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@@ -0,0 +1,165 @@
+.. include:: global.rst
+
+DER VERDÄCHTIGE
+===============
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`L`\ angsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein
+besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der
+andern, es ist ein Bad in der Brandung. Aber meine lieben
+Berliner Mitbürger machen einem das nicht leicht, wenn man
+ihnen auch noch so geschickt ausbiegt. Ich bekomme immer
+mißtrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den
+Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für
+einen Taschendieb.
+
+Die hurtigen, straffen Großstadtmädchen mit den unersättlich
+offnen Mündern werden ungehalten, wenn meine Blicke sich des
+längeren auf ihren segelnden Schultern und schwebenden
+Wangen niederlassen. Nicht als ob sie überhaupt etwas
+dagegen hätten, angesehn zu werden. Aber dieser
+Zeitlupenblick des harmlosen Zuschauers enerviert sie. Sie
+merken, daß bei mir nichts ‚dahinter!‘ steckt.
+
+Nein, es steckt nichts dahinter. Ich möchte beim Ersten
+Blick verweilen. Ich möchte den Ersten Blick auf die Stadt,
+in der ich lebe, gewinnen oder wiederfinden |ellipsis|
+
+In stilleren Vorstadtgegenden falle ich übrigens nicht
+minder unangenehm auf. Da ist gegen Norden ein Platz mit
+Holzgerüst, ein Marktgerippe und dicht dabei die
+Produktenhandlung der Witwe Kohlmann, die auch Lumpen hat;
+und über Altpapierbündeln, Bettstellen und Fellen hat sie an
+der Lattenveranda ihrer Handlung Geraniumtöpfe. Geranium,
+pochendes Rot in träg grauer Welt, in das ich lange
+hineinsehn muß. Die Witwe wirft mir böse Blicke zu. Zu
+schimpfen getraut sie sich nicht, sie hält mich vielleicht
+für einen Geheimen, am Ende sind ihre Papiere nicht in
+Ordnung. Und ich meine es doch gut mit ihr, gern würde ich
+sie über ihr Geschäft und ihre Lebensansichten befragen. Nun
+sieht sie mich endlich weggehn und gegenüber, wo die
+Querstraße ansteigt, in die Kniekehlen der Kinder schauen,
+die gegen die Mauer Prallball spielen. Langbeinige Mädchen,
+entzückend anzusehn. Sie schleudern den Ball abwechselnd mit
+Hand, Kopf und Brust zurück und drehn sich dabei, und die
+Kniekehle scheint Mitte und Ausgangspunkt ihrer Bewegungen.
+Ich fühle, wie hinter mir die Produktenwitwe ihren Hals
+reckt. Wird sie den Schupo darauf aufmerksam machen, was ich
+für einer bin? Verdächtige Rolle des Zuschauers!
+
+Wenn es dämmert, lehnen alte und junge Frauen auf Kissen
+gestützt in den Fenstern. Mir geschieht mit ihnen, was die
+Psychologen mit Worten wie Einfühlung erledigen. Aber sie
+werden mir nicht erlauben, neben und mit ihnen zu warten auf
+das, was nicht kommt, nur zu warten ohne Objekt.
+
+Straßenhändler, die etwas ausschreiend feilhalten, haben
+nichts dagegen, daß man sich zu ihnen stellt; ich stünde
+aber lieber neben der Frau, die soviel Haar aus dem vorigen
+Jahrhundert auf dem Kopf hat, langsam ihre Stickereien auf
+blaues Papier breitet und stumm Käufern entgegensieht. Und
+der bin ich nicht recht, sie kann kaum annehmen, daß ich von
+ihrer Ware kaufen werde.
+
+Manchmal möcht ich in die Höfe gehn. Im älteren Berlin wird
+das Leben nach den Hinter- und Gartenhäusern zu
+dichter, inniger und macht die Höfe reich, die armen Höfe
+mit dem bißchen Grün in einer Ecke, den Stangen zum
+Ausklopfen, den Mülleimern und den Brunnen, die
+stehngeblieben sind aus Zeiten vor der Wasserleitung.
+Vormittags gelingt mir das allenfalls, wenn Sänger und
+Geiger sich produzieren oder der Leierkastenmann, der
+obendrein auf einem freien Fingerpaar Naturpfeife zum besten
+gibt, oder der Erstaunliche, der vorn Trommel und hinten
+Pauke spielt (er hat einen Haken am rechten Knöchel, von dem
+eine Schnur zu der Pauke auf seinem Rücken und dem
+aufsitzenden Schellenpaar verläuft; und wenn er stampft,
+prallt ein Schlegel an die Pauke, und die Schellen schlagen
+zusammen). Da kann ich mich neben die alte Portierfrau
+stellen — es ist wohl eher die Mutter der Pförtnersleute, so
+alt sieht sie aus, so gewohnheitsmäßig sitzt sie hier auf
+ihrem Feldstühlchen. Sie nimmt keinen Anstoß an meiner
+Gegenwart und ich darf hinaufsehn in die Hoffenster, an die
+sich Schreibmaschinenfräulein und Nähmädchen der Büros und
+Betriebe zu diesem Konzert drängen. Selig benommen pausieren
+sie, bis irgend ein lästiger Chef kommt und sie wieder
+zurückschlüpfen müssen an ihre Arbeit. Die Fenster sind alle
+kahl. Nur an einem im vorletzten Stockwerk sind Gardinen, da
+hängt ein Vogelbauer, und wenn die Geige von Herzen
+schluchzt und der Leierkasten dröhnend jammert, fängt ein
+Kanarienvogel zu schlagen an als einzige Stimme der stumm
+schauenden Fensterreihen. Das ist schön. Aber ich möchte
+doch auch mein Teil an dem Abend dieser Höfe haben, die
+letzten Spiele der Kinder, die immer wieder heraufgerufen
+werden, und Heimkommen und Wiederwegwollen der jungen Mädchen erleben;
+allein ich finde nicht Mut noch Vorwand, mich einzudrängen,
+man sieht mir meine Unbefugtheit zu deutlich an.
+
+Hierzulande muß man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht
+man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für
+unsereinen.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Ich kann noch von Glück sagen, daß eine mitleidige Freundin
+mir manchmal erlaubt, sie zu begleiten, wenn sie Besorgungen
+zu machen hat. In die Strumpfklinik zum Beispiel, an deren
+Tür steht: ‚Gefallene Maschen werden aufgenommen.‘ In diesem
+düstern Zwischenstock huscht eine Bucklige durch ihr
+muffiges wolliges Zimmer, das eine neue Glanztapete
+aufhellt. Ware und Nähzeug liegen auf Tischen und Etageren
+um Porzellanpantöffelchen, Biskuitamoretten und
+Bronzemädchen herum, wie Herdentiere um alte Brunnen und
+Ruinen lagern. Und das darf ich genau besehn und daran ein
+Stück Stadt- und Weltgeschichte lernen, während die Frauen
+sich besprechen.
+
+Oder ich werde zu dem Flickschneider mitgenommen, der in
+einem Hinterhaus der Kurfürstenstraße zu ebner Erde wohnt.
+Da trennt ein Vorhang, der nicht ganz bis zum Boden reicht,
+den Arbeitsraum vom Schlafraum ab. Auf einem gefransten
+Tuch, das über den Vorhang hängt, ist bunt der Kaiser
+Friedrich als Kronprinz dargestellt. ‚So kam er aus San
+Remo‘, sagt der Schneider, der meinem Blick gefolgt ist,
+und zeigt dann selber seine weiteren monarchentreuen
+Schätze, den letzten Wilhelm photographiert und sehr gerahmt
+mit seiner Tochter auf den Knien und das bekannte Bild des
+alten Kaisers mit Kindern, Enkeln und Urenkeln. Gern will er
+meiner Republikanerin das grüne Jackett umnähen, aber im
+Herzen hält er's, wie er sagt, ‚mit den alten Herrschaften‘,
+zumal die Republik nur für die jungen Leute sorge. Ich
+versuche nicht, ihn umzustimmen. Mit seinen Gegenständen
+kann es meine politische Erkenntnis nicht aufnehmen. Er ist
+sehr freundlich mit dem Hunde meiner Freundin, der an allem
+herumschnuppert, neugierig und immer auf der Spur gerade wie
+ich.
+
+Mit diesem kleinen Terrier gehe ich gern spazieren. Wir sind
+dann beide ganz in Gedanken; auch gibt er mir Anlaß, öfter
+stehnzubleiben, als es sonst einem so verdächtigen Menschen
+wie mir erlaubt wäre.
+
+Neulich ist es uns aber schlimm ergangen. Ich holte ihn aus
+einem Hause ab, in dem wir beide fremd waren. Wir gingen
+eine Treppe hinunter, in die ein Fahrstuhlgehäuse mit
+Gitterwerk eingebaut war. Ein düstrer Eindringling war
+dieser Lift in dem einst gelassen breiten Treppenhaus. Und
+die bauschigen Wappendamen der bunten Fenster sahen irr auf
+das Wanderverlies, und die Kleinodien und die Attribute
+lockerten sich in ihren Händen. Sicher roch es auch sehr
+diskrepant in diesem Ensemble verschiedener Epochen, was
+meinen Begleiter von Gegenwart und Sitte derart ablenkte,
+daß er auf der ersten Stufe der steilen Stiege, die zu Füßen
+des Fahrgehäuses vom Hochparterre hinunterführte, — sich
+vergaß! So etwas, hat mir später meine Freundin versichert,
+konnte einem so stubenreinen Geschöpf nur in meiner
+Gesellschaft passieren. Das nahm ich gern hin. Härter aber
+traf mich der Vorwurf, den mir im Augenblick des peinlichen
+Ereignisses der Portier des Hauses machte, der zum Unglück
+gerade, als wir uns vergaßen, die Nase aus seiner Loge
+steckte. In richtiger Erkenntnis meiner Mitschuld wandte er
+sich nicht an das Hündchen, sondern an mich. Er zeigte mit
+grau drohendem Finger auf die Stätte der Untat und herrschte
+mich an: ‚Wat? Sie woll’n ein jebildeter Mensch sint?‘
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+.. include:: global.rst
+
+ICH LERNE
+=========
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`J`\ a, er hat recht, ich muß etwas für meine
+Bildung tun. Mit dem Herumlaufen allein ist es nicht getan.
+Ich muß eine Art Heimatskunde treiben, mich um die
+Vergangenheit und Zukunft dieser Stadt kümmern, dieser
+Stadt, die immer unterwegs, immer im Begriff, anders zu
+werden, ist. Deshalb ist sie wohl auch so schwer zu
+entdecken, besonders für einen, der hier zu Hause ist |ellipsis| Ich
+will mit der Zukunft anfangen.
+
+Der Architekt nimmt mich in sein weites, lichtes Atelier,
+führt von Tisch zu Tisch, zeigt Pläne und plastische Modelle
+für Geländebebauung, Werkstätten und Bürogebäude,
+Laboratorien einer Akkumulatorenfabrik, Entwürfe für eine
+Flugzeugausstellungshalle, Zeichnungen für eine der neuen
+Siedlungen, die Hunderte und Tausende aus Wohnungsnot und
+Mietskasernenelend in Luft und Licht retten sollen. Dazu
+erzählt er, was heute die Baumeister von Berlin alles planen
+und zum Teil im Begriff sind, auszuführen. Nicht nur
+Weichbild und Vorstadt will man durch planmäßige
+Großsiedlung umgestalten, auch in den alten Stadtkörper soll
+neuformend eingegriffen werden. Der künftige Potsdamerplatz
+wird von zwölfgeschossigen Hochhäusern umgeben sein. Das
+Scheunenviertel verschwindet; um den Bülowplatz, um den
+Alexanderplatz entsteht in gewaltigen Baublöcken eine neue
+Welt. Immer neue Projekte werden entworfen, um die Probleme
+der Grundstückwirtschaft und des Verkehrs in Einklang zu
+bringen. Künftig darf nicht mehr der Bauspekulant und der
+Maurermeister durch seine Einzelbauten den Stil der Stadt
+verderben. Das läßt unsere Bauordnung nicht zu.
+
+Der Architekt berichtet von den Ideen seiner Kollegen: Da
+die Stadt allmählich auf dem einen Havelufer Potsdam
+erreichen wird, stellt einer einen Plan mit Bahnen und
+Verkehrslinien auf, dem er die schönen Waldbestände und
+einzelnen Seen einfügt, um schließlich die Havel zwischen
+Pichelsdorf und Potsdam zu einer Art Außenalster zu machen.
+Ein anderer will zwischen Brandenburger Tor und Tiergarten
+einen großen repräsentativen Platz schaffen, so daß erst die
+Siegesallee die Parkgrenze bilden soll. Auf dem Messegelände
+soll die Ausstellungsstadt die Form eines riesigen Eis
+bekommen, mit einem Innen- und Außenring von Hallen, einem
+neuen Sportsforum und einem Kanal, an dessen Endpunkt
+zwischen Gartenterrassen ein Wasserrestaurant liegt.
+Potsdamer und Anhalter Bahnhof sollen auf das Rangiergeleise
+des nächsten Vorortsbahnhofs verlegt werden, um Platz zu
+schaffen für eine breite Avenue mit Kaufhäusern, Hotels und
+Großgaragen. Im Zusammenhang mit der Vollendung des
+Mittellandkanals ändert sich Berlins Wasserstraßennetz, und
+die entsprechende Umgestaltung alter und Erbauung neuer
+Ufer, Brücken, Anlagen stellt wichtige Aufgaben. Und dann
+das neue Baumaterial: Glas und Beton, Glas an Stelle von
+Ziegel und Marmor. Schon gibt es eine Reihe Häuser, deren
+Fußböden und Treppen aus Schwarzglas, deren Wände aus
+Opakglas oder Alabaster bestehn. Dann die Eisenhäuser, ihre
+Verkleidung mit Keramik, ihre Rahmung mit glänzender Bronze
+usw.
+
+Der Architekt bemerkt meine Verwirrung, er lächelt. Also
+schnell ein bißchen Anschauungsunterricht. Hinunter auf die
+Straße und in sein wartendes Auto. Wir sausen den
+Kurfürstendamm entlang an alten architektonischen Schrecken
+und neuen ‚Lösungen‘ und Erlösungen. Wir halten vor den
+Gebäuden des Kabaretts und des Filmpalastes, die eine gerade
+durch ihre leisen Verschiedenheiten so eindringliche Einheit
+bilden, beide beschwingt im Raume kreisend, immer wieder die
+mitreißende Einfachheit ihrer großen Linien ziehend, wobei
+das eine sich mehr in die Breite lagert, das andre mehr
+aufragt. Der Meister neben mir erklärt eines Meisters Werk.
+Und um, was seine Worte umfassen, aus der Mitte des Bauwerks
+zu verdeutlichen, verläßt er mit mir den Wagen, führt mich
+durch den breiten Wandelgang, der in dunklem Rot dämmert,
+ins Innere des einen Theaterraums und zeigt mir, wie die
+ganze Schauburg aus der Form des Kreises entwickelt ist und
+wie die hellen Wände ohne vereinzelten und abwegigen Schmuck
+durch flächige Muster gegliedert sind.
+
+Dann fahren wir eine Querstraße hinauf durch ein
+kleinbürgerliches Stück Charlottenburg und am Lietzensee
+vorbei zum Funkturm und den Ausstellungshallen, die er mit
+ein paar Worten zur größeren Messestadt ausbaut. Ehe er
+damit fertig ist, haben wir den Reichskanzlerplatz erreicht
+und er stellt mir das Unterhaltungsviertel dar, das hier
+entstehen soll, die beiden Baublöcke mit Kinos, Restaurants,
+Tanzsälen, einem großen Hotel und dem Lichtturm, der das
+Ganze überragen wird. Wir wenden in eine Parallelstraße des
+Kaiserdamms und halten vor einem weiten Neubaugelände. Hier
+ist mein Führer selbst Bauherr. Werkmeister kommen uns
+entgegen und erstatten ihm Bericht. Indes seh ich in das
+weitläufige Chaos, aus dem sich mir zunächst die beiden
+Pylonen am Eingang, schon im Rohbauskelett deutlich
+gestaltet, entgegenrecken. Dann geh ich mit dem Meister über
+Schutt und Geröll bis an den Rand, hinter dem der Abgrund
+der Mitte beginnt. Der Grundriß, wie man ihn sonst auf dem
+Zeichentisch vom Blatt ablesen muß, dem Notenblatt dieser
+‚gefrorenen Musik‘, liegt nun vor mir ausgebreitet. Dort
+werden die beiden großen Depothallen sich erheben, die
+Schlafstellen der Wagen. Hier werden Geleise entlangführen.
+Am Rande rings werden Gärten entstehen, in denen unter den
+Fenstern vieler lichter Wohnungen die Kinder der Beamten,
+Fahrer, Schaffner spielen sollen. Wir fahren außen die eine
+Seite des großen Vierecks entlang. An einer Stelle ist die
+Straße erst im Entstehen begriffen, und wir müssen ein Stück
+über wuchernde Wege gehn. Und um uns her wächst aus des
+Baumeisters Worten eine ganze Stadt.
+
+Was er mir so am Werdenden sichtbar gemacht hat, kann er mir
+nun auch noch am Vollendeten zeigen. Über die Spreebrücke
+beim Schloß Charlottenburg eilt unser Wagen den Kanal
+entlang und zum weiten Westhafen. Ein Blick auf die düsteren
+Gefängnismauern von Plötzensee. Wir kommen durch die endlose
+Seestraße an Kirchhofsmauer und Mietskasernen hin bis zur
+Müllerstraße. Die mächtige Siedlung der Wagen und Menschen
+taucht auf. Breiter Zugang eröffnet uns den Blick auf drei
+eisengestützte Hallen. Wir durchschreiten das Tor und sehn
+von innen die dreistöckigen Seitenflügel der Wohnstätten,
+die vier Stockwerke der Frontseite und die mächtigen Pylonen
+der Ecken. Dann treten wir überall ein, erst in die Glas-
+und Eisenhalle, in der die Wagen wohnen, sehn dort hinauf
+zum Bahnhofshimmel und hinab in die seltsame Welt der Gänge
+unter den Schienensträngen. Dann in die Verwaltungsräume,
+Reparaturwerkstätten und endlich über einladend ansteigende
+Treppen in einige der hübschen Wohnungen.
+
+Beim Umschreiten des Komplexes begreife ich, ohne es
+bautechnisch ausdrücken zu können, wie der Künstler durch
+Wiederholung bestimmter Motive, Betonung bestimmter Linien,
+durch das Vorziehen scharfer Kanten an den steigenden
+Flächen und ähnliches diesem Riesending aus Backstein,
+welches Bahnhof, Büro und Menschenhaus zugleich sein muß,
+einen unvergeßlich einheitlichen Gesamtcharakter gegeben
+hat.
+
+An der Nordostseite schauen wir weit über Feld, und ganz nah
+bekomme ich des Riesen winzigen Nachbar gezeigt, ein
+Häuschen, ‚so windebang‘, das da tief im Felde steht. Das
+‚schmale Handtuch‘ nennen es die Leute. Das Nebeneinander
+der ragenden Hallen und dieser Hütte ist wie ein Wahrzeichen
+des Weichbildes von Berlin.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Am Abend dieses übervollen Tages bin ich bei einer alten
+Dame zu Gaste gewesen, die aus Sekretär und Truhe
+Erinnerungsstücke hervorholte, Dinge, die ihrer Ahnin im
+alten Haus an der Stralauerstraße gehört haben, die große
+englische Puppe im ergrauten Musselinempirekleid mit den
+kreuzweis gebundenen, immer noch rosenfarbenen
+Seidenschuhen; Tellerchen und Leuchterchen, sorglich aus
+Holz geschnitten, mit denen diese Ahnin als Kind im Garten
+spielte ganz nah an der Spree und der hölzernen
+Waisenbrücke, von der Menzel auf seinem berühmten Stich
+Chodowiecki ins Wasser schauen läßt. Aus einer Blechkapsel
+nimmt sie die Hauspapiere mit den Wachssiegeln. Zierliche
+Stammbücher der Urgroßtanten darf ich aufschlagen, in denen
+die haarscharfen Schnörkelbuchstaben poetischer Widmungen
+den kolorierten Buketts und hauchzarten Landschaften
+befreundeter Maler gegenüberstehn. In den Landschaften
+findet sich als Staffage bisweilen ein Reitersmann in gelbem
+Frack und Stulpstiefeln oder eine Reiterin in violettem
+Kleid. Die Buketts sind in Form und Farbe verwandt dem, was
+mit spitzem Pinsel die Porzellanmaler auf Teller und Vasen
+und Schalen ‚Königlich Berlin‘ setzten.
+
+Ich bekomme sogar eine Brautkrone von anno 1765 in die Hand,
+mit grüner Seide umsponnenen, blütenbildenden Draht. Eine
+Tabakdose aus Achat darf ich betasten. Die gütige Besitzerin
+all dieser Schätze langt kleine Familienporträts von den
+Wänden, Frauenköpfe in gelocktem, leichtgepudertem Haar und
+zartfarbigem Schleiertuch, Herren in Perücke und
+dunkelblauem Frack. Und dann erzählt sie von der Berliner
+Putzstube, der schöneren Vorgängerin all der ‚guten Stuben‘
+mit Mahagonimöbeln und der blauen und roten Salons, die wir
+bei unseren Großeltern gekannt haben, von der Putzstube,
+die ein verschlossenes Heiligtum war, das die Kinder nur zu
+besondern Gelegenheiten betreten durften. Wir schlagen eines
+ihrer Lieblingsbücher, die Jugenderinnerungen eines alten
+Berliners von Felix Eberty, auf und lesen: »Die Wände waren
+hellgrau gestrichen, Tapeten kamen nur bei den reichsten
+Leuten vor. Auf die Wand hatte Wilhelm Schadow, der
+nachherige Direktor der Düsseldorfer Akademie und meines
+Vaters Jugendfreund, demselben als Hochzeitsgeschenk die
+vier Jahreszeiten grau in grau und mit weißen Lichtern
+gehöht schön und plastisch gemalt, so daß es ein Relief zu
+sein schien. Ein herrlicher Teppich, Erdbeerblätter, Blüten
+und Früchte zeigend, bedeckte den Fußboden, die Möbel waren
+sehr zierlich aus weißem Birkenmaserholz gefertigt. Ein
+kleiner Kronleuchter zu vier Lichtern, an Glasketten
+hängend, schien uns überaus prächtig und ein unnahbares
+Kunstwerk zu sein, das wir gar zu gern mit den Händen
+berührt hätten, wenn es nicht aufs strengste verboten
+gewesen wäre; denn die Möglichkeit, diese Begierde zu
+befriedigen, war vorhanden, weil die Zimmerhöhe gestattet
+hätte, mittels eines Stuhls die glänzenden Glasstückchen zu
+erreichen.«
+
+Wir sprechen von noch älteren Berliner Interieurs. Sie hat
+Bilder von Zimmern, in denen die mit Tapisseriearbeit
+überzogenen L’Hombre-Tische standen, die ausgenähten
+Fauteuils, die Servanten mit den schönbemalten
+Porzellantassen, auf der Kommode englische Repetieruhren, in
+der Ecke ‚wohlkonditionierte‘ lackierte Flügel der
+friderizianischen Zeit. Sie weiß von den hohen Betten, zu
+denen mehrstufige Tritte führten, von Himmelbetten *à la
+duchesse* und denen *à tombeau*, vom Bettzopf, Nachthabit
+und Nachthandschuhen, von Tapeten *en hautelisse* mit
+Personnagen nach französischen Dessins. Immer mehr Besitz
+kramt sie heraus, Daguerreotypien, ausgetuschte
+Kupferstiche, ausgeschnittene, aufgeklebte und mit
+Lackfirnis überzogene Figuren |ellipsis|
+
+Über uns hängt eine Ampel, ein bronzenes Blumenkörbchen, aus
+dem Blätter von grünem Glas und hellfarbige gläserne Winden
+hangen und sich heben. Das Stück ist aus den dreißiger,
+vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als eine neue
+Vorliebe für das Rokoko aufkam. Das Licht flackert im
+Nachtwind, als wäre es nicht elektrisch, sondern Öllicht
+einer Astraganlampe. Es ist spät geworden für alte Damen.
+Und ich merke, wie müde ich bin von soviel Berlin.
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@@ -0,0 +1,336 @@
+.. include:: global.rst
+
+ETWAS VON DER ARBEIT
+====================
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`S`\ icherlich ist in andern Städten der
+Lebensgenuß, das Vergnügen, die Zerstreuung bemerkenswerter.
+Dort verstehn es vielleicht die Leute, sich sowohl
+ursprünglicher als auch gepflegter zu unterhalten. Ihre
+Freuden sind sichtbarer und schöner. Dafür hat aber Berlin
+seine besondere und sichtbare Schönheit, wenn und wo es
+arbeitet. In seinen Tempeln der Maschine muß man es
+aufsuchen, in seinen Kirchen der Präzision. Es gibt kein
+schöneres Gebäude als die monumentale Halle aus Glas und
+Eisenbeton, die Peter Behrens für die Turbinenfabrik in der
+Huttenstraße geschaffen hat. Und von keiner Domempore gibt
+es ein eindrucksvolleres Bild als, was man von der
+Randgalerie dieser Halle sieht, in der Augenhöhe des Mannes,
+dessen Luftsitz mit Kranen wandert, welche schwere
+Eisenlasten packen und transportieren. Auch ehe man
+versteht, in welcher Art die metallenen Ungeheuer, die da
+unten lagern, zur Bereitung ähnlicher und andersartiger
+Ungeheuer dienen, ist man von ihrem bloßen Anblick
+ergriffen: Gußstücke und Gehäuse, noch unbearbeitete
+Zahnkranztrommeln und Radwellen, Pumpen und Generatoren halb
+vollendet, Bohrwerke und Zahnradbetriebe fertig zum Einbau,
+riesige und zwergige Maschinen auf dem Prüfstand, Teile von
+Turbogeneratoren in der betonierten Schleudergrube.
+
+Während wir in dieser Halle mehr bestaunen als begreifen,
+wird uns in den kleineren Werkstätten manches zugänglicher.
+Wir sehen, wie Nickelstahl in Stangenform auf der Schaufel
+gefräst und geschliffen wird, wie in die Rinnen der
+Induktorwelle blecherne Zähne eingeschoben werden, wie die
+gewickelten Erregerspulen zwischen das Zahnwerk greifen. Wir
+besuchen die Schmiede, wo die Arbeiter glühende Eisenstücke
+unter den Dampfhammer halten, der sie kerbt und hobelt wie
+weiches Wachs.
+
+Wir stehn am Wasser vor der Transformatorenfabrik und sehen,
+wie Kohle aus dem Spreekahn mit der Laufkatze herübergekrant
+wird in eine Art Eisenhammer, um dort ganz ohne Menschenhand
+in Kohlenstaub verwandelt zu werden. Wir treten in die
+Halle, in der niemand zugegen ist, und sehn die Verbrennung
+in glühender Grotte. Nach den Räumen mit den großen
+Maschinen besuchen wir Säle, wo Arbeiterinnen ganz dünnen
+Draht spulen, Hartpapier walzen und zu Schichten ganz
+leichter harter glatter Rollen pressen, wo von Hand zu Hand
+das schmale Stanzplättchen wandert, das geglüht, geölt,
+geschnitten wird.
+
+In der Zählerfabrik macht ein Griff der Maschine aus der
+Blechplatte eine Schüssel mit hochgebogenem Rand, ein
+zweiter durchlocht sie. Funkensprühend wird sie genietet und
+geschweißt. Magnete werden eingefügt. Das ganze Haus ist
+eine Kette der Arbeit, die ununterbrochen die Werkbänke hin
+von Stockwerk zu Stockwerk wandert und in weitertragende
+Schachte geschoben wird. Alle Teile und Teilchen, die den
+sitzenden Frauen zur Hand liegen, werden dem werdenden
+Zähler eingefügt, angesetzt, eingeschraubt und geprüft; und
+zuletzt wird das ganze Zählergebäude verpackt. Stahlbänder
+schieben sich um Kisten, die auf Rollen zum Fahrstuhl
+gefördert und auch dort nicht von Menschenhand, sondern
+mittels eines Hebels angehoben werden. Alle Kraftvergeudung
+und schwächende Anstrengung wird erspart; immer mehr wird
+der Arbeiter nur noch Wächter und Anlasser der Maschine. Und
+wie die Maschinenteile, so wandern auf laufendem Bande auch
+Tassen und Becher, in welche die Mädchen ihren Tee, Kaffee
+und Kakao getan haben, und der kommt dann von seinem
+Rundgang durch die Küche gekocht und fertig zu ihnen zurück.
+Jede, die da sitzt, hat hinter dem laufenden Band nur ein
+kleines Stückchen Tisch für sich, und doch ist Platz genug,
+daß die Nachbarinnen der, die heute Geburtstag hat, ein paar
+bunte Tassen, Teller und Löffelchen aufschichten konnten,
+die hinter dem Wanderwerk rührend stillstehn.
+
+Es ist nicht nötig, alles zu verstehn, man braucht nur mit
+Augen anzuschauen, wie da etwas immerzu unterwegs ist und
+sich wandelt. Da ist in einer dieser Stätten andächtigen
+Eifers ein Metall, von dem man dir erzählt, daß es einen
+besonders hohen Schmelzpunkt hat und sehr schwer verdampft.
