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author | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2024-11-27 18:15:59 +0100 |
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diff --git a/19-nordwesten.rst b/19-nordwesten.rst new file mode 100644 index 0000000..876470d --- /dev/null +++ b/19-nordwesten.rst @@ -0,0 +1,361 @@ +.. include:: global.rst + +NORDWESTEN +========== + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`W`\ o sich heute die Museen an der Invalidenstraße +erheben (zwischen dem der Landwirtschaftlichen Hochschule +und dem geologischen das für Naturkunde, darin man den +berühmten Urvogel bewundern kann und allerhand saurische +Zeitgenossen von ihm in Skelett oder Abguß), da ließ einst +der Alte Fritz Maulbeerplantagen anpflanzen, damit seine +Invaliden Seidenraupenzucht trieben. Ein Stückchen weiter +nach Norden steht noch heute das Invalidenhaus, das er +*‚laeso et invicto militi‘* errichtete. Es lag damals in +ödem Gebiet, das einst Sandscholle hieß. Dort soll sich der +Sand bisweilen so hoch an der Stadtmauer gehäuft haben, daß +man über sie weg in die Stadt reiten konnte. Schön ist der +Eingang zu dem Invalidenhaus mit der rundgewölbten Holztür +und dem Oeil de bœuf darüber. Im Hof sieht man Kanonenrohre +liegen, verrostende Kriegsvergangenheiten. Und viele +berühmte Kriegsmänner ruhen auf dem Invalidenfriedhof +daneben. Das ist einer der Altberliner Kirchhöfe, wo man +noch eine ganze Reihe schöner Grabmonumente zu sehen +bekommt. Antikische Helme auf Schilden oder eine Steinvase +von wunderbar einfacher Größe auf Grabsteinen der Obersten +und Kommandanten des Invalidenhauses, Friesens schwarzes +Kreuz, Scharnhorsts hohen Marmor mit dem sterbenden Löwen, +Trophäen über Winterfeldts Grab und die Zinkplatte über dem +Grabe Tauentziens. Auch einen der preußisch neugotischen +Turmbaldachine, die nach Schinkels Entwürfen in der +königlichen Eisengießerei geschaffen wurden. + +Es ist schön, hier von Stein zu Stein zu wandern; so dicht +wie hier sind nur noch selten die Monumente der älteren +Berliner Friedhofkunst beisammen, Denkmäler der Zeit +Schadows und Schinkels und der spätfriderizianischen Zeit, +die Grazie und Strenge so einzig vereinte. In der +Chausseestraße, am Prenzlauer Tor und südlich vom Halleschen +Tore und in einigen andern in der Altstadt verbliebenen +Kirchhöfen kann man ähnliche efeuumgebene Wege in die alte +Grabkunst wandern zu den Malen Berühmter und Vergessener. +Leider muß man dabei oft vorbeifinden an den Kuppeln, +Baldachinen und Bogenhallen, zu deren ‚geschmackvoller‘ +Herstellung in bestem Material und jeder Preislage +allmählich eine große Industrie sich entwickelte. + +Auf diesen schönen kleinen Friedhof war ich geraten, statt +mich, wie beabsichtigt, ans andre Ende der Invalidenstraße +zum Kriminalgericht zu begeben, um zu meiner Belehrung einer +Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Das hatte ich einmal getan +vor Jahren, als ein Gotteslästerungsprozeß vorgeführt wurde, +bei dem Zeugen, Richter und Angeklagter zum Teil +ausgezeichnet spielten, nur der, welcher den Staatsanwalt +gab, chargierte zu sehr und war von unwahrscheinlicher +Witzblattkomik. Ich komme vielleicht doch noch zurecht, +suchte ich mir einzureden. Die Trambahn brachte mich rasch +vorbei an dem ehemaligen Hamburger Bahnhof, der so hübsch +ungebraucht aussieht (es ist aber ein Verkehrsmuseum darin), +am Humboldtshafen, Lehrter Bahnhof und Ausstellungspark. Ein +Blick auf den festungsartigen Komplex des Zellengefängnisses +mit dem mächtigen Turm, dann stieg ich aus vor dem Löwen, +der vor dem Gerichtsgebäude die Schlange des Verbrechertums +bekämpft. Am Sockel dieses Löwen steht derselbe Künstlername +wie an dem seines Vetters, der in