir uns freuen, daß beim letzten +Umbau die scheußlichen Eisentreppen weggefallen sind, +die der letzte kaiserliche Besitzer zum Schutz +gegen Feuersgefahr außen anbringen ließ und die, wie +Mackowsky sagt, ‚dem edlen Gebäude das Aussehen einer +Bauattrappe für Feuerlöschübungen gaben‘. + +Eingeweiht wurde das Opernhaus im Jahre 1742 mit ‚Cäsar und +Cleopatra‘ von Graun, einem der Lieblingskünstler +Friedrichs. Der König nahm den lebhaftesten Anteil an den +Aufführungen, er stand oft hinter dem Kapellmeister, der die +Partitur vor sich hatte, und sah fleißig mit hinein. ‚Er ist +wirklich ein ebenso guter Generalmusikdirektor hier als +Generalissimus im Felde‘, sagt ein Zeitgenosse. Er ließ +seinem Geschmack entsprechend viel Französisches aufführen. +Wir hören von Werken wie *Le Mercure galant, Le Cadi dupé*. +Nun, in späteren Zeiten hat man hier bedeutendere Musikwerke +zu hören bekommen, als jene Opern gewesen sein mögen. Aber +die Könige und Kaiser haben dem Kapellmeister nicht mehr ins +Notenblatt geguckt. Dafür haben oben im höchsten Rang +Musikschüler und -schülerinnen mit aufgeschlagener Partitur +gesessen und jeden Ton verfolgt, und wir haben als junge +Studenten neben ihnen gesessen und durften mit +hineinschauen. Das alte Opernhaus und dieser alte Platz sind +uns Berliner Kindern lieb geblieben, trotz aller +Veränderungen. Seitdem nun noch das Kaiserinnendenkmal mit +seinen Anlagen entfernt worden ist, erweckt der Platz in +seiner pflasternen Leere oft deutlich das Bild der alten +Zeiten. Man kann ihn sich vorstellen, wie die Stiche um 1800 +ihn zeigen, kann alte Herren in Dreispitz und Wadenstrumpf +neben jüngeren im damals neumodischen Taillenfrack +und in Stulpstiefeln als Begleiter von Damen mit +hoher Empiretaille und breitem Umschlagetuch übers Pflaster +promenieren lassen. + +Wand an Wand mit der ‚Kommode‘ steht das Palais Kaiser +Wilhelms I., ein bescheidenes Fürstenschloß. Wilhelm I. war +schon in seiner Jugend ein sparsamer Haushalter, und der +Baumeister, der in den dreißiger Jahren dem Prinzen von +Preußen dies Haus aus einem alten Privatpalais umgestaltete, +mußte von allem unnötigen Aufwand Abstand nehmen. Da man +immer sagte, daß innen nichts Besondres zu sehen sei, bin +ich früher nie hineingegangen, bis ich vor kurzem Laforgues +Berliner Aufzeichnungen las. Der erzählt so hübsch von der +Stille dieser Räume, in denen nur das Monarchenpaar mit +einem halben Dutzend Kammerfrauen der Kaiserin hauste, +während der sonstige Hofstaat im großen Schloß, im +Prinzessinnenpalais und in dem benachbarten Niederländischen +Palais untergebracht war. Wenn er, um sich zur Kaiserin zu +begeben und ihr vorzulesen, morgens eintrat, hörte man nur +das Ticktack der Uhren und den Fall der Wassertropfen im +Wintergarten. Und den ganzen Tag dauerte die Stille, nur +minutenweise unterbrochen vom Sporengeklirr einer Ordonnanz, +die mit einer Meldung eintrat. Da las er denn der Fürstin +das Wichtigste aus den Pariser Zeitungen *Le Temps*, *Les +Débats*, *Figaro* und aus der *Revue des deux Mondes*, +ferner Auszüge aus Romanen und Memoiren. Den Kaiser bekam er +selten zu sehen. Das Fürstenpaar lebte ziemlich getrennt +unterm gemeinsamen Dach. Von den Hofdamen hörte er, daß der +alte Herr ‚goldig‘ sei, +und die Gemahlin, die sehr empfindliche Nerven hatte, wie +ein höheres Wesen schone und respektiere. Wenn es doch +Gegensätze gab und Auguste heftig wurde, pflegte Wilhelm +verständnisvoll zu sagen: ‚Es regt sich wieder einmal ihr +russisches Blut‘. Sie war meist abgespannt, mit langer +blasser Hand fuhr sie sich über die Stirn. Sehr soigniert +war die alte Dame und gar nicht populär. Die Berliner sagten +von ihr ‚Sie ist nicht von hier‘. Was Laforgue erzählt, +machte mich neugierig auf das Interieur der beiden alten +Leute, und so bin ich denn kürzlich mit einem Schub +Besichtiger eingetreten. Wir bekamen Filzpantoffeln zum +Schlittern, und die Sichersten sahen alles an, als ob sie +hier mieten wollten; sie überzeugten sich diskret — mit +Rücksicht auf die Führerin, die den Vormieter vertrat (er +war vielleicht noch gar nicht ausgezogen, war vielleicht +nebenan) — von der Lage der Zimmer und erwogen, welche +Gegenstände man eventuell übernehmen könnte. + +Ja, da war es nun wirklich, das Arbeitszimmer mit dem +historischen Eckfenster, an dem der Kaiser sich zeigte, wenn +draußen die Wache vorüberzog. Er soll jedesmal, wenn die +Musik näher kam, mitten im Gespräch den Überrock über der +weißen Weste zugeknöpft und den Orden pour le mérite +zwischen den Aufschlägen der Uniform vorschriftsmäßig +zurechtgerückt haben. Es ist derselbe Orden, den wir auf +vielen Porträts seiner Zeitgenossen sehen, er nimmt sich gut +aus am Halse all dieser würdigen Männer, die sich so gerade +hielten, wie das heute kaum mehr möglich ist. Einer von +ihnen, erzählt man, hat noch kurz vor seinem Tode es +vermieden, sich in seinem Stuhl anzulehnen, und den +Angehörigen erklärt, er wolle das nicht, es könne zu einer +schlechten Angewohnheit werden. Gleich diesem Manne hielt +sich sein alter König aufrecht zwischen all den unbequemen +Möbeln, die hier sein Arbeitszimmer überfüllen. Es ist noch +ganz in dem Zustande erhalten, in dem er es verlassen hat, +um