+In Öfen kann’s nicht geschmolzen werden, die würden in
+Stücke gehn, darum muß das aus dem Mineral gewonnene
+Metallpulver durch Pressen, Sintern, Hämmern und wieder
+Glühen allmählich zum festen Stab und weiter zum Draht
+geformt werden. Und nun kannst du sehn, wie der Draht durch
+Hämmermaschinen und durch Ziehsteine geht, an den Enden
+gespitzt und so lange geglüht und gezogen wird, bis er zum
+haarfeinen Fädchen geworden ist, das in der Glühlampe
+gebraucht wird. All das machen die Maschinen, die Menschen
+stellen nur an, nehmen heraus, schieben weiter. Und während
+tausend solcher dünnen und immer dünneren Drähte entstehn,
+wachsen in andern Sälen tausend Lampenkörper. An runden
+Maschinentischen, die vor ihren Händen sich drehn, sitzen
+die Geduldigen, reichen den Griffen zu und nehmen ihnen ab,
+und gehorsam quetscht die Maschine den Lampenfuß, setzt
+Halter ein, bespannt das Gestell, schmelzt, pumpt aus,
+sockelt, lötet, ätzt, stempelt und verpackt. Aber das ist
+wieder nur ein Teil der Arbeit. Da wird noch geprüft,
+gemessen und sortiert, da wird mattiert und gefärbt.
+
+All das geschieht unablässig in Siemensstadt,
+Charlottenburg, Moabit, Gesundbrunnen, hinter der Warschauer
+Brücke und an der Oberspree.
+
+Und so großartig es ist, im Saal, von der Treppe, von der
+Galerie auf die kreisenden und surrenden Maschinen zu sehn,
+so ergreifend ist der Anblick der Nacken und Hände derer,
+die da werkeln, und die Begegnung des Auges mit ihren
+aufschauenden Augen.
+
+Aus dem, was diese Menschen schaffen, kommt Licht in dein
+kleines Zimmer und wandert Häuserfronten entlang, bestrahlt,
+preist an, wirbt und baut um. Leuchtende Kannelüren an der
+Decke eines Riesenraums bilden ein festliches Zeltdach von
+Licht. Konturenbeleuchtung gliedert die Fassade eines
+Hauses, Flutlicht durchblutet Schaufenster, blaue
+Taglichtlampen strahlen im Seidensaal, und der Stoff, den
+der Verkäufer vorlegt, hat die Farbe, die ihm sonst die
+Sonne gibt. Draußen gehn Wanderschriften über Transparente,
+Buchstaben formen sich zu Worten und verschwinden, Bilder
+tauchen auf und wechseln, farbige Räder rollen stumm.
+
+Ganze Häuser entstehen bereits in Hinblick auf die
+Gliederung des Baukörpers durch das Licht. Man ahnt das
+Kaufhaus der Zukunft, dessen Wand und Decke Glas sein wird
+und das Ganze Eine Helle, tags die überall hindringende
+Sonne, nachts das von Menschen und Maschinen geschaffene
+Licht.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Daran arbeiten die in den großen Hallen des Eisens und der
+Elektrizität; um den Fleiß von Berlin zu begreifen, mußt du
+aber auch durch die kleinen Fabriken gehn. Mußt eintreten in
+einen der Gebäudekomplexe und Höfe des Südostens. Besuche,
+wie ich es tat, im Viertel der Leder- und
+Galanteriewarenbranche, die Rahmenfabrik. Auf den Böden
+lagert das Holz, wie es aus der Sägerei kommt, und trocknet
+bei leichtem Durchzug. Wird es dann zugeschnitten, behält
+jede Scheibe noch am Rand ein Stückchen Wald. So kommt sie
+in eine Kerbmaschine mit feinen Zähnen, die Ecken einbeißen
+zum Verzahnen der Rahmenteile, und durch die Exhaustoren
+fliegen die Späne. Mit der Kreissäge werden die langen
+Leisten verkleinert. Wenn in den großen Maschinenhallen die
+Männer klein neben Kolossen erscheinen und wie Seeleute oder
+Bergleute vorsichtig am Rand der elementaren Gewalten
+bleiben, so beherrschen sie hier ihr Maschinentier mit
+Bändigerblicken. Ich muß immer wieder den Buckligen ansehn
+dort an der Kreissäge, dessen Backenmuskeln zornig und
+herrisch zucken, so oft auf seinen Druck das Messer ins Holz
+greift.
+
+Bei den siedenden Leimtöpfen und bei Glas und Pappe, die den
+Rahmen eingefügt werden, hausen viel Mädchen und Frauen. Die
+Leimerinnen sind ein derberer Schlag als die Kleberinnen und
+Poliererinnen. Und an diesen könnte man Studien machen über
+die Beziehungen zwischen dem einen Handgriff, der zu
+vollführen ist, und der Hand, die ihn vollführt. Wie feine
+Finger hat die, welche immer nur winzige Nägelchen in die
+Pappschicht hinterm Rahmen einsetzt. Wie geduldig sind die
+langen Hände jener, die Bilderränder so beschneidet, daß sie
+gut hinter das Glas passen. Wie kindlich rund sind die
+Händchen der Blaßblonden, die eine Blechform in die kreidige
+Masse drückt und das Geformte angefeuchtet aufs Holzbrett
+abstreift, wie es Kinder mit ihren Sandformen auf dem
+Spielplatz tun. Ihre Arbeit ist ein sympathisches
+Sonderwerk, denn die Rokoko-Ornamente, die sie dem Rahmen
+gibt, werden nicht soviel gebraucht wie die gradlinigeren,
+sie sind teurer herzustellen und nicht so zeitgemäß. Das
+gibt ihnen und ihrer ahnungslosen Schöpferin eine besondre
+Schönheit. In abgetrennten Räumen arbeiten die Vergolder.
+Sie haben Gasmasken vor dem Gesicht gegen den Bronzestaub,
+der den Lungen gefährlich ist. Leider will das Publikum und
+wollen dementsprechend die vielen kleinen Geschäfte, die
+Öldrucke verkaufen, nur Goldrahmen. Seit den Tagen der
+Inflation braucht der Deutsche wieder Glanz in seiner Hütte.
+Selbst die Rahmen für Photographien müssen vergoldet werden.
+Das gute alte Mahagoni ist nicht mehr erwünscht. Über die
+Photographienrahmen bekomme ich noch etwas zeitgeschichtlich
+Interessantes erzählt. Früher waren Sammelrahmen beliebt, in
+die mehrere Bilder gingen, eine ganze Sippe etwa, jetzt wird
+jedes Bild lieber einzeln aufgestellt. So sind wir von den
+Rahmen zu dem Umrahmten gekommen: der liebenswürdige Leiter
+der Fabrik führt mich in den Ausstellungsraum der
+beliebtesten Öldrucke. Der ist sehr lehrreich. Denn unter
+den nicht gerade lebensnotwendigen Gegenständen, die man je
+nachdem als Luxusartikel oder geistiges Volksnahrungsmittel
+bezeichnen kann, spielt der Öldruck eine große Rolle. Er
+möbliert unendliche Mengen von Zimmern und Seelen.
+
+Der *‚bestseller‘* der Branche ist seit Jahren immer noch
+die heilige Büßerin Magdalena, die in ihrem blauen Gewande
+weich aufgestützt lagert und buhlerisch kontemplativ auf den
+Totenschädel schaut. Nicht nur bei den Frommen scheint sie
+begehrt zu sein wie andre Reproduktionen aus dem Bereich der
+Bibel und Legende, auch die Kinder der Welt wollen sie
+haben. Lagernde leichtbekleidete Damen haben überhaupt viel
+Chance. Und als Rahmen ihres von Amoretten umspielten, ins
+Wolkenweiche verschwimmenden ‚Pfühls‘ ist ein nicht hohes,
+aber ziemlich breites Format beliebt, das sich gut überm
+Bett ausnimmt. Haben junge Paare, die solche
+Glückseligkeits-Öldrucke kaufen, es ernstlich auf
+Nachkommenschaft abgesehn, so richtet die Schöne im Bilde
+sich ein wenig auf und betreut ein oder mehrere Kinder. Es
+wird auch gern gesehn, daß etliche Haustiere das
+Familienglück noch vollständiger machen. An einer der
+beliebtesten dieser lagernden, beziehungsweise sitzenden
+Damen wurde kürzlich, wie mir mein erfahrener Führer
+erzählt, auf Wunsch des Publikums eine zeitgemäße Änderung
+vorgenommen, ihr reiches Lockenhaar mußte zugunsten des
+Bubikopfs entfernt werden. Auf andern Gebieten bleiben die
+Käufer unmodern: das allbekannte Bild ‚Beethoven‘, eine
+Versammlung auf dämmernden Diwanen hockender oder
+hingegossener Männer und Frauen, die einem Klavier lauschen,
+hat noch keiner Jazzbanddarstellung Platz gemacht. Von
+berühmten Männern hat der Reichspräsident nicht mehr soviel
+Zuspruch, seit er in Zivil ist; und mit seinen
+Waffenrockbildnissen hat sich die deutsche Familie meist
+schon während des Krieges eingedeckt.
+
+Die Jahreszeiten mit ihren beliebten Arbeiten und
+Vergnügungen: Säemänner, Garbenbinderinnen, Jäger usw. in
+der dazugehörigen Landschaft ‚gehen‘ immer, und zwar jede
+speziell zu ihrer Zeit. Das wunderte mich etwas, ich hatte
+gedacht: im Winter hätte man Frühlingssehnsucht, im Herbst
+Sommerheimweh.
+
+Ich fange an, mich für Statistik zu interessieren. Ich
+möchte genauer feststellen: Wieviel Magdalenen braucht
+Magdeburg? Wieviel Damen auf Pfühl verlangt Breslau? Wo
+läuft der Alte Fritz Böcklins ‚Schweigen im Walde‘ den Rang
+ab? Wie hat sich in München von 1918 bis 1928 der
+Öldruckgeschmack geändert? In welchen Provinzen und Städten
+überwiegt das Bedürfnis nach Dame mit Kind, Kindern oder
+Tieren dasjenige nach Dame mit nur Amoretten? Ich fange an,
+mich für Statistik zu interessieren.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Wie der Markt von Bagdad seine Basare, so hat Berlin seine
+Stadtviertel für die verschiedenen Betriebe. Der
+Spittelmarkt, sagt man mir, trenne das Quartier der
+Konfektion von dem der Mäntel. Ich besuche auf der
+Konfektionsseite eine Hutfabrik, werde zu den Zeichnern
+geführt, die nach Pariser Modellen aus Pappe Formen
+schneiden, zu den Mädchen, die diese Formen in Stoff und
+Leder nachschneiden, in den surrenden Saal der Näherinnen
+und schließlich in einen Raum, wo Eisenformen elektrisch
+erhitzt werden. Auf ihnen erhält der fertiggenähte und
+zurechtgebogene Hut seine endgültige Gestalt. Aus einem
+Schlauch wird er mit Dämpfen behandelt und dann in eine Art
+Backofen getan, wo er im stillen weiterschmort. Für den
+Kulturhistoriker ist es nicht unwichtig zu erfahren, daß es
+zwar fast gar keine Garnituren mehr gibt, daß aber die
+Appretur bisweilen Schleifenformen und Bandeaux nachahmt.
+Vielleicht auch, daß, seit die Mode der knappen Baskenmützen
+aufgekommen ist, viel Kappen gemacht werden, die aber nicht
+baskisch streng bleiben, sondern etwas breiter und
+pagenhafter ausfallen. In dieser Fabrik, die den morgens
+bestellten Hut bereits abends liefert, entsteht fast alles
+ganz im Hause vom Zeichentisch bis zur Verpackung. Nur ein
+kleiner Teil der Hüte wird aus den sogenannten
+Betriebswerkstätten bezogen, welche Heimarbeiterinnen
+beschäftigen. Man belehrt mich über die große Rolle, die
+sonst in der Berliner Konfektion diese Art Arbeitsteilung
+spielt, bei der der ‚Zwischenmeister‘ von den großen Firmen
+nach Musterung der Kollektionen die Stoffe übernimmt und
+teils in seinen eigenen Räumen bearbeiten läßt, teils an
+Heimarbeiterinnen weitergibt. Solche Zwischenmeister
+arbeiten zum Beispiel für die große Schürzenfabrik, die ich
+in einem der Riesenhöfe der Köpenickerstraße besuche. Die
+hat im Vogtland ihr eigenes Haus, wo der Stoff hergestellt
+wird. Hier kommt er dann in Maschinen, die viele Lagen auf
+einmal zerschneiden, in fleißige Hände, die jede von ihrer
+kleinen Maschine mit einem Griff Hohlsaum oder drei Falten
+oder Saumspitzen machen und Knöpfe annähen lassen, welche
+fester sitzen als die von Menschenhand. In diesem Betriebe
+darf ich auch in die Büroräume eintreten und die neuen
+Verbesserungen des kaufmännischen Ressorts kennen lernen. Da
+sehe ich Rechenmaschinen, die multiplizieren, Markenkleb-
+und Aufdruckmaschinen, neuartige Kartotheken und an der Wand
+Karten mit den Wanderplänen der Reisenden, auf die unten in
+der Garage die Musterkoffer zu zwanzig und zwanzig in großen
+Autos warten.
+
+Ein ganzes Studium wäre die Basareinteilung von Berlin. Es
+gibt da, abgesehen von den großen Quartiers der Tischlerei
+und Metallbearbeitung, der Hausindustrie, der Wollwaren, der
+Konfektion noch besondere Spezialitäten, zum Beispiel eine
+Straße, in der seit vielen Jahrzehnten Beleuchtungskörper
+hergestellt werden, die Ritterstraße. Am Moritzplatz ist das
+internationale Exportlager gewisser Artikel, die aus dem
+Erzgebirge, Thüringen und Nordböhmen kommen, wie
+Schaukelpferde, Teepuppen, Frisierkämme, Jesusfiguren,
+Zinnsoldaten und Gummikavaliere. Die ganze Seydelstraße
+entlang stehen gespensterhaft in den Schaufenstern die
+Puppen der Büsten- und Wachskopffabriken, die Attrappen und
+‚Stilfiguren‘ der ‚Schaufensterkunst‘, die in Tausenden von
+Exemplaren durch ganz Deutschland und weiter wandern, um
+Hemden, Kleider, Mäntel und Hüte zu tragen. Interessant, was
+für Gesichter die wachsköpfigen Mannequins schneiden! Mit
+spitzen Mündern fordern sie dich heraus, schmale Augen
+ziehen sie, aus denen der Blick wie Gift tropft. Ihre Wangen
+sind nicht Milch und Blut, sondern fahles Gelbgrau mit
+grüngoldenen Schatten. Kein Wasserstoffsuperoxyd kann ein so
+böses Blond hervorrufen, wie die Tönungen ihres Haars es
+haben. Oft sind die Gesichter nur skizzenhaft modelliert und
+die angedeuteten Mienen sind dann von besondrer
+Verderbtheit. Sowohl in der Steife wie in der sportlichen
+Elastizität ihrer Bewegungen ist eine kühle Mischung von
+Frechheit und Distinktion, der du Armer nicht wirst
+widerstehen können. Aufregend sind die Grade ihrer
+Entblößung. Ganz goldnackte strotzen und silberne blinken,
+die nichts anhaben als bräunliche Schuhe; freibusige
+behalten, sich dir zu entziehen, eine Art Leibschurz und
+Strümpfe an. Bemerkenswert sind auch die Männerköpfe,
+auffallend die vielen Männer der Tat mit dezidiertem
+Ausdruck und winzigen Klebeschnurrbärtchen. Soweit sie
+Leiber haben und nicht nur ein Gliederpuppengestell, müssen
+sie sie in schwarzen Trikots verbergen, es sei denn, daß sie
+sich ganz bekleidet im Frack und Smoking zwischen den
+nackten Damen bewegen und dabei noch über Kinder
+hinwegschauen, die in blauen Kleidchen und roten
+Flatterkrawatten uns etwas vortummeln.
+
+Aber es gibt im Büstenhof auch Beine einzeln. Und
+rätselhafte Gestelle, unten eine Goldkugel, darauf eine Art
+Frauentorso, der in einen stilisierten Arm und einen
+abgeschnittenen Armstumpf endet. Das wird alles seine
+praktische Bewandtnis haben, aber ich starre unwissend in
+diese Fülle von Wesen und Wesensteilen, Gestellen und
+Gesichtern, von denen einige sogar Brillen tragen.
diff --git a/04-von-der-mode.rst b/04-von-der-mode.rst
new file mode 100644
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--- /dev/null
+++ b/04-von-der-mode.rst
@@ -0,0 +1,185 @@
+.. include:: global.rst
+
+VON DER MODE
+============
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`I`\ n den Zeitungen stehn Annoncen ‚Ein
+Riesenposten entzückender Abendkleidchen in allen
+Modefarben‘ oder ‚Meine spottbilligen Ausverkäufe in
+pelzbesetzten Mänteln‘, dazu Name und Adresse der Firma
+irgendwo im Osten. Sind wir neugierig, dort hinzugehn (wir:
+das ist die Frau, die mir dies erzählt), so kommen wir in
+Magazine, die auf elende Höfe hinausgehn und deren
+Aufmachung auf allen Glanz verzichtet. Wir befinden uns in
+einer Atmosphäre, die dem Kauf und Verkauf in ähnlicher
+Weise günstig ist wie die der Pariser Warenhäuser. Zwar hat
+kein Chef oder Rayonchef die Kenntnis des Frauenherzens, die
+dem Pariser eingibt, der Zögernden ein freundliches
+*‚fouillez, Madame‘* zuzurufen, aber auch hier gilt das
+Prinzip, erst einmal die Schleusen der unkontrollierten
+Berührung zu öffnen, bis sie zum Begehren wird, das alle
+Dämme der Vernunft sprengt und überfließend die Kasse füllt.
+Deutlich mit Preisen gezeichnet, hängen zerdrückte
+Spitzenkleider, flitterbestickte Musseline, schäbige
+Samtcapes mit undefinierbaren Pelzkragen, elende, billige
+Pracht. Blumen drängen sich in Kartons, auf Tabletts
+Schmuckstücke, deren Vorteil es ist, Schäden zu haben, die
+fast gar nicht sichtbar sind. In hohen Stapeln, anheimelnd
+durcheinandergezerrt, liegt rosa und violette Wäsche, reich
+mit Spitzen garniert, die aus der Ferne luxuriös wirkt,
+daneben stehn Abendschuhe mit Schnallen aus Diamanten und
+Smaragden. Das Publikum dieser Basare der Restbestände oder
+Konkursverkäufe besteht durchaus nicht nur aus freiwillig
+oder berufsmäßig ‚Koketten‘. Es gibt nämlich zwischen dem
+falschen Glanz auch vernünftige Artikel, grobe Bettücher und
+derbe Lederstiefel, Bettvorleger und Stores, deren Preise,
+wenn auch nicht herabgesetzt, so doch nicht zu unterbieten
+sind. Der Name dieser Häuser ist auch im Westen Berlins
+bekannt. Es geht von ihnen der Reiz des Zufälligen, der
+Gelegenheit aus, auf den die Frauen reagieren, der sie
+neugierig und gespannt macht, auch wenn es sich um nichts
+andres handelt, als ein halbes Dutzend Taschentücher
+einzukaufen oder ein Paar warme Handschuhe.
+
+Ja, sonst gibt es in diesen Straßen auch recht langweilige
+Geschäfte mit leblosen Auslagen, die nichts weiter
+suggerieren als einen Austausch von Ware und Geld. Wir
+werden erst wieder wach vor der strahlenden Helle des
+Riesenkomplexes Warenhaus. Ist es auch nicht so gedrängt, so
+nachlässig künstlerisch, so listig üppig hier wie an dem
+Ort, den wir verlassen haben, so genießen wir doch vor
+diesem geordneten Reichtum an Waren aller Art die Vielfalt,
+vor der unsere Bedürfnisse, die uns eben noch so erheblich
+erschienen, plötzlich Liliputmaß annehmen. Aber uns kann
+geholfen werden. Die Verkäufer und Verkäuferinnen haben den
+‚Dienst am Kunden‘ von Grund auf studiert. Die großen
+Kaufhausfirmen haben Schulen ins Leben gerufen, in denen
+Lehrer, die an Handelshochschulen vorgebildet sind, den
+jungen Mädchen Anschauungsunterricht über die Behandlung der
+Ware und der Kunden geben. Wir ahnen gar nicht, was für
+geschulten Künstlerinnen des Verkaufs und der richtigen
+Suggestion wir gegenüberstehn, wenn uns die kleinen Fräulein
+von Wertheim und Tietz sanft in ihren Bannkreis ziehn.
+
+Berlins große Warenhäuser sind nicht verwirrende Basare
+bedrängender Überfülle, sondern übersichtliche Schauplätze
+großer Organisation. Und sie verwöhnen ihre Besucher durch
+das hohe Niveau ihres Komforts. Kauft man vom kreisenden
+Ständer aus blitzendem Messing einen Meter rosa Gummiband,
+so darf der Blick, während unsere Ware auf Blocks
+eingetragen wird, auf Marmor ruhn, an Spiegeln entlang und
+über glänzendes Parkett gleiten. In Lichthöfen und
+Wintergärten sitzen wir auf Granitbänken, unsere Päckchen im
+Schoß. Kunstausstellungen, die in Erfrischungsräume
+übergehn, unterbrechen die Lager der Spielwaren und
+Badeausstattungen. Zwischen dekorativen Baldachinen aus Samt
+und Seide wandern wir zu Seifen und Zahnbürsten. Merkwürdig,
+wie wenig in diesen der großen Masse gewidmeten Kaufhäusern
+dem Bedürfnis nach Kitsch Rechnung getragen wird. Die
+Mehrzahl der angebotenen Dinge ist fast nüchtern.
+‚Anständig‘ ist das Adjektiv, dem der Geschmack nicht
+widerstehn kann. Nur in Handarbeitslagern und bei
+Galanteriewaren häufen sich die bedenklicheren Einfälle. In
+den Lagern der Konfektion sieht man nur Gediegenes,
+Unauffälliges, das sich der Mode mit einem gewissen Zaudern
+und Widerstreben annähert und sie eher zu vertuschen sucht,
+als daß es ihr entgegenkommt. Ein wenig leer ist es in
+dieser Gegend, es ist, als fehle ein vermittelndes Element.
+Da wirken die Stapel der Kochtöpfe und Backformen, der
+Gardinenringe und Frühstückservice erheblich bunter und
+munterer.
+
+Nah beim Quartier der Konfektion liegt an drei
+Straßenfronten eins der berühmtesten Modehäuser von Berlin.
+Seine Modelle ziehen das große Publikum an. Aus allen —
+außer den exklusivsten — Kreisen, die sich für Mode
+interessieren, sitzen Damen an zart gedeckten Tischen, an
+denen die hübschen Mannequins sich entlang schlängeln. Bei
+den Klängen einer Kapelle schreiten sie in duftigen und
+feierlichen Kleidchen und lächeln von Beruf und damit man
+sie von den Damen unterscheide, die verspätet ankommen oder
+verfrüht weggehn.
+
+Dies Haus mit seiner nicht unberechtigten Prätention ist der
+hinausgeschobene Vorposten der Mode, deren Gebiet eigentlich
+erst anfängt, wo das Zentrum und der alte Westen sich
+berühren. In Leipziger- und Friedrichstraße gehören ihr
+schon viele Auslagen, oft Haus an Haus. Aber erst wenn man
+die Fronten des Warenhauses von Wertheim und die Blocks der
+Hotels beim Potsdamer Platz hinter sich gelassen hat und in
+die Bellevue- oder Friedrich Ebertstraße einbiegt, nähert
+man sich dem Hauptquartier in der Lennestraße am Saum des
+Tiergartens. Die Mode wohnt — im Gartenhaus.
+
+Da flimmern durch das Grün der Vorgärten die Goldlettern der
+Namen, die Geschmack bedeuten. Da sieht man in den späteren
+Vormittagstunden und am frühen Nachmittag Reihen von Autos,
+sehr gepflegten, sehr ‚rassigen‘, aus den Katalogen der
+Autofirmen herausgerollt in ihrer funkelnagelneuen
+Tadellosigkeit. Ernste Chauffeure erwarten die ‚gnädige
+Frau‘. Von den Verkäuferinnen wird sie so devot empfangen,
+als wären die Wellen der absoluten Monarchie noch nicht
+verebbt. An Rokokosesseln vorbei wird sie über geblümte
+Teppiche in den Salon geleitet, der Chef eilt herbei, der
+*‚small talk‘* Wetter, Reise, Gesundheit wird erledigt,
+während die Mannequins ihren Wandel vor der Kundin antreten.
+Meist macht der Chef einen unzufriedenen Eindruck, er zupft
+an Schleifen, gibt einem Gürtel neues Arrangement, wiegt
+bedenklich den Kopf. Selten nur sieht man das hingerissene
+Lächeln der Verkäuferinnen in den Pariser Modehäusern, die
+ihre blinde Liebe zu vermitteln verstehn. Aber die
+‚angezogne‘ Berlinerin scheint die Haltung des Chefs nicht
+zu stören. ‚Sie wissen schon, was mir steht‘, ist eine
+Redewendung, die ihn nicht als Schmeichelei, sondern als
+Appell trifft. Er weiß es auch jedenfalls besser. Hat er
+doch in Paris die Kollektionen der wichtigsten Modeschöpfer
+gesehen und schon beim Défilé der Mannequins seine Auswahl
+in Hinblick auf Frau von X. und Frau Z. getroffen. Allzuviel
+Möglichkeiten gibt es da gar nicht. Das Berliner
+Gesellschaftsbild kann so lange als einförmig gelten, als
+die Frau auf die Auswahl angewiesen sein wird, die man ihr
+als ‚Crème‘ der Pariser Produktion vorsetzt. Immer wieder
+ereignet sich das Fatale: drei oder vier Damen begegnen sich
+im gleichen Kleid. Ist es da ein Trost, daß sie alle den
+‚Schlager‘ der Saison besitzen? Noch ist Berlin, vom
+Standpunkt der Gesellschaft aus betrachtet, klein und die
+Eleganz der Dame ein Produkt aus zweiter Hand. Aber schon
+kommt ein neuer Frauentyp auf, der den Sieg davonträgt über
+die, deren Schneider und Putzmacherin am Tiergarten wohnen,
+die junge Avant-Garde, die Nachkriegsberlinerin. Um 1910
+müssen ein paar besonders gute Jahrgänge gewesen sein. Sie
+haben Mädchen hervorgebracht mit leicht athletischen
+Schultern. Sie gehn so hübsch in ihren Kleidern ohne
+Gewicht, herrlich ist ihre Haut, die von der Schminke nur
+erleuchtet scheint, erfrischend das Lachen um die gesunden
+Zähne und die Selbstsicherheit, mit der sie paarweise durch
+das nachmittägliche Gewühl der Tauentzienstraße und des
+Kurfürstendamms treiben; nein, treiben ist nicht das
+richtige Wort. Sie machen *‚crawl‘*, wenn die andern
+Brustschwimmen machen. Scharf und glatt steuern sie an die
+Schaufenster heran. Wo haben sie nur die hübschen Kleider
+her, die Hüte und Mäntel? Neben den wenigen großen, die
+bereits bis hierher vorgestoßen sind, gibt es im bayrischen
+Viertel, in der Gegend der Kurfürstenstraße, in Nebenstraßen
+des Kurfürstendamms eine ganze Menge kleiner Modegeschäfte.
+Die begnügen sich häufig mit einem Vornamen als Enseigne.
+Sie haben wohl auch ein, zwei Pariser Modelle. *Vogue* und
+*Femina* liegen aus, *Harpers Bazar*, *Art*, *Goût et
+Beauté*. Die Besitzerin des Ladens hat leichte Finger und
+die Kundin genaue Kenntnis der eignen Gestalt und Spaß an
+dem Zusammenspiel von Phantasie und Präzision. Diese Jugend
+fängt an, einen Stil zu finden, gleich weit von dem
+Snobismus der ‚Marke‘ und der Gleichgültigkeit, die sich mit
+der Serie begnügt. Ist es schon wahr, was man immer lauter
+und allgemeiner zu behaupten anfängt, die Berlinerin könne
+sich an Eleganz mit den besten Europäerinnen messen? Wir
+wollen nicht kleinlich nachprüfen, wie es sich genau damit
+verhält. Es soll uns genügen, diese Scharen von jungen und
+jüngsten Mädchen zu sehn, dieses Défilé von Jugend und
+Frische in den knappen, gut sitzenden Kleidern mit den
+Hütchen, denen eine Locke entquillt, die elastischen
+Schritte der langen Beine, um überzeugt zu sein, daß Berlin
+auf dem besten Wege ist, eine elegante Stadt zu werden.
diff --git a/05-von-der-lebenslust.rst b/05-von-der-lebenslust.rst
new file mode 100644
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--- /dev/null
+++ b/05-von-der-lebenslust.rst
@@ -0,0 +1,461 @@
+.. include:: global.rst
+
+VON DER LEBENSLUST
+==================
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`D`\ iese Jugend lernt auch zu genießen, was doch
+im allgemeinen dem Deutschen nicht leicht fällt. Der
+Berliner von gestern verfällt in seinem Vergnügungseifer
+immer noch der Gefahr der Häufung, der Quantität, des
+Kolossalen. Seine Kaffeehäuser sind Gaststätten von
+prätentiöser Vornehmheit. Nirgends die behaglichen
+unscheinbaren Ledersofas, die stillen Winkel, wie sie der
+Pariser und der Wiener liebt. Statt Kellner ruft er immer
+noch das dumm titulierende ‚Herr Ober‘, einfacher
+Bohnenkaffee heißt Mokka double, fünfzig Bardamen in einem
+Verschank sind mehr als zehn. Immer wieder werden neue
+‚Groß-Cafes‘ gegründet mit Platz für rund tausend Besucher.
