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author | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2024-11-27 18:15:59 +0100 |
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committer | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2024-11-27 18:15:59 +0100 |
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Es haftet soviel Erinnerung sowohl an +den nüchtern gediegenen Aufgängen mit braunem Holzgeländer, +farbloser Wand und den graugeritzten Gestalten im +Fensterglas als auch an gewissen Palasttreppen mit steil zu +ersteigendem Hochparterre, falscher Marmorwand und pompöser +Glasmalerei. Führt uns ein Anlaß oder Vorwand — zum +Beispiel, ein möbliertes Zimmer zu besichtigen — in eine der +altvertrauten Wohnungen, so finden wir unter neuer Schicht +die frühere Welt wieder: hinter verbarrikadierenden +Schränken die Glasschiebetür, die einst Salon und Berliner +Zimmer trennte, im sichtbaren schrägen Diwan den Schemen des +Flügels, der damals hier stand mit seiner Samtdecke und den +Familienphotographien. Nahe dem Fenster ist in dem ärmlichen +Topfblumengestell noch etwas von der Tropenwelt der +Zimmerpalmen geblieben. Von dem Haut-pas am Hoffenster des +Berliner Zimmers sehen wir auf den Hof mit dem blassen Gras, +das zwischen Steinen sprießt wie einst. Nur der Pferdestall +und die Wagenremise des alten Generals aus der Beletage sind +verdrängt durch eine Autoreparaturwerkstatt. + +Ein paar Häuser der alten Zeit sind noch unverändert in +Nebenstraßen der Maaßen-, Derfflinger- und Kurfürstenstraße, +die führen in Gärten ein wunderbares Inseldasein. Andre sind +trotz ihrer Gärten verkommen, im Karlsbad zum Beispiel nahe +der Potsdamer Brücke. Die eine Brunnenfigur dort im Grünen +zerfällt so sehr, daß bald ihre Trümmer fortgeschafft werden +müssen. Die ähnliche im Vorgarten des alten Familienhauses +mitten im lebhaftesten Geschäftsviertel, Potsdamerstraße +nahe der Linkstraße, ist noch ganz wohlerhalten, obgleich +schon eine Zeitung mit ihrem Riesenplakat oben den +antikisierenden Fries des Hauses verdeckt und im ersten +Stockwerk sich der Vorderräume bemächtigt hat. + +Alter Westen — selbst in den rauchgeschwärzten Straßen nahe +den Bahnhöfen bewahrt er noch hie und da einen Traubenfries, +eine weibliche Maske zwischen nackten Jünglingen, die, den +Thyrsusstab an der Schulter, auf Ranken hocken, eine +Türfassung wie Tempeltür, all das erbaut, modelliert in +schlechtem oder mäßigem Material von den allerletzten +Schinkelschülern, letzte Reste des preußischen +Griechenwesens. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Ehe wir in Museen und in fremden Ländern die echte Antike zu +sehen bekommen, gesellt sich beiläufig dem Großstadtkind ein +wenig Mythos aus zweiter Hand, im Elternhause etwa ein +bronzener Apoll, der von des Vaters Schreibtisch zur Tür +hinzeigt, oder im Salon eine Venusbüste, die den Marmor +ihrer Armstümpfe in düsterm Glase spiegelt: seltsame nackte +Wesen, man weiß nicht, ob sie zuschauen oder wegschauen. +Kommt das Kind ins Freie, so begegnet ihm auf Schulweg oder +Spaziergang bald ein und das andre Wesen dieser wartenden +Welt. Hinter einem Gartenzaun hebt eine Flora Kranz oder +Schale. In einer Türnische schänkt eine Hebe aus einem Kruge +Unsichtbares. Auf der Freitreppe vor der Kohlenhandlung +steht, das rechte Knie vorgeschoben, in schmiegendem +Faltenkleid eine der vielen Grazien, die etwas zu halten +oder anzubieten scheinen, das meist nicht vorhanden ist. Von +uns älteren Kindern des Berliner Westens erinnert sich +mancher vielleicht noch an die vier oder sechs Musen, die in +einem Vorgarten der Magdeburgerstraße standen. Sie sind +inzwischen verschwunden. Bruchsteinern standen sie da und +hielten artig, soweit sie noch Hände hatten, ihre Kugel oder +ihren Stift. Sie verfolgten mit ihren weißen Steinaugen +unsern Weg, und es ist ein Teil von uns geworden, daß diese +Heidenmädchen uns angesehen haben. + +Ob es wohl noch irgendwo im Tiergarten den bärtigen Apoll +gibt, der damals auf einem Spielplatz, den ich jetzt nicht +mehr finde, stand? Wir haben gegen seine Hinterseite, da, wo +sie den stützenden Stumpf überragte, Prallball gespielt. Das +war nicht ehrerbietig, hat aber eine Beziehung hergestellt. + +An unserm Wege geblieben sind mancherlei Sphinxe, die vier +zum Beispiel, die auf der Brücke sich wegwenden von den +beiden Taten des Herkules, welche auf mittlerer Brückenhöhe +geschehen. Sie tragen sanft jede ein Kind mit Füllhorn auf +dem Rücken und lassen die Autobusse vorübergehen. Die +Herkulesse der beiden Taten sind etwas beunruhigend. Sie +stehen so, daß man immer in Sorge ist, sie selbst oder ihre +Gegner, der Löwe und der Zentaur, könnten ins Wasser fallen, +wenn