ein paar Türen weiter in einem bescheidenen Hofzimmer, +welches das Nachbargebäude verdunkelt, sich sterben zu legen. +Tische, Etageren, Vertikows, Stuhl und Sofa sind bedeckt mit +Souvenirs, Mappen und Büchern. Der alte Herr behielt das +alles eng um sich und fand sich mit peinlicher Genauigkeit +darin zurecht. + +So viel Gerahmtes und Briefbeschwerendes, eine solche Menge +von wert- und geschmacklosen Photographien, Vasen, Kissen +und Statuetten hat wohl selten ein Sterblicher geschenkt +bekommen wie dieser freundliche Greis, und alles hat er mit +rührender Pietät aufgehoben. Was Tisch und Wand nicht mehr +fassen konnten, hat er einfach auf den Boden gestapelt, und +da steht es noch. Die ausführlich gemalten Ölbilder und +Porzellanmalereien glaube ich alle zu kennen, das römische +Landmädchen, das den Handrücken in die Hüfte stützt, die +frommblickende Älplerin mit dem tressengeschmückten Mieder +und dem süßen von Lockenschnecken gerahmten Ovalgesicht, das +Prinzeßchen in Miniatur mit Höschen unterm Rock und Kranz in +der Hand. Und dort die offenhaarige Dame, die über einer +Blume sinnt, war gewiß in einer ‚guten Stube‘ bei Großeltern +oder Großtanten. Und über den Polstern der guten Stube waren +auch meistens Bezüge, wie wir sie hier finden. Nur daß hier +Krönchen darauf gewebt sind, weil der bewohnende Bürgersmann +König war. Aus dem nächsten +Zimmer schaut leibhaftig das altvertraute Märchen von +Thumann her. Im Samtrahmen lauscht’s herüber, mit dem +blendenden Ellenbogen der Linken, die das Haupt stützt, ins +Walddunkel vorstoßend. Auf dem Absatz des Bücherschranks +stehen Photographien kostümierter Familienmitglieder zur +Erinnerung an kleine Verkleidungsfeste, den intimen +Maskenball guter Bürgerfamilien. Und auf demselben Absatz +wurde dem Kaiser das zweite Frühstück serviert, das er +stehend einnahm. Aus der Bibliothek führt eine schmale +Wendeltreppe hinauf in die oberen Räume. Diese +beschwerlichen Stufen stieg Wilhelm I. noch in hohem Alter +empor, um in die Gemächer seiner Gattin zu gelangen. Wir +nahmen dahin den weiteren, bequemeren Weg, kamen durch das +Vortragszimmer, wo auf einem der steifen Stühle, mit dem +eingepreßten Preußenadler auf der Rückseite, Bismarck etwas +unbequem sitzen mußte, wenn er seinem lieben Herrn als +treuer Diener seine Politik zu insinuieren hatte. Wir traten +ins marmorne Treppenhaus, da heben Viktorien von Rauch ihre +Kränze, friedlich anmutende Göttinnen lang vergangener +Kriege. Oben die Räume der Kaiserin sind festlicher und +prächtiger als die, welche wir verlassen haben. Schon als +Prinzessin hat sich Augusta viel mit Inneneinrichtung +beschäftigt und soll behauptet haben, an ihr sei ein +Dekorateur verlorengegangen. Wir Fremde trieben etwas +stumpfsinnig an Repräsentation und Behagen dieser lichten +Zimmer, an Malachit und Alabaster der üblichen +Russengeschenke vorbei, sahen viel aus dem Fenster und +wurden erst wieder aufmerksam, als man uns im Tanzsaal ein +Echo vorführte, +das zufällig, sozusagen aus Versehen, hier miteingebaut +worden ist. Einige aus unserer Herde machten schüchterne +Versuche, es selbst zu wecken, was unsere Führerin lächelnd +zuließ. Unser Rundfahrtführer hat dies immerhin denkwürdige +Haus mit ein paar Worten abgetan und um so ausführlicher auf +die schrecklich ‚maßvollen Barockformen‘ der +gegenüberliegenden riesigen neuen Staatsbibliothek +hingewiesen. Dort ist überm Tor zwischen seinem +perückentragenden und seinem gezöpften Ahnherrn der letzte +Zollernfürst als Büste mit marmorn gezwirbeltem Schnurrbart +zu sehen. Im Innern gibt es unglaublich viel Bücher und eine +große Handschriftensammlung, Musik- und Kartenabteilungen, +Grammophonplatten von zweihundert Sprachen, allerlei +Institute, die man alle besichtigen kann; am schönsten aber +ist es, sich hinter einen Wall von Büchern in den +kreisrunden Lesesaal zu setzen und die unterschiedlichen +Männlein und Weiblein zu beobachten, die in konzentrischen +Ringen um eine leere Mitte studieren, notieren, frühstücken +und träumen. + +Ach, frühstücken! Wir sind ja wieder bei dem Alten Fritz und +unserm Ausgangspunkt angelangt. Wollen wir nicht hinübergehn +in Habels altväterische Weinstube in dem schönen +hundertjährigen Hause, uns an einen der blankgescheuerten +Tische setzen und die große Weinkarte studieren? Leider +fahren wir weiter, unser Pensum ist noch nicht beendet. Wir +dürfen nur einen raschen Blick auf Vasen, Masken und +Weinlaub des Reliefs überm Eingang werfen. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Die Straße Unter den Linden, noch immer mit ihren vier +Baumreihen, schönen Läden, Gesandtschaften, Ministerien und +Bankhäusern Herz und Mitte der Hauptstadt — um sie ganz zu +würdigen und im Gegenwärtigen das Vergangene zu erleben, +müßte man all ihre Epochen heraufbeschwören, seit der Große +Kurfürst sie als vorstädtische Allee zu seinem Jagdpark, dem +Tiergarten, hin anlegte. Über die fritzische Zeit müßte man +in der vortrefflichen Beschreibung der Haupt- und +Residenzstädte Berlin und Potsdam von Friedrich Nicolai +nachlesen, da steht jedes Haus der Straße verzeichnet, +Gasthäuser wie die Stadt Rom, das spätere Hotel de Rome, +Ecke der Stallgasse, jetzt Charlottenstraße, dessen +stattlicher Neubau erst vor kurzem Bureau- und +Geschäftshäusern Platz machen mußte, Palais, wie das des +Markgrafen von Schwedt, mit Benennung all seiner +Vorbesitzer, aus dem dann das Palais des Alten Kaisers +geworden ist, oder das der Prinzessin Amalie von Preußen, +Äbtissin von Quedlinburg, nahe der Wilhelmstraße, wo jetzt +die russische Botschaft wohnt, und das eines von Rochow und +das eines Grafen Podewils usw. Sodann müßte man den +berühmten Lindenfries im Märkischen Museum betrachten, der +alle Häuser Unter den Linden im Jahre 1820 festhält. Tust du +nun noch das Bild der Gegenwart mit den Auffahrten der +Hotels Bristol und Adlon (der Neubau des letzteren hat das +herrliche Redernsche Palais verdrängt), dem stattlichen +Kultusministerium und den vielen wohlerhaltenen älteren +Gebäuden hinzu, die altberühmte Läden und Geschäftshäuser +enthalten, so ergeht es dir vielleicht wie Varnhagen, der +über einen Spaziergang die Linden bis +zum Tor hinab und zurück notiert: ‚Der Anblick erweckte in +mir eine großartige Bilderreihe der Vergangenheit und +Zukunft, eine herrliche Geschichtsentwicklung, die gleich +einem wogenden Meere das kleine Schiff des eigenen Daseins +trug.‘ + +Auch als altbewährte Promenade der Lebensfreude empfehlen +sich die Linden. Dafür gibt es neben Heinrich Heines +berühmtem + + | Blamier’ mich nicht, mein schönes Kind, + | Und grüß mich nicht unter den Linden + +Zeugnisse weniger bekannter Poeten, zum Beispiel die +Berliniade oder Lindenlied eines F. H. Bothe, die der letzte +der hübschen Berliner Kalender von Adolf Heilborn zitiert: + + | Unter den Akazien + | Wandeln gern die Grazien + | Und der Mädchen schönste finden + | Kannst du immer untern Linden + | In Berlin, in Berlin, + | Wenn die Bäume wieder blühn. + | + | Liebende gehn Arm in Arm + | Einsam durch den bunten Schwarm. + | Und es sagt ein Händedrücken + | Und ein Streifkuß ihr Entzücken + | In Berlin, in Berlin, + | Wenn die Bäume wieder blühn. + | + | Untern Linden auf und ab + | Wallen Herr’n in Schritt und Trab, + | Schöne Herr’n und hübsche Herrchen, + | Große Narren, kleine Närrchen, + | In Berlin, in Berlin, + | Wenn die Bäume wieder blühn. + | + | Freilich ist dann wohl Mama, + | Auch Papa wohl plötzlich da. + | Doch nicht oft wird sich’s begeben; + | Denn warum? Man weiß zu leben + | In Berlin, in Berlin, + | Wenn die Bäume wieder blühn. + +Merkwürdige Varianten dieses Liedes enthält ein Stück der +Scherzhaften Lieder eines gewissen Karl Müchler vom Jahre +1820: + + | Untern Linden, wie ihr wißt, + | Wandeln die da rufen: Pst. + | Mild gesinnte Herzen finden + | Kannst du immer untern Linden + | In Berlin, in Berlin, + | Wenn die Bäume wieder blühn. + | + | Für acht Groschen ist Mama + | Hinten auf dem Hofe da, + | An den Herrn und an Jeannettchen + | Leiht sie Kammer, Licht und Bettchen + | In Berlin, in Berlin, + | Wenn die Bäume wieder blühn. + +Inwieweit seither der Charakter unserer ehrwürdigen +Hauptpromenade sich gleich geblieben ist oder sich geändert +hat, dies zu behandeln wollen wir erfahrenen Forschern der +Sittengeschichte überlassen und beim bloßen Anblick der +Gegenwart bleiben. + +Der neugierige Fremde interessiert sich wohl vor allem für +die berühmte Ecke Friedrichstraße und fragt nach Café Bauer +und Kranzler. Nun, Bauer heißt nicht mehr Bauer, sondern +schlechthin Café Unter den Linden, die wacker dionysischen +und elysäischen Wandgemälde sind verschwunden und eigentlich +ist im gegenüberliegenden Café König ‚mehr los‘ — womit ich +nichts gegen die Annehmlichkeiten eines Aufenthalts im Café +Unter den Linden gesagt haben will, im Gegenteil! Und +Kranzler? Da sind zwar noch die merkwürdigen Eisenpfähle und +Ketten, über die schon die eleganten Offiziere des alten +Regiments Gensd’armes zur Zeit der Königin Luise ihre +enghosigen Beine hängen gelassen haben, aber seit dem +letzten Umbau hat es sein altes Cachet verloren, womit ich +wiederum nichts gegen die Kuchen, die man dort verspeisen +kann, sagen will. + +Von der Friedrichstraße, auf die du Fremder in Eile einen +heftigen Blick wirfst, will ich dir noch nichts sagen, sie +muß mit ihren alten, veraltenden und lebendig gebliebenen +Geheimnissen und Sichtbarkeiten einem Abendspaziergang +vorbehalten bleiben. + +Aber gern würde ich dich auf ein paar Minuten durch den +Torweg dort in die kleine Mauerstraße entführen. Der Anblick +der Torwölbungen von der Innenseite dieser alten Steinwelt, +die mehr ein Durchgang als eine Straße ist, der +anschließende Rundbau, die Balkongitter, der Glaserkergang, +das Hellgrau und *‚cafe au lait‘* aller Nachbarhäuser ist +rein erhaltene Vergangenheit. Der jenseitige Torbogen aber +führt dich in die ‚Zentrale des deutschen Zahlungsverkehrs‘, +die Mauerstraße und ihre Nachbarn. Vor allem findest du dort +die mächtigen Gebäude der Deutschen Bank, die durch +neuzeitliche Seufzerbrücken miteinander verbunden sind. + +Vorbei an kleinen, vornehm aussehenden Häusern, die mit +ihren klassizistischen Fensterrahmungen wohlerhalten +zwischen den jüngeren größeren Nachbarn stehn, und den +Reihen schöner Privatautos vor den Hotels und parkenden in +der Mitte des Dammes sind wir an den Pariser Platz gekommen. +Die Form dieses Platzes mit dem