+Im Parterre ist eine ungarische Kapelle, im zweiten Stock
+spielen zwei Kapellen zum Tanze auf. Erstklassige Kräfte
+sorgen in den Tanzpausen für die Zerstreuung des Publikums.
+‚Eigenartige‘ Vortragskünstlerinnen treten auf.
+Internationale Attraktionen verheißen die Annoncen und
+Anschläge, mondänen Betrieb usw. Ja, man bekommt etwas für
+sein Geld. »Bei freiem Eintritt und Konsum von M 3 genießen
+Sie von 8½ bis 12½ pausenlos das beste Kabarett
+Deutschlands. Nachmittagsgedeck 2 M 50 mit Kuchen, soviel
+Sie wollen.«
+
+Betrieb, Betrieb! Selbst die guten Alten wollen immer
+mitmachen.
+
+Man muß einmal einen zweiten Feiertag, wo alles ausgeht,
+weil doch auch die ‚Hausangestellte‘ Ausgang hat, in einem
+Monsterspeisehaus erleben. Da läßt Vater was draufgehn.
+Und manches Draufgängerische kann man ziemlich billig haben.
+Es gibt die guten Hors d’œuvre-Mischplatten, wo alles dabei
+ist, Hummer und Kaviar und Artischokenherz, und das Ganze
+immer gleich für zwei Personen; Doppelportionen, wie das
+gigantische Entrecôte, das mit lauter Gemüsebeilagen
+garniert ist. Es gibt prima Dessertmischungen. Da fehlt
+nichts. Der Sohn, der leise gelangweilt neben der
+leichtgeschürzten Mutter sitzt, weiß natürlich schon, daß es
+feiner ist, Apartes zu bestellen, und er wird vielleicht
+Gelegenheit finden, dem Alten durch seine Sonderwahl zu
+imponieren. Er benimmt sich dem Kellner gegenüber gelassener
+als Vater. Lieber würde er ja drüben sitzen bei den beiden
+einzelnen jungen Damen. Tippfräulein mögen das sein, die
+heute allein ausgehn den Männern zum Trotz. Sie bestellen
+sehr geschmackvoll: französische Gemüseplatten, Chicorée und
+Laitu braisé, und dazu nur Cocktails und nachher zu den
+Meringuen Tafelwasser. Er sieht hinüber und lernt. Sein
+Hinterkopf ist amerikanisch rasiert und keine Speckfalte
+drauf wie bei Papa |ellipsis|
+
+Die monströsen Riesendoppelkonzerte, welche die Hauptstadt
+für Gaumen, Auge, Ohr und Tanzfuß veranstaltet, können der
+neuen Jugend, unsern neuen Berlinerinnen nichts mehr
+anhaben. Was das Essen, Trinken und Rauchen angeht, da haben
+sie mancherlei neue Methoden, charmante Enthaltsamkeiten,
+hygienische Kasteiungen, sportliche Grundsätze. Sicher wie
+durch das Gedränge der Straße steuern sie durch das der
+Vergnügungen, finden die paar Tanzpfade im Dickicht der
+Menschenanhäufungen, wissen, in welchem Hotel oder Lokal man
+allenfalls noch nachmittags tanzen kann und haben ihre
+Cocktailsparties, wo man in geschlossener Gesellschaft
+tanzt. Es ist bewundernswert, wie sie den Berliner Karneval
+bewältigen. Der hört bekanntlich nicht mit Fastnacht und
+Aschermittwoch auf, sondern geht noch wochenlang
+ununterbrochen weiter. Und es gibt Nächte mit drei und mehr
+wichtigen Festen, einem in den Sälen des ‚Zoo‘, einem bei
+Kroll, einem in der Akademie zu Charlottenburg, einem in der
+Philharmonie, und dazu kommt noch in dem und jenem Atelier
+ein intimeres und besonders reizvolles. Da wissen sie zu
+wählen, wissen, wo die beste Band spielt, erfinden eine
+kluge Reihenfolge, um mehreres zu erledigen. Vor allem ist
+es ihnen um gutes Tanzen zu tun. Der richtige Tanzpartner
+ist eine sehr wichtige Persönlichkeit und nicht zu
+verwechseln mit dem, den man gerade liebt. Seine Aufgabe ist
+eine durchaus andre. Darüber haben mich meine jungen
+Freundinnen belehrt, während sie sich für ein oder das andre
+Fest zurechtmachten. Diese Vorbereitung, dies *‚Debarquement
+pour Cythere‘*, ist ein bedeutender Augenblick und für uns
+Zuschauer manchmal lehrreicher als das Fest selbst. Man muß
+ihre ernsten Mienen vor dem Spiegel sehn, während sie Arme
+und Schultern bräunen, das Gesicht ‚machen‘, Turbane und
+Federkappen probieren. Sie eilen nicht, sie legen sorgsam
+letzte Hand an das Werk des einen Abends wie ein Künstler,
+der Dauerndes schaffen will. Sie erfinden wunderbare
+Übergangsgebilde vom Maskenkostüm zum Gesellschaftskleid,
+unschuldige Nacktheiten, lockende Verhüllungen und groteske
+Übertreibungen, hinter denen sie sich gut verbergen können.
+Da kann man in aller Ruhe ihre Gegenwart genießen, was sonst
+nicht leicht ist. Denn im allgemeinen haben sie das Tempo
+ihres Berlin, das unsereinen etwas atemlos macht. Es ist
+erstaunlich, wieviel Lokale und Menschen sie an einem Abend
+behandeln können, ohne zu ermüden. ‚Nun wollen wir Apéritif
+trinken gehn‘, sagen sie plötzlich, wenn die Teestunde etwas
+zu träumerisch geworden ist. ‚Apéritif?‘ frage ich
+verwundert, ‚ich dachte, das gibt es hierzulande gar nicht.‘
+‚Sie unterschätzen wieder einmal den Fleiß unserer Stadt‘,
+bekomme ich zu hören. Und ehe ich mich’s versehe, sitze ich
+schon neben der eiligsten von ihnen im Auto, sie steuert die
+Budapesterstraße entlang vorbei an den Glashallen, in denen
+die ‚schnittigsten‘ aus- und inländischen Wagen ihren Salon
+haben, und hält den Sauriern gegenüber, die auf die Wand des
+Aquariums gemeißelt sind. Wir überschreiten die Glasplatte
+am Hoteleingang, die leuchtende Platte mit der
+paradiesischen Inschrift. In der Halle wechselt Maria (so
+verlangt sie, daß ihre Freunde sie nennen, den lächerlichen
+Marys, Miez und Mias ihrer Angehörigen zum Trotz) ein paar
+Worte mit dem jungen Dichter, der demnächst im Film
+auftreten wird, und erkundigt sich nach dem Befinden ihres
+gemeinsamen Freundes, des Boxers, der so lange ausgesetzt
+hat. Der Jüngling aber, der auf beide zueilt und ihr
+geschwind etwas mitzuteilen hat, ist die jüngste Hoffnung
+des Kabaretts. Maria kürzt ab und zieht mich weiter. Im
+Vorraum der Bar, sozusagen in der Exedra, sitzen auf
+Wandsofas Männergruppen im Gespräch; und wenn ich besser
+Bescheid wüßte, würde ich gewisse Politiker oder Börseaner
+erkennen. Wir treten in den angenehm niederen Raum mit den
+roten Deckenbalken. Gern hätten wir auf den hohen Schemeln
+an der Bar selbst Platz genommen, aber die sind alle
+besetzt. Und so muß mich von unserm Tisch aus Maria
+belehren, wer der schlanke englisch Redende im schönen
+sandfarbenen Hemd da am Nebentisch und wer sein Begleiter
+mit den Koteletten ist. Man grüßt Maria vom Tische der
+jungen Attachés. Und das süße Geschöpf, das sie im
+Vorbeistreifen rasch geküßt hat, das war das kleine neue
+Revuewunder, das ich aus Bildern in den Magazinen kenne. Uns
+zunächst sitzen zwei etwas zu frisch gemalte Mädchen. Die
+rechts glaubt Maria in St. Moritz gesehn zu haben. ‚Warum
+rümpft denn die Linke jetzt schon zum zweiten Male die
+Nase?‘ ‚Das tut man jetzt viel. Die (sie nennt einen
+Schauspielerinnennamen) machte es auf der Bühne. Es hat sich
+eingeführt.‘
+
+Rings an den Tischen wird geflüstert wie im besten Europa.
+Man spricht nämlich im neuen Berlin nicht mehr so laut wie
+im früheren. Man ist hier wie bei einem Empfang. Aber mehr
+als eine Viertelstunde Aufenthalt erlaubt Maria nicht. Sie
+hat Rendezvous zu frühem Essen im Neva Grill mit Freunden,
+die nachher in die ‚Komödie‘ wollen. Sie überantwortet mich
+einem ihrer Freunde, der mich zu Horcher mitnehmen soll.
+Dort will sie uns in einer Stunde vorfinden. ‚Ihr könnt da
+männlich langsam und gediegen speisen und Burgunder trinken.
+Ich komme zum Dessert zurecht.‘
+
+Die Seezunge, zu der Gert, mein Tischgenosse, nach einer
+Beratung mit dem Sohn des Hauses sich entschlossen und mich
+bestimmt hat, wird auf gut Pariser Art vor unsern Augen
+behandelt. Und bei Nuit Saint-Georges lasse ich mir von
+Gert, der bei jungen Jahren schon ein angesehener Mann in
+Bank- und Diplomatenkreisen ist, Berliner Gesellschaft
+erzählen. Ein schwer zu erfassender und zu begrenzender
+Begriff. Die alte Trennung der Stände hört immer mehr auf.
+Wohl gibt es noch einige mißvergnügte Noblesse in Potsdam
+und auf Landschlössern, die den Glanzzeiten der exklusiven
+Hofgesellschaft nachtrauert, aber gerade die Vornehmsten
+suchen den Anschluß an die neue Zeit. Gastliche Häuser
+vereinen Kunst und hohe Bourgeoisie, und am Tische großer
+Bankherren begegnen sich sozialistische Abgeordnete mit
+Prinzen aus dem früheren Herrscherhaus. Die großen
+Sportklubs schaffen eine neue Haltung, die das Hackenklappen
+ehemaliger Gardeleutnants und die alte
+Korpsstudentenschneidigkeit ausschließt. Mit jugendlichem
+Eifer stürzt sich der ehrgeizige Berliner in die neue
+Geselligkeit, und die Minister und Staatssekretäre müssen
+mehr Zweckessen mitmachen, als am Ende der Politik günstig
+ist. Wir kommen auf die Frauen zu sprechen und gerade hat
+Gert von einem Diner erzählt, bei dem er zwischen zweien
+saß, von denen die zur Rechten vorsichtig und korrekt
+unterhalten sein wollte, während die Linke jeder Äußerung
+eine zweideutige Anspielung abzugewinnen suchte oder selbst
+Themen anschlug, bei denen unsre Mütter vor Scham in den
+Boden gesunken wären — da erscheint Maria und kommt uns vor
+wie die junge Königin eines neuen Amazonenstaates, für den
+der alte Begriff Gesellschaft nicht mehr existiert. Sie geht
+nicht weiter auf unsere theoretischen Gespräche ein, sondern
+will uns nur rechtzeitig abholen zu einem wichtigen
+Russenfilm. Gert wollte eigentlich den des Pariser
+Amerikaners sehn, der nur mit Hilfe von ein paar
+Ateliergegenständen, Hemdkragen und Händen gemacht ist. Aber
+den kennt Maria schon vom letzten Pariser Aufenthalt. Sie
+hat ihn im kleinen Saal der Ursulinerinnen im Quartier Latin
+gesehn.
+
+Nach dem Kino sitzen wir im ‚Casanova‘ unten, nicht weit vom
+Klavier, an dem der durch einen Schlager berühmt gewordene
+Komponist diesen allabendlich vorspielt und singt. Gert und
+Maria beraten, was man noch unternehmen könnte. ‚Warum geht
+ihr Jungen nicht hinauf tanzen?‘ frage ich. ‚Ich mag nicht,‘
+sagt Maria, ‚aber Gert findet vielleicht Anschluß im blauen
+Salon.‘ ‚Eigentlich hätte ich heute um Mitternacht in die
+»Ambassadeurs« kommen sollen.‘ Meiner Unerfahrenheit wird
+mitgeteilt, daß dies die neueste Abzweigung der ‚Barberina‘
+ist. Gert und Maria diskutieren die Güte der verschiedenen
+Jazzbands und Tangokapellen in den großen Hotels, im ‚Palais
+am Zoo‘, in der ‚Valencia‘ usw. Ich bringe etwas schüchtern
+meine Erfahrungen aus der kleinen ‚Silhouette‘ vor. ‚Wollen
+wir nicht ganz einfach hier gegenüber ins »Eldorado« gehn?
+Da ist das richtige Durcheinander, ihr seid doch für Chaos,
+Smokings und Sportjacken, Transvestiten, kleine Mädchen und
+große Damen. Sie sind natürlich wieder mehr fürs Korrekte,
+Gert, Sie wollen soignierten Tanz und Rahmen, Sie wollen in
+die »Königin«.‘ Aber schließlich entscheiden wir uns ganz
+anders.
+
+Im dunkleren Teil der Lutherstraße ein einzelnes Licht. Ein
+paar Privatautos vor der Tür. Schon der schmale Gang des
+Vorraums ist überfüllt. Ein freundlicher Manager verheißt
+uns Unterkunftsmöglichkeiten. Und in der Tür des zweiten
+Zimmers reicht uns der Herr des Hauses die Hand. Es ist
+nützlich, sich seiner persönlichen Protektion zu versichern,
+denn hier ist, so sagt man mir, durchaus nicht jedermann
+willkommen. Das heißt, er kommt wohl hinein und ißt und
+trinkt, aber wenn seine Nase dem Besitzer dieses
+merkwürdigen Zimmers mißfällt, so läßt er den Kellner keine
+Bezahlung annehmen, sondern nähert sich selbst dem Tisch des
+Fremdlings, bittet ihn, für diesmal sich als eingeladenen
+Gast zu betrachten und — nicht wiederzukommen. Daher ist
+hier ein erlesenes Publikum. Köpfe gibt’s hier! Und
+Schultern! Und Augenbrauen. Dort in der Ecke sitzen sie
+beide, die wohltätig üppige und die schmal lächelnde, die in
+der Revue das Lied von der besten Freundin sangen. Und nah
+dem Klavier — auch als stille Zuschauerin imponierend — die
+rothaarige Meisterin der Groteske. Sie lacht auf, als schräg
+gegenüber der dicke Riese von der Wasserkante, der tags
+deutsche Dichtung und abends welsche Getränke umsetzt,
+seinen bekannten Kriegsruf ausstößt, mit dem er den zweiten,
+lebhafteren Teil seines Abends einzuleiten pflegt. Aber die
+Nachbarn machen sanft psst! Denn jetzt steht auf dem
+Klavier, den Kopf deckennah geduckt, ein Persönchen in
+Matrosenbluse und gestikuliert vorbereitend für das Lied von
+den Jungfern zu Camaret, das sie singen soll. Sie singt
+französisch wie ihre Landsmännin, ihr Vorbild am
+Montparnasse. Und wer lang genug in Paris war, versteht auch
+die gefährlichen Worte des Liedes, das nun in einer Art
+Kirchenmelodie anhebt. Die andern lachen ahnungslos und
+dankbar mit. Wir haben im Gedränge stehend zugehört. Jetzt
+bekommen wir Plätze im Winkel an der Bar. Während Gert und
+Maria tanzen, schau ich umher. Die wenigen von der Kunst und
+Lebenslust, die ich persönlich kenne, sind fast alle hier.
+Sanft dröhnend ruft mich beim Vornamen die Stentorstimme
+dessen, der einst in Paris aus einem kleinen Eckrestaurant
+den ‚Dôme‘ gemacht hat und nun hier ein berühmter Maler ist.
+Die schöne Russin, die sich neben ihn drängt, kenn ich doch
+auch. Er gönnt ihr seine breite Nachbarschaft und betrachtet
+durch kritische Brillengläser ein paar Jünglinge von der
+allerneusten Literatur, die ihm in andächtiger Gruppe
+gegenüber sitzen. Das wohlwollend langsame Lächeln im
+Abbatengesicht dessen, der ein gut Teil der deutschen und
+ausländischen Literatur in sein Bestiarium gesperrt hat,
+gilt den beiden nun schon erwachsenen Poetentöchtern, die er
+als Kinder hat spielen sehn, und inzwischen sind sie
+Weltreisende und Eroberinnen geworden. Ein neuer Schub
+Kömmlinge drängt den schmalen Tanzgang her und aus Mänteln
+schälen sich Inder und Indianer beiderlei Geschlechts,
+soweit sich das unterscheiden läßt. Sie kommen von einem
+Fest und ehe sie auf das andre gehn, besuchen sie uns und
+wollen uns zum Mitkommen verführen. Ach, das klirrende
+Armband an Pucks Schenkel, ach, die Adlerfeder über Sonjas
+Haar! Aber wir bleiben. Der junge Mixer ist ein zu guter
+Schenke. Wir bleiben, bis es — mit einmal — drei Uhr ist
+und einige Stühle schon auf den Tischen kopfstehn. Maria
+will uns noch in den Damenklub hier in der Nähe bringen,
+aber mit dem habe ich kein Glück. Selbst heute, da wir
+Gefolge eines Mitglieds sind, bleiben seine Pforten uns
+geschlossen. Dafür schafft uns Gert ungehindert ins
+‚Künstler-Eck‘, wo wir unter gotischen Wölbungen eine
+herrliche Hühnersuppe löffeln. Und nun könnten wir noch
+weiterziehn in den dämmernden Morgen. Schwannecke hat für
+die Seinen eine Seitenpforte noch offen. Und obendrein weiß
+Gert einen Verband von Gastwirtangestellten, der mitten in
+der Nacht aufmacht und bis Mittag zu essen und zu trinken
+gibt. Auch hier ist er Mitglied. Da könnten wir zwischen den
+Letzten vom Abend und den Ersten vom Morgen sitzen, zwischen
+Sängern und Kellnern, Schauspielerinnen und Aufwartefrauen.
+Aber für heute ist es genug. Das Bewußtsein, man könnte noch
+lange weitermachen, schläfert so angenehm.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Gewisse Zeitungsannoncen und von Reklamemännern getragene
+Plakate waren mir schon öfter aufgefallen. »Walterchen der
+Seelentröster mit dem goldenen Herzen, Berlins bekannteste
+Stimmungskanone |ellipsis| Wieder täglich Treffpunkt aller
+Verlassenen |ellipsis| Witwenball für die ältere Jugend im
+herrlichen Prunksaal Ackerstraße |ellipsis| Altdeutscher Ball, nur
+ältere Jugend, flotte Ballmusik |ellipsis| Clärchens vornehmer
+Witwenball das Tagesgespräch. Nur Auguststraße trifft sich
+die Elite.« Manchmal heißt es auch zusammenfassend:
+Elitewitwenball, wobei Elite sowohl auf Witwen als auf Ball
+bezogen werden kann. In der Elsässerstraße hieß es:
+‚Klassefrauen, Herren unter 25 Jahren haben keinen Zutritt.‘
+Ja, das haben sie wirklich nicht. An solch einem
+Tanzpalasteingang habe ich beobachtet, wie einer seine
+Papiere vorweisen wollte zum Beleg seiner Reife, aber der
+Mann an der Kasse lehnte überlegen ab und sagte: ‚Das sehen
+wir so!‘ Und ließ ihn nicht herein.
+
+Da ich nun sichtlich das nötige Alter besitze, habe ich mich
+neulich, ich glaube, es war in der Kaiser Friedrichstraße zu
+Charlottenburg, in solch einen Ball für die ältere Jugend
+gewagt. Ich war mit Leuten, die eine Flasche Wein ‚anfahren‘
+ließen; Samos hieß, glaub ich, der Unglückliche. Das machte
+Eindruck. Mit höflichem ‚Sie gestatten wohl‘ setzte sich der
+Leiter der Veranstaltung zu uns. Er trug einen Gehrock,
+ähnlich jenem, den unser Ordinarius von Untersekunda während
+des Wintersemesters in der Klasse auftrug. Der Verein, sagte
+er, sei noch jung, erst im Begriff, Statuten zu bekommen.
+Dies Haus, müßten wir wissen, gehörte früher einer
+Freimaurerloge, die Kaiser Friedrich selbst eingeweiht habe.
+Hier an den Wänden könnten wir noch die aufgemalten Ringe
+aus der Logenzeit sehn. Damals war dieser Raum
+Andachtshalle. (Richtig, da waren unter den Trinksprüchen
+von der Art, wie man sie auf Bierfilzen liest, wirklich
+solche Ringe.) Und unten, wo jetzt die Evangelische
+Gemeinschaft G. m. b. H. einlogiert ist, stand damals der
+Sarg für den Eid.
+
+Er sprang auf und leitete mit einer würdigen Dame, die
+schwere Stickereien auf ihrem Samtkleid und etwas
+ungleichmäßig dicke Beine hatte, die Polka mazurka ein.
+Diesen historischen Tanz konnten mehrere Paare ausführen,
+ohne auf die Bewegungen des vortanzenden Paares sehn zu
+müssen. Danach kam der Vereinsgründer wieder zu uns und
+teilte mit, am Tage sei er handwerklich tätig (so drückte er
+das aus) und mit seiner Gründung hier beabsichtige er
+gemütliches Beisammensein von Mensch zu Mensch. Störende
+Elemente, die zum Beispiel eventuell einer Dame zu nahe
+treten, sollten ausgeschieden werden. (Wir waren hier zu
+fremd, um derartiges zu riskieren.)
+
+Inzwischen führte der eigentliche angestellte Tanzleiter den
+sogenannten Schlittschuhtanz an. Er war mager, und was er
+anhatte, war ein Frack. Bei bestimmten Wendungen dieses
+Tanzes klatschte seine Partnerin einmal kurz in die Hände
+und die andern ahmten ihr das nach. Der Tanzleiter aber
+machte nur eine elegant geschwungene Geste mit der Rechten.
+Manche Paare hatten eine überaus zierliche Art, mit
+abgespreizten Fingern und hohen Ellenbogen einander zu
+halten. Einige Herren hatten zwischen ihre Hand und den
+Rücken der Dame ein Taschentuch getan. Ich machte die
+Beobachtung: je reifer die Jugend der Herren war, um so
+tiefer gerieten ihre Hände an der Dame hinab. Waren das
+‚Elemente‘? Damen, die miteinander tanzten, legten dabei
+nicht die Innigkeit an den Tag, die wir aus gewissen Lokalen
+kennen, sondern ironisierten mit Blicken und Bewegungen die
+ungewohnte Verkuppelung. Häufig war Damenwahl und dabei
+durften die Damen, die gerade frei waren, jeder Tänzerin
+ihren Tänzer ‚abklatschen‘ — so lautet der Kunstausdruck.
+Das gab artige Momente.
+
+Wenn man erst Mitglied geworden ist, belehrte uns der
+Vereinsvorstand, wird auch die Garderobe billiger. Dann
+erhob er sich wieder zu einer kurzen Ansprache, in welcher
+er die Vorzüge der altdeutschen Tänze hervorhob und die
+Herrschaften aufforderte, zur Gemütlichkeit beizutragen.
+Dieser Gemütlichkeit brachte die Kapelle, als sie frisches
+Bier bekam, ein Prosit dar.
+
+Nach diesem Erlebnis habe ich mir eine Vorstellung von den
+Bällen für die ältere Jugend gebildet, die doch eine gewisse
+Rolle im Leben von Berlin zu spielen scheinen. Man findet da
+sicher Anschluß. Sie sind vielleicht sozial von ähnlicher
+Wirkung wie die Eheanbahnungsinstitute, deren Ankündigungen
+man in Zeitungen und auf Hausanschlägen liest. Wenn ich nun
+lese: Rundtänze außer Montag, Donnerstag und Freitag
+verkehrter Ball und dergleichen, dann weiß ich Bescheid.
+
+Weniger sozialmoralische Zwecke scheinen die Bälle zu
+verfolgen, bei denen der Anschluß durch sogenannte
+Tischtelephone hergestellt wird. Sie haben mitunter auch
+hängende Springbrunnen und stets das, was ihre Annoncen
+‚urfidelen Hochbetrieb‘ nennen. Sie verheißen ‚Prunkvolles‘,
+‚Künstlerisches‘, ‚Intimes‘, sie finden statt in den
+‚kultiviertesten Luxusstätten der Welt‘ auf Glasparkett,
+nahe den ‚High Life Bars‘ und ‚exquisiten Küchen‘. In dem
+berühmtesten dieser erheblich erleuchteten Prachtsäle gibt
+es eine wunderbare Kombination von Wasser und Licht in
+drehenden farbenwechselnden Schalen. Diese Wasser- und
+Lichtwunder haben laut Programm nicht nur die Aufgabe, das
+Auge zu erfreuen und die Stimmung zu erhöhen, sie sorgen
+auch für frische Luftzufuhr. Die Erfindung des
+Tischtelephons ist sehr seelenkundig: der mittlere Berliner
+ist nämlich gar nicht so selbstsicher, wie er gern
+erscheinen möchte. Am Telephon aber faßt er Mut (Der
+Fernsprecher ist ihm ja überhaupt sehr gemäß. Statt ‚Auf
+Wiedersehn‘ pflegt er heutzutage zu sagen ‚Na, klingeln Sie
+mal an‘ oder ‚Ich rufe Sie nächster Tage an‘) und darin
+bekräftigt ihn noch der Versappell der Direktion, die er auf
+dem interessanten Programm findet:
+
+
+ | :smallerfont:`‚Genier' dich nicht und läute an,`
+ | :smallerfont:`Ob sie dich mag, erfährst du dann.‘`
+
+Ja, das Ballhaus ist, wie es mit dem beliebtesten Verbum des
+neuen Deutschlands erklärt, ganz auf seine Gäste
+‚eingestellt‘.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Im Schummerlicht farbiger Ampeln bewegen sich in einer
+Anzahl kleinerer Säle und Zimmer des Nordens wie auch des
+Westens Pärchen gleichen Geschlechtes, hier die Mädchen, da
+die Knaben. Bisweilen sind in mehr oder weniger erfreulicher
+Art die Mädchen als Männer, die Knaben als Damen angezogen.
+Ihr Treiben, früher einmal ein kühner Protest gegen die
+herrschenden Sittengesetze, ist mit der Zeit ein ziemlich
+harmloses Vergnügen geworden, und es sind zu diesen sanften
+Orgien auch Besucher zugelassen, die gern mit dem jeweils
+andern Geschlechte tanzen. Sie finden hier eine besonders
+günstige Umgebung. Die Männer lernen von den weiblichen
+Kavalieren, ihre Partnerinnen von den männlichen Damen neue
+Nuancen der Zärtlichkeit, und die eigne Normalität wird zu
+einem besondern Glücksfall. Ach, und rührend sind die
+Beleuchtungskörper. Da sieht man zackig gerandete
+Ampelhüllen aus Holz oder Metall, die an die
+Laubsägearbeiten unserer Knabenzeit erinnern.
+
+Früher, so kommt es mir vor, muß das alles sündhafter
+gewesen sein. Da waren offenbar die Angelegenheiten der Lust
+mehr auf Gefährlichkeit abgestimmt. Wo heute Reinhardts
+Kammerspiele erlesene Kunstleistungen darbieten, dunstete
+ehedem ein purpurn und goldener Tanzsaal. Da drehten sich
+vor unseren erschrockenen jungen Augen hohe Korsettgestalten
+in vertragenen Ballroben mit Büsten, die manchmal bis an die
+Brustwarze nackt waren, welche Tüll verhüllte und betonte.
+Knisternde Jupons quälten unsere Sinne, und wenn zu einem
+etwas schwerfälligen Cancan die Röcke gerafft wurden und
+grelle Stimmen den Gassenhauer von der Pflaume am Baume
+sangen, erging es uns nicht gut. Verständigere fanden in den
+Sälen der Vorstädte etwas fürs Herz, in Südende und
+Halensee, wo brave Mädchen mit Grundsätzen und Beruf den
+sogenannten ‚Bruch‘ überwogen. Sie hatten rotgewaschne Hände
+und merkwürdige Veilchenparfums, die in dauerndem
+Widerstreit mit der Natur lagen.
+
+Das war die Zeit, in der für die Verschwenderischen unter
+uns in der Stadt das ‚Palais de Danse‘ blühte. Dort waren
+die Damen Babylon und Renaissance mit gewissen
+präraffaelitischen Einlagen und Spielarten. Manche von
+denen, die dazumal mit der Droschke oder dem Auto aus ihrer
+Zweizimmerwohnung im bayrischen Viertel einliefen, dem
+Portier das Geld für Kutscher oder Chauffeur distinguiert in
+die Hand drückten und sich auf die Stühlchen an der Bar
+setzten, haben Karriere gemacht. Bäckerstöchter sind
+Herzoginnen geworden. Eine soll es sogar bis zur Königlichen
+Hoheit gebracht haben, dafür aber in der Gesellschaft nicht
+in demselben Grade *‚reçue‘* sein wie die neuen Gräfinnen
+und Herzoginnen. Nun, heute ist dies Palais nicht
+wiederzuerkennen. Was sah ich, als ich vor kurzem einmal
+hineingeriet? Einige lebenslustige Leute aus Meseritz oder
+Merseburg waren mit Berliner Verwandten, bei denen sie zu
+Besuch waren, ‚ausgegangen‘, um hier die halbe Welt zu sehn,
+von der nur ein abnehmendes schüchternes Viertel
+auftauchte |ellipsis|
diff --git a/06-rundfahrt.rst b/06-rundfahrt.rst
new file mode 100644
index 0000000..aa9765a
--- /dev/null
+++ b/06-rundfahrt.rst
@@ -0,0 +1,2704 @@
+.. include:: global.rst
+
+RUNDFAHRT
+=========
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`U`\ nter den Linden nahe der Friedrichstraße
+halten hüben und drüben Riesenautos, vor denen livrierte
+Männer mit Goldbuchstaben auf ihren Mützen stehen und zur
+Rundfahrt einladen; drüben heißt ein Unternehmen ‚Elite‘,
+hüben ‚Käse‘. Bequemlichkeit oder natürliches
+Kleinbürgertum? — Ich wähle ‚Käse‘.