sie es weiter so treiben. Die Sphinxe hingegen sind +beruhigend. Rätsel geben sie nicht auf. Eine noch harmlosere +weiß ich über dem Portal eines Hauses, das der Mauer des +zoologischen Gartens gegenüber liegt. Die wartet wie eine +freundliche Hausmeistersfrau und hat doch Flügel und Tatzen. +Allein diese Katze gehört schon halb in die Gegend des +Kurfürstendamms und nicht mehr in die alte Welt, in der wir +bleiben wollen. Wir finden zurück in stillere Straßen, und +angesichts kleiner Kapitelle an den verschiedenen Etagen +einiger Häuser fällt uns der erste Unterricht über +Säulenarten ein, den uns bei einem Spaziergang der Vater +oder der ältere Bruder gab: er lehrte uns den dorischen +Fladen, die ionische Schnecke und den korinthischen Kelch +mit seinen vielerlei Blättern unterscheiden. Und fortgesetzt +wurde diese Vorschule vor ganzen Säulenhallen, wenn man bis +unter die Linden kam und vom Brandenburger Tor bis zum +Opernhaus und zur neuen Wache vordrang. Kam man aber nur bis +zu den Tortempelchen am Leipziger Platz, gab es in nächster +Nähe wieder etwas wenig Beachtetes zu entdecken. Ich meine, +im Rasen verteilt, die acht Sandsteingruppen, die — einst +Laternenträger auf einer längst abgerissenen Brücke — hier +im Grünen gelandet sind. Daß es Laternen sind, was sie +tragen, erkannten wir nicht, wir fanden sie nur +geheimnisvoll um undeutliche Gegenstände und um einander +bemüht. Sie haben mich immer viel mehr interessiert als die +beiden Generäle Graf Brandenburg und Graf Wrangel, welche +näher an der Straße das Interesse auf sich zu lenken suchen. +Wenn ich eine Stimme im Rat der Stadt hätte, würde eine +ganze Reihe solcher Kriegshelden und sonstig berühmten +Männer, die auf Plätzen, an Brücken und Alleen sich +vordrängen mit ihren porträtähnlichen Steingesichtern oder +Bronzeröcken, durch unbestimmte Gartengötter ersetzt, die +nicht viel anhaben. + +Nun, bis es dazu kommt, wollen wir zufrieden sein mit dem, +was wir haben, und sei es auch nur das Kleinwerk an alten +Häusern, Medaillons mit Mädchenköpfchen in reichem Haar oder +Jünglingsgesichtern unter phrygischer Mütze, kleinen Opfer- +oder Triumphzügen in Flachrelief über einer Beletage und +Putten, die zwischen Blattwerk und Arabesken über Türen oder +unter Fenstern hocken. Diese Putten waren immer besonders +vertrauenerweckend, da sie an den eigenen Knabenkörper +erinnerten. Ungewöhnlich verlockend aber wurden sie vor dem +Zeughaus, wo sie überlebensgroß zu Füßen der Riesinnen +stehen und, während die da oben nah bei ihren gewaltigen +Brüsten Belehrendes vornehmen, sich selig an die Fülle der +Gewandfalten schmiegen dürfen. + +Bekommt man solche Putten und Göttinnen nur selten zu sehen, +so gibt es doch eine andere Art mythologischer Personen, +eine ganze *Plebs deorum*, die uns häufig Gesellschaft +leistet: die Karyatiden und Atlanten. Von so gelehrten Namen +weiß das Kind nichts, es sieht Mädchen, die, unter leichter +Last in die Hauswand eingelassen, ihr kleines Kapitell als +Kopfputz tragen. Schon vom Schoß ab werden sie Mauerwerk. +Andre müssen sich mühen und ducken, um vorragendes Gebälk zu +stützen. Da wechseln die Arme, bald wird der rechte, bald +der linke gebraucht und die freie Hand ruht auf dem Knie. +Bärtige Männer schleppen das Haus auf erhobenen Armen und +mit dem Nacken. Jünglinge stemmen die eine Schulter unter +den Torbogen und strecken den Arm dem Nachbarn hin über ein +Löwenhaupt. Manche haben wirklich schwer zu schleppen und +schlagen gewaltige Bauchfalten, andre scheinen die Mühe +etwas zu übertreiben und machen mehr Muskelspiel als +erforderlich. + +Während diese Männer und Weiber im Freien ihr Wesen treiben, +erwarten uns bei seltenen festlichen Gelegenheiten einige +von ihnen in geschlossenen Räumen. Man wird mitgenommen, um +den Freischütz oder die Zauberflöte zu hören und sieh, da +tragen die weißen Freundinnen von der alltäglichen Straße +feierlich die Brüstungen des Zuschauerraums. Und in einem +andern Kunsthause stehen zwei, die ich immer besonders +geliebt habe, mühelos aufrecht unter ihrer Last wie ihre +Vorbilder im Tempel zu Athen. Das sind die beiden an der +großen Orgel der Philharmonie, die sich rechts und links von +dem filigranenen Gitterwerk des mächtigen Musikheizkörpers +erheben. Sie halten Leiern in den Händen, ohne +hineinzugreifen, und schauen leeren Gesichts geradeaus. Und +all unser Gefühl konnte in die Hülsen ihrer Gesichter +eingehen, wenn die Wasser der Musik uns zu ihnen +emportrugen. Wohl gibt es da näher als diese gestrengen +Göttinnen zwei christliche Engel, die mit belasteten Flügeln +unter der Saalwölbung sich ducken und viel entgegenkommender +auf uns heruntersehen, wir aber bleiben den fernen +Heidenfrauen treu. |