abschließenden Tor, den +zurückweichenden Fassaden der einfachen Palais und dem +erfrischenden Rasengrün zur Rechten und zur Linken bewahrt +eine Stille und Geschlossenheit, die vorübertosender Lärm +und Betrieb nicht stören kann. Wohltuend ist der +einheitliche Stil der Gebäude, den nur das Palais Friedländer etwas +unterbricht, während das Barock der französischen Botschaft +gut eingeht. Und erfreulich ist es, zu wissen, daß hier +neben Akademien, Botschaften, Reichtum und Adel ein Maler +und ein Dichter hausen. + +Das Brandenburger Tor mit den beiden Tempelhäuschen, die +Schinkel dem stolzen Bau des älteren Langhans anfügte, ist +zwar den athenischen Propyläen — etwas ungenau und, wie der +Erbauer selbst berichtet, nur nach Beschreibungen der Ruinen +— nachgebildet, aber in seiner stämmigen sandsteinernen +Geradheit für unser Gefühl eigentlich mehr altpreußisch als +antikisch. Es ist das Tor von Berlin. Und bei der Victoria, +die oben ihre Quadriga lenkt, denken wir Kinder von hier +nicht nur an die Entführung durch Napoleon und ihre +siegreiche Wiederkehr, sondern auch an die Rolle, die sie in +‚Teufelchens Geburtstag‘ in den entzückenden Berliner +Märchen von Walther Gottheil spielt, in denen auch der Große +Kurfürst und der Goldfischteich und die Spree so +unvergleichlich verewigt sind. + +Wir umkreisen nun den Platz vor dem Tor. Sieh bitte nicht +auf die marmornen Balustraden, Bänke, Springbrunnen und +fürstlichen Herrschaften, die wir wilhelminischen +Architekten und Baumeistern verdanken. Nimm dies grelle Weiß +vor dem holden Grün des Tiergartens für Blendung und +Augenweh! Wir wollen zusehn, daß das verunglückte +Kaiserpaar, Friedrich III. und seine Gattin Viktoria, mit +Gottes Hilfe entfernt ist, wenn du das nächste Mal nach +Berlin kommst. Schau auf die schönen Bäume und Büsche an der +Allee. Aber da schimmert schon wieder ärgerlich greller +Marmor durchs Grün, und nun sind wir in der Siegesallee. Ja, +da sind nun rechts und links 32 (in Worten: zweiunddreißig) +brandenburgisch-preußische Herrscher und hinter jedem eine +Marmorbank und auf jeder Bank sitzt — nein, sitzen kann da +niemand, es ist zu kalt — aber auf jeder Lehne hocken zwei +Hermen jeweiliger Zeitgenossen des betreffenden Herrschers. +Es hilft nichts: unser Wagen fährt unerbittlich die ganze +Reihe entlang und man nennt dir die Namen. Ob wir bis zu +deinem nächsten Besuch das alles werden entfernt haben? +Berlin ist ja jetzt sehr tüchtig, was Aufräumungsarbeiten +betrifft, aber verarbeiteter Marmor soll keinen rechten Wert +haben. Man müßte doch das Material verkaufen können. 32 +Herrscher nebst Bänken und Zeitgenossen! Da weiß ich keinen +Rat. Du machst dir aber vielleicht einen Begriff, wie schön +diese Allee hinauf zur braven alten Siegessäule und hinunter +zur Viktoriastraße früher war. So, jetzt haben wir die eine +Seite bis zu Friedrich Eisenzahnen geschafft. Hier sind wir +am Kemperplatz, und das da soll, weil wir keinen alten mehr +haben, der neue Roland von Berlin sein. Hier um die Ecke +könnten wir in das etwas prunkvolle Café Schottenhaml gehn +(bei diesem Namen denkt man eigentlich an etwas behaglich +Münchnerisches) und oben das Porzellankabinett bewundern, +alte Muster der Berliner Manufaktur. Aber unser Wagen wendet +und erledigt die zweiten 16 von den 32. Da wirf einen Blick +auf Otto den Faulen, den einzigen von diesen Herren, der +sich einer gewissen Popularität erfreut, er hat eine so nett +verdrießliche Art, das Repräsentieren +nachlässig mitzumachen. Und nun harre aus, bis +wir zur Siegessäule kommen! Sie ist nicht gerade schön, das +kann man nicht behaupten. Immerhin erinnert der hohe +Säulenschaft mit den Geschützrohren an einen Schachtelhalm. +Und Schachtelhalme sind schön. Und das Ganze gehört nun +einmal zu unserer Spielzeugschachtel Berlin. Du mußt +zugeben, daß die Säule trotz der Kanonen etwas Harmloses +hat. Wenn du übrigens Rundsichten liebst, da oben ist eine +mit Baedekerstern, da kannst du über den ganzen Tiergarten +weg nach Süden und Westen und nördlich Moabit sehn und +östlich über die Reichstagskuppel die ganze Altstadt und +alle Kuppeln und Türme, die wir heute aus der Nähe gesehen +haben, noch einmal überschauen. + +Weniger harmlos, selbst noch in Begas’ eiliger Pathetik, ist +dort der Riese auf dem roten Granitsockel. Der bronzene +Kürassier mit der Faust auf der Urkunde der Reichsgründung +schaut, seines eigenwilligen Werkes sicher, über alles +Erreichte hinweg in die Fernen, welche die nicht mehr +erreichten, die nach ihm kamen. Um das Volk an seinem +Sockel, den Atlas mit der Weltkugel, den Opernsiegfried am +Reichsschwert und die verschiedenen Damen, die +Staatsweisheit und Staatsgewalt bedeuten, kümmert er sich +nicht. Und das mächtige Reichstagsgebäude hinter ihm scheint +sich zu ducken mit Kuppel und Türmen. Die Reichstagskuppel +ist übrigens überhaupt nicht so hoch geworden, wie der +Baumeister Wallot plante. Aber auch so wie es geworden ist, +hat dies grollend lagernde Riesentier seine massive +Schönheit und ist für die Zeit, in der es entstand, eine +gewaltige Leistung. + +Hast du Lust an Glasfenstern mit Reichsadlern, Wandgemälden +von Städten und Landschaften, Kardinaltugenden, marmornen +und bronzenen