+
+Da sitze ich nun auf Lederpolster, umgeben von echten
+Fremden. Die andern sehen alle so sicher aus, sie werden die
+Sache schon von 11 bis 1 erledigen; die Familie von
+Bindestrich-Amerikanern rechts von mir spricht sogar schon
+von der Weiterfahrt heut abend nach Dresden. Mehrsprachig
+fragt der Führer neu hereingelockte Gäste, ob sie Deutsch
+verstehn und ob sie schwerhörig sind; das ist aber keine
+Beleidigung, sondern betrifft nur die Platzverteilung. Vorn
+hat man mehr Luft, hinten versteht man besser.
+
+Auf weißer Fahne vor mir steht in roter Schrift: *Sight
+seeing*. Welch eindringlicher Pleonasmus! — Mit einmal
+erhebt sich die ganze rechte Hälfte meiner Fahrtgenossen,
+und ich nebst allen andern Linken werde aufgefordert, sitzen
+zu bleiben und mein Gesicht dem Photographen preiszugeben,
+der dort auf dem Fahrdamm die Kappe vor der Linse lüftet und
+mich auf seinem Sammelbild nun endgültig zu einem Stückchen
+Fremdenverkehr macht. Fern aus der Tiefe streckt mir eine
+eingeborene Hand farbige Ansichtskarten herauf. Wie hoch wir
+thronen, wir Rundfahrer, wir Fremden! Der Jüngling vor mir,
+der wie ein Dentist aussieht, ersteht ein ganzes
+Album, erst zur Erinnerung, später vermutlich fürs
+Wartezimmer. Er vergleicht den Alten Fritz auf Glanzpapier
+mit dem ehernen wirklichen, an dem wir nun langsam entlang
+fahren. Er sitzt recht hoch zu Roß in unvergeßlicher
+Haltung, die Hand unterm weiten Mantel in die Seite gestemmt
+mit dem Krückstock, den berühmten Dreispitz etwas schief auf
+dem Kopf. Er schaut weit über uns weg auf Pilaster und
+Fenster der Universität, einst seines Bruders Schloß.
+Wohlwollend sieht er gerade nicht aus, soweit wir das von
+unten herauf beurteilen können. Wir sind fast in Augenhöhe
+mit der gedrängten Helden- und Zeitgenossenschar seines
+Sockels. Die hat’s etwas eng zwischen Reliefwand und
+Steinabhang. Zusammengehalten wird sie von den vier
+Reitersleuten an den Sockelecken, die keinen mehr
+herauflassen würden. Nun gleiten wir an der langen Front der
+Bibliothek entlang auf der Sonnenseite. Hinter Markisen
+eleganter Läden lockt Seidenes, Ledernes, Metallenes. Die
+Spitzengardinen vor Hiller erwecken ferne Erinnerungen an
+gute Stunden, an fast vergessenen Duft von Hummer und
+Chablis, an den alten Portier, der so diskret zu den
+*Cabinets particuliers* zu leiten wußte. Ich reiße mich los,
+— bin doch Fremder — um gleich wieder eingefangen zu sein.
+Reisebüros, Schaufensterrausch aus Weltkarten und Globen,
+Zauber der grünen Heftchen mit den roten Zetteln,
+verführerische Namen fremder Städte. Ach, all die seligen
+Abfahrten von Berlin! Wie herzlos hat man doch immer wieder
+die geliebte Stadt verlassen.
+
+Aber nun aufgepaßt. Wir biegen in die Wilhelmstraße ein.
+Unser Führer verkündet in seltsam amerikanisch klingendem
+Deutsch: Hier kommen wir in die Regierungsstraße
+Deutschlands. Still ist es hier, fast wie in einer
+Privatstraße. Und altertümlich einladend stehen vor der
+diskreten gelbgetünchten Fassade, hinter der Deutschlands
+Außenpolitik gemacht wird, zwei großscheibige Laternen. Was
+für ein sanftes Öllicht mag darin gebrannt haben zur Zeit,
+als sie zeitgenössisch waren? Eines dieser braunen
+Eingangstore, die mit geschnitztem Laubwerk geziert sind,
+führte einstmals in die Wohnung der gefeierten Tänzerin
+Barberina zu einer Zeit, als sie nicht mehr tanzte und eine
+Freiin Barbara von Cocceji geworden war. Und über ein
+Jahrhundert später von 1862 bis 1878 hat Bismarck hier
+gewohnt. Da war das kleine Arbeitszimmer mit den
+dunkelgrünen Fenstervorhängen und dem geblümten Teppich und
+daneben der Speisesaal, in dem die Emser Depesche verfaßt
+worden ist. Später zog er dann ins Palais Radziwill, wo auch
+heute noch der Reichskanzler wohnt, friedlich hinter einem
+Gartenhof wie ein paar Häuser vorher der Reichspräsident.
+Aber unser Führer erlaubt nicht in diesen Frieden zu
+versinken, er reißt den Blick zu dem mächtigen
+Gebäudekomplex gegenüber hin und ruft selbst verwundert:
+‚Alles Justiz!‘ — ‚Und hier,‘ fährt er fort, ‚vom Keller bis
+zum Dach mit Gold gefüllt, das Finanzministerium.‘ Das ist
+ein Witz, über den nur die richtigen Fremden lachen können.
+Ich tröste mich an der schönen Weite des Wilhelmplatzes, an
+des Kaiserhofs flatternden Fahnen, an dem grünen Gerank um
+die Pergolasparren des Untergrundbahneingangs und an General
+Zietens gebeugtem Husarenrücken.
+
+Ein Gewirr von Türmen, Buckeln, Zinnen und Drähten:
+‚Leipziger Straße, die größte Geschäftsstraße der
+Metropole!‘ Aber die durchkreuzen wir einstweilen nur. Wir
+fahren die Wilhelmstraße weiter vorbei an vielen
+Antiquitätenläden (Erinnerung taucht auf an die
+verbrecherisch schöne Inflationszeit. Weißt du noch,
+Wendelin, Herrn Krotoschiner damals in seinem Laden zwischen
+dem Pommerschen Schrank und dem Trentiner Tisch auf den
+Wappenstuhl starrend!), vorbei am Architektenhaus (ältere
+Erinnerung an strebsame Jugendzeit, da man nichts zu tun
+brauchte als zu lernen, und hier gab’s viel lehrreiche
+Vorträge in dem Saal, wo die Fresken von Prell auf uns
+herabschauten; besonders jener Pfahlbautenmensch ist mir
+unvergeßlich, der sich dort auf dem Wandbild den aus
+Vischers ‚Auch Einer‘ berühmten weltgeschichtlichen
+Schnupfen holte).
+
+Das Palais des Prinzen Heinrich, vor dem wir einen
+Augenblick halten, um durch die schöne Säulenhalle auf den
+alten Hof und die alten Fenster zu sehn, und seine
+schlichten mit dienender Tugend sich anschließenden Gebäude
+haben die hellbräunliche Farbe, die dem Dichter Laforgue an
+vielen Berliner Palais auffiel, als er in den achtziger
+Jahren des vorigen Jahrhunderts als Vorleser der Kaiserin in
+Berlin war, er nennt sie *couleur café au lait* und sie
+erscheint ihm als der vorherrschende Farbton der Kapitale.
+Für die Welt der Wilhelmstraße und viele Teile der älteren
+Stadt gilt das noch heut.
+
+An den altvertrauten Museen der Prinz Albrechtstraße hält
+unser eiliger Wagen nicht. Die meisten Insassen schauen
+hinüber in den großen Garten hinter dem Landtagsgebäude. Ich
+sehe in die Fenster, hinter denen die schönen
+Kostümbildermappen der herrlichen Lipperheideschen Sammlung
+in der Staatlichen Kunstbibliothek auf ruhevolle Betrachter
+warten. Am liebsten möchte ich aussteigen und zu den
+befreundeten Bildern gehen, aber heute habe ich
+Fremdenpflichten, darf auch in Gedanken nicht zu lange bei
+dieser Stätte des alten Kunstgewerbemuseums verweilen, die
+soviel Auswanderung erlebt hat. Der größte Teil der
+Sammlungen ist jetzt im Schloß. Und die Karnevalsfeste der
+Kunstgewerbeschüler, einst die schönsten von Berlin, finden
+jetzt, da die Kunstschulen nach Charlottenburg verlegt sind,
+im dortigen Hause statt, und als richtiger *Laudator temporis
+acti* finde ich natürlich, daß sie dort nicht so schön sein
+können, wie sie hier waren. Ach, selbst die kleinen Feste,
+die nach Verlegung der Kunstschule hier noch im Dachgeschoß
+sich abspielten, sind unvergeßlich. Wir gleiten an der
+bauchigen Hochrenaissance des Völkerkundemuseums vorbei.
+Auch dies wird nur beim Namen genannt und nichts gesagt von
+Turfan und Gandhara, von Inka und Maori. Vielmehr verkündet
+unser Sprecher schon von weitem: ‚Vaterland, Café Vaterland,
+das größte Café der Hauptstadt!‘ Die Fremden stieren auf die
+große Prunkkuppel des Baues, und die, welche bereits
+abendliche Berliner Erfahrungen haben, raten den andern,
+dieses Monsteretablissement mit all seinen Abteilungen, dies
+kulinarische Völkermuseum von Kempinski und seine Panoramen
+in nächtlicher Bestrahlung zu besichtigen.
+
+Ja, das sollen sie. Was helfen ihnen unsre alten Paläste und
+Museen? Sie wollen doch das Monsterdeutschland. Also nur da
+hinein heute abend, meine Herrschaften, in das alte
+Piccadilly, jetzt Haus Vaterland! Da wird euch
+Vaterländisches und Ausländisches vorgesetzt. Hat Sie der
+Fahrstuhl aus dem prächtigen Vestibül hinaufgetragen, so
+können Sie bei dem üblichen Rebensaft von der Rheinterrasse
+bequem ins Panorama blicken, wo Ihnen über Rebenhügeln,
+Strom und Ruine ein Gewittersturm erster Klasse vorgeführt
+wird. Heitert sich der Himmel wieder auf, so tanzen Ihnen
+rheinische Girls unter Rebenreifen eins vor und samtjackige
+Scholaren singen dazu. Das müssen Sie gesehen haben. Von da
+taumeln Sie, bitte, in die Bodega, wo Ihnen merkwürdige
+Mannsleute mit bunten Binden um Kopf und Bauch was Feuriges
+bringen, um Sie in eine spanische Taverne zu versetzen. Die
+beiden schüchternen Spanierinnen aus der Ackerstraße dort in
+der Ecke werden durch Tanzvorführungen Ihre Stimmung
+erhöhen. Beim Betreten der Wildwestbar werden Sie laut
+Programm die ganze Romantik der amerikanischen Prärie
+empfinden. Kaufen Sie sich auf alle Fälle ein Programm! Da
+wissen Sie gleich, wie Ihnen zumute zu sein hat. Was tut im
+Grinzinger Heurigen das liebliche Wien? Es liegt in der
+Abenddämmerung vor den Augen des Beschauers. Wozu laden vor
+der sonnendurchglühten Puszta ungarische Weine ein? Zum
+Verweilen. Was empfängt uns im Türkischen Café?
+Märchenzauber aus Tausendundeiner Nacht. Versäumen Sie
+nicht, dort auf den Taburetts zu sitzen an Tischen mit echt
+arabischen Schriftzeichen darauf, und den stärksten aller
+berlinisch-türkischen Mocca double zu
+trinken. In der Glaswand, die das Bosporuspanorama abtrennt,
+können Sie Ihren Nachbarn, den Herrn mit der papiernen
+Zigarrenspitze, so gespiegelt sehn, als säße er an dem Tisch
+mit der Wasserpfeife, der schon zum Vordergrund des Bildes
+gehört.
+
+Aber nun bekommen Sie Bierdurst und finden in das Münchner
+Löwenbräu, das laut Programm ‚lebensfreudig eingerichtet‘
+ist. Die aufwartenden Madeln, die Ihnen zuliebe noch
+bayrischer als bayrisch reden, tragen Strohhüte mit Federn,
+blaue Jacken, geraffte, gestreifte Röcke und jodeln
+bisweilen ermunternd mit, wenn die Musik es nahelegt. Die
+wird von den Herren Buam in Hosenträgern gemacht. Auf ihre
+Hosenbeine ist bauchabwärts bayrisches Kunstgewerbe
+tätowiert. Da ist ja auch das künstlerisch ausgeführte
+Glasfenster mit Ausblick auf die ‚wildromantische Szenerie
+des Eibsees‘. Und schon geht’s los mit der Attraktion. Der
+Saal verdunkelt sich. Am Eibseehotel gehn die Lichter an.
+Auch Alpenglühn wird von der Direktion, die keine Kosten
+scheut, geboten. Sobald der Saal hell wird, beginnt ein
+Trio, Bua, Madl und Depp, ganz wie auf der weiland
+Oktoberwiesenausstellung am Kaiserdamm. Dabei zerschlagen
+die beiden Nebenbuhler, einer auf des andern Kopf, richtige
+Tonnen. Ja, ja, die Direktion scheut keine Kosten. Wollen
+Sie noch in den großen Ballsaal, der sich ‚dem Glanz der
+schönsten Säle der Welt würdig an die Seite stellen‘ kann,
+wollen Sie ‚Tanzgelegenheit auf schwingendem Parkett‘, so
+müssen Sie drei Mark extra zahlen, die werden Ihnen aber auf
+Speisen und Getränke angerechnet. Dafür sehen Sie in einen
+buntgeschliffnen Spiegelhimmel; Palmenschäfte tragen als Säulen
+den Saal. Und ‚deutsche Girls‘ streifen, wenn sie zum
+Auftreten eilen, mit ihren Gazeschleiern dicht an Ihnen
+vorüber. Es tanzt für Sie ein badehosiger starker Jüngling
+mit einer Dame, die außer der Badehose nur noch eine Art
+Büstenhalter trägt, tanzt mit ihr, wirbelt sie, während sie
+nur mit Knöchelschleife um seinen Hals hängt, hantelt mit
+ihr. Die deutschen Girls aber rutschen als Ruderballett auf
+dem Boden hin und singen von unserer Zeit, der Zeit des
+Sports.
+
+Nun haben Sie wohl ein bißchen Linderung von soviel
+Darbietungen. Da, wo überlebensgroß am Fenster der Teddybär
+steht, den die vorüberstreifenden Mädchen umarmen, gehn Sie
+auf den offnen Balkon und sehn in heller Nacht schön
+altberlinisch, gelblichbraun, mild nüchtern den Potsdamer
+Bahnhof, denselben, auf den jetzt am Tage unser Sprecher
+zeigt.
+
+Über die Freitreppe zur Station gehen Ausflügler in hellen
+Röcken und Waschkleidern. Die Glücklichen, es ist ein so
+schöner Herbsttag. Manche gehn auch den schmalen Durchgang
+hinüber zu dem kleinen Wannseebahnhof. Ich möchte ihnen am
+liebsten nachlaufen. Ein Segelboot oder auch nur ein
+Paddelboot. Oder nichts als ein Gang durch einen der
+Potsdamer Parke. Potsdam und die Havelseen, die heimliche
+Seele, das irdische Jenseits von Berlin! Noch dazu heut, an
+einem Wochentag. Aber nun kommen wir auf den Potsdamer
+Platz. Von dem ist vor allem zu sagen, daß er kein Platz
+ist, sondern das, was man in Paris einen *Carrefour* nennt,
+eine Wegkreuzung, ein Straßenkreuz, wir haben kein rechtes
+Wort dafür. Daß hier einmal ein Stadttor und Berlin zu Ende
+war und die Landstraßen abzweigten, man müßte schon einen
+topographisch sehr geschulten Blick haben, um das an der
+Form des Straßenkreuzes zu erkennen. Der Verkehr ist hier
+offiziell so gewaltig auf ziemlich beengtem Raum, daß man
+sich häufig wundert, wie sanft und bequem es zugeht.
+Beruhigend wirken auch die vielen bunten Blütenkörbe der
+Blumenfrauen. Und in der Mitte steht der berühmte
+Verkehrsturm und wacht über dem Spiel der Straßen wie ein
+Schiedsrichterstuhl beim Tennis. Seltsam verschlafen und
+leer sehn jetzt am hellen Mittag die riesigen Buchstaben und
+Bilder der Reklamen an Hauswänden und Dächern aus, sie
+warten auf die Nacht, um zu erwachen. Scharf und glatt,
+jüngstes Berlin, zieht das umgebaute Haus, das die
+altberühmte Konditorei Telschow birgt, seine gläsernen
+Linien. Das Josty-Eck bleibt noch eine Weile alte Zeit. Aber
+an der andern Seite der Bellevuestraße wächst — einstweilen
+noch hinter hoher plakatbedeckter Wand — etwas ganz Neues
+herauf, ein Warenhaus mit einem Pariser Namen. Ob es so
+schön werden wird, wie da drüben hinterm Laub des Leipziger
+Platzes Messels Meisterwerk, das Haus Wertheim? Die
+Bellevuestraße, in die wir schnell einen Blick werfen
+dürfen, wird immer mehr eine *‚Rue de la Boëtie‘* von
+Berlin. Kunstladen gesellt sich zu Kunstladen. Und davon
+werden auch die Schaufenster der Modegeschäfte immer
+erlesener, immer mehr Stilleben. Und das kommt sogar den
+großen und kleinen Privatautos zugute, die in der Bucht der
+Auffahrt vor dem Hotel Esplanade warten. Ihre Karosserien,
+immer besser werdende Kombinationen von Hülle und Hütte,
+haben wunderbare Mantelfarben.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Grünes Licht am Verkehrsturm. Wir umkreisen den Potsdamer
+und fahren an den weißen Säulen der beiden Tortempelchen
+vorbei den Leipziger Platz entlang. Rechts und links von dem
+erzenen General Brandenburg, der, wie der Berliner Volkswitz
+behauptet, mit seinem Visavis, dem General Wrangel, über das
+Wetter spricht (‚Was für Wetter ist heut‘, fragt Wrangel und
+streckt die Hand mit dem Feldmarschallstab etwas vor. ‚So
+hoher Dreck‘, erwidert Brandenburg mit flachgehaltener
+Rechten), neben diesem Kriegsmann stehn wieder in langer
+Reihe die Blumenfrauen. Vor uns der Seiteneingang und die
+stolzsteigenden schmalen Pfeiler und Metallzierate des
+Warenhauses Wertheim. Von den neuen strahlenden Stoffen
+seiner hohen Schaufenster wandert der Blick hinüber zu den
+zartbunten und weißen Schüsseln, Tellern und Schalen aus
+Altberliner Porzellan drüben im Hause der staatlichen, einst
+königlichen Manufaktur.
+
+Recht leer und wie zu vermieten sieht das lange Herrenhaus
+aus, es soll zurzeit in Ermangelung von Herren ein bißchen
+Staatsrat und Volkswohlfahrt darin untergebracht sein. Auch
+das benachbarte Kriegsministerium ist ziemlich ehemalig.
+Selbst die meisten Reichswehrangelegenheiten werden anderswo
+erledigt. Wie Spielzeug von weiland Fürstenkindern, in deren
+Schlössern und Gärten man ja auch die
+kleinen Spielkanonen sehen kann, stehn überm Portal ein paar
+steinern winzige Soldaten in altertümlicher Uniform. Überm
+Postministerium, das uns der Cicerone an der nächsten Ecke
+zeigt, schleppen sich einige Giganten oder Atlanten mit
+einer mächtigen steinernen Weltkugel, die ihnen hoffentlich
+nicht verkehrstörend auf die Straße fallen wird. Solcher
+Weltkugeln gibt es mehrere in Berlin, sie gehören mit zu den
+Schrecken der letzten Jahre des vergangenen Jahrhunderts,
+die jetzt an vielen Privatgebäuden in großartiger
+Aufräumearbeit weggeputzt werden. Ich kenne persönlich eine
+in der größten Geschäftsstraße von Schöneberg, die auf hohem
+Eckhause über buckelndem Zwiebelgetürm schräg als
+Glasveranda liegt. Diese und eine nicht minder stattliche im
+bayrischen Viertel sind aus Glas. Und da sie nicht einmal
+von zuverlässigen Giganten gestützt werden, wie hier die
+über dem Postministerium, fürchte ich immer, daß sie noch
+einmal herunterkugeln, und hoffe, sie werden beim nächsten
+Großreinemachen beseitigt. Man könnte sie ja dann in ein zu
+gründendes Museum der neowilhelminischen Architektur und
+Plastik unterbringen, wohin sich vieles, was jetzt an
+öffentlichem und Privatprunk störend herumsteht, entfernen
+ließe. Das beste an diesem gewaltigen Eckhaus ist drinnen
+eine Sammlung alter Verkehrsmittel; da gibt es Postkutschen
+und erste Eisenbahnen *en miniature*, vor allem aber eine
+Menge alter Briefmarken und Stempel, ein Erinnerungsfest für
+jeden, der als Kind Thurn und Taxis und Alte Preußen, den
+Kolibri von Guatemala und den Schwan von Australien
+‚getauscht‘ hat,
+
+Zur Rechten und zur Linken rundet sich an dieser Ecke die
+Mauerstraße, angenehme Unterbrechung in dieser Welt der
+rechten Winkel. Ihre Kreislinie bezeichnet die Strecke einer
+alten Stadtmauer, und der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm
+I., der die ganze Friedrichstadt mit hübsch in Reih und
+Glied stehenden Häusern hat bebauen lassen, soll seinen
+Verdruß an den unvermeidlichen Rundungen der alten Straße
+gehabt haben. Eh wir noch eine der beiden gleichfalls
+rundlichen Kuppelkirchen deutlicher gesehen haben, zur
+Rechten die Bethlehemskirche, zur Linken Schleiermachers
+Wirkensstätte, die Dreifaltigkeitskirche, fährt unser Wagen
+schon weiter. Und statt auf alte Kirchmauern haben wir auf
+Pelz, Leinen, Seide und Stahl der prächtigen Auslagen zu
+schauen. Bevor aber die gewaltigen nackten Steinmädchen über
+dem Portal uns in das riesige Warenhaus Tietz locken können,
+biegen wir in der Richtung auf den Gendarmenmarkt ein. Schon
+von weitem haben die beiden patinierten Kirchenkuppeln und
+das grüne Flügelpferdchen auf dem Dach des Schauspielhauses
+gegen den lichten staubblauen Himmel geleuchtet. Nun halten
+wir. Ich starre auf ‚Bühneneingang‘. Ihr andern, ihr
+richtigen Fremden, habt hier nie als Schüler gewartet, um
+die hehre Darstellerin der Jungfrau von Orleans herauskommen
+zu sehn. Ihr bekommt die beiden Kirchen mit den berühmten
+Gontardschen Kuppeltürmen, die Friedrich der Große anbauen
+ließ, gezeigt und eingeprägt, daß die eine der deutsche, die
+andre der französische Dom ist. Die beiden Türme sind
+erheblich stattlicher als die zugehörigen älteren Kirchen,
+die sich schüchtern neben ihnen ducken. Dafür ist das
+Schauspielhaus, das Schinkel auf den stehengebliebenen Mauern nach dem
+großen Brande, welcher das frühere Nationaltheater der
+Ifflandzeit zerstörte, errichtet hat, eine wunderbare
+Einheit. Die schöne Freitreppe zu der stolzen Vorhalle mit
+den schlanken ionischen Säulen! Hinaufgegangen ist man sie
+zwar nie. Für die einfachen Besucher gab’s da unten unterm
+Durchgang den Zuweg. Die Freitreppe war am Ende für den
+Hofstaat reserviert, zur Zeit, als dies noch ein königliches
+Theater war. Der Begas-Schiller steht etwas unglücklich vor
+dem Ganzen. Er wäre hier wohl lieber ein braver
+moosansetzender Brunnentriton geworden als so in der Toga
+und mit mehreren prätentiösen Damen am Sockel, welche Lyrik,
+Drama, Geschichte und Philosophie vertreten, immer geradeaus
+repräsentieren zu müssen.
+
+Die Fremden werden auf die Preußische Staatsbank, die alte
+‚Königliche Seehandlung‘, aufmerksam gemacht, indessen
+schiele ich hinüber nach der berühmten Weinstube, in der
+Ludwig Devrient mit E. Th. A. Hoffmann gezecht hat. Der
+wohnte hier an diesem Platze zur Zeit, als noch lauter
+Immediatbauten den Gendarmenmarkt umgaben. Und ‚Des Vetters
+Eckfenster‘ muß man sich auch hierhin denken und ihn dazu,
+wie er in seinem Warschauer Schlafrock und die große Pfeife
+in der Hand den munteren berlinischen Markt übersah.
+
+Wir biegen um eine Ecke und sind wieder auf einem dieser
+merkwürdig schrägeckigen Plätze, die in alter Zeit Bastionen
+der Stadtmauer waren. Er heißt Hausvogteiplatz und früher
+war in der Nähe ein garstiges Haus, das in den vierziger und
+fünfziger Jahren politische Gefangene vergitterte. Jetzt ist
+ein fleißiges Geschäftsviertel rings umher. Altertümlich ist
+hier nur noch der Grundriß, hier beginnt die Gegend der
+verschiedenen Wallstraßen und das Gelände des alten
+Friedrichwerders, dieses dritten Berlin neben dem, das
+jenseits beider Flußarme liegt, und dem näheren Cölln an der
+Spree. Hier könnten wir rechtshin fahren, erst an den
+Engelchen vorbei, die in den Fensterkreuzen des Hospitals
+der Grauen Schwestern von der heiligen Elisabeth beten, und
+weiter in die Alte Leipzigerstraße und die wunderlichen
+Winkel bei Raules Hof. Statt dessen lenkt unser Gefährt auf
+breiterem Damme gen Norden, vorbei an dem rötlichen
+Mauerwerk der Reichsbank, einem Werke Hitzigs, des Erbauers
+der Börse, der für das reicher werdende Berlin der sechziger
+und siebziger Jahre eine Art gediegener Renaissance für
+Handel und Industrie schuf, die den bescheidenen
+Klassizismus der letzten Schinkel-Schüler ablöste, immer
+noch besser war als das, was hinterdrein kam, aber doch den
+Weg ins Wilhelminische Spiel mit alten Stilen vorbereitet
+hat. Noch recht unschuldig ist dagegen die sogenannte
+‚modifizierte Gotik‘, in welcher Schinkel Ende der zwanziger
+Jahre die Friedrich Werdersche Kirche am Werderschen Markt,
+unserm nächsten Ziel, erbaut hat. Das ist ein brav
+altpreußisches Werk, hat den braunen Backsteinton, wie ihn
+in unserer guten Stadt eine ganze Reihe Kirchen und Bahnhöfe
+haben, mehr pflichtgetreu als fromm aussehend, mehr an ‚Treu
+und Redlichkeit‘ als an Mystik gemahnend. Ein strenger
+Erzengel tötet überm Portal einen unbefugten Drachen und
+schaut dabei nicht träumerisch ins Weite wie seine älteren
+Vettern aus Holz, Stein und Farbe, sondern
+zielend auf sein Opfer. Ob ihm dabei wohl manchmal die
+eleganten Verkäuferinnen und Besucherinnen des großen
+Modehauses gegenüber zuschauen? Ob sie es sympathisch
+finden, daß er so beschäftigt ist mit seiner Mission oder es
+lieber hätten, er träumte ein wenig ins Ungewisse, und
+herüber?
+
+Über die Schleusenbrücke und den Schloßplatz. Denen, die die
+Hälse nach dem stolzen Bau recken, verspricht der Führer,
+daß wir nachher wieder hierher kommen, doch jetzt erst eine
+kleine Tour durch Alt-Berlin machen wollen. Die muß leider
+etwas eilig ausfallen, denn wir haben noch so viel zu
+absolvieren. Ich aber rate dir, lieber Fremdling und
+Rundfahrtnachbar, wenn du noch einmal in diese Gegend kommst
+und Zeit hast, dich hier ein wenig zu verirren. Hier gibt es
+noch richtige Gassen, noch Häuserchen, die sich
+aneinanderdrängen und mit ihren Giebeln vorlugen, gar nicht
+weiter berühmt außer bei ein paar Kennern und auch nicht so
+leer oder nur so am Rande besiedelt, wie es die richtig
+sehenswürdigen Häuser sind. Nein, sie sind dicht bewohnt
+von ahnungslosen Leuten, die durch die weit offne Haustür
+eine steile Treppe mit breitem Holzgeländer herunter kommen
+oder hinter Blumenkästen und Vogelbauern aus schöngerahmten
+Fenstern schauen. Sieh, da zur Rechten zweigt so ein Gäßchen
+ab, Spreegasse heißt es und ist Raabes Sperlingsgasse, und
+da steht auch das Haus, in dem der Dichter gewohnt hat, und
+gleich daneben weiß ich eins mit reizenden Steingirlanden
+über den Fenstern und wunderbar altgrünem Holz an Tür und
+Torfassung. Die Brüderstraße, durch die
+wir fahren, hat noch Schwung, und ihre Häuser, ob alt, ob
+neu, stehn in bewegter Kurve. Dort in das unscheinbare mußt
+du gehn. Das ist eine wichtige Berliner Stätte. Dem
+berühmten und berüchtigten Friedrich Nicolai hat es gehört.