der nach ihm benannten +Allee des Tiergartens sich über seiner verwundeten Löwin +drohend aufrichtet. Er hat aber gar nichts Furchtbares, +dieser gute Gatte, besonders für unsereinen, der von +Kindheit an so oft an ihm vorbeispaziert ist, daß er wie +Spielzeug auf dem Bord der Erinnerung steht. An diesen +lieben Löwen dachte ich und hatte nun gar keine Lust mehr, +in das große rote Haus zu gehn, das der Schlangentöter +bewacht. Ich schlich, wie hinter die Schule, an einer Seite +des mächtigen Fünfecks entlang, kam in die freundlichen +Anlagen des kleinen Tiergartens und sah auf das eifrige +Treiben vor der Meierei Bolle, vor der gerade eine Menge der +jedem Berliner Kind wohlvertrauten Milchwagen ankamen und +hielten und in ihren blauen Schürzenkleidern die Mädchen und +Burschen sich von den Rücksitzen schwangen. Unter die hätte +man sich mischen sollen, um Heimatkunde zu treiben. Statt +dessen trieb es mich nordwärts durch die Anlagen in eine +Querstraße der langen Turmstraße. + +Und da bin ich ganz zufällig in etwas recht Berlinisches +hineingeraten. Da standen an dem Eingang zu einem der +Etablissements, die Vor- oder Familiennamen der Hohenzollern +mit Schultheiß- und Patzenhoferausschank verbinden, einige +Leute, denen es festlich unterm Mantel vorschaute. Und so +mutlos ich vor den Löwen der Gerechtigkeit und den +Bollemädchen gewesen war, hier faßte ich gleich bürgerliches +Vertrauen und ging mit hinein in die Feier des sechsten +Stiftungsfestes eines Musikvereins, der eine +Liebhaberaufführung veranstaltete. Eine Operette sollte +gegeben werden von einem der Mitglieder. Man saß an Tischen +und bekam Kaffee und Kuchen, es war ein Sonnabend +nachmittag. Die Vorstellung begann mit einem tiefen Knix, +einem Hofknix aus alter Zeit, wie man ihn heutzutage selten +zu sehen bekommt. Den führte die Dame aus, welche den +Begrüßungsmonolog aufsagte. Und dann wandte sich der Herr +Kapellmeister und Komponist an das hochverehrte Publikum und +wies auf die unvermeidlichen Schwierigkeiten hin, die es +‚Dilettanten, die doch nur in den Mußestunden ihrer +Berufstätigkeit sich der Kunst widmen können‘, bereitet, +eine ganze Operette einzustudieren und mit unzureichenden +Mitteln aufzuführen. Die Operette spielte in dem +spezifischen Operettenlande zwischen Wien und dem +Türkenreich, wo soviel Gräfinnen, Lebemänner, Zigeuner, +bunte Bäuerinnen, Schmuggler und schicke Leutnants wohnen. +Und die vollschlanken Damen des Chores bewährten sich sowohl +als Landmädchen wie als vornehme Gäste der Schloßsoiree. Die +Hauptdarsteller wurden nach jedem Solo und Duett heftig +beklatscht und mußten das meiste wiederholen, nicht nur +Scherzhaftes, sondern auch Gefühlvolles wie ‚Mädel sag mir +ein Wort / Mädel, ich muß gleich fort!‘ Und das hatten sie +ebensogut verdient wie unsre berühmten Kammersänger, die als +berühmte Personnagen aus dem 18. Jahrhundert ihre +Partnerinnen wie Blasebälge an die mächtige tonbildende +Brust pressen und immer wiederholen, wie sehr sie sie +lieben. + +Dabei befanden sich diese Ausnahmskünstler ziemlich +kritischen Zuhörern gegenüber, die zum großen Teil die +Proben des Musikvereins miterlebt hatten und sich auf +Nuancen verstanden. Mir sind sehr subtile Äußerungen aus dem +Publikum zu Ohren gekommen. So meinte zum Beispiel eine +Tischnachbarin von der einen jugendlichen Liebhaberin, sie +hätte nicht das Schwarze anziehn sollen, das sie zu alt +macht, sie hat doch ein Lila . . . Wie es bei den großen +Premieren üblich ist, müßte man eine Modeschau schreiben, +nicht nur von den Künstlerinnen, auch vom Zuschauerkreise: +Wo sie Rosen sitzen hatten, die würdigen Damen mit den +Häkelschals überm Ausschnitt, wie diskret die dunklen +Seidenkleider der kräftigen Mütter, wie zartfarben die +Toiletten der schmalen Töchter waren. Zu loben wäre die +äußerst korrekte Festkleidung der Herren, die manchen +Theaterabend im Westen Berlins beschämte. Wilhelm II., der +als Admiral auf der Kommandobrücke aus einem Wandbild auf +seine weiland Untertanen niederschaute, konnte mit seinen +Moabitern zufrieden sein. + +Behufs Czardas hatte der Komponist und Regisseur seinen +Getreuen die nötige Menge Feuer ins Blut gezaubert. Mit +Fingerschnalzen und Hüftenstemmen wurde er getanzt. Doch +auch der mondäne taillentastende, herüber und hinüber +nickende Schieber gelang, vor allem aber der Walzer, von dem +wir aus einem Liede erfuhren, daß er doch der schönste aller +Tänze sei. + +Und nach der Vorführung hat dann Publikum und Künstlerschaft +in dem andern Saale weitergetanzt, da, wo die Bilder +Wilhelms I. und Friedrichs III. hängen. In diese Lust wagte +ich aber nicht mich zu mischen. + +Auf Umwegen unter Ringbahnbögen über Kanalbrücken geriet ich +in die Gegend, wo die Chausseestraße in die Müllerstraße +übergeht, und ein Stück dieser endlosen Stadt- und +Vorstadtstraße hinauf. Da war an jeder Ecke und auch +zwischendurch auf dem Trottoir Straßenhandel mit den +verschiedensten Gegenständen. Ein kragenloser junger Bursche +mit langen scharfen Falten auf fahlen Backen bot +illustrierte Hefte feil mit Aktphotos. Er rief dazu: ‚Was +das is? — Sexualetät is das. Und was is Sexualetät? Ganz was +Natürliches. Wie sieht der Mensch aus? So und nich anders. +Einer geniert sich immer nur vor dem andern. Sonst würd’s +jeder kaufen, der kein Sittlichkeitsapostel is . . . Du jeh +man lieber nach Haus‘, wandte er sich zwischendurch an einen +Minderjährigen. ‚Für dich is es noch nichts. Mutter sucht +dir schon mits Motorrad.‘ + +Ein Stück weiter gleich hinter den Manschettenbuketts und +den bunten Kinderwindmühlen hatte Einer Stock und Hut auf +der Erde liegen und stand nachdenklich davor, was allgemeine +Aufmerksamkeit erregte. Dann zeigte er auf seine Stirn, als +fiele ihm was ein. Er hob den Stock auf, den ihm ein Junge +hielt. Er schraubte da was hinein, hing daran Hut, Rock und +Mantel auf und rief ‚Zehn Fennije der Kleiderschrank‘. Und +dann hielt er der Versammlung eine Rede, die so schön war, +daß ich versucht habe, seine Worte in Verse zu bringen: + + | ‚ZEHN FENNIJE DER KLEIDERSCHRANK!‘ + + | Ick spüre Ihre stumme Frage: + | Wat soll mit dieses Zeug jeschehn? + | Sie kommen alle in die Lage, + | Wodrin Se mir hier stehen sehn. + + | Im Walde jibt et keene Bänke, + | Det Jras macht Rock und Hose jrien, + | Im Freibad jibt et keene Schränke, + | Wo sollen de Klamotten hin? + + | Da muß der Mensch sich wat ersinnen. + | Det hab ick Ihnen mitjebracht, + | Sie könn’t an jeden Baum anpinnen, + | Sehn Se ma her, wie man et macht. + + | Du Kleener, halt mer ma de Stange. + | Sie sehn, da is keen Schwindel mang. + | Een Jriff — keen Hammer, keene Zange — + | Und fertig is der Kleiderschrank. + + | Se haben weiters keene Spesen, + | Die Sachen hängen tadellos. + | Und woll’n Se wieder heimwärts peesen, + | Een Ruck — schon is de Nadel los. + + | Und daß se Sie nich in de Beene + | Und durch den Hosenboden sticht, + | Davor is diese liebe Kleene + | Ooch noch zum Klappen einjericht’t. + + | Hier, bitte selber zu probieren. + | Det rostet nie, bleibt immer blank, + | Se können’t mit Papier polieren. + | :letterspace:`Zehn Fennije der Kleiderschrank!