Kaisern, gepreßten Ledertapeten von der +Vornehmheit internationaler Speisewagen, ‚reichem +Renaissanceschmuck‘, allegorischen Damen, so laß dich durch +die Wandelhallen, Lesesäle, den großen Sitzungssaal, +Erfrischungsraum, Vorsäle und Ausschußsäle führen. Es dauert +immerhin dreiviertel Stunden. Hast du unter Abgeordneten +oder Leuten von der Presse einen Freund, laß dir von ihm +eine Eintrittskarte zur Tribüne verschaffen und wohne einer +Sitzung bei. Da mußt du dann vor allem achtgeben, daß du +Rechts und Links nicht verwechselst. Es ist wie bei gewissen +Bühnenvorschriften vom Schauspieler, nicht vom Zuschauer aus +gemeint. Also orientiere dich gut, damit du die Kommunisten +nicht für Völkische hältst und umgekehrt. Nach +Zeitungsbildern, Kinowochenschau und Karikaturen wirst du +unsere größeren und kleineren Politiker erkennen, und das +macht ja immer Vergnügen. Im übrigen empfehle ich dir die +Lektüre gewisser Seiten von Eugen Szatmaris Berlin-Buch. Das +führt dich auf muntere Art in diese Welt ein, in der ich +mich etwas fremd fühle. + +Wo in Berlin ein Bismarck errichtet ist, pflegt Moltke nicht +weit zu sein und auch auf Roon ist bisweilen zu rechnen. +Unser Wagen bringt dich an beider Denkmälern vorüber und +zwischendurch an der neuen vor einigen Jahren umgebauten +Staatsoper, die einst als Krollsches Opernhaus in +sommerlichem Garten stand. + +Dies Etablissement hatte eine besondre Glanzzeit, als noch +das Gaslicht vorherrschte. Da wurde der Garten ‚märchenhaft‘ +illuminiert, wie wir blasierten Zeitgenossen der Berliner +Lichtwoche, der A.E.G. und der Osramlampen es uns gar nicht +mehr vorstellen können. Schon damals lockte Licht Leute +hierher wie in den Pariser Jardin und Bal Mabille. + +Am Reichsministerium des Innern, das früher +Generalstabsgebäude und Moltkes Heim war — es gibt dort ein +Moltkegedächtniszimmer — kommen wir vorbei und die +Alsenstraße hinauf, ein Stück am Kronprinzenufer entlang und +über die Brücke. Da zur Rechten rund und weiß das +Lessingtheater. Und jetzt hinter der mächtigen Schwebebrücke +der Humboldthafen, an dessen Becken sich nördlich der Anfang +des Spandauer Schiffahrtskanals anschließt, der Wasserweg +zur Oder. Einer der sympathischsten älteren Berliner +Bahnhöfe taucht auf, der nach der kleinen Stadt Lehrte +heißt, aber gar nicht dahin seine Züge sendet, sondern vor +allem nach Hamburg. Das ist eine schöne rasche Fahrt durch +die Elb-Ebene und große mecklenburgische und +niedersächsische Wälder und Felder. Mit alten Glaskuppeln +und allerlei etwas unordentlich herumliegenden Gebäuden, +Panoramen und Gartenrestaurants, erscheint, von der +Stadtbahn überquert, der Ausstellungspark, früher im Sommer +und wenn die Große Bilderausstellung die Säle füllte, ein +‚Treffpunkt‘, jetzt ein bißchen veraltet, wie eingeregnet +von lauter Vergangenheit, überholt von jüngeren +Unternehmungen. Moabit mit Kriminalgericht, Zellengefängnis, +der Meierei Bolle, den Kraftwerken, das ist ein Kapitel für +sich. Wir fahren wieder über eine Spreebrücke und kommen zu den +‚Zelten‘. + +Die großen Gartenrestaurants erheben sich jetzt da, wo +früher einmal wirkliche Zelte waren. Der Alte Fritz hatte +französischen Kolonisten gestattet, hier Leinwandzelte +aufzuschlagen und Erfrischungen an die Spaziergänger zu +verkaufen. Später gab es hier Gerüste, auf denen musiziert +wurde. In den Märztagen von 1848 scharte sich um die Gerüste +das revolutionäre Volk, beriet Adressen an den König, Druck- +und Redefreiheit, Volksvertretung usw. Eine Weile lang ließ +man sie gewähren, umstellte sie aber mit Reiterschwadronen. +Es ging hier noch alles mit Maß und Haltung zu. Varnhagen +berichtet von den schweigsamen Massen, die in dunkler Nacht +ruhig von den Zelten durch das Brandenburger Tor in die +Stadt zurückkehrten. Auch in den Novembertagen 1918 zog an +den Gärten der großen Restaurants die Menge schweigend +entlang und wieder waren die Zelte eine Stätte verhalten +maßvoller Revolution. Im allgemeinen aber ist hier friedlich +kleinbürgerliche Erholung mit viel Musik, Vorstellungen, +Tanz und den mächtigen Platten der ‚Zeltentöpfe‘ und +‚Stammessen‘ oder mitgebrachtem Abendbrot. Es geht beim +Tanzen bieder zu; auch die Vorführungen sind ziemlich +harmlos. So ist hier noch heute mitten in der Stadt eine Art +Ausflugsrast für die unendlich vielen kleinbürgerlichen +Familien, Gruppen, Vereine Berlins. Schönstes stilles Berlin +ist die Straße, die sich im Anschluß an die Restaurants am +Tiergartenrand hinzieht. Aber das kann man so im +Vorbeifahren nicht sehn, das muß man mit Morgen +und Abend erleben. Hier wohnt sich’s altertümlicher und +heimlicher als in den bekannten schönen Straßen am südlichen +Tiergartenrand. + +Grausam schnell saust unser Wagen den Spreeweg entlang am +Garten und Schloß Bellevue vorbei zum Großen Stern. +Bellevue: früher spähte man durch den Zaun, um zu sehen, ob +da die kleinen Prinzenkinder spazierten. Jetzt kann man in +den Alleen des alten Gartens sich ergehn, in den runden Saal +zu ebner Erde im Seitengebäude schauen und sich dazu +königliche Sommerfeste denken, Gartengrabmäler entziffern, +hinübersehn nach der Altberliner Straße, die Brückenallee +heißt, wo in verwitternden Balkons Altfrauenblumen