+Die schöne Barocktreppe, die du innen sehn wirst, hat ein
+früherer Bewohner, ein Kriegskommissär, bauen lassen. Eine
+Zeitlang hat es der ‚patriotische Kaufmann‘ Gotzkowsky
+besessen, der, als er noch reich war, Berlin im
+Siebenjährigen Krieg vor Plünderung durch die Russen rettete
+und später die Porzellanmanufaktur an Friedrich den Großen
+verkaufte. Dies Haus hier kam dann, als er ruiniert war, mit
+all seinem Besitz unter den Hammer und ist noch von mehreren
+andern bewohnt worden, bis es der Buchhändler Nicolai
+erwarb. Da wurde es zum gesellschaftlichen Mittelpunkt von
+Berlin. Davon spürst du vielleicht etwas, wenn du in den
+großen Saal mit den Wandspiegeln und Paneelen kommst. In den
+kleineren Räumen aber, die jetzt ein Lessing-Museum bergen,
+haben ein paar entzückende Kinder gespielt und gelernt,
+worüber zu lesen in den unvergleichlichen Tagebüchern der
+Lily Partey, die des alten Nicolai Enkelin war. Viele
+bedeutende und manche kuriose Berliner der
+geistig-geselligen Zeit im Anfang des neunzehnten
+Jahrhunderts gingen in diesen Räumen ein und aus und waren
+zur Sommerszeit in der Gartenwohnung der Parteys zu Besuch,
+die in der Blumenstraße lag, draußen bei der Contrescarpe,
+dem späteren Alexanderplatz.
+
+Petrus ist der Patron der Fischer und nach ihm heißt die
+Kirche, um die wir jetzt herumfahren. Sie steht an der
+Stelle des Heiligtums der Fischer von Alt-Cölln. Einem andern
+heiligen Wesen, an dem das Herz der Cöllner und Berliner
+hing, ist dort auf der Brücke, über die der Weg zum
+Spittelmarkt führt, ein Denkmal, allerdings erst in neuerer
+Zeit, errichtet. Das ist Sankt Gertraudt, die Äbtissin, die
+Spitäler und Herbergen für Reisende gegründet hat. Der
+Spittelmarkt hat seinen Namen von dem Gertraudtenhospital,
+als dessen letzter Rest noch bis in die achtziger Jahre die
+kleine Spittelkirche stand, mitten auf einem idyllischen
+Marktplatz, aus dem mit der Zeit einer der
+verkehrsreichsten, von hohen Geschäftshäusern umgebenen
+Plätze der Stadt geworden ist. Vor der Heiligen auf der
+Brücke kniet ein fahrender Schüler, dem sie einen Trunk
+reicht. Sieht sie nicht, daß er eine gestohlene Gans an
+einer Leine mit sich führt, oder übersieht sie es gnädig?
+Als Freundin der Wanderer ist sie auch den Seelen der
+Verstorbenen auf ihrer Wanderschaft hold. Die verwandeln
+sich nach einer Volkssage in Mäuse und kommen in der ersten
+Nacht nach dem Tode zu Sankt Gertraudt, in der zweiten zum
+heiligen Michael und erst in der dritten in ihr
+Dauerjenseits. Daher die Mäuseschar am Sockel des Denkmals.
+Sankt Getraudt hat in der Hand einen Spinnrocken. Sie ist
+der Frau Holle und der heidnischen Gottheit, aus der die
+Frau Holle wurde, verwandt und beschützt den Flachsbau und
+die Spinnerinnen. Die Frühlingsblumen aber, die als Spende
+zu ihren Füßen liegen, bedeuten Dankgaben der Landleute,
+deren Flur und Feld die Gebieterin der Mäuse vor den Tieren,
+die unter ihrem Zauber stehen, schützt. Es ist gerade kein
+großes Meisterwerk, das Denkmal, das hier so ausführlich
+beschrieben wird, aber es passiert soviel darauf, daß man
+davon berichten kann wie Pausanias von dem heiligen
+Steinwerk Griechenlands.
+
+Die Gertraudtenstraße führt uns zum Cöllnischen Fischmarkt,
+der einstmals der Hauptplatz von Cölln an der Spree war.
+Hier stand bis vor dreißig Jahren das Cöllner Ratshaus. Aber
+ein putzigeres Gebäude aus älterer Zeit ist schon seit
+Jahrhunderten verschwunden. Das Narrenhäuslein meine ich, in
+das man in alten Tagen die Betrunkenen brachte, damit sie
+ihren Rausch ausschlafen konnten. Wenn das Narrenhäuslein
+nicht mehr steht, so gibt es doch nicht weit von hier ein
+uraltes Haus, in dem es auch recht närrisch zugehen kann.
+Das ist am Ende der Fischerstraße, die an alten Gassen
+vorbei vom Fischmarkt zu der Friedrichsgracht führt, das
+Gasthaus zum Nußbaum. Man behauptet, es sei Berlins ältestes
+Haus und es sollen hier schon die Landsknechte mit
+berlinisch-cöllnischen Dirnen gezecht haben. Es hat einen
+hohen mittelalterlichen Giebel. Wer es richtig kennen lernen
+will, der muß spät abends hingehen. Da ist eine seltsam
+gemischte Gästeschar versammelt. Seidenbluse und Schürze
+sieht man nebeneinander am selben Tisch und Fischer- und
+Fuhrmannskittel neben Bratenröcken. An der Wand hängen unter
+alten Gastwirtsdiplomen echte Zille-Bilder, vom Meister
+selbst geschenkt. Hier habe ich zum ersten Male die
+neuerdings veränderte Loreley singen hören mit den
+schmetternden Strophenanhängseln:
+
+ | ‚Sie kämmt sich mit dem Kamme,
+ | Sie wäscht sich mit dem Schwamme‘
+
+und die Bekanntschaft von Ludeken gemacht, die sich selbst
+‚eine Alte von Zille‘ nennt, zu allem, was sie sagt, den
+Finger geheimnisvoll an den Mund legt und, wenn sie munter
+wird, abwechselnd ihre Papiere und ihre weiße Unterwäsche
+zeigt. Sie bekommt von aller Welt zu trinken, gießt aber
+doch noch heimlich in ihrer Ecke die Neigen einiger Gläser
+zusammen. Tanzen tut sie auch manchmal mit Kavalieren oder
+allein, und das ist ein erbaulicher Anblick. Nur wenn ihr
+‚Chef‘ kommt, hockt sie sich brav in ihre Ecke. Der Chef ist
+einer, dessen Pferde Ludeken in aller Morgenfrühe betreuen
+und füttern muß; und dazu nüchtern zu sein, ist nicht
+leicht.
+
+Unser Wagen rollt über den Mühlendamm, das ist die Brücke,
+die Cölln und Berlin verband, als es noch ihrer zwei waren,
+verband und trennte. Denn auf dieser Stelle haben sich die
+Bürger der Nachbarstädte des öftern die Köpfe blutig
+geschlagen. Am Brückenrand stehen zwei bronzene Markgrafen:
+Albrecht der Bär und Waldemar. Sie sind einem nicht gerade
+im Wege, aber sie brauchten nicht unbedingt hier zu stehen,
+sie haben ja schon ihren Standort in unserer kompletten
+Siegesallee. Hübsch muß, nach den alten Bildern zu
+schließen, dieser Mühlendamm gewesen sein, als noch
+Bogenhallen und Trödlerläden hier waren. Und die Mühlen
+selbst waren gewiß auch erfreulicher anzusehen, als es das
+städtische Dammühlengebäude ist, diese falsche Burg aus den
+neunziger Jahren, in der jetzt eine städtische Sparkasse
+untergebracht ist. Wenn sich das große Bauprojekt für das
+Berliner Wasserstraßennetz verwirklichen und die
+Mühlendammschleuse umgebaut
+werden wird, um den Ansprüchen größerer Schiffe zu genügen,
+wird unter anderm auch dies Gebäude fallen, und dann gibt es
+schöne Aufgaben für unsere Stadtbaumeister und Architekten.
+
+Wir halten auf dem Molkenmarkt. Da fällt uns ein schönes
+Haus aus friderizianischer Zeit auf, das Palais Ephraim, das
+des großen Königs berüchtigter ‚Münzjude‘ erbauen ließ, der
+Verfertiger der minderwertigen Friedrichdors, der
+sogenannten ‚Grünjacken‘, von denen man reimte:
+
+ | Von außen schön, von innen schlimm,
+ | Von außen Friederich, von innen Ephraim.
+
+Innen kann man das schöne Haus nicht besehen, da sitzen
+Behörden. Außen bildet es als Eckhaus mit seinen auf
+toskanischen Säulen ruhenden Balkonen, den korinthischen
+Wandpfeilern, den zierlichen Putten überm Gitterwerk ein
+wunderbares Halbrund. Um den Molkenmarkt herum lag die
+älteste Ansiedlung auf der berlinischen Seite der Spree, und
+hier finden wir auch die einzige ganz erhaltene
+mittelalterliche Gasse, den oft beschriebenen und oft
+abgebildeten Krögel, der so berühmt ist, daß unser Wagen vor
+seiner Einfahrt hält und die Insassen aussteigen und den
+schmalen Gassengang nach dem Wasser zu gehn. Ursprünglich
+soll hier ein schon in alter Zeit zugeschütteter Kanal oder
+Spreearm gewesen sein, der dem Verkehr vom Markte und
+Packhof zum Flusse diente. Ein Torweg führt in den inneren
+Hof der Gasse. Hier war im Mittelalter das einzige Badehaus
+von Berlin. Da bedienten den Badenden die Töchter der Stadt,
+von denen man sagte, daß sie ‚an der Unehre saßen‘. Sie
+hatten eine Art Berufstracht, kurze Mäntel, und mußten ihr
+Haar kurzgeschoren tragen. Es war also wohl sehr
+beleidigend, als anno 1364 der Geheimschreiber des
+Erzbischofs von Magdeburg, ein leichtfertiger Lebemann, eine
+ehrsame Bürgerstochter aufforderte, ihn nach dem Krögel zu
+begleiten, und die Wut der Bürger ist zu verstehn, die zum
+Hohen Haus zogen, wo des Bischofs Gefolge zu Gaste war, den
+Frevler von der Tafel wegrissen und auf dem Markte zu Tode
+prügelten. Zu besondern Gelegenheiten sind aber auch ehrsame
+Frauen in den Krögel gekommen. Es war Sitte, daß man die
+Brautfeierlichkeiten mit einem Bad und Frühstück beim Bader
+begann. Dann kam ein bunter, munterer Zug die alte Gasse
+herauf, voran die Musiker und der Spaßmacher. Sehr
+zartfühlend werden die Scherze nicht gewesen sein, die sich
+die Braut gefallen lassen mußte. An eine spätere Zeit
+erinnert die alte Sonnenuhr, die noch heute an einer Mauer
+zu sehn ist. Sie zeigte die Stunde den Hofleuten fremder
+Fürstlichkeiten, die hier einquartiert wurden, wenn ihre
+Gebieter beim Kurfürsten zu Gaste waren. Heut sind in den
+überhängenden Stockwerken und hinter den kleinen Fenstern
+der Erdgeschosse Werkstätten und kleine Wohnungen. Und einer
+der Anwohner dieses Restes Mittelalter besitzt ein Museum
+mit Waffen, Stichen und altem Hausrat. Zur Sommerzeit hallt
+manchmal der lustige Lärm vom neuesten Freibad herüber, das
+nach der Waisenbrücke zu und Neucölln am Wasser gegenüber
+liegt. Da hat sich aus dem Schutt der Umbauten für die
+Untergrundbahn, deren Tunnel hier aus der Spree taucht, eine
+Art Strand gebildet. Den hat sich
+junges Volk zunutze gemacht und das Freibad Paddensprung
+eröffnet. Sonst aber ist es recht still im Krögel, und wenn
+abends auch noch die Arbeitsgeräusche der Werkstätten
+verstummen, kann im späten Licht mit Fachwerk und Giebel
+hier ganz altes Berlin erstehn.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Vom lebhaften Molkenmarkt führt rund eine Gasse auf den
+stillen Platz, auf dem die älteste Kirche der Stadt steht,
+sie ist dem Schutzpatron der Reisenden und Kaufleute, Sankt
+Nikolaus, geweiht gewesen. Von ihrer älteren Mauer ist noch
+ein massiver Turmunterbau aus Granitquadern erhalten, alles
+andre verbrannte bei einem der vielen Brände, die Berlin
+verheert haben, im Jahre 1380. Die späteren Teile, Chor und
+Langschiff, sind viel umgebaut worden. Hier mußt du einmal
+wochentags mittags eintreten an Tagen, an denen die Orgel zu
+stiller Andacht spielt. Unter ihrer Masse erkennt man im
+Dämmerlicht die Umrisse eines Erbbegräbnisses, das von
+Schlüters Meißel stammt. Je länger man hinschaut, um so
+deutlicher tritt die Rundung der Vasen und barocker
+Faltenwurf hervor. Die gotische Halle hat viel große und
+kleine Kapellen mit Denkmälern aller großen Kunstepochen und
+heiligt das Gedächtnis mancher Männer, die weit über den
+Stadtbereich hinaus berühmt geworden sind. Da gibt es
+Porträts von Militärs, Pröpsten, Gelehrten, Ratsherren und
+ihren Ehegattinen. Viel bärtige Häupter in Fältelkragen und
+Allongeperücke, gekrönt von allegorischen Frauenhänden mit
+Lorbeer oder von Putten mit Sternenkronen. Auf Urnen
+rahmt Akanthus alte Wappen. Ein kleiner Amor weint über
+Stundenglas und sinkender Fackel. Unter geflügelten
+Totenköpfen erscheint auf dunklem Grund ein Bildnis,
+umringelt von der Schlange der Ewigkeit.
+
+Die Nikolaikirche ist wie die Marien- und die Klosterkirche
+protestantisch geworden, aber sie hat wie jene noch etwas
+von der alten Pracht behalten. Schade, daß es nicht mehr
+nach Weihrauch riecht in ihren Hallen. Interessant zu
+wissen, daß hier der Ablaßkrämer Tetzel gepredigt hat,
+umlagert von dem damaligen *Tout-Berlin*, das ihn mit
+Würdenträgern, Zünften, schwarzen und weißen Mönchen vom
+Stadttore abgeholt hatte.
+
+Der stille Platz, der die Kirche umgibt — diese Trauminsel
+mitten im Lärm der Großstadt — war und hieß früher
+Nikolaikirchhof und das paßte zu den vielen Grabmälern im
+Innern der Kirche und außen an der Kirchenwand. An diesem
+Platz stehen noch ein paar sehr alte Häuschen, und wenn man
+in eines geht, sieht man auf winzig kleine Höfe. In die
+Wohnungen führen steile Stiegen, manche der Häuser haben
+keine selbständige Giebelmauer, sondern sind ans Nachbarhaus
+‚angebacken‘; und eins, das sich rühmt, Berlins kleinstes
+Haus zu sein, hat zwar einen Privatmittagstisch, aber keine
+Hausnummer, und man kann es nur vom Nachbarhaus her
+betreten. Von solchen Häusern können wir bei einer Wanderung
+durch die Altstadt noch hie und da einige sehn. Sie sind oft
+nur drei Fenster breit. Die Haustür hat zwei Flügel, der
+eine öffnet sich direkt vor der Wohnung im Erdgeschoß, der
+andre stößt auf die schmale Treppe, die an der Türschwelle
+beginnt und ins obere Stockwerk steigt.
+
+Wir fahren zurück zum Mühlendamm, dann die Straße ‚An der
+Fischerbrücke‘ entlang und kommen über die Inselbrücke nach
+Neukölln am Wasser. Hier und gegenüber auf der
+Friedrichsgracht gibt es wieder einige alte Häuser, teils
+mit spitzen Satteldächern, teils mit den hübschen
+Mansardendächern der Barockzeit, mit Girlanden unter den
+Fenstern und Pilastern, die die Hausfront schön gliedern.
+Unser Wagen fährt zu eilig, um das alles anzusehn, wir
+müssen es auf eine Fußwanderung durch die Straßen und die
+nahen Gassen am Fluß verschieben. Da werden sich neben dem
+Malerischen auch einige Kuriosa finden, wie die Riesenrippe
+an einem Eckhaus des Molkenmarkts oder an einem Hause in der
+Wallstraße das Relief eines Mannes, der eine Tür auf dem
+Rücken trägt. Er wird nach der biblischen Sage vom Tore zu
+Gaza der Simson genannt. Nach einer Überlieferung soll diese
+Gestalt an die Zeit erinnern, da hier das Köpenicker Tor
+stand, dessen Haspen seinerzeit in diesem Hause aufbewahrt
+worden seien. Witziger aber ist die Deutung, die von einem
+armen Schuster zu erzählen weiß, der hier mit seiner
+kinderreichen Familie kümmerlich lebte. Als nun Friedrich
+der Große mit seinem Lotteriedirektor Casalbigi, den wir aus
+Casanovas Memoiren kennen, eine große Lotterie aufmachte,
+die ihm viel Geld eintrug und seine Bürger viel Geld
+kostete, soll dieser Schuster ein Los gekauft und, da er
+fürchtete, seine Kinder könnten es in der engen
+Schusterstube beim Spielen verbringen, mit Pech an die
+Stubentür geklebt haben. Gerade
+dieser Arme hatte Glück und zog das große Los. Um nun seinen
+Schein vorzuweisen, blieb ihm nichts übrig, als die Tür aus
+den Angeln zu heben und auf den Rücken zu laden. So wanderte
+er zur Verwunderung seiner Mitbürger zum Lotteriegebäude.
+Und nachdem er sein Geld bekommen, ließ er aus Dankbarkeit
+das Bildnis an seinem Hause anbringen. Solcher an Altertümer
+anknüpfender Geschichten gibt es auch in unserer nicht
+gerade sagenreichen Stadt einige. Die bekannteste ist die
+oft erzählte vom Neidkopf in der Poststraße, den der
+Soldatenkönig und gute Hausvater Friedrich Wilhelm I.
+anbringen ließ, eines fleißigen Goldschmieds neidisches
+Gegenüber zu bestrafen.
+
+Jetzt wollen wir im Vorbeifahren wenigstens auf die Brücken
+einen Blick werfen, Waisenbrücke, Inselbrücke und die schöne
+Roßstraßenbrücke, welche der Stadtbaurat Ludwig Hoffmann,
+dem Berlin so viel verdankt, gebaut hat. Nirgends ist die
+Spree so sehr wie in dieser Gegend ein Teil der
+Stadtlandschaft geworden und geblieben. Hoffmann und seine
+Mitarbeiter haben es verstanden, was neu zu bauen war, dem
+alten anzupassen ohne in Historismus und Abhängigkeit zu
+verfallen wie die ‚romanischen‘ Baumeister Wilhelms II. An
+einem der Meisterwerke dieses Künstlerkreises kommen wir
+jetzt vorbei, dem Märkischen Museum. Cöllnischer Park heißt
+der Garten, an dem dies stolze Bauwerk sich erhebt, und im
+Grünen lagern Säulenstücke und stehen brüchige Engel,
+zwischen denen man umherspazieren, spielenden Kindern
+zusehen oder die eine Front der Museumsburg anschauen kann.
+Um den dicken eckigen Turm sind in Backstein allerlei
+märkische Stilperioden,
+wie sie in reicher bedachten Städten, Tangermünde,
+Brandenburg usw., vertreten sind, vereinigt. Und diese
+Vielgliedrigkeit paßt gut zu dem Museumscharakter des
+Ganzen. Im Innern läßt sich reichlich Heimatskunde treiben,
+von ältester Zeit bis in Theodor Fontanes Tage. Hier kann
+man Hosemanns Kleinbürgerstadt kennen lernen, Berliner
+Zimmer aus der Biedermeierzeit sehn, eine Putzstube wie die,
+von der Felix Eberty erzählt; man könnte allerdings aus
+Berliner Privatbesitz noch viel mehr Biedermeier sammeln,
+all den rührenden Kleinkram an Etuis und Bestecks,
+Spieldosenhäuschen aus Zitronenholz, Stammbuchbildern, das
+viele herbstliche Goldgelb der Möbel aus flammender Birke
+und das Mahagoni der Schränke. Ja, ich könnte mir ein ganzes
+Museum Berliner Inneneinrichtung denken, wo als Kuriosum
+auch das späte neunzehnte Jahrhundert mit Plüsch und Nippes,
+verdunkelnden Butzenscheiben, Gipsengeln und Reisealben zu
+sehen wäre. Eine sehr reizvolle Abteilung des Märkischen
+Museums ist auch die Flora- und Faunasammlung: schöne
+Schachtelhalm- und Weidenarten, Rohr, Farren und Getreide
+und die Schnecken und die wunderbaren Ornamente der
+Wespennester.
+
+Vor dem Museum steht ein Roland, der dem Roland von
+Brandenburg nachgebildet ist. Seinen eignen Roland hat
+Berlin schon früh verloren. Er soll als Sinnbild der
+städtischen Selbständigkeit auf dem Molkenmarkt oder da in
+der Nähe gestanden haben. Und Friedrich II. der Kurfürst,
+der der Stadt ihre Macht raubte und den Bären ihres Wappens
+unter den Adler des seinen zwang, soll ihn haben fortnehmen
+und in seine Zwingburg bringen lassen. Da man aber nie ein
+Stück von diesem Roland auffand, entstand die Sage, der
+Kurfürst habe ihn in die Spree geworfen. Nun neuerdings hat
+Berlin wieder Rolande, den am Kemperplatz, welcher den
+träumerisch grünen sogenannten Wrangelbrunnen unserer
+Kindheit und seine freundlichen Meergötter verdrängt hat.
+Und den, der als eine Art Brunnenbübchen vor dem einen der
+unglücklichen romanischen Häuser an der Kaiser
+Wilhelm-Gedächtniskirche steht. Der wird aber, wie wir
+hören, demnächst dem überhandnehmenden Verkehr aus dem Wege
+geschafft werden.
+
+Wir fahren über die Waisenbrücke zurück und sehen zur
+Rechten, da, wo die alte Jannowitzbrücke abgebrochen wird,
+ein wunderbares Schauspiel aus Ruinen und Neubauwelt.
+Zwischen Kranen und Kähnen, Schuttbergen und Baggermaschinen
+schwimmt der Trümmerrest der alten Brücke, ein ‚Ponte rotto‘
+mitten in der Spree. Auch an dem Stadtbahnbogen da oben wird
+gearbeitet und sein aufgebrochenes Mauerwerk ist ein von
+Erinnerungen angeräuchertes Stück Tempel des Dampfes, dieser
+schon altertümlich gewordenen Lokomotion.
+
+Die Stralauerstraße führt uns an dem mächtigen Stadthaus
+entlang, das Ludwig Hoffmann gebaut hat. Wir blicken hinauf
+zu dem hohen Turm mit seinen zwei Säulengeschossen und der
+‚welschen Haube‘, die ihn deckt. Wir biegen in die
+Jüdenstraße ein und sehen an dem Eingang zur Festhalle des
+Stadthauses den bronzenen Bären von Wrba, der hier als
+wackeres Totemtier des Berliner Volkes Wache steht. Der gute
+Bär von Berlin, er muß durch irgend eine immerhin
+begreifliche Volksetymologie zu seiner Stadttierwürde
+gekommen sein. Denn das Wort Berlin hat nichts mit Bär zu
+tun, sagen die Gelehrten, vielmehr bedeutet es hier wie an
+mehreren andern Orten, wo Plätze so heißen, auf wendisch das
+Wehr. Und solch ein Wehr oder Wasserrechen verband in der
+wendischen Vorzeit das rechte und das linke Spreeufer, so
+daß schon vor den Zeiten des Mühlendamms eine Gemeinschaft
+zwischen den späteren Orten Berlin und Cölln bestand. Aber
+nun ist der Bär einmal unser Stadttier geworden und der von
+Wrba ist besonders sympathisch. Jetzt schaut der spitze
+grüne Turm der Parochialkirche auf uns nieder, in dem ein
+schönes Glockenspiel Sonntag und Mittwoch mittags erklingt.
+
+In der benachbarten Parochialstraße stehn ein paar uralte
+Häuschen, die bald abgerissen werden sollen. Sie sind so
+baufällig, daß die Baupolizei den Aufenthalt von Menschen
+darin nicht länger dulden kann. Man weiß aber oft gar nicht
+recht, wer da wohnt, und so werden denn die unbekannten
+Einwohner durch Anschläge aufgefordert, die Stätte zu
+räumen. Eins heißt bei den Nachbarn das Spukhaus, dessen
+‚Schwarzmieter‘ lassen sich tags überhaupt nicht sehn. Da
+sind die Fenster und Türen zum Teil schon herausgenommen.
+Ein andres ist die provisorische Stätte einer sehr
+merkwürdigen Ausstellung. Da hat ein Friedensfreund sein
+‚Antikriegsmuseum‘ aufgemacht. Als Blumentöpfe hat er vor
+dem Laden Helme aufgehängt, wie man sie im Schützengraben
+trug. In der Auslage gibt es vielversprechende Sprüche und
+Bilder. Stufen führen hinunter in einen kellerähnlichen
+Raum, der hinterwärts an ein schon im Abbruch begriffenes Stück
+Haus stößt. Ein Todesgrinsen liegt auf den Photographien
+gräßlich Verwundeter, den Waffenteilen, Geschoßstücken, den
+Mobilmachungsbefehlen und Aufforderungen zu goldnes
+Zeitalter verheißenden Kriegsanleihen. Helmchen und
+Säbelchen für die lieben Kinder zu Weihnachten, Kissen, auf
+denen gestickt zu lesen ist ‚Unserm tapfern Krieger‘,
+Erkennungsmarken, Auslandskarikaturen auf die Großen der
+großen Zeit, Seifenkarten, Brennholzscheine, ‚deutscher‘ Tee
+neben Bleisoldaten und Tassen mit der Inschrift ‚Gott strafe
+England‘. Eine lehrreiche Sammlung, die hoffentlich eine
+würdige Stätte finden wird, wenn hier alles abgerissen ist.
+
+Ein paar Schritte weiter die Jüdenstraße hinauf öffnet sich
+zwischen den Häusern ein Durchgang zum sogenannten Großen
+Jüdenhof — wie schon das Beiwort andeutet, hat es außer ihm
+ehedem noch einen kleinen nicht weit von hier gegeben, der
+inzwischen einer Straßenverbreiterung zum Opfer gefallen
+ist. Der große aber ist noch ganz vorhanden und umgibt mit
+einem Dutzend Häuser einen stillen hofartigen Platz. Vor dem
+stattlichsten der Häuser, in das eine Freitreppe mit
+Eisengitter führt, steht ein alter Akazienbaum. Unter diesem
+Baum ‚vor dem Haus mit der Treppe‘ sollen die Juden, als sie
+wieder einmal vertrieben wurden, ihr Gold vergraben haben —
+sie wußten gewiß, der Markgraf oder Kurfürst, der sie
+fortjagte, werde bald wieder seine ‚Kammerknechte‘, so
+nannte man sie, nicht entbehren können. Das war in der Zeit,
+als sie hier hinter Eisentoren hausten, die des Nachts
+verschlossen und bewacht wurden. Auf der Straße
+durften sie sich nur in ihrer Zwangsuniform, Kaftanen von
+bestimmten Farben und spitzen Hüten, zeigen. Festen Wohnsitz
+durften sie nicht erwerben, auch nicht während der Märkte
+und Messen Handel treiben, und sie mußten hohe Schutzgelder
+zahlen. Offenbar wird es ihnen hier doch gefallen haben,
+denn aus jeder Verbannung sind sie, sobald sie konnten,
+wieder hierher zurückgekehrt, haben Reichtümer erworben,
+sich verdächtigen und foltern lassen. In ausführlichen
+Darstellungen und Bildern ist die Geschichte jenes Lippold
+erhalten, der an des Kurfürsten Hof in hohem Ansehen stand,
+aber von dem Sohn und Nachfolger seines Gönners schwer
+beschuldigt und zu qualvollem Sterben verurteilt wurde. Der
+Henker im hellgrauen Hut mit der roten Binde mußte ihn auf
+dem Armesünderkarren von Stätte zu Stätte führen, wo der
+Karren an einer Ecke hielt, gräßlich martern und endlich auf
+dem Markte vierteilen. Die Gassenbuben liefen hinterdrein
+von Ecke zu Ecke, es war ein Fest für sie zuzusehen, wie der
+Henker dem Verurteilten den Staupbesen gab. Als dann
+humanere Zeiten kamen, bezogen die Juden Quartiere außerhalb
+des alten Ghettos, das nun ganz zum Idyll mitten in der
+lärmenden Stadt geworden ist.