` + + +Dann stand da Einer in weißem Mantel wie ein Assistent der +Klinik angetan. War es der, welcher echte Glaserdiamanten +hatte, oder der mit dem Universalfleckreiniger oder dem +Continentalkitt? Er hatte Mikrophon und Lautsprecher neben +sich, weil ihm die eigene Stimme nicht ausreichte. Es +dröhnte von seinem Tisch her wie der Lärm eines wütenden +Bauchredners. Auch den alten Wäscheschoner habe ich hier +wiedergesehen, von dem Hans Ostwald so schön das ‚Boniment‘ +festgehalten hat: »Sämtliche Kapazitäten haben diesen +Wäscheschoner untersucht und mir Gutachten ausgestellt . . . +In dieser Zeit, wo doch jeder sauber aussehn muß, ist der +Wäscheschoner ein Rettungsengel . . . Sie nehmen den weichen +Stehumlegekragen, schlagen ihn auf, legen den steifen +Wäscheschoner hinein, schlagen ihn zu. So . . . Wie sitzt +er? Straff und elegant. Und wenn sonst der Kragen nach +wenigen Stunden unsauber ist, jetzt können Sie ihn acht Tage +tragen. Wer solchen Wäscheschoner trägt, wird stets alle +Mitbewerber aus dem Felde schlagen.« Auch der neueste +Krawattenhalter tauchte auf. »Ein Griff — und weder die +genähte Krawatte noch der Selbstbinder kann aus dem Kragen +rutschen. Der vollendete Krawattenhalter. Wir schonen unsere +Schlipse!« Und drüben steht der Bücherwagen. Der hat hier +weniger Käufer als in großbürgerlichen Gegenden. Dafür aber +doch viel Zuspruch. Einige lesen im Stehen eine ganze +Zeitlang in den Schmökern und Heften. Und der gute +Wagenhüter läßt sie ruhig gewähren. Manche kommen alle Tage +vorbei und lesen immer ein Stückchen weiter. Eine rollende +Leihbibliothek! + +Dort wo das Pflaster aufgerissen ist, haben die Kinder aus +dem aufgeschütteten Sand Berge mit Tunnels gebaut. Aus den +Häusern schauen ihnen auf ihre Fensterkissen gelehnt die +Mütter zu. + +Nach Tegel führen schöne Wald- und Wasserwege von Spandau +her. Aber zur Erkenntnis der merkwürdigen Zwischenwelt, die +man Weichbild, Bannmeile, ‚wartendes Land‘ nennt, empfiehlt +sich die Strecke, welche die Trambahn zurücklegt, und ihre +nähere und weitere Umgebung. In dieser problematischen Zone +ergibt sich ja selten der sanfte Übergang, der bei Dorf oder +Kleinstadt Wohn- und Wanderwelt verbindet. Meist schneidet +plötzlich die Häuserreihe mit blinder Mauer ab. Und was dann +im Felde umherliegt oder aufragt, macht die Leere nur noch +leerer: die Schuppen, die Zäune aus Stacheldraht, die +gestapelten Tonrohre, die Schlöte einzelner Fabriken, Lager +und Schienenstränge für Warentransport. Aber das Volk von +Berlin fürchtet und bekämpft instinktiv alles Chaotische, +Unbestimmte, es versucht, so gut es geht, überall +aufzuräumen und zu ordnen. Es arbeitet eifrig, alle Leere zu +füllen. Wo Bauland längere Zeit freisteht, hat es seine +Schrebergärten, seine Laubenkolonien angelegt, diese rührend +gepflegten Stätten mit ein bißchen Haus und Acker, +Gemüsebeet und Blumengarten für jede Familie, woraus dann +eine blühende Gesamtheit, ein Riesenbeet, ein +Tausendblumengarten geworden ist. Und obwohl — oder +vielleicht weil — diese Welt ein nur flüchtiges Dasein hat +(denn immer wieder bedroht sie die Neuausdehnung der Stadt +und die Baulust der Unternehmer), so haben doch diese +Laubhütten und Gärten nichts Provisorisches oder +Nomadisches, sie sehen wie dauernde Paradiese aus, sind +proletarische oder kleinbürgerliche Gefilde der Seligen. Die +hemdsärmeligen Mannsleute, die da säen, Mütter, die gießen, +Töchter, die Schoten pahlen, scheinen nie etwas andres getan +zu haben. Ihr Dasein in den Gärten wirkt nicht wie eine +abendliche oder sonntägliche Erholungsfrist von Leuten, die +tagsüber das Pedal der Nähmaschine treten, Drähte ziehen und +Stäbe hämmern, Krane und Turbinen bedienen, Leichtes +verpacken und Schweres verladen. Sie scheinen lebenslänglich +unter Kletterrosen und Sonnenblumen nur mit Petersilie, +Mohrrübe und Bohne zu tun zu haben. Und ihre idyllische +Arbeit wird nur abgelöst, sollte man denken, von +Festlichkeiten, zu denen die Nachbarn sich vereinen. +Anschläge des Pflanzervereins ‚Erholung‘ laden ein zur +italienischen Nacht, den Kindern wird verheißen ‚Onkel Pelle +ist zur Stelle‘, die Kolonie Waldesgrün verspricht +musikalische Abendunterhaltung. Wie hier südlich der +Müllerstraße gibt es um Berlin unzählige solcher +Kleingärten, die zusammen einen grünen Streifen rund um die +Stadt bilden, der einzelne Abzweigungen im Innern behalten +hat, sich nach außen gürtelhaft zu schließen strebt, immer +wieder etwas verschoben und stellenweise durchbrochen wird. +Teile dieses Glückstreifens bleiben manchmal eine Zeitlang +mitten im Häusermeer zurück und bilden mit den Parks und +Gartenplätzen das grüne Glück des Großstädters. Von diesen +Parks sind einige, hier im Nordwesten wie im Norden und +Süden, an die Peripherie gelegt und helfen die Schrecken des +Weichbildes verdrängen. Wo einst die kahlen Rehberge waren, +eine Sandwüste, nur von Schießständen und Schuttablagerungen +unterbrochen, sind jetzt bis an den Rand des Kiefernwaldes +weite Rasenflächen, Abhänge voll Mohn und Wildrosengebüsche, +schneeige Felder von Margueriten. Auf braunem Sand laufen +Kinder in Badehosen herum, die größeren tummeln sich auf dem +Sportplatz, die ganz kleinen werden von den Müttern über +blanken Kies spazieren gefahren, und auf hoher Bank, von der +man 'weit über Kirchhof und Wasser bis zu den Schornsteinen +der Siemensstadt und denen hinter Plötzensee sieht, sitzen +an bienenumsummten Blumenbeeten alte Männer auf ihre Stöcke +gestützt. + +Auch nördlich der Müllerstraße gibts eine hübsche +Gartenwelt, den Schillerpark. Und wäre ich, statt hier an +der Trambahnstrecke zu bleiben, südlich tiefer in das weite +Gebiet der Jungfernheide gedrungen, so hätte ich hinterm +Spandauer Schiffahrtskanal nach Westend zu wieder einen +großen Volkspark gefunden. Aber nun fahr ich Tram durch das +Dorf Wittenau, wo vor Fabriken und Schuppen die +kleinstädtischen Straßen zurückweichen und sozusagen wieder +der ‚Ernst des Lebens‘ beginnt. Und auch Tegel fängt, wenn +man von dieser Seite kommt, recht städtisch an. +Strafgefängnis, Gaswerk und die große Maschinenfabrik und +Eisengießerei von Borsig. Das Tor und die Teile des +Komplexes, an denen wir nahe vorbeifahren, sind schon etwas +altertümlich. Aber dahinter ragt das neue zwölfstöckige +Turmhaus, ein schmucklos stolzer, scharfkantiger Belfried +der Arbeit. Dann endlich kommen wir in Busch- und +Gartenland. Ich steige aus und gehe in den Park der +Humboldts. Das Schloß hat ihnen Schinkel aus einem Jagdhaus +des Großen Kurfürsten umgebaut. Versonnen und vornehm die +Fensterreihe. In den Nischen Götterstatuen. Und oben +griechische Inschriften. In einem Zimmer ist Licht. Jetzt +wird auch ein Fenster der großen Saalreihe hell. Es ist also +nicht verlorene Vergangenheit, dies edle Gebäude. Menschen +wohnen darin, für die Statuen und Bilder und vielleicht auch +noch Möbel des Schlosses Familienbesitz, ‚Überlieferung und +Gnade‘ sind. Begleitet von der Wärme dieses Lichtes geh ich +einen Parkweg bis zu der Grabstätte der Humboldts und ihrer +Nachkommen. Über den efeubedeckten Grabplatten erhebt sich +eine hohe Säule mit der Marmorstatue der Hoffnung. + +Danach mochte ich nicht gleich in die Stadt zurück, ich +wanderte lange durch tiefe Sandwege zwischen mageren Kiefern +und Föhren in der Gegend von Saatwinkel. Märkische Mischung +von Wüste und krüppeligem Urwald. Bis schließlich ein Zaun +auftauchte und dahinter ein leerstehendes Gartenlokal. Auf +Mauerwerk verblaßte Inschriften: Allheil, Eingang zum +Waldschlößchen. Und deutlicher auf einem Lattenschild: +Continental Bau-A. G. Die Straße führte über den Spandauer +Kanal und schließlich zu Gebäuden und Trambahnschienen. + +Und dann fuhr ich durch Siemensstadt heim, vorbei an den +Türmen: Blockwerk, Schaltwerkhochhaus und dem Wernerwerk mit +dem Uhrturm, dessen Zifferblatt weithin die Stunde strahlte. |