sich +halten. Auf der Schloßterrasse nach der Gartenseite zu saß +viel in seinen letzten Jahren der tafelfrohe und +lebenstraurige Friedrich Wilhelm IV., zeichnete vielleicht +seine romantischen Gartenprospekte, wie man deren im +Hohenzollernmuseum sehen kann, empfing seine Minister, die +über seinen seelischen Zustand ihre Bedenken bekamen, und +träumte sein verlorenes Kaiserreich, in dem ‚kein Blatt +Papier zwischen ihm und seinem Volke sein sollte‘, während +die liberalen Berliner sich mit Parlament und Freiheit +befaßten. + +Zu Zeiten des Großen Friedrich hatte Knobelsdorff, der +Meister von Sanssouci, hier Meierei und Landhaus, nach +seinem Tode ging der Besitz durch verschiedene Hände, bis er +endlich an Prinz Ferdinand, Friedrichs jüngeren Bruder, kam, +dem Boumann der Jüngere das Schloß gebaut hat; der zierliche +Pavillon aber mit den korinthischen Säulen ist Schinkels +Werk. + +Während wir am Großen Stern den Hubertusbrunnen und +die Jagdgruppen passieren, brave Bronze, gegen die sich +nichts einwenden läßt, versuche ich doch diesen Platz in +alten Zeiten vorzustellen, als hier die echten Parkhüter des +Jägerkreuzwegs standen, Gartengötter, die später noch auf +den Korso der schönen Welt schauten. Oh, es hat schon viele +Berliner Tiergarten und Große Sterne gegeben vor dem, den +jetzt der Rundverkehr durchtost und in dem vor kurzem als +Sinnbild des helleren Berlins ein Lichtturm grell +aufleuchtete. + +Bei der Fahrt die Charlottenburger Chaussee hinauf zeig ich +dem Fremden schnell, wo im Grünen der Weg zu dem alten +Gartenrestaurant Charlottenhof führt. Das war einmal ein +schönes Privathaus und ist nun eines der wenigen Cafés im +Tiergarten selbst, die zum Verweilen einladen. Noch hat der +Berliner in seinem Park seine Art Luxus und Behagen nicht +ins beleuchtete Laubwerk verpflanzt. Was würde Paris aus so +schön gelegenen Plätzen, wie dies Charlottenhof oder das +kleine Gasthaus bei der Bootanlegestelle am Neuen See es +ist, gemacht haben! + +An dem Stadt-Bahnhof Tiergarten findest du in einer kleinen +Auslage die Schalen und Teller, die dort die +Porzellanmanufaktur ausstellt; ich lege dir dringend ans +Herz, ein paar freie Stunden dem Besuch der nahegelegenen +Fabrik zu widmen. Das ist ein Stück bestes Altberlin. Längs +eines stillen Wasserarms zweigt hier die nach dem +Privatbegründer der Manufaktur, Wegely, benannte Straße ab +und führt zu den Verwaltungsgebäuden und zu der Fabrik. +Während die Verkaufs- und Ausstellungsräume in der Leipziger +Straße allgemein bekannt sind, ist dieser abgelegne Komplex +mit seinem +Museum und all den Hallen und Zimmern, in denen das +Porzellan gewonnen, gebrannt und bemalt wird, bei weitem +nicht so berühmt und besucht, wie er es verdient. Durch den +gartenhaften Hof gehen wir an den langen schmucklosen +Gebäuden entlang und durch einen Torweg in die Fabrik, deren +Bau auch schon historischen Reiz hat. Dort führt man uns den +ganzen Weg, den das Porzellan von der Schwemmerde bis ins +Atelier des Blumenmalers zurücklegt. In den niederen +Schlämmereikellern setzen sich in der ruhig gleitenden Masse +in einem weiten Kanalsystem von Rinnen die festen Teile ab; +aus denen wandert die Flüssigkeit in Kästen, wo auch die +feineren Bestandteile sich vom Wasser scheiden. Der +‚Hallischen Erde‘ wird Feldspat, der vor unsern Augen in +mächtigen Kollergängen grob und in Trommelmühlen staubfein +zerkleinert worden ist, beigegeben. Die Gesamtmasse wandert +weiter, erlebt Filterpressen und Masseschlagmaschinen, die +moderne Form der alten Knetbänke. Auf runden Tischen wird +sie unter einen Walzengang gebracht. Wir dürfen die +Gipsformer und die Arbeiter an der Töpferscheibe bei ihrem +Werk beobachten. Wir besuchen die leichtgewärmten +Trockenräume, wo die ausgeformten Gegenstände bleiben, bis +sie reif zum ersten Brande sind, die Brennkammern der +Gasringöfen, die Stockwerke des Rundofens, Gutbrandraum und +Verglühraum und die Ateliers, wo die Tonnen zum Glasieren +stehn. Eine seltsame Unterwelt, halb Backofen, halb Gang zum +Eisenhammer. Zuletzt langen wir bei den Malern an, die auch +heut noch treu-inniglich die alten Blümchen mit spitzen +Pinseln in Metallfarbe aufsetzen, welche +sich beim Einbrennen verwandelt. Man zeigt uns die Teller +und Schüsseln in allen Zuständen, vor und nach dem +Einbrennen, vor und nach ihrem Aufenthalt in den Muffelöfen, +in denen in schwachem Feuer das Flußmittel von der Farbe +abschmilzt. + +Ein freundlicher Bibliothekar führt uns in den Büchersaal +und gewährt uns Einblick in die Kabinettsorders des Alten +Fritz, der sich als Fabriksherr um alle Einzelheiten seiner +‚Porcellainfabrique‘ kümmerte. Alle Berichte von Bedeutung +mußten an ihn direkt gehen, er versah sie mit seinen +gestrengen ‚Erinnerungen‘. Er war ein guter Kaufmann und +wußte seine Ware anzubringen. Wollten zum Beispiel Juden +sich niederlassen, ein Gewerbe eröffnen oder heiraten, so +mußten sie königliches Porzellan kaufen. Dem Philosophen +Moses Mendelssohn wurden zu einer Zeit, als er schon einen +großen Namen hatte, zwanzig lebensgroße massive Affen +zugemutet. Durch große Geschenke, die er gern mit Hilfe +seiner Fabrik machte, vermehrte der König ihren Ruhm. +Weltberühmt wurde der Tafelaufsatz, den er der Kaiserin +Katharina II. von Rußland-überreichen ließ. Unter der +Fürsorge des Königs gedieh das Unternehmen, immer neue Öfen +wurden aufgestellt, und die technischen Errungenschaften des +beginnenden neunzehnten Jahrhunderts kamen der königlichen +Fabrik zugute. Wohl hatte sie Preußens schwere +wirtschaftliche Kämpfe mit durchzumachen, bewahrte aber +durch alle Zeiten die künstlerische Qualität und Eigenart +ihrer Erzeugnisse. Ein Gang durch die Ausstellungssäle hier, +ergänzt durch einen Besuch der Geschäftsräume in der +Leipziger Straße, die Bruno Paul ihre neue Inneneinrichtung und ihm +und Künstlern wie E. R. Weiß, Renée Sintenis, Edwin Scharff, +Georg Kolbe, ihren Schmuck verdanken, zeigt uns das Berliner +Porzellan durch alle Stilperioden als getreues Spiegelbild +des Zeitgeschmacks. Da sind die Putten und Parzen des +Rokoko, die allegorischen Gruppen wie etwa das ‚Wasser‘ als +Schäferin mit einem winzigen Krug, Cupido als Kavallerist. +Nach den mehr malerischen Blumen aus der Zeit des Neuen +Palais-Services und des Breslauer Stadtservices mit seinem +leuchtenden Dunkelblau erscheinen die zeichnerisch schönen +Buketts des Empire, die klassizistischen Grazien, +Kaffeetassen, deren Zierformen griechische und etrurische +Vorbilder haben, die zarten Biskuitgebilde nach Schadows +Entwürfen, die Luisenbüsten, die schöngestalteten +Henkelvasen nach Schinkelzeichnungen. Im Berliner +Stadtschloß, in Schloß Monbijou, in Potsdam, aber auch in +altem Familienbesitz begegnen uns immer wieder diese Formen +und Gestalten. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Wo die Charlottenburger Chaussee den Landwehrkanal +überschreitet, erhebt sich ein etwas umständliches +Torgebäude, das vermutlich hervorheben soll, daß hier eine +neue Stadt beginnt. Es ist ziemlich neu, und man glaubt ihm +nicht. Es gibt hier ebensowenig wie anderswo für das Gefühl +eine Grenze zwischen Berlin und Charlottenburg. +Schwesterlich hat Charlottenburg der Nachbarin auch etliche +Wissenschaft und Kunst abgenommen, so zum Beispiel gleich +hier zu unserer Linken die Technische Hochschule. Das +mächtige Gebäude feiert noch einmal mit aller Pracht von Säulen, Gesimsen und +Skulpturen eine Welt, die mit Säulen, Gesimsen und +Skulpturen eigentlich nichts zu tun hat. In der Vorhalle hat +der Dämon des Dampfes ein Bronzedenkmal bekommen wie ein +Renaissanceheld. Ein Stückchen weiter macht die Berliner +Straße einen Knick, den man das Knie nennt. Schon Fontane +sagt von diesem Knie: ‚Seine Rundung ist heute völlig +reizlos.‘ Reizvoller ist sie seither nicht geworden. Und +ihre Form verschwindet ganz in dem Durcheinander von Autos +und Bahnen, die hier die Kreuzung mehrerer Straßen +überqueren. Die stillste dieser Straßen ist immer noch die +Fortsetzung der Berliner Straße. An ihr liegen zwischen den +neuen noch eine ganze Reihe älterer kleiner Häuser aus der +Zeit, als der Weg von Berlin nach Charlottenburg ein Ausflug +war, eine Kremserpartie. Man fuhr mit dem Wagen vom +Brandenburger Tor aus richtig über Land hierher. Man bezog +Sommerwohnung in den idyllischen Behausungen, die an der +Straße lagen, welche die Hauptstadt mit der Sommerresidenz +verbanden, die einst der erste Preußenkönig seiner Gemahlin +im Dörfchen Lietzow geschaffen hatte und die nach ihr den +Namen Charlottenburg trägt. + +Die Ankunft vor dem schönen Schloß dieser Königin wird uns +etwas verleidet durch ein großes Reiterdenkmal Kaiser +Friedrichs mit Umbau und Göttern von 1905 auf den Pylonen. +Fort damit! Die Anlagen des Platzes sind doch dem Schutz des +Publikums empfohlen! Dem Schloß gegenüber die beiden +erfreulichen Kuppelbauten, die — man glaubt es kaum — einmal +Kasernen waren, erinnern an die etwas unbestimmten +Gartenarchitekturen, die der romantische Friedrich Wilhelm IV. +zeichnete, und blicken ehrfürchtig zu Eosanders grüner +Kuppel mit dem schwebenden Tanzgott hinüber. + +Im Schlosse sind schöne, etwas leere Empirezimmer der +Königin Luise mit viel unbesessenen Sesseln und zierlichen +Kachelöfen. Im östlichen Flügel, den Knobelsdorff für +Friedrich den Großen anbaute, ist ein weitläufiger Tanzsaal, +die goldne Galerie genannt. Und noch älteren Prunk findet +man auf der Gartenseite in den Gemächern, in Kapelle und +Porzellankammer des ersten Königs. Durch das Ganze wird man +leider pantoffelschlurfend geführt. Ungestört aber darfst du +Fremder in dem großen Park spazieren. Auf dem Weg dahin ist +ein Durchgangsraum. Pilaster und reiche Kapitelle und +Medaillons in Stuck, der so aussieht, als müßte er im +nächsten Windstoß bröckeln, und hält doch schon zweihundert +Jahre. Dieser wenig beachtete Raum ist ganz besonders voll +Vergangenheit. Im Garten gehst du an schöner Schloßfront und +den Büsten der römischen Kaiser entlang und stille Wege zum +Mausoleum. Das ist auch in seiner in neuerer Zeit +erweiterten Gestalt noch immer ein würdiges Gebäude, aber +unvergeßlich ist für jeden, der es noch gekannt hat, das +erste nach Schinkels Plänen erbaute Todestempelchen, das nur +den Marmorschlaf der Königin Luise und ihres Friedrich +Wilhelm hütete. Man hätte für ihren Sohn und ihre +Schwiegertochter eine andre Ruhestätte bauen und Rauchs +Meisterwerke allein lassen sollen. Es gibt in diesem Park +noch ein merkwürdiges Gebäude weit hinterm Karpfenteich und +nah dem Fluß, das Belvedere, in welchem +in den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts +Friedrich Wilhelm II. zu Füßen seiner ‚Gräfin Lichtenau‘ +saß. Fontane hat das Innere des »seltsamen jalousienreichen +Baus mit den vier angeklebten flachen Balkonhäusern und dem +kupfernen Dachhelm« besucht (heut ist es eine Art +Beamtenwohnung und unzugänglich). In den saalartigen +Rundzimmern war er und in dem dämmerigen Kabinett, wo der +König die Geister der Abgeschiedenen beschwor, die ihn +mahnten, auf den Weg der Tugend zurückzukehren. Heut sind +die Gespenster, die Fontane noch spürte, von ziemlich +banaler Gegenwart vertrieben, und Vergangenheit wohnt eher +in manchen Büschen und Wegen des Parks, der sich weit nach +Norden und Westen hin erstreckt. + +Unser Wagen aber lenkt südwärts ins neueste Charlottenburg +auf den Kaiserdamm bis zum Reichskanzlerplatz. Auf die +Reichsstraße werfen wir nur einen Blick und ahnen dahinten +die werdende Kolonie Heerstraße. Südlich vom Kaiserdamm +bekommen wir die Messehallen, die großen Ausstellungsbauten, +Funkhalle und Funkturm zu sehen. Groß angelegt und mit Recht +ein Stolz des neuen Berlin ist diese ganze Straße, die vom +Brandenburger Tor hieher und weiter führt. Unser Rückweg +passiert in der Hardenbergstraße die Hochschulen für Musik +und bildende Kunst, einen einheitlich entworfenen Komplex +von Gebäuden in hübschem Sandstein. Und dann geht es unterm +Stadtbahnviadukt hindurch und zur Kaiser +Wilhelm-Gedächtniskirche, vor der unser Wagen hält. Der +Führer erklärt, dies Gebäude sei eine der schönsten Kirchen +Deutschlands. + +Nun ist leider noch heller Tag, da sieht man sie zu +deutlich. Ach, wenn hier eine echte alte Kirche stünde — aus +Zeiten stammend, die eine der andern den Torso ihrer Träume +zu langsamem Weiterbauen übergab — und wenn nun heut an die +altersgrauen Mauern und Zacken unter Engelleibern und +Teufelsfratzen der wilde Rundverkehr der Trambahnen, Autos, +Autobusse und Menschenmassen mit einem Echo aus Ruinenstein +prallte — der ‚Broadway‘ von Berlin-Charlottenburg mit +seinen Cafés, Kinos, Leuchtbuchstaben und Wanderschriften +hätte ein Herz, eine Mitte, eine Resonanz. Statt dessen +steht, seit dreißig Jahren immer noch wie neu, hier das +Schulbeispiel einer sogenannten ‚spätromanischen +Zentralanlage‘ mit Hauptturm und Nebentürmen als massives +Verkehrshindernis mitten auf dem Platz, und gegenüber dem +Hauptturm einerseits und dem Chor andrerseits sind von +demselben Architekten — wir wollen seinen Namen vergessen — +noch aus Stilgefühl zwei gleichfalls romanische Häuser +errichtet. Es muß abends schon gewaltig von ‚Capitol‘ und +‚Gloriapalast‘ und der Ufa am Zoo Licht herüberdonnern, um +die steingewordne Schulweisheit etwas aufzulösen. Wir +Älteren denken manchmal an die Zeit, als hier einer der +wunderbaren vom alten Tiergarten übriggebliebenen Bäume +seine Zweige breitete (Zeitgenossen dieses herrlichen Baumes +stehen noch heut, der eine in der Wichmann-, der andre in +der Viktoriastraße), doch das ist belanglos, heut ist heut. +Aber wenn diese Kathedrale mit dem langen Namen wenigstens +ein bißchen altern und zerfallen wollte. Da steht sie mitten +im Gerassel und Gedröhn preußisch +unerschüttert und macht Augen rechts nach dem +lieben Gott. + +Und das Innere? Schon in dem Vorraum, der vermutlich an den +Narthex der echten romanischen Kirchen erinnern soll, gehts +marmorn los. Als Knabe bekommt Wilhelm vom Vater das +marmorne Schwert gereicht, reitet als junger Kriegsprinz +durchs Schlachtfeld von 1814 hinter lagernden Schützen, die +marmorn nach dem Innenportal der Kirche zielen, ratschlagt +mit Bismarck und Moltke zwischen stilisierten Blumen über +einer Feldzugskarte und sitzt marmorn zwischen Sohn und +Enkel, sich huldigen zu lassen. Von den vielen +Kirchenfenstern ist zu sagen, daß fast unter jedem der +Stifter leserlich verzeichnet steht. Viel Prinzen sind +darunter, aber auch Städte und einzelne Mäzene. Deren Enkel +können, bis diese Inschriften eines schönen Tages verlöschen +oder verschwinden, noch ein kleines Jahrhundert lang sich +ärgern, daß Großpapa und Urgroßmama etwa einen glasgemalten +lächerlichen Satan, der in roten Flammen neben dem +ruhevollen Heiland brennt, gestiftet haben. In der großen +Fensterrose bemühen gebildete kleine Propheten sich mit +ihren Spruchbändern um ein naiv mittelalterliches Benehmen +und auf dem Goldgrund der Deckenmosaiken halten strebsame +Leute mit Heiligenschein sich so katholisch, wie es ihre +protestierenden Gliedmaßen irgend zulassen. Und das alles +muß unter elektrischer Beleuchtung ein Heiland segnen. Er +hat den vornehmen Bestand aufzunehmen. Außer den Statuen +rings ein Taufbecken aus kostbarem Material, eine Ringkrone +von 5'5 m Durchmesser, eine Orgel mit einem +Prospekt in getriebenem Kupfer, 80 Registern und 4800 +klingenden Stimmen. — So, hier will ich, ehe der Wagen +weiterfährt, aussteigen, nicht um in die Kirche, sondern ins +Romanische Café zu gehen. Es ist Spätnachmittag, da ist es +noch nicht zu voll. Ich finde die alten Münchner und Pariser +Freunde. Fahrt ohne mich weiter, ihr richtigen Fremden! |