+
+Etwas Ghettoähnliches gibt es noch heut an andrer Stelle,
+übrigens auch nur noch für kurze Zeit, denn das
+Scheunenviertel mit seinen vielen Gassen zwischen
+Alexanderplatz und Bülowplatz, das dieses Wahlghetto birgt,
+ist im Begriff, vom Erdboden zu verschwinden. Man muß sich
+beeilen, wenn man das Leben in den Straßen mit den
+merkwürdig militärischen, garnicht ans Alttestamentarische
+erinnernden Namen wie Dragoner- und Grenadierstraße, noch kennen lernen
+will. Schon erheben sich die neuen Häuserblöcke und
+überragen die Reste, die langsam Ruine werden. Aber eine
+Zeitlang gehen noch die Männer mit den altertümlichen Bärten
+und Schläfenlocken in langsamen, die schwarzhaarigen
+Fleischertöchter in munteren Gruppen den Damm ihrer Straße
+auf und nieder und reden Jiddisch. An Läden und
+Stehbierhallen sind hebräische Inschriften. Noch sind diese
+Straßen eine Welt für sich und den ewigen Fremden eine Art
+Heimat, bis sie, die vor noch nicht langer Zeit von einem
+Schub aus dem Osten hergetragen worden sind, sich soweit in
+Berlin akklimatisiert haben, daß es sie verlockt, tiefer in
+den Westen vorzudringen und die allzu deutlichen Zeichen
+ihrer Eigenart abzutun. Es ist oft schade darum, sie sind
+eigentlich so, wie sie im Scheunenviertel herumgehen,
+schöner als nachher in der Konfektion und an der Börse.
+
+Böse Zungen haben die schmale Privatstraße, die von der
+Potsdamer an alten Gärten entlang führt und zur Lützowstraße
+umbiegt, das neue Ghetto genannt. Dieses Scherzes sind die,
+welche hinter dem Gitter des Durchgangs wohnen, wohl kaum
+würdig, man wird da keinen Kaftan und keine Schläfenlocke
+finden.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Rasch fährt unser Wagen durch die Klosterstraße. Er hält
+nicht vor den Wandelgängen des alten Gymnasiums zum Grauen
+Kloster, dem ältesten Berlins. Es ist aus dem Kloster
+der Franziskaner oder Grauen Brüder hervorgegangen und
+enthält in seinen Mauern noch Konvent- und Kapitelsaal. Im
+Hofraum erhebt sich die Klosterkirche. Sie ist von dem
+großen Brande des Jahres 1380 bis auf den Turm unversehrt
+geblieben, und ihre Mauern bergen das meiste Mittelalter von
+allen Berliner Kirchen. Im dämmerigen Chor wird der Besucher
+die fünfzig Gestühle der Mönche bewundern, sie sind aus
+Eichenholz, mit reichem gewundenen Schnitzwerk geziert. Über
+ihnen sind in der Wandbekleidung geschnitzte Sinnbilder,
+merkwürdige Allegorien der Passionsgeschichte, ein Zählbrett
+mit Silberlingen, das den Verrat des Judas, zwei
+aneinandergeschmiegte Köpfe, die seinen Kuß bedeuten, Fackel
+und Laterne gemahnen an die nächtliche Verhaftung im Garten
+Gethsemane, Ketten an Jesu Fesseln, Schwert und Ohr an Petri
+Hieb nach dem Knecht der Hohenpriester.
+
+Als das Gymnasium gegründet wurde, bekam es nur die Hälfte
+der Klostergebäude, die andre, und zwar die nach dem
+sogenannten Lagerhause zu, bekam Leonhard Thurneysser, der
+Tausendkünstler aus Basel. Er hatte hier und in dem
+Lagerhause selbst seine Buchdruckerei, Schriftgießerei,
+Werkstätten für Holzschnitt und Kupferstich, er machte
+Goldtinkturen und Perlenelixiere, Amethyst- und
+Bernsteinessenzen, ja auch Schönheitswässer für die Damen
+der hohen Gesellschaft, die ihn jede einzeln in Dankbriefen
+baten, er solle doch ja keiner andern den gleichen
+Zaubersaft zukommen lassen. Man erzählte sich von ihm, daß
+er Satan in Gestalt eines Skorpions in einem Glase gefangen
+halte und daß täglich drei schwarze Mönche mit ihm speisten,
+die gewiß Abgesandte der Hölle seien.
+
+Das Lagerhaus war hervorgegangen aus dem Hohen Hause, der
+alten Markgrafenresidenz, die der erste Zollernkurfürst
+bezog und seine Nachfolger erst verließen, als ihre
+Zwingburg zu Cölln an der Spree vollendet war. Da wurde dann
+das Lagerhaus wie alles in dieser Gegend Burglehen. Was in
+diesen Burglehen hauste, war abgabenfrei, aber zum
+Schloßschutz verpflichtet. Aus den Burglehen sind die
+späteren Freyhäuser geworden, deren noch eine Reihe an den
+Inschriften überm Hauseingang kenntlich sind. Die Geschichte
+des Hohen und späteren Lagerhauses ist interessant: hier
+wurde von Friedrich II. der Schwanenorden gestiftet. Bei der
+Aufteilung kam es an einen Ritter von Wardenfels und nach
+ihm an eine Reihe Adliger und Geistlicher. Im siebzehnten
+Jahrhundert wurde es eine Zeitlang Privatbesitz, im
+achtzehnten Ritterakademie. Dann gab es Friedrich Wilhelm I.
+dem Staatsminister Johannes Andreas Kraut als Lagerhaus für
+Wollwaren. Der König, der für sein Militär kein
+ausländisches Tuch kaufen wollte, begünstigte sehr die
+Fabrik seines Getreuen. Sie ist erst im Anfang des 19.
+Jahrhunderts eingegangen. Die Räume wurden staatliche
+Dienstlokale. Eine Zeitlang war das Geheime Königliche
+Staatsarchiv darin. Jetzt steht an den Erdgeschoßfenstern
+des immer noch stattlichen Hauses ‚Zu vermieten‘.
+
+An dem mächtigen Gebäude des Land- und Amtgerichts entlang
+kommen wir zu den Stadtbahnbögen und dem Alexanderplatz, auf
+dem es zurzeit recht unordentlich aussieht,
+weil hier ein ganzes Stadtviertel eingerissen und umgebaut
+wird. Die Heimlichkeiten der Umgebung dieses Platzes zu
+erforschen, ist hier vom Fremdenwagen aus keine Zeit. Das
+muß einem Spaziergang nach dem Osten vorbehalten bleiben.
+Ein Stück Neue Friedrich- und ein Stück Kaiser Wilhelmstraße
+fahren wir bis zum Neuen Markt. Zu Fuß wären wir dahin die
+schmale Kalandsgasse gegangen und hätten uns der etwas
+rätselhaften Kalandsbrüder erinnert, von denen sie ihren
+Namen hat und deren Kalandshof hier im Schatten von Sankt
+Marien stand. Die alte Elendsgilde dieser Gesellen, deren
+Name rätselhaft bleibt (die Deutung nach calendae wird
+angezweifelt), verwandelte sich mit der Zeit aus einer nach
+gestrengen, in manchem an Templersitten gemahnenden Gesetzen
+lebenden Bruderschaft der ‚elenden Priester der Propstei‘ in
+eine recht wüste Rotte, deren Lebensweise bewirkte, daß man
+hierzulande unter ‚Kalandern‘ eine besonders wüste Art
+Müßiggang verstand.
+
+Auf dem Neuen Markt steht vor der Marienkirche ein großes
+Lutherdenkmal. Da ist der Reformator mit obligater Bibel
+nebst seinem ganzen Stabe zu sehen. Die Mitstreiter bewohnen
+sitzend und stehend den breiten Sockel des großen
+Steinwerks, und zwei sitzen sogar noch auf den
+Treppenwangen.
+
+In alter Zeit hat hier ein Galgen gestanden für Soldaten,
+die zu einem schimpflichen Tode verurteilt waren. Als er
+errichtet wurde, war gerade Peter der Große von Rußland bei
+König Friedrich Wilhelm I. zu Besuch. Der Zar interessierte
+sich sehr für das neue Hinrichtungsinstrument und bat den
+König, an einem seiner langen Kerle den Apparat
+auszuprobieren. Als der König sich entrüstet weigerte, sagte
+Peter: ‚Nun, dann können wir’s mit einem aus meinem Gefolge
+versuchen.‘ Hoffentlich haben die Monarchen von diesem
+Versuch Abstand genommen. Es ist immerhin besser, daß jetzt
+da kein Galgen, sondern nur ein Denkmal steht. Am besten
+aber stünde gar nichts oder nur die bunten Buden eines
+Marktes wie in früheren Zeiten. Die Marienkirche hat breite
+Steinquadern, Granit der Findlingsblöcke, aus der Zeit,
+bevor man in der Mark mit Backstein baute.
+
+Diese Kirche, mein lieber Fremder, mußt du dir innen
+anschauen, wenn du irgend Zeit hast. Da ist eine wunderbare
+Kanzel von Schlüter. Und das Ergreifendste an dieser Kanzel
+sind zwei große Engel, welche die Ekstase von den tastenden
+Zehen bis zu den emporgedrehten Hälsen bewegt. Im Flaum
+ihrer mächtigen Marmorflügel zittert Verzückung. In den
+Kapellen schöne Grabmonumente: hinter schmiedeeisernem
+Gitter das reichverzierte Grabmal eines Patrizierehepaars.
+Zwischen derben Engeln ein wackrer Reitersmann mit dem
+würdigen Vorbauch der Wallensteinzeit, halbleibs über einem
+Totenkopf betend. Eine süß lagernde Barockputte zeigt auf
+das Reliefbildnis einer Verstorbenen. Im Chor das große
+Grabmal des Grafen Sparr, der ein Wohltäter der Kirche war;
+ein Antwerpner Künstler soll das geschaffen haben. Der
+Feldmarschall kniet mit den bepanzerten Beinen in
+säulenumgebener Kapelle vor seinem Betpult auf einem
+Marmorkissen. Unterm Pult aber legt ein Hündchen die Pfote
+über die Leiste und schaut zu seinem Herrn hinauf. Das hat
+ihm einmal, als er auf Feldwacht war, des Feindes Ankunft
+durch Bellen verraten, darum ist es hier zu Füßen seines
+Herrn begraben. Hinter dem Grafen steht ein schöner Page und
+hält den federngeschmückten Helm seines Herrn. An Sparrs
+Türkensiege erinnern die Gestalten von Mars und Minerva, die
+da oben von rechts und links her sein Wappen halten. Zu
+ihren Füßen hocken je zwei mit Fesseln an Kanonenrohre
+geschmiedete Sarazenen. Hier wie in Sankt Nikolai und in der
+Klosterkirche sah sich der Adel und die Patrizierschaft von
+den Grabmälern der Ahnen umgeben, und sie sind eine Welt für
+sich: die aufrecht stehenden Grabsteine an den Wänden, die
+abgetretenen Sandsteinplatten, auf denen die Wappen mit den
+reichen Helmen dem Hinschauenden langsam deutlicher werden,
+die Holztafeln mit Bildern der Stifter, umgeben von steinern
+rankender Allegorie. Zu all diesem Grabgestein in der Kirche
+und an ihren Außenmauern muß man nun noch die Gräber des
+Volkes hinzudenken, die vor der Kirche auf Plätzen waren,
+über welche Herden weideten und die auch zur Bleiche oder
+als Seilerbahn dienten. Mehr und mehr sind diese Friedhöfe
+von den Kirchen abgewandert. Nur ganz wenige sind noch bei
+ihrem Gotteshaus wie der alte Parochialfriedhof. Schon unter
+Friedrich Wilhelm I. fing man an, die Begräbnisplätze der
+Gemeinden vor die Tore der Stadt zu verlegen.
+
+In der Marienkirche findet sich noch etwas, wovon ich
+sprechen muß, und zwar in der Turmhalle. Da läuft ein über
+zwanzig Meter langes Fresko die Kirchenwand hin, das man
+erst vor einem halben Jahrhundert unter der Tünche
+entdeckt hat, mit der es bilderfeindliche Zeiten verbargen.
+Vor blauem Himmel und grünem Anger bewegen sich zwischen den
+tanzführenden Toden geistliche und weltliche Gestalten.
+Neben der Kanzel des braunbekutteten Franziskaners, zu
+dessen Füßen teuflische Fratzenungeheuer den Tanz lauernd
+und musizierend verfolgen, beginnt den Reigen der Küster im
+Chorhemd, von einem Tode angefaßt, der seine Linke dem
+nächsten Geistlichen reicht, den verbindet der grausige
+Nachbar mit dem grauen Augustiner, den wieder einer mit dem
+Kirchherrn in rotem Gewand, und so geht es weiter über den
+Kartäuser, den Doktor — den zählte das Mittelalter auch zu
+der Geistlichkeit und ließ ihn mit frommem Schauer die
+Flüssigkeit in seinem Glase beschauen —, den zierlichen
+Domherrn, den feisten Abt, den prunkenden Bischof, den roten
+Hut des Kardinals bis zu des Papstes dreifacher Tiara.
+Hinter dem Papste bildet die Wand eine Ecke, und da ist der
+Tanz durch das Bildnis des Gekreuzigten unterbrochen, zu dem
+die Mutter und der Lieblingsjünger betende Hände erheben.
+Dann kommen die Weltlichen. Zunächst wird hier der Kaiser
+mit Zepter und Krone und blau-golden gekleidet vom Tode zur
+Kaiserin hingetanzt, die ihr Schleppgewand rafft. Sehr jung
+in seinen hellen Tuchschuhen ist der König. Im Harnisch muß
+der Ritter, in pelzverbrämter Schaube der Bürgermeister sich
+zum Tanze bequemen und sich’s gefallen lassen, daß, nur eine
+Todesbreite von ihm entfernt, der Wucherer, nicht minder
+vornehm und verbrämt angetan, denselben Reigen tritt. Der
+Junker in Joppe und prallem Beinkleid, der Handwerksmann im
+Kittel und ein
+armer stolpernder Bauer folgen. Den Abschluß aber macht im
+Schellenkleid der Narr. Der immer selbe und immer
+verschiedene Tod, der bald schreitend, schleifend, bald mit
+erhobenem Fuße hüpfend die Menschenkinder zum Reigen
+vereint, ist nicht eigentlich als Gerippe dargestellt wie
+auf den meisten Totentänzen, sein magerer Leib ist nur
+umrissen, nicht Skelett, auf den spitzigen Knochen seines
+Gesichtes wechseln in reicher Variation die Grimassen
+starren und belebteren Hohnes. Um die Schultern hängt ihm
+als Mantel, der seinen Leib frei läßt, das weiße Grabtuch.
+Und einmal in der Gestalt, die nach dem Heiligen Vater
+greift, ist er ganz nackt.
+
+Es ist das älteste Stück Berliner Malerei, was wir hier im
+Kirchendämmer wandentlang wandern sehen. Und in altem
+Niederdeutsch stehen, zum Teil erloschen, bittere Reime
+darunter, die von der Unabwendbarkeit des Reigens reden. Der
+ist ja nicht so berühmt wie die Totentänze von Lübeck,
+Straßburg, Basel usw., aber er hat ergreifende Realität und
+berlinische Helle und Kühle. Die Menschen, für die dieses
+Bild gemalt wurde, haben übrigens das große Sterben und
+die Lebenslust mit einem wirklich getanzten Reigen gefeiert,
+der Totentanz hieß. Der kam nach einem der großen Pestjahre
+auf, in einer Zeit, in der, wie immer nach der furchtbaren
+Seuche (und oft schon, während sie wütete, ihr zum Trotz),
+die Freude am Dasein besonders stark war. Bei diesem Tanze
+traten jung und alt unter Jubel und Gelächter zu einem
+Reigen zusammen. Plötzlich hörte die muntere Musik mit einer
+schrillen Dissonanz auf, eine leise düstere Melodie
+hob langsam an und ging in einen Trauermarsch über, wie er
+bei Begräbnissen gespielt wurde. Währenddessen legte sich
+ein junger Mann auf den Boden und blieb dort regungslos
+ausgestreckt wie ein Toter. Die Frauen und Mädchen tanzten
+um ihn herum gaben ihrer Trauer in komischer, höhnischer
+Weise Ausdruck und sangen lustig ein Trauerlied dazu, dem
+allgemeines Lachen Echo machte. Dann traten sie eine nach
+der andern an den Toten heran und suchten ihn durch Küsse
+ins Leben zu rufen. Eine Ronde der ganzen Gesellschaft
+beschloß den ersten Teil der grotesken Zeremonie. Beim
+zweiten Teil tanzten Männer und Jünglinge um eine, die die
+Tote spielte. Ging es dann ans Küssen, war des Jubels kein
+Ende.
+
+Wir kreuzen die Spandauerstraße. Eh wir südlich wenden, ein
+Blick auf die Heiligegeistkapelle. Sie ist erhalten
+geblieben, indem man ein neues Haus, die Handelshochschule,
+ihr anbaute und sie diesem Hause so einfügte, daß sich in
+ihrem tief herabreichenden Ziegeldach mit den
+Mansardenfenstern das Dach der Hochschule fortsetzt. Innen
+ist sie jetzt Vortragssaal. Zu dem gotischen Sterngewölbe
+steigen Belehrungen über Bilanz, Buchführung und Bankwesen
+empor. Im Mittelalter lag sie am Armenhospital zum Heiligen
+Geist. Viel Efeu rankt um die spitzbogigen Fenster.
+
+Wir kommen an der Hauptpost vorbei und zum Ratshaus, dem
+‚Roten Hause‘ aus Ziegelstein und Terrakotta. Den hohen Turm
+mit den schmalen Säulen an den durchbrochenen Eckvorsprüngen
+haben wir auf unserer Fahrt schon ein paarmal über alle
+Dächer ragen sehn und er wird uns noch ein ganzes
+Stück nachschauen. Von dem alten Ratshause, an dessen Stelle
+dies Gebäude in den sechziger Jahren des vorigen
+Jahrhunderts errichtet worden ist, gibt es in dem Park des
+Schlosses Babelsberg bei Potsdam noch einen Rest zu sehn,
+die Gerichtslaube mit ihrem allegorischen Zierat, dem Affen
+der Wollust, dem Adler des Raubes und Mordes, dem
+Wildschwein der Verkommenheit und einem seltsamen Vogel mit
+Menschengesicht und Eselsohren, dem blutsaugenden Vampir der
+Habsucht und des Wuchers.
+
+Nun fahren wir die Königstraße bis zur Spree und erreichen
+die ‚Lange Brücke,‘ die jetzt Kurfürstenbrücke heißt. Da
+läßt unser Führer halten, um uns das berühmte Denkmal des
+Großen Kurfürsten zu erklären. Während unten am Sockel die
+Sklaven grollend sich ducken, einer die gefesselten Hände zu
+dem stolzen Überwinder hebt, der Führer von Schlüters
+Entwurf und von Johann Jacobis Erzguß berichtet, denke ich
+an die Volkssage, nach welcher der da oben in seinem
+Imperatorenmantel auf seinem ehern schreitenden Roß in der
+Neujahrsnacht Schlag zwölf mit einem Geistersprung das hohe
+Postament verläßt und durch seine gute Stadt reitet, zu
+sehen, was aus ihr geworden ist. Vor ihm auf dem Sattel
+sitzt dann das Kind von Fehrbellin, welches er selbst aus
+dem brennenden Hause gerettet hat, in dem die Schweden alle
+andern Lebendigen erschlagen hatten, und das sein
+schützender Engel wurde. Schlag ein Uhr kehrt er auf seinen
+Sockel zurück. Unter diesem Sockel aber ruht ein reicher
+Schatz. Diesen Hort darf nur der Preußenfürst heben und der
+auch nur, wenn er in großer Not ist.
+
+Der Führer zeigt uns von hier teils rekapitulierend, teils
+ankündigend Ausblicke auf das Dammühlengebäude, das Rathaus
+und die ältesten Teile des Schlosses, den grünen Hut und die
+Schloßapotheke, erzählt uns dabei von der kleinen Zwingburg
+des zweiten Zollernkurfürsten und dem Renaissanceschloß, das
+Kaspar Theyss für Joachim II. erbaute. Das hören ein paar
+Straßenjungen mit an. Denen kommen wir armen Fremden recht
+lächerlich vor. Sie machen des Führers erklärende Gebärden
+nach und rufen ‚Det da drüben is Wasser und die ins Auto
+sind Zoologscher Jarten‘.
+
+Wir dulden still, bis der Wagen weiterfährt, um vor dem
+Neptunsbrunnen und den herrlichen Säulen und Pilastern an
+der Südfassade des schönen Schlüterbaues wieder zu halten.
+
+Etwas zu lange verweilt unser Führer bei dem Brunnen, an
+dessen Rand es immerhin eine gut lagernde Nixe mit einem
+Fischnetz im Schoße gibt, und dem ehemaligen königlichen
+Marstall drüben, von dem nur zu sagen ist, daß er stattliche
+Breiten- und Höhenmaße aufweist und jetzt eine städtische
+Bibliothek mit vielen interessanten Büchern über Berlin
+enthält. Ich bleibe während seiner Erläuterungen mit den
+Augen auf Schlüters Pilastern, Fensterfassungen und den
+Statuen über dem Gitter des Balkons. Auf diesem Balkon mußte
+am 19. März 1848 König Friedrich Wilhelm IV. erscheinen, um
+die Bürgerleichen zu sehen, die von der Breiten Straße nach
+dem Schloß angefahren wurden. Die Volksmenge sang und schrie
+und alles hatte den Kopf entblößt, nur der König hatte die
+Mütze auf, da hieß es gebieterisch ‚Die Mütze herunter!‘
+und er nahm sie ab. Die Leichen wurden durchs Schloß nach
+dem Dom gefahren. Auf dem innern Schloßhof machte der Zug
+halt und dort mußte wiederum der König auf der Galerie
+erscheinen, vieles anhören und das Haupt entblößen.
+
+Wir fahren um die Ecke und halten vor dem Eosanderportal.
+Hier zwingt der Erklärer unsere Blicke, statt sie auf diesem
+barock gesteigerten Severusbogen von Berlin zu lassen,
+hinüber zu den Steinfalten, Allegorien, trophäenraffenden
+Löwen und Umbauten des Begasschen Nationaldenkmals für
+Kaiser Wilhelm I., dem da oben eine Balletteuse sein
+Zirkuspferd gängelt, und er behauptet, das Portal und
+darüber die Kuppel der Kapelle komme erst recht zur Geltung,
+seit das Nationaldenkmal die alten Gebäude der
+Schloßfreiheit verdrängt habe.
+
+Da kann man andrer Meinung sein und sich nach dem bescheiden
+gedrängten Holz- und Mauerwerk zurücksehnen, wie man es auf
+alten Stichen sieht. Es hat gewiß das Königsschloß
+gesteigert wie in alten Städten Marktbude und angelehnte
+Häuschenschar die Kathedrale, von der sie überschattet und
+gehegt wurden in den Tagen, als echte Pracht gut inmitten
+echter Armut wohnte.
+
+Unter dem Portal ist der Eingang in das Schloßmuseum. Im
+Erdgeschoß und einem Teil des ersten Obergeschosses ist seit
+einigen Jahren Kunstgewerbe untergebracht. Es ist ja noch
+nicht lange her, da wohnten hier die Letzten von der
+Familie, der man dies Schloß gebaut hat. Wir haben sie noch
+herausfahren sehn aus den Portalen und auf dem Balkon
+stehen, von dem aus sie zu dem Volk sprechen konnten. Nun
+sind alle Räume des Riesenbaus Museum geworden. Außer den
+richtig zu Museenzwecken eingerichteten Räumen kann man nun
+auch die andern, die Königskammern und Repräsentationsräume
+und sogar die historischen Wohnräume jederzeit besichtigen.
+Meistens ist leider ein Führer dabei. Es wird einem nicht
+leicht gemacht, Schlösser anzusehn. In manchen, wie dem
+reizenden Gartenschlößchen Monbijou, welches das
+Hohenzollernmuseum birgt, kann man ungestört herumgehn und
+Krückstöcke, Uhren, Porzellan und Prunktabaksdosen des alten
+Fritzen, die Zimmer seiner Mutter, das chinesische Kabinett,
+die kuriosen Wachsbilder der Fürsten und Fürstinnen usw. in
+aller Ruhe betrachten. Aber so gut hat man es sonst in
+Berlin, Charlottenburg und Potsdam selten. Meist wird man
+geführt, und was der Führer erzählt, steht besser,
+prägnanter und wissender im Baedeker. Und was das Schlimmste
+ist, das Tempo der Betrachtung hängt ganz von ihm und seiner
+Herde ab. Wenn man nicht Gelegenheit zu einer Sonderführung
+bekommt, bleibt einem also nichts übrig, als auf gut Glück
+vor einem schönen Möbel oder Bilde zu verweilen, während der
+Fremdenwärter sein Sprüchlein über den ganzen Saal aufsagt.
+Manchmal empfiehlt sich’s auch, statt der Altertümer die
+drollige Gegenwart des Kunst- und Fürstenportiers und seiner
+filzpantoffelschlurfenden Herde, welche die Anwesenheit von
+Sehenswürdigkeiten mit merkwürdigen Ausrufen und Aussprüchen
+begutachtet, zu genießen. Während wir uns freuen, die Räume,
+die im Berliner Schloß der letzte Kaiser bewohnt hat, in den
+Zustand zurückversetzt zu finden, in dem seine Vorfahren sie
+ihm hinterließen, meint der Kundige, der uns nun herumführt und der
+die letzte Pracht noch gekannt hat, die Räume seien jetzt
+etwas kalt, und beschreibt ausführlich, was hier vor zehn
+Jahren an Perserteppichen gelegen, an Schlachtenbildern und
+Porträts gehangen habe. Er zeigt uns sogar die Stelle, wo
+die hochmodernen elektrischen Zigarrenanzünder von damals
+waren. Wenn er in die Zimmer der Kaiserin kommt, muß der
+Kunstfreund die ganze Zeit, die jener über ihre Gewohnheiten
+und Lieblingsgegenstände spricht, nutzen, um mit einiger
+Gründlichkeit die herrlichen Watteaus zu betrachten, die
+sich als verwunderte Fremdlinge in den Zimmern dieser
+watteau-fernsten aller denkbaren Damen befinden. Und wenn im
+Charlottenburger Schloß der Wanderwart die gräßliche
+Trompetenuhr aufzieht und blasen läßt, von der er behauptet,
+sie habe Napoleon, als er hier übernachtete, aus dem Schlafe
+geschreckt, halte man sich die Ohren zu und sehe so lange
+die süße Seide um den Schlaf der hübschen munteren Königin
+Luise an, ihre kleinen Öfchen oder ihr apartes Bild in
+Totenhusarentracht. In solchen Räumen müßte man lange allein
+oder unter seinesgleichen sich aufhalten dürfen, um mit den
+Geistern derer zu verkehren, für die einst die Schlüter und
+Schinkel und ihre Schüler und Helfer gearbeitet haben, und
+die großen Zeiten des älteren Berlin, das preußische Barock
+und Rokoko und den preußischen Klassizismus zu erleben.
+
+Einiges wird einem vielleicht auch auf den ersten Blick
+zuteil, die strotzend blühende Pracht im Rittersaal, den
+Schlüters Gruppen der vier Erdteile schmücken, die reinen
+Formen und angenehmen Farben des Parolesaals mit Schadows
+Marmorgruppe der jugendlichen Kronprinzessin Luise und ihrer
+Schwester, das Gold und Grün des runden Kuppelkabinetts, das
+Friedrichs des Großen Schreibzimmer war. Und nach
+Herzenslust verweilen kann man in dem innern Schloßhof vor
+Schlüters Bogenhallen. Die Höfe nämlich versperrt uns kein
+König mehr und kein Führer zwingt hier zur Eile.
+
+Wir halten an der Lustgartenseite des Schlosses vor den
+beiden Rossebändigern, die der russische Kaiser dem
+Preußenkönige in den vierziger Jahren geschenkt hat. Der
+Berliner Volkswitz nannte sie den gehemmten Fortschritt und
+den beförderten Rückschritt.
+
+Aus dieser Zeit stammen auch die einzelstehenden Säulen aus
+geschliffenem Granit an den Ecken der Terrasse, auf denen
+goldne Adler horsten. Varnhagen, der als kritischer
+Zeitgenosse beobachtete, fand diese Verzierung zu elegant
+für das mächtige, schwerfällige, düstre Gebäude und diese
+Sucht, zu schmücken, sehr geschmacklos. »Die Leute«,
+schreibt er, »stehen davor und machen ihre Bemerkungen
+darüber, sie finden die Sache unnötig, man vergleicht sie
+mit den Achselklappen der königlichen Lakaien, die waren dem
+König auch zu einfach, es mußte eine Krone hinein.« Den
+einen goldnen Adler an der Ecke nannten die bösmäuligen
+Berliner den ‚größten Eckensteher‘ — anspielend auf die
+vielbewitzelten, etwas faulen und versoffenen Vorläufer des
+Berliner Dienstmanns. Und sie meinten: Nun weiß man doch,
+wie das Hotel heißt, das Schild sagt’s: ‚Zum goldenen
+Adler.‘ Zu dieser Zeit kurz nach den Revolutionstagen 1848
+waren immer noch viel Aufläufe von Arbeitergruppen und
+Studenten und Lehrburschen
+unter den Linden und vorm Schloß, da ließ ein
+Hofmarschall Eisengitter an die Schloßportale befestigen.
+Die Bürgerwehr konnte nicht verhindern, daß ein großes
+Gitter von den Arbeitern ausgerissen und an der
+Kurfürstenbrücke in die Spree geworfen wurde, ein andres,
+kleineres schleppten die Studenten auf die Universität.
+Später ließ man alles ruhig geschehen und sah die Gitter als
+Denkmal des 18. März an, das Schloß, sagte man, sei dadurch
+zum Käfig geworden, der König bemitleidenswert, und es sei
+ein Schildbürgerstreich von ihm, Gitter nach der Gefahr zu
+machen. Die Adler gibt es noch, die Gitter sind gefallen.
+Das Schloß ist von der Lustgartenseite gesehen schöner,
+ehrwürdiger und historischer denn je.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Der große weite Platz dem Schloß gegenüber, der Lustgarten,
+geht bis an die Stufen des Alten Museums und die führen in
+ein wunderbares Eiland mitten in der Stadt. Es ist nicht nur
+topographisch richtig, daß dieser von schützenden Wassern
+umflossene Stadtteil die Museumsinsel genannt wird. Die
+Welt, die hier mit Schinkels jonischer Säulenhalle beginnt,
+ist des jungen Berliners Akademoshain — oder war es
+wenigstens für meine Generation — und was er auch später im
+Louvre und Vatikan, in den Museen von Florenz, Neapel, Athen
+wird zu sehen bekommen, er kann darüber die Säle des Alten
+und Neuen Museums und unserer großen Bildergalerien nicht
+vergessen, ja selbst die Wandelgänge hinter den Säulen hier
+nach dem Platz zu und innen am Neuen
+Museum entlang und rings um die Nationalgalerie sind ihm
+dauernder Besitz und Stätte unvergeßlicher Stunden.
+
+Doch wir wollen in der Stadt und auf der Straße bleiben. Für
+einen kurzen Besuch der Museen unterrichtet der Baedeker
+ausgezeichnet, seine einfachen und Doppelsternchen
+orientieren über das, was eine Art *consensus gentium*
+letzthin für besonders schön und wertvoll hält, und das
+hindert niemanden, seine eignen Entdeckungen zu machen.
+
+Aus der Vorhalle des Alten Museums gelangt man unter die
+Kuppelwölbung der Rotunde, die mit meist römischen
+Nachbildungen griechischer Statuen ins Eigentliche einlädt.
+Es ist schön, in dem Kreis dieser Marmorwesen zu sein, ohne
+sie genauer anzusehen, und seine Kräfte zu sammeln für all
+das Wunderbare, was uns im archaischen Saal und in den Sälen
+des 5. und 4. Jahrhunderts, der Spätzeit und bei den Römern
+erwartet. Im Oberstock versammelt das Antiquarium die
+Kleinkunst in Bronze, Gold und Silber, Schmucksachen und die
+grotesken und reizenden Terrakotten der Meister von Tanagra
+und ihrer Schüler. In Stülers Neuem Museum wirst du, wenn
+ich dir raten darf, Fremder, dich nicht allzu lange in dem
+großen Treppenhaus mit den riesigen Fresken von Kaulbach
+aufhalten, die sich bekanntlich mit den Hauptmomenten der
+Weltgeschichte befassen und als Anschauungsunterricht für
+Volksschulen vielleicht nicht allzuviel Schaden anrichten.
+Du wirst in der ägyptischen Abteilung gewaltige Statuen und
+Sarkophage und die holden kleinen Köpfe der Königinnen Teje
+und Nefretete finden, und bei schwarz- und rotfigurigen
+Vasen in den Dämmerzustand versinken, in dem man nicht weiß: fließt draußen die
+Seine oder der Tiber? Werden wir auf dem Posilipp oder im
+Savoy frühstücken? Gibts bestimmt eine Gegenwart? Fürs
+Kupferstichkabinett laß dir etwas Zeit, sieh nicht nur an,
+was an den Wänden hängt oder in den Glaskästen ausliegt. Man
+gibt dir gern eine der vielen schönen Mappen, einen guten
+Platz, und du kannst dich ein Stündchen gebärden wie ein
+Kunstgelehrter. Es lohnt. Bis diese Zeilen in deine Hand
+kommen, ist vielleicht auch schon der Museumsneubau endlich
+vollendet, den Alfred Messel begonnen hat. Dann wirst du den
+herrlichen Altar von Pergamon aufgebaut sehn mit seinen
+Göttern und Giganten. Was die Nationalgalerie anbetrifft, so
+muß ich als dein Führer durch Berlin dich besonders auf die
+Bilder hinweisen, in denen Berlinisches verewigt ist.
+Menzels wunderbares Balkonzimmer und sein Schlafzimmer, das
+höfische Ballsouper, den Palaisgarten des Prinzen Albrecht,
+die alte Berlin-Potsdamer Bahn, ferner die Maler des alten
+Stadtbildes und Volkslebens, vor allen Theodor Hosemann, und
+Franz Krügers Porträts und seine großen Paradebilder.
+Berliner Romantik wirst du in den Landschaftsbildern des
+großen Schinkel, der ja eigentlich kein Maler, sondern ein
+Baumeister war, finden. Er hat sie für eines der alten
+Patrizierhäuser in der Brüderstraße gemalt und wenn du Muße
+dafür hast, so lies, was Hans Mackowsky in seinen ‚Häusern
+und Menschen im alten Berlin‘ darüber schreibt, und lies
+weiter, was er von diesem Haus und andern berichtet, das
+wird dir eine vergangene Stadt mitten in der gegenwärtigen
+aufbauen. Über das Kaiser Friedrich-Museum, das nach dem Manne, der es zu einer
+Weltberühmtheit gemacht hat, besser Wilhelm von Bode-Museum
+hieße — statt sich auf den recht kunstfreundlichen Herrn zu
+beziehen, dessen garstiges Reiterdenkmal leider vor der Tür
+dieser Schatzkammer steht — über diese Welt von Bildern und
+Bildwerken habe ich hier nichts aufzuschreiben, denn wenn
+sie auch höchster Ruhm von Berlin ist, so hat sie doch mit
+unserer guten Stadt selbst nichts zu tun. Man ist hier von
+ihr noch weiter fort als in den Sälen der griechischen
+Bildwerke, nach denen doch in den Versuchen des preußischen
+Klassizismus eine Sehnsucht — nüchtern abgeblaßt, verhalten,
+prunkfeindlich und redlich bemüht — hindrängt.
+
+Aber zurück aus dieser schönen Ferne zum Lustgarten und
+unseren Rundfahrtwagen. Die weite Fläche dieses Platzes hat
+auch schon etwas inselhaft Ruhevolles. Von der langen
+Schloßfront mit den breiten Portalen ist — hoffentlich auf
+recht lange Zeit — keinerlei Gegenwart vorauszusehen. Die
+einzige Unruhe an dieser gelassenen Stätte ist der Dom mit
+seinen vielen Hochrenaissanceeinzelheiten, Nischen, Hallen,
+Kuppelaufsätzen. Er macht sich da breit, wo noch bis in die
+neunziger Jahre ein kleinerer aus Friedrichs Tagen stand. Er
+bedeckt eine Fläche von 6270 qm, während der Kölner Dom es
+nur bis zu 6160 qm gebracht hat. Es ist höchst überflüssig,
+hineinzugehen, denn auch innen verletzt dieses Riesengefüge
+aus eitel Quantität, Material und schlecht angewandter
+Gelehrsamkeit jedes religiöse und menschliche Gefühl. Die
+Akustik soll übrigens ausgezeichnet sein, und
+um sie zu verstärken, hängen eigens noch Bindfäden von der
+Innenkuppel des Mittelbaues. Mit Recht verkündet ein
+marmorner Engel ‚Er ist nicht hier, Er ist auferstanden‘.
+Wahrhaftig, hier ist Er sicher nicht. Schade um ein paar
+schöne Sarkophage, mit denen die Namen Peter Vischers und
+Schlüters verbunden sind. Vielleicht kommt noch einmal eine
+Zeit, in der man dieses Gebäude und manches andre so kurz
+entschlossen abreißt, wie man es jetzt mit häßlich
+gewordenen störenden Privathäusern tut. Dann wird diese
+Stätte ganz der Vergangenheit und Ruhe gewidmet sein.
+
+Belebt wird sie auch jetzt immer wieder nur, wenn
+Volksversammlungen sich ihrer bemächtigen, und dafür ist sie
+sehr geeignet, seit der Lustgarten nichts als ein großer
+Sandplatz ist. Sein Name erinnert noch an eine ganz andre
+Zeit, die der Parkkunst, der Grotten und Grottierer. In des
+Großen Kurfürsten und seines Sohnes Tagen waren hier ein
+Kolossalneptun mit Grotten und Wasserstürzen zu sehen,
+Vexierspringbrunnen und die Riesenmuscheln an Meinhards
+Lusthaus. Da hatten die ‚Grottenmeister, Sprützenmacher und
+Stukkateure‘ reichlich Arbeit wie später wieder unterm
+Großen Friedrich, dem sie in Sanssouci eine Neptunsgrotte,
+im Neuen Palais einen Muschelsaal bauten. Auf der Remusinsel
+zu Rheinsberg schufen sie das chinesische Haus. Und später
+hat dann noch der Erbauer des schlichten Landschlößchens zu
+Paretz in einem Parkwinkel als eine Art Relikt aus der
+Rokokozeit ein muschelbuntes japanisches Tempelchen
+errichtet. Die letzten Nachklänge dieser Grottenkunst aber
+sind mitten in der Großstadt die schaurigen
+Tropfsteingebilde an den
+Aufgängen zu veralteten Nachtlokalen und an den Bühnenrahmen
+verstaubter Tingeltangel. Den nüchtern verständigen
+Friedrich Wilhelm I. verdrossen die Blumenparterres und
+Lusthäuser dieses Paradieses seiner Vorfahren.
+‚Alfanzereien‘ nannte er das und machte aus dem
+Pomeranzenhaus eine Tapetenfabrik mit einer Art Börse im
+oberen Stockwerk und aus den Blumenparterres einen
+Exerzierplatz für seine Grenadiere. Seit hier nun nicht mehr
+exerziert wird, kann das freie Volk seine Versammlungen
+abhalten. Da kann man mit Fahnen und Fähnchen zum Beispiel
+die Kommunisten demonstrieren und lagern sehen. Rote
+Pfingsten: Sie sind weither gekommen aus allen Teilen
+Deutschlands, Textilproleten aus dem Erzgebirge, Kumpel aus
+den Zechen in Hamm und in der Kanonenstadt Essen, die eine
+Hochburg der Rotfront geworden ist, dazu rote Marine von der
+Waterkant. Aber auch das fernere Europa und die weite Welt
+senden ihre Vertreter; die Schutzwehr der Schweizer
+Arbeiterschaft, die tschechische Arbeiterwehr rückt an mit
+Fahnen und Plakaten, und ehrfürchtig wird die
+Sowjetstandarte begrüßt. In langen Zügen sind sie
+hermarschiert von den Enden der Stadt, seltsame
+Musikinstrumente wandern ihnen voran, Trompeten mit mehreren
+Schlünden, Jazztuben, Negertrommeln. Diese Kämpfer sind
+uniformiert, wie auch die es waren, die sie kämpfend ablösen
+wollen. Kriegerisch gegürtet sind die grauen Blusen und
+braunen Kittel. Und wie einst von den Tressen der
+Chargierten wird jetzt das Wanderbild des Zuges skandiert
+von den roten Armbinden der festleitenden Flügelmänner.
+Sogar die Kinder haben ihre Uniform.
+In weißen Hemdblusen mit rot flatternden Krawatten
+haben sie ihr Lastauto erklommen, dessen Aufschrift die
+Abschaffung der entwürdigenden Prügel verlangt. So einen Zug
+hab ich begleitet von der Bülowpromenade im Südwesten her,
+die Yorkstraße hin unter den Bahnübergängen, deren
+Eisenbrücken das ‚Rot Front!‘ und das ‚Seid bereit!‘ mächtig
+widerhallten. Von den bürgerlichen Klebebalkons der langen
+Avenuen schauten etwas verdrossen alte Männer und Frauen auf
+das muntre Volk, das waren vielleicht pensionierte Beamte,
+die sich noch nicht ‚umgestellt‘ haben. Aus den
+Seitenstraßen aber wehten rote Fahnen von den Häusern, und
+ein paar Jungen auf Rädern, deren Reifen rot umwickelt
+waren, schlossen sich an. So ging es weiter das Planufer hin
+und über die Kanalbrücke in die Altstadt. In der Alten
+Jakobstraße stand auf einem Altan, das Haar im Wind, ein
+graues Weib wie eine Parze des Weltgeschicks oder Furie der
+neuen Begeisterung. Jüngere lagen sonntäglich träge mit
+nackten Armen auf ihren Fensterkissen und freuten sich an
+dieser Musik und Menge wie ehedem am Aufmarsch der
+Soldatenkompagnien. Die Geschäftshäuser der Markgrafenstraße
+waren ganz menschenleer. Nur auf einem hohen Dach bewegte
+sich ein Wesen und winkte mit einem winzigen Fähnchen. In
+der Oberwallstraße wehte dem Zug eine tiefe Stille entgegen
+von dem Torbogen, der die verträumte Auffahrt und die alten
+Balkone und Mansardenfenster des Prinzessinnenpalais
+abschließend schützt vor aller Gegenwart. Durch dies Tor
+drang der Zug, um auf dem Platz vor dem Zeughaus mit den
+Zügen aus andern Vorstädten zusammenzutreffen.
+Eine unabsehbare Menge erfüllte in Einzelgruppen und Zügen
+von der Schloßbrücke bis zur Kaiser Wilhelmsbrücke den
+ganzen Lustgarten und die Schloßfreiheit. Die Schloßfront
+entlang liefen an den Gittern rote Plakatbänder, hinter
+denen sowohl die Bronzestandbilder der niederländischen
+Fürsten und des Admirals Coligny wie auch die der beiden
+liberalen Rossebändiger fast verschwanden, abgetan von den
+flammenden Buchstabenbändern. Auf der obersten Stufe der
+Domtreppe stand ein Redner, dessen verkündigende Schlußworte
+die Menge unten wiederholte wie die Gläubigen in der Litanei
+des Priesters Worte. Rings auf dem Anstieg zum Denkmal
+Friedrich Wilhelms des Gerechten, der seinen Luftritt
+beklommen fortsetzte, und um die Granitschale herum und auf
+der Museumstreppe unter der Amazone, die den Tiger abwehrt,
+und unter dem Löwenkämpfer lagerten die Massen und sahen
+hinunter auf die vielen hin und her wandernden Züge mit
+ihren Fahnen, Plakaten und Karikaturpuppen, die den Genfer
+Völkerbund verhöhnten, und hinüber zu der
+Meetingsbevölkerung des Kaiser Wilhelms- und
+Nationaldenkmals an der Schloßfreiheit.
+
+Den Dom, von dem ich wegschaue, so gut es geht, erspart uns
+der Rundfahrtführer nicht, er läßt eine schrecklich lange
+halbe Minute vor ihm halten und nennt ihn ‚sehr hübsch,
+besonders innen‘. Aber mir zum Trost ist hier dicht vor uns
+an der Bordschwelle ein holdes kleines Gefährt gelandet. Auf
+roten Kinderwagenrädern bauen sich zwei Etagen auf mit
+Glasscheiben, darinnen stehen blinkende Nickelmaschinen mit
+Tellerchen und Löffelchen. Ein Eisverkauf: eine niedliche
+Zwergenwirtschaft, durchschimmernd wie Schneewittchens
+Sarg.
+
+Ein Blick übers Wasser auf die Börse in der Burgstraße. Von
+ihren ‚Renaissanceformen‘ gilt, was schon über die
+Reichsbank gesagt wurde. Sie ist der erste Bau aus echtem
+Sandstein im neueren Berlin. Für uns ist das Innere des
+Gebäudes erheblich interessanter als seine Architektur und
+Skulptur. Mir ist einmal gestattet worden, von der Galerie
+auf die drei großen Säle hinunterzusehn, in denen sich die
+Berliner Kaufmannschaft zur Mittagszeit versammelt. Ich sah
+die vereidigten Makler hinter ihren Schranken, die wilde
+Menge, welche sich um ihre beweglicheren Kollegen schart,
+die Gebärden des Kaufs und Verkaufs, erhobene Hände, die
+‚Brief‘ winkten, gespitzte Finger, die ‚Geld‘ bedeuteten,
+sah die Nischen der Großbanken, die Tische der kleineren,
+viel Lebhaftes im Saal der Industriepapiere, Gelinderes im
+Saal der Banken und in dem des Getreides die Tüten und
+blauen Kästchen mit Roggen- und Weizenproben in den Händen
+der Händler. Man könnte stundenlang niedersehen auf dies
+Meer von Glatzen, unruhigen Schultern, winkenden Händen, auf
+die Schicksalszahlen, welche auf den Tafeln sinkend und
+fallend wechseln, auf die gelben und blauen Lichter, die,
+besondre Winke bedeutend, in den Ecken aufflammen. Vor dem
+Ausgang zur Burgstraße warten allerlei Händler und Bettler;
+und aus der Art, wie ihre Gegenwart von den heraustretenden
+Handelsherren berücksichtigt wird, könnte man Schlüsse auf
+die guten oder schlechten Geschäfte machen, von denen sie
+kommen.
+
+Wir fahren über die Schloßbrücke, deren schöner Schwung und
+gußeiserne Brüstung auf Schinkel zurückgeht. Die berühmten
+acht Marmorgruppen: Kriegs-und Siegesgöttinnen, junge
+Krieger lehrend, erwachsene geleitend, habe ich leider nie
+mit ernsten Blicken ansehen können, da in meiner
+Schuljungenzeit so unvergeßliche, nicht zu wiederholende
+Witze über ihre besondre Art von Nacktheit gemacht wurden.
+Nun lese ich in Varnhagens Tagebüchern, der Kultusminister
+Raumer habe an den König Friedrich Wilhelm IV. den Antrag
+gestellt, die nackten Bildsäulen von der Schloßbrücke wieder
+abnehmen zu lassen und sie im Zeughaus zu verwahren.
+Erfreulicher ist, daß um dieselbe Zeit Bettina von Arnim zu
+Varnhagen sagte, auch sie verdamme die Schloßbrückengruppen,
+aber nicht aus Nacktheitsgründen. Er selbst notiert, daß sie
+wohl schön gearbeitet seien. ‚Aber das Antike ist nicht
+antik genug, ist wider Willen modern, ohne zu den andern
+Bildsäulen, denen der Generale, zu passen. Sie stehen auch
+zu hoch.‘ Brummig fügte er hinzu: ‚Ein Unstern waltet über
+unserm Kunstwesen, nie etwas Rechtes, Ganzes,
+Übereinstimmendes.‘ Nun, wir wollen das nicht weiter
+erörtern, sondern lieber einen raschen Blick werfen auf eine
+Berliner Sehenswürdigkeit, die kein Reisebuch verzeichnet.
+
+Ich meine da rechts unten im Wasser, dessen Ufer am Zeughaus
+entlang geht, den angeketteten Spreekahn. Den habe ich vor
+kurzem zum erstenmal besichtigt. Ich kam zufällig vorüber
+und sah auf dem Brettersteg, der zu dem Kahn hinüberführt,
+ein paar Straßenjungen stehen, die
+wollten sich gerne den großen Walfisch ansehn, der seit
+vielen Jahren in dem Kahn hausen soll. Ich war, als ich im
+Alter dieser Jungen stand, auch immer sehr neugierig
+gewesen, ob da ein wirklicher Walfisch liege, und nie hatte
+man diese Neugier befriedigt. So ist es wohl zu begreifen,
+daß ich mit den kleinen Burschen an die Kasse gegangen bin.
+Es war sehr billig, ein Programm bekam ich gratis dazu und
+das ist ganz besonders schön und jedem Besucher, ja auch
+Liebhabern älterer Druckschriften zu empfehlen. Sein
+Titelblatt lautet: ‚Das größte Säugetier der Welt und sein
+Fang. 22m 56cm lang, vollständig geruchlos präpariert.
+Herausgegeben von der Direktion der Walfischausstellung.‘
+Ist das nicht ein schöner Anfang? Und dann lernen wir, daß
+dieser Koloß wie wir rotes warmes Blut hat und lebendige
+Junge zur Welt bringt, ‚welche von der Mutter gesäugt und
+mit Aufopferung eigner Lebensgefahr verteidigt werden.‘ Da
+liegt er, präpariert nach einer damals ganz neuen Methode,
+und sieht aus, als wäre er aus Papiermache, riecht gar nicht
+nach Tran, nur nach Kahn. Man möchte sich durch Anfassen
+überzeugen, ob das da auch wirklich keine Pappe ist. Aber es
+steht angeschrieben: Nicht berühren! Giftig! Eine Zeitlang
+schauen wir ihm in den Schlund und auf die berühmten Barten,
+aus denen, wie wir lernen, das Fischbein gewonnen wird. Dann
+wenden wir uns der Sonderausstellung zu, wo des Riesen
+Bestandteile ausgeweideterweise im Einzelnen uns breiteren
+Volksschichten zum Studium zugänglich gemacht sind. Da ist
+zum Beispiel der sogenannte Heringssack, worin das Tier zwei
+bis drei Tonnen Heringe aufnehmen kann. ‚Denn — so lehrt
+das Programm — die
+Nahrung spielt bei solch einem Riesentier die Hauptrolle.‘
+Wir bekommen im Extrakasten die Schwanzflosse zu sehn, von
+der — immer laut Programm — die Erfindung der Dampfschraube
+angeregt worden sein soll. Und außer den Knorpelschichten,
+Rückenfinnen, Ohren und Augen des Wals gibt es noch andre
+Tiefseetiere seiner Umgebung zu sehen, und darunter finden
+sich einige Namen, die nach Christian Morgensterns Verskunst
+verlangen, wie zum Beispiel die Kammeidechse und der
+Seestier oder Kofferfisch.
+
+Daß ich mich so ausführlich über diese bemerkenswerte
+Walfischausstellung auslasse, hat seinen Grund: ich getraue
+mich nicht recht, über das benachbarte Zeughaus etwas zu
+sagen. Es ist zu vollkommen, um gepriesen zu werden.
+Preußisch ist es und barock, berlinisch und dabei
+phantastisch, übersichtlich gegliederte Maße und schön
+verschwendeter Schmuck, breite Phalanx des Sieges und
+schlanke Trophäe. Herrlich sind Schlüters Panoplien auf der
+Balustrade und Schlußsteine der Fensterbögen. Da hat er auf
+den vier Außenseiten Helme angebracht, die lebendige Antike
+sind, und innen im Lichthof die Köpfe sterbender Krieger,
+deren grausige Todesgrimasse schürzender Steinknoten der
+Fensterwölbungen, Agraffe des Gewandes, Zierat ist.
+
+Für den Waffen- und Kriegskundigen finden sich innen unter
+Gewölbejochen in düstern Hallen die ältesten Kanonen,
+morgenländische Säbel, Prunkharnische für Mann und Roß,
+Standarten, Uniformen der Feldherren und Könige, Zietens
+Zobelmütze und Pantherfell und der letzte Soldatenrock des
+Großen Königs.
+
+Das ehemalige Kronprinzenpalais dem Zeughaus gegenüber ist
+von außen kein sehr erfreulicher Anblick. Hohe Säulen tragen
+einen breiten Balkon, hinter welchem das aufgesetzte
+Stockwerk niedrig erscheint. Besonders wenn man von einem so
+wohlproportionierten Gebilde, wie es das Zeughaus ist,
+herüberschaut. Und es hilft nichts zu wissen, daß dies
+Palais früher einmal besser beschaffen war und seine jetzige
+Gestalt erst in den fünfziger Jahren bekam, als es für den
+damaligen Kronprinzen, spätern Kaiser Friedrich III.
+umgebaut wurde. Im Innern aber erfüllt es, seit es keine
+Fürsten mehr beherbergt, eine würdige Aufgabe. Die moderne
+Abteilung der Nationalgalerie ist hier untergebracht. Um
+auch hier als Fremdenführer nur auf das speziell Berlinische
+hinzuweisen, man findet manches wertvolle Stück
+Stadtlandschaft, berlinische Geschichte und märkische
+Landschaft in den unzähligen Blättern der Menzelmappen, in
+einigen Bildern Liebermanns, Lesser Urys und jüngerer
+Künstler, auch manches Porträt bedeutender Berliner
+Persönlichkeiten innerhalb der reichen Sammlung
+impressionistischer und zeitgenössischer Malerei. Eine
+Flanke des Palais stößt an den Schinkelplatz, an dessen
+Südseite im oberen Stockwerk eines schöneren Gebäudes
+wiederum ein Teil Nationalgalerie beherbergt ist, die große
+Bildnissammlung, die an Malern und Gemalten ein gut Teil
+Berliner Kunst- und Kulturgeschichte veranschaulicht. Das
+Haus, das diese Schätze birgt, ist die Bauakademie, die
+Schinkel in rotem Backstein mit schön eingefügter
+Terrakotta erbaut und in den letzten Jahren seines
+Lebens bewohnt hat. Der Platz vor der Akademie trägt den
+Namen des Meisters und außer seinem Standbild noch zwei
+andre erzene, einen ‚Begründer des wissenschaftlichen
+Landbaus‘ und einen um die industrielle Entwicklung
+verdienten Mann, Männer, deren Namen wir Halbgebildeten
+meist nur als Straßennamen kennen, weshalb ich sie erst gar
+nicht nennen will. Aber die Reliefs auf ihren Sockeln muß
+man ansehn. Da sind kuriose Musterbeispiele der echt
+berlinischen Mischung aus Klassizismus und Realismus,
+antikisierte Maschinen und Herren im togaähnlichen
+Bratenrock.
+
+Daß diese Mischung bei Uniformen besser glückte als bei
+Zivil, beweisen Rauchs erzene Feldherren, zu denen wir nun,
+am Prinzessinnenpalais vorbei, den Lindentunnel überquerend,
+gelangen. Wie der alte Blücher in Wirklichkeit war, ist aus
+dem Allerlei von Berichten, Bildern, Urteilen schwer zu
+entnehmen, aber für uns ist sein Wesen dauernd verwirklicht
+in dieser Erzgestalt im Soldatenmantel, in der Faust den
+gezogenen Säbel, den Fuß auf das Kanonenrohr gestellt. Die
+nachdenklicheren und, wie die Kriegswissenschaft lehrt,
+bedeutenderen Strategen, Gneisenau und York, zu seiner
+Rechten und Linken umgeben neidlos sein munteres Kriegertum.
+Bülow und Scharnhorst, die den drei Erzenen gegenüber bei
+der Neuen Wache stehen, sind marmorn. Warum, das habe ich
+mich schon als Kind gefragt und gemeint, es bedeute einen
+andern Grad des Heldentums, eine höhere Milde. Aber es wird
+wohl, zumal die zwei früher aufgestellt worden sind als die
+drei, sinnfälligere und vernünftigere Gründe haben.
+Die Neue Wache, die nun außer ihnen beiden niemand mehr
+bewacht, Schinkels schönes ‚römisches Castrum‘ mit den
+mächtigen dorischen Säulen, jetzt innen leer — nur die
+klassischen Gewehrständer sind geblieben — ist ganz Denkmal
+und Altertum geworden. Es ist besser so, aber manche
+Berliner denken mit einer gewissen Wehmut zurück an die
+Stunden, als noch die Wache aufzog.
+
+Unterhaltend zu lesen ist, was der Franzose Jules Laforgue
+aufgezeichnet hat, der als Vorleser der Kaiserin Augusta in
+dem gegenüberliegenden Prinzessinnenpalais seine
+Dienstwohnung und somit oft Gelegenheit hatte, diesen
+Vorgang zu beobachten. Er freute sich über die wartenden
+Straßenjungen am Gitter und die Spatzen oben am Relief des
+Giebels. Er beschreibt, wie sich vom Brandenburger Tor her
+die Truppe nähert. »Die Pfeifen spielen die herb monotonen
+Melodien, welche die Berliner Straßenjungen *en flânant*
+pfeifen. Kurz vor dem Palais (nämlich dem des alten Kaisers
+jenseits des Opernplatzes) gibt der Tamburmajor ein Zeichen,
+die Pfeifen schweigen und die Musik beginnt. Merkwürdig ist
+die Standarte, die der Musik vorangeht. Man stelle sich
+einen silbernen Stern vor, über dem mit ausgebreiteten
+Flügeln ein Adler schwebt, über dem Adler regen sich die
+Glöckchen eines *chapeau chinois*, der seinerseits einen
+Halbmond trägt, von dessen Spitzen zwei Roßschweife, ein
+roter und ein weißer, hängen. In der Höhe des Palais machen
+die Soldaten Stechschritt, wobei sie wütend mit den Sohlen
+aufprallen, und fixieren alle mit gestrecktem Hals des
+Kaisers Eckfenster. *L’heure culminante, l’heure militaire
+...*« Ausführlich beschreibt er
+auch, wie es zuging, wenn die Wache
+herausgerufen wurde. Erst den Ruhezustand. »Vorn sind
+zwischen Gitter und Portikus in zwei Reihen die vierzig
+Piquets, jede mit einer Gewehrstütze, aufgestellt. Diese
+Piquets bezeichnen den Platz eines jeden der Soldaten und
+erleichtern die genaue Reih- und Gliedstellung. Bemalt sind
+sie in Preußens Farben wie die Schilderhäuser. Am letzten
+hängt die Trommel, die kleine flache preußische Trommel, die
+so trocken klingt. Eine Schildwache, die nicht auf und ab
+geht, sondern stillsteht, gibt nach rechts und links acht.
+Sobald ein Hofwagen erscheint, schon von weitem erkennbar an
+Achselband und Hutbord des Kutschers, und der Kutscher
+deutet durch die Haltung seiner Peitsche an, daß der Wagen
+nicht leer ist, wendet sich die Schildwache zum Portikus,
+legt die Hand an den Mund und brüllt ‚Raus!‘ (Abkürzung von
+Heraus). Gleich steht alles in Reih und Glied. Der Trommler
+hat seine Trommel umgehängt, der Offizier hält sich bereit,
+mit dem Degen zu grüßen. Der Wagen fährt vorbei. Die Wache
+präsentiert, der Tambour schlägt seinen Wirbel. Und wer saß
+im Wagen? Zwei Gouvernanten mit Prinzenbabys auf dem Schoß.
+Trommel gerührt wird nur für die kaiserliche Familie. Für
+einen General kommt die Wache nur halb heraus.«
+
+Laforgue beschreibt vortrefflich das militärische Aussehen
+und Wesen, das dieser Platz und die Straße Unter den Linden
+und ganz Berlin in den achtziger Jahren hatten. Einmal
+bleibt er in einem *moment de torpeur involontaire* wie im
+Traume Ecke Linden und Friedrichstraße stehen. Da hört er
+nur das beherrschende Geräusch der Straße: das eines
+nachschleppenden Säbels. Diese Zeiten, da sich unter den Linden
+die komischen kleinen Kadetten steif grüßten, da der
+militärische Gruß in allen Ständen gang und gäbe war, sind —
+bis auf einige Reste — ja nun vorüber.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Solange wir an der Neuen Wache halten, wirf auch einen Blick
+auf das kleine Kunsttempelchen da hinten, halb von Laub
+verdeckt. Das ist die Singakademie, Zelters, des
+Goethefreundes Werkstatt, nachdem der Maurermeister ein
+Musikmeister geworden war. Die kleine Büste im Grünen vor
+dem Gebäude, das ist Zelters Lehrer und der Begründer des
+Vereins, aus dem die Singakademie hervorgegangen ist, lange
+bevor sie hier dieses mitten in der Stadt schön abseits
+liegende Haus bezog. Das Leben dieses Mannes, er hieß David
+Christian Fasch, hat Zelter selbst in seinem handfesten und
+dabei klassischen Deutsch beschrieben. Und aus seinem
+Büchlein erfahren wir, wie der Hofmusikant in der
+Privatkapelle Friedrichs des Großen und seines Nachfolgers
+eine junge vortreffliche Demoiselle Dieterich unterrichtete
+und accompagnierte. In dem Hause dieser edlen
+Musikliebhaberin fanden sich öfters noch zwei oder drei
+Musiklustige ein; daraus entstand sehr bald ein kleines
+Vokalkonzert, für das Fasch fünf- und sechsstimmige Stücke
+komponierte. Diese Gesellschaft, die sich erst nur ‚wie von
+ongefähr‘ zusammengefunden, bestimmte nun gewisse Tage zu
+ordentlichen Singübungen und wuchs durch Zutritt neuer
+Mitglieder, bis dann eine andre würdige Freundin des Schönen
+ihren größeren Saal hergab. Schließlich
+bekam die Gesellschaft von den Kuratorien der Kgl. Akademie
+einen der Säle des Akademiegebäudes. ‚Im Jahre 1796 ward es
+durch das ordnungsgemäße und eifrige Bestreben der Rendantur
+so weit gebracht, daß |ellipsis| die Frauenzimmer der Gesellschaft
+bei einem mäßigen Zuschuß zur Kasse in Wagen abgeholet und
+wieder zu Hause gefahren werden konnten.‘ Und bald hatte die
+Singakademie zu Mitgliedern und Zuhörern ‚die Blüte des
+schönen Berlin, die Jugend und das Alter, Adel und
+Mittelstand‘. An diesen Verein und seine Kunststätte hier
+hinter den Büschen knüpft sich ein gut Teil Berliner
+Musikgeschichte zu den Zeiten Zelters und Mendelssohns, und
+mehr als das, ein Stück Leben der besten Berliner
+Gesellschaft, die es bisher gegeben hat, jener meist
+ziemlich eingeschränkt lebenden bürgerlichen Menschen der
+ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, in deren Stammbücher
+die besten Maler Landschaften tuschten, die besten Dichter
+mit der anmutig fließenden Schrift von damals Gedichte
+schrieben. In allen Künsten Liebhaber zu sein, in der guten
+alten Bedeutung des Wortes zu dilettieren, war eine
+gesellige, zwanglose und eifrige Gewohnheit, die bisweilen
+ans Rührend-Komische streifen mochte, aber doch an der
+erfreulichen Einheit des Empfindens, Gebahrens und somit
+auch des Stadtbildes mitschuf.
+
+In dieser Zeit wurde aus dem nächstfolgenden Gebäude, dem
+ehemaligen Palais des Prinzen Heinrich, des Bruders
+Friedrichs des Großen, die Universität. Und die beiden
+Männer, die davor recht bequem auf ihren marmornen
+Lehnsesseln sitzen, die Brüder Humboldt, haben bald aus
+unmittelbarer
+Nähe, bald aus römischer und überseeischer Ferne die
+geistigen und wissenschaftlichen Bedürfnisse der Berliner
+Gesellschaft gesteigert.
+
+Das Gebäude ist der nördliche Abschluß des jetzt Kaiser
+Franz Joseph-Platz, ehemals Platz am Opernhaus heißenden
+‚Forum Fridericianum‘, dessen Südhälfte durch die Alte
+Bibliothek, jetzt Aulagebäude der Universität, und das
+Opernhaus flankiert werden. Friedrichs Baumeister, der große
+Knobelsdorff, hatte für dies Palais Schöneres geplant, als
+dann gebaut worden ist, er wollte seinem Opernhause
+gegenüber ein ähnliches Gebilde aus Tempel und Palast
+schaffen und der ganzen Nordhälfte des Platzes so
+monumentale Gestalt geben, wie er es am Opernhause
+unternahm. Wenn nun auch sein großer Plan nicht ausgeführt
+wurde, so kam doch auf Grund seiner Pläne unter der
+Bauleitung Boumanns des Älteren etwas recht Imposantes
+zustande. Aber dieser Palast stand meist öde, der Prinz
+liebte Berlin nicht und blieb gern in seiner Rheinsberger
+Solitude. 1810 wurde die Friedrich Wilhelms-Universität hier
+gegründet und ihr erster vom Senat erwählter Rektor war
+Fichte. Aus den 300 Studenten des ersten Jahres sind mit der
+Zeit 10.000 geworden. Ob die Wissenschaft sehr durch diesen
+Zuwachs gewonnen hat, darüber wollen wir uns lieber jeder
+Meinung enthalten und nur schüchtern äußern, daß es vor
+zwei, drei Jahrzehnten angenehmer war, sich in den Räumen
+der Alma Mater aufzuhalten. Es gab noch nicht so viel
+examensüchtige Gesichter. Auch war dazumal der Vorgarten
+noch nicht so überfüllt mit berühmten Männern aus Marmor und
+Bronze, die weder das würdige
+Behagen der beiden freundlichen Humboldts vor dem Garten,
+noch den steinernen Schwung der neuen Statuen Savignys und
+Fichtes vor dem Aulagebäude drüben haben. Dies Gebäude,
+einst Bibliothek, soll Friedrich der Große nach wienerischem
+Vorbild, und zwar nach einem Fassadenentwurf des großen
+Fischer von Erlach haben bauen lassen. Im Volksmund heißt es
+die ‚Alte Kommode‘ und eine anzuzweifelnde Anekdote läßt den
+König seinen Baumeistern ein geschweiftes Rokokomöbel als
+Vorbild hinstellen. Das paßt zu der Geschichte, die über den
+Bau der pantheonähnlichen runden Hedwigskirche im
+Hintergrunde des Platzes überliefert wird: es kamen einst
+die Katholiken Berlins zum Alten Fritzen und baten, er möge
+ihnen in Berlin eine schöne Kirche bauen. Der König saß
+gerade beim Frühstück, war gut gelaunt und
+‚wohlaffektioniert‘. Als sie ihn dann fragten, wie die
+Kirche, deren Erbauung er ihnen versprach, aussehen werde,
+nahm Friedrich seine Kaffeetasse, stülpte sie um und sagte:
+‚So soll sie aussehen.‘ So kam es, daß der Baumeister die
+Kirche ganz rund machte und eine runde Kuppel daraufsetzte.
+Laterne und Kreuz, die wir heute über der Kuppel erblicken,
+stammen erst aus den achtziger Jahren des vorigen
+Jahrhunderts. Aus dieser Zeit ist auch der wunderbar grüne
+Kupferbelag der Kuppel, einer der wärmsten Farbflecken auf
+dem immer noch etwas zu grauen Bilde Berlin.
+
+An unserer Oper, dem Meisterwerk Knobelsdorffs, haben Zeiten
+und Menschen allerlei verändert und nicht gerade zu ihrem
+Vorteil. Immerhin können wir uns freuen, daß beim letzten
+Umbau die scheußlichen Eisentreppen weggefallen sind,
+die der letzte kaiserliche Besitzer zum Schutz
+gegen Feuersgefahr außen anbringen ließ und die, wie
+Mackowsky sagt, ‚dem edlen Gebäude das Aussehen einer
+Bauattrappe für Feuerlöschübungen gaben‘.
+
+Eingeweiht wurde das Opernhaus im Jahre 1742 mit ‚Cäsar und
+Cleopatra‘ von Graun, einem der Lieblingskünstler
+Friedrichs. Der König nahm den lebhaftesten Anteil an den
+Aufführungen, er stand oft hinter dem Kapellmeister, der die
+Partitur vor sich hatte, und sah fleißig mit hinein. ‚Er ist
+wirklich ein ebenso guter Generalmusikdirektor hier als
+Generalissimus im Felde‘, sagt ein Zeitgenosse. Er ließ
+seinem Geschmack entsprechend viel Französisches aufführen.
+Wir hören von Werken wie *Le Mercure galant, Le Cadi dupé*.
+Nun, in späteren Zeiten hat man hier bedeutendere Musikwerke
+zu hören bekommen, als jene Opern gewesen sein mögen. Aber
+die Könige und Kaiser haben dem Kapellmeister nicht mehr ins
+Notenblatt geguckt. Dafür haben oben im höchsten Rang
+Musikschüler und -schülerinnen mit aufgeschlagener Partitur
+gesessen und jeden Ton verfolgt, und wir haben als junge
+Studenten neben ihnen gesessen und durften mit
+hineinschauen. Das alte Opernhaus und dieser alte Platz sind
+uns Berliner Kindern lieb geblieben, trotz aller
+Veränderungen. Seitdem nun noch das Kaiserinnendenkmal mit
+seinen Anlagen entfernt worden ist, erweckt der Platz in
+seiner pflasternen Leere oft deutlich das Bild der alten
+Zeiten. Man kann ihn sich vorstellen, wie die Stiche um 1800
+ihn zeigen, kann alte Herren in Dreispitz und Wadenstrumpf
+neben jüngeren im damals neumodischen Taillenfrack
+und in Stulpstiefeln als Begleiter von Damen mit
+hoher Empiretaille und breitem Umschlagetuch übers Pflaster
+promenieren lassen.
+
+Wand an Wand mit der ‚Kommode‘ steht das Palais Kaiser
+Wilhelms I., ein bescheidenes Fürstenschloß. Wilhelm I. war
+schon in seiner Jugend ein sparsamer Haushalter, und der
+Baumeister, der in den dreißiger Jahren dem Prinzen von
+Preußen dies Haus aus einem alten Privatpalais umgestaltete,
+mußte von allem unnötigen Aufwand Abstand nehmen. Da man
+immer sagte, daß innen nichts Besondres zu sehen sei, bin
+ich früher nie hineingegangen, bis ich vor kurzem Laforgues
+Berliner Aufzeichnungen las. Der erzählt so hübsch von der
+Stille dieser Räume, in denen nur das Monarchenpaar mit
+einem halben Dutzend Kammerfrauen der Kaiserin hauste,
+während der sonstige Hofstaat im großen Schloß, im
+Prinzessinnenpalais und in dem benachbarten Niederländischen
+Palais untergebracht war. Wenn er, um sich zur Kaiserin zu
+begeben und ihr vorzulesen, morgens eintrat, hörte man nur
+das Ticktack der Uhren und den Fall der Wassertropfen im
+Wintergarten. Und den ganzen Tag dauerte die Stille, nur
+minutenweise unterbrochen vom Sporengeklirr einer Ordonnanz,
+die mit einer Meldung eintrat. Da las er denn der Fürstin
+das Wichtigste aus den Pariser Zeitungen *Le Temps*, *Les
+Débats*, *Figaro* und aus der *Revue des deux Mondes*,
+ferner Auszüge aus Romanen und Memoiren. Den Kaiser bekam er
+selten zu sehen. Das Fürstenpaar lebte ziemlich getrennt
+unterm gemeinsamen Dach. Von den Hofdamen hörte er, daß der
+alte Herr ‚goldig‘ sei,
+und die Gemahlin, die sehr empfindliche Nerven hatte, wie
+ein höheres Wesen schone und respektiere. Wenn es doch
+Gegensätze gab und Auguste heftig wurde, pflegte Wilhelm
+verständnisvoll zu sagen: ‚Es regt sich wieder einmal ihr
+russisches Blut‘. Sie war meist abgespannt, mit langer
+blasser Hand fuhr sie sich über die Stirn. Sehr soigniert
+war die alte Dame und gar nicht populär. Die Berliner sagten
+von ihr ‚Sie ist nicht von hier‘. Was Laforgue erzählt,
+machte mich neugierig auf das Interieur der beiden alten
+Leute, und so bin ich denn kürzlich mit einem Schub
+Besichtiger eingetreten. Wir bekamen Filzpantoffeln zum
+Schlittern, und die Sichersten sahen alles an, als ob sie
+hier mieten wollten; sie überzeugten sich diskret — mit
+Rücksicht auf die Führerin, die den Vormieter vertrat (er
+war vielleicht noch gar nicht ausgezogen, war vielleicht
+nebenan) — von der Lage der Zimmer und erwogen, welche
+Gegenstände man eventuell übernehmen könnte.
+
+Ja, da war es nun wirklich, das Arbeitszimmer mit dem
+historischen Eckfenster, an dem der Kaiser sich zeigte, wenn
+draußen die Wache vorüberzog. Er soll jedesmal, wenn die
+Musik näher kam, mitten im Gespräch den Überrock über der
+weißen Weste zugeknöpft und den Orden pour le mérite
+zwischen den Aufschlägen der Uniform vorschriftsmäßig
+zurechtgerückt haben. Es ist derselbe Orden, den wir auf
+vielen Porträts seiner Zeitgenossen sehen, er nimmt sich gut
+aus am Halse all dieser würdigen Männer, die sich so gerade
+hielten, wie das heute kaum mehr möglich ist. Einer von
+ihnen, erzählt man, hat noch kurz vor seinem Tode es
+vermieden, sich in seinem Stuhl anzulehnen, und den
+Angehörigen erklärt, er wolle das nicht, es könne zu einer
+schlechten Angewohnheit werden. Gleich diesem Manne hielt
+sich sein alter König aufrecht zwischen all den unbequemen
+Möbeln, die hier sein Arbeitszimmer überfüllen. Es ist noch
+ganz in dem Zustande erhalten, in dem er es verlassen hat,
+um ein paar Türen weiter in einem bescheidenen Hofzimmer,
+welches das Nachbargebäude verdunkelt, sich sterben zu legen.
+Tische, Etageren, Vertikows, Stuhl und Sofa sind bedeckt mit
+Souvenirs, Mappen und Büchern. Der alte Herr behielt das
+alles eng um sich und fand sich mit peinlicher Genauigkeit
+darin zurecht.
+
+So viel Gerahmtes und Briefbeschwerendes, eine solche Menge
+von wert- und geschmacklosen Photographien, Vasen, Kissen
+und Statuetten hat wohl selten ein Sterblicher geschenkt
+bekommen wie dieser freundliche Greis, und alles hat er mit
+rührender Pietät aufgehoben. Was Tisch und Wand nicht mehr
+fassen konnten, hat er einfach auf den Boden gestapelt, und
+da steht es noch. Die ausführlich gemalten Ölbilder und
+Porzellanmalereien glaube ich alle zu kennen, das römische
+Landmädchen, das den Handrücken in die Hüfte stützt, die
+frommblickende Älplerin mit dem tressengeschmückten Mieder
+und dem süßen von Lockenschnecken gerahmten Ovalgesicht, das
+Prinzeßchen in Miniatur mit Höschen unterm Rock und Kranz in
+der Hand. Und dort die offenhaarige Dame, die über einer
+Blume sinnt, war gewiß in einer ‚guten Stube‘ bei Großeltern
+oder Großtanten. Und über den Polstern der guten Stube waren
+auch meistens Bezüge, wie wir sie hier finden. Nur daß hier
+Krönchen darauf gewebt sind, weil der bewohnende Bürgersmann
+König war. Aus dem nächsten
+Zimmer schaut leibhaftig das altvertraute Märchen von
+Thumann her. Im Samtrahmen lauscht’s herüber, mit dem
+blendenden Ellenbogen der Linken, die das Haupt stützt, ins
+Walddunkel vorstoßend. Auf dem Absatz des Bücherschranks
+stehen Photographien kostümierter Familienmitglieder zur
+Erinnerung an kleine Verkleidungsfeste, den intimen
+Maskenball guter Bürgerfamilien. Und auf demselben Absatz
+wurde dem Kaiser das zweite Frühstück serviert, das er
+stehend einnahm. Aus der Bibliothek führt eine schmale
+Wendeltreppe hinauf in die oberen Räume. Diese
+beschwerlichen Stufen stieg Wilhelm I. noch in hohem Alter
+empor, um in die Gemächer seiner Gattin zu gelangen. Wir
+nahmen dahin den weiteren, bequemeren Weg, kamen durch das
+Vortragszimmer, wo auf einem der steifen Stühle, mit dem
+eingepreßten Preußenadler auf der Rückseite, Bismarck etwas
+unbequem sitzen mußte, wenn er seinem lieben Herrn als
+treuer Diener seine Politik zu insinuieren hatte. Wir traten
+ins marmorne Treppenhaus, da heben Viktorien von Rauch ihre
+Kränze, friedlich anmutende Göttinnen lang vergangener
+Kriege. Oben die Räume der Kaiserin sind festlicher und
+prächtiger als die, welche wir verlassen haben. Schon als
+Prinzessin hat sich Augusta viel mit Inneneinrichtung
+beschäftigt und soll behauptet haben, an ihr sei ein
+Dekorateur verlorengegangen. Wir Fremde trieben etwas
+stumpfsinnig an Repräsentation und Behagen dieser lichten
+Zimmer, an Malachit und Alabaster der üblichen
+Russengeschenke vorbei, sahen viel aus dem Fenster und
+wurden erst wieder aufmerksam, als man uns im Tanzsaal ein
+Echo vorführte,
+das zufällig, sozusagen aus Versehen, hier miteingebaut
+worden ist. Einige aus unserer Herde machten schüchterne
+Versuche, es selbst zu wecken, was unsere Führerin lächelnd
+zuließ. Unser Rundfahrtführer hat dies immerhin denkwürdige
+Haus mit ein paar Worten abgetan und um so ausführlicher auf
+die schrecklich ‚maßvollen Barockformen‘ der
+gegenüberliegenden riesigen neuen Staatsbibliothek
+hingewiesen. Dort ist überm Tor zwischen seinem
+perückentragenden und seinem gezöpften Ahnherrn der letzte
+Zollernfürst als Büste mit marmorn gezwirbeltem Schnurrbart
+zu sehen. Im Innern gibt es unglaublich viel Bücher und eine
+große Handschriftensammlung, Musik- und Kartenabteilungen,
+Grammophonplatten von zweihundert Sprachen, allerlei
+Institute, die man alle besichtigen kann; am schönsten aber
+ist es, sich hinter einen Wall von Büchern in den
+kreisrunden Lesesaal zu setzen und die unterschiedlichen
+Männlein und Weiblein zu beobachten, die in konzentrischen
+Ringen um eine leere Mitte studieren, notieren, frühstücken
+und träumen.
+
+Ach, frühstücken! Wir sind ja wieder bei dem Alten Fritz und
+unserm Ausgangspunkt angelangt. Wollen wir nicht hinübergehn
+in Habels altväterische Weinstube in dem schönen
+hundertjährigen Hause, uns an einen der blankgescheuerten
+Tische setzen und die große Weinkarte studieren? Leider
+fahren wir weiter, unser Pensum ist noch nicht beendet. Wir
+dürfen nur einen raschen Blick auf Vasen, Masken und
+Weinlaub des Reliefs überm Eingang werfen.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Die Straße Unter den Linden, noch immer mit ihren vier
+Baumreihen, schönen Läden, Gesandtschaften, Ministerien und
+Bankhäusern Herz und Mitte der Hauptstadt — um sie ganz zu
+würdigen und im Gegenwärtigen das Vergangene zu erleben,
+müßte man all ihre Epochen heraufbeschwören, seit der Große
+Kurfürst sie als vorstädtische Allee zu seinem Jagdpark, dem
+Tiergarten, hin anlegte. Über die fritzische Zeit müßte man
+in der vortrefflichen Beschreibung der Haupt- und
+Residenzstädte Berlin und Potsdam von Friedrich Nicolai
+nachlesen, da steht jedes Haus der Straße verzeichnet,
+Gasthäuser wie die Stadt Rom, das spätere Hotel de Rome,
+Ecke der Stallgasse, jetzt Charlottenstraße, dessen
+stattlicher Neubau erst vor kurzem Bureau- und
+Geschäftshäusern Platz machen mußte, Palais, wie das des
+Markgrafen von Schwedt, mit Benennung all seiner
+Vorbesitzer, aus dem dann das Palais des Alten Kaisers
+geworden ist, oder das der Prinzessin Amalie von Preußen,
+Äbtissin von Quedlinburg, nahe der Wilhelmstraße, wo jetzt
+die russische Botschaft wohnt, und das eines von Rochow und
+das eines Grafen Podewils usw. Sodann müßte man den
+berühmten Lindenfries im Märkischen Museum betrachten, der
+alle Häuser Unter den Linden im Jahre 1820 festhält. Tust du
+nun noch das Bild der Gegenwart mit den Auffahrten der
+Hotels Bristol und Adlon (der Neubau des letzteren hat das
+herrliche Redernsche Palais verdrängt), dem stattlichen
+Kultusministerium und den vielen wohlerhaltenen älteren
+Gebäuden hinzu, die altberühmte Läden und Geschäftshäuser
+enthalten, so ergeht es dir vielleicht wie Varnhagen, der
+über einen Spaziergang die Linden bis
+zum Tor hinab und zurück notiert: ‚Der Anblick erweckte in
+mir eine großartige Bilderreihe der Vergangenheit und
+Zukunft, eine herrliche Geschichtsentwicklung, die gleich
+einem wogenden Meere das kleine Schiff des eigenen Daseins
+trug.‘
+
+Auch als altbewährte Promenade der Lebensfreude empfehlen
+sich die Linden. Dafür gibt es neben Heinrich Heines
+berühmtem
+
+ | Blamier’ mich nicht, mein schönes Kind,
+ | Und grüß mich nicht unter den Linden
+
+Zeugnisse weniger bekannter Poeten, zum Beispiel die
+Berliniade oder Lindenlied eines F. H. Bothe, die der letzte
+der hübschen Berliner Kalender von Adolf Heilborn zitiert:
+
+ | Unter den Akazien
+ | Wandeln gern die Grazien
+ | Und der Mädchen schönste finden
+ | Kannst du immer untern Linden
+ | In Berlin, in Berlin,
+ | Wenn die Bäume wieder blühn.
+ |
+ | Liebende gehn Arm in Arm
+ | Einsam durch den bunten Schwarm.
+ | Und es sagt ein Händedrücken
+ | Und ein Streifkuß ihr Entzücken
+ | In Berlin, in Berlin,
+ | Wenn die Bäume wieder blühn.
+ |
+ | Untern Linden auf und ab
+ | Wallen Herr’n in Schritt und Trab,
+ | Schöne Herr’n und hübsche Herrchen,
+ | Große Narren, kleine Närrchen,
+ | In Berlin, in Berlin,
+ | Wenn die Bäume wieder blühn.
+ |
+ | Freilich ist dann wohl Mama,
+ | Auch Papa wohl plötzlich da.
+ | Doch nicht oft wird sich’s begeben;
+ | Denn warum? Man weiß zu leben
+ | In Berlin, in Berlin,
+ | Wenn die Bäume wieder blühn.
+
+Merkwürdige Varianten dieses Liedes enthält ein Stück der
+Scherzhaften Lieder eines gewissen Karl Müchler vom Jahre
+1820:
+
+ | Untern Linden, wie ihr wißt,
+ | Wandeln die da rufen: Pst.
+ | Mild gesinnte Herzen finden
+ | Kannst du immer untern Linden
+ | In Berlin, in Berlin,
+ | Wenn die Bäume wieder blühn.
+ |
+ | Für acht Groschen ist Mama
+ | Hinten auf dem Hofe da,
+ | An den Herrn und an Jeannettchen
+ | Leiht sie Kammer, Licht und Bettchen
+ | In Berlin, in Berlin,
+ | Wenn die Bäume wieder blühn.
+
+Inwieweit seither der Charakter unserer ehrwürdigen
+Hauptpromenade sich gleich geblieben ist oder sich geändert
+hat, dies zu behandeln wollen wir erfahrenen Forschern der
+Sittengeschichte überlassen und beim bloßen Anblick der
+Gegenwart bleiben.
+
+Der neugierige Fremde interessiert sich wohl vor allem für
+die berühmte Ecke Friedrichstraße und fragt nach Café Bauer
+und Kranzler. Nun, Bauer heißt nicht mehr Bauer, sondern
+schlechthin Café Unter den Linden, die wacker dionysischen
+und elysäischen Wandgemälde sind verschwunden und eigentlich
+ist im gegenüberliegenden Café König ‚mehr los‘ — womit ich
+nichts gegen die Annehmlichkeiten eines Aufenthalts im Café
+Unter den Linden gesagt haben will, im Gegenteil! Und
+Kranzler? Da sind zwar noch die merkwürdigen Eisenpfähle und
+Ketten, über die schon die eleganten Offiziere des alten
+Regiments Gensd’armes zur Zeit der Königin Luise ihre
+enghosigen Beine hängen gelassen haben, aber seit dem
+letzten Umbau hat es sein altes Cachet verloren, womit ich
+wiederum nichts gegen die Kuchen, die man dort verspeisen
+kann, sagen will.
+
+Von der Friedrichstraße, auf die du Fremder in Eile einen
+heftigen Blick wirfst, will ich dir noch nichts sagen, sie
+muß mit ihren alten, veraltenden und lebendig gebliebenen
+Geheimnissen und Sichtbarkeiten einem Abendspaziergang
+vorbehalten bleiben.
+
+Aber gern würde ich dich auf ein paar Minuten durch den
+Torweg dort in die kleine Mauerstraße entführen. Der Anblick
+der Torwölbungen von der Innenseite dieser alten Steinwelt,
+die mehr ein Durchgang als eine Straße ist, der
+anschließende Rundbau, die Balkongitter, der Glaserkergang,
+das Hellgrau und *‚cafe au lait‘* aller Nachbarhäuser ist
+rein erhaltene Vergangenheit. Der jenseitige Torbogen aber
+führt dich in die ‚Zentrale des deutschen Zahlungsverkehrs‘,
+die Mauerstraße und ihre Nachbarn. Vor allem findest du dort
+die mächtigen Gebäude der Deutschen Bank, die durch
+neuzeitliche Seufzerbrücken miteinander verbunden sind.
+
+Vorbei an kleinen, vornehm aussehenden Häusern, die mit
+ihren klassizistischen Fensterrahmungen wohlerhalten
+zwischen den jüngeren größeren Nachbarn stehn, und den
+Reihen schöner Privatautos vor den Hotels und parkenden in
+der Mitte des Dammes sind wir an den Pariser Platz gekommen.
+Die Form dieses Platzes mit dem abschließenden Tor, den
+zurückweichenden Fassaden der einfachen Palais und dem
+erfrischenden Rasengrün zur Rechten und zur Linken bewahrt
+eine Stille und Geschlossenheit, die vorübertosender Lärm
+und Betrieb nicht stören kann. Wohltuend ist der
+einheitliche Stil der Gebäude, den nur das Palais Friedländer etwas
+unterbricht, während das Barock der französischen Botschaft
+gut eingeht. Und erfreulich ist es, zu wissen, daß hier
+neben Akademien, Botschaften, Reichtum und Adel ein Maler
+und ein Dichter hausen.
+
+Das Brandenburger Tor mit den beiden Tempelhäuschen, die
+Schinkel dem stolzen Bau des älteren Langhans anfügte, ist
+zwar den athenischen Propyläen — etwas ungenau und, wie der
+Erbauer selbst berichtet, nur nach Beschreibungen der Ruinen
+— nachgebildet, aber in seiner stämmigen sandsteinernen
+Geradheit für unser Gefühl eigentlich mehr altpreußisch als
+antikisch. Es ist das Tor von Berlin. Und bei der Victoria,
+die oben ihre Quadriga lenkt, denken wir Kinder von hier
+nicht nur an die Entführung durch Napoleon und ihre
+siegreiche Wiederkehr, sondern auch an die Rolle, die sie in
+‚Teufelchens Geburtstag‘ in den entzückenden Berliner
+Märchen von Walther Gottheil spielt, in denen auch der Große
+Kurfürst und der Goldfischteich und die Spree so
+unvergleichlich verewigt sind.
+
+Wir umkreisen nun den Platz vor dem Tor. Sieh bitte nicht
+auf die marmornen Balustraden, Bänke, Springbrunnen und
+fürstlichen Herrschaften, die wir wilhelminischen
+Architekten und Baumeistern verdanken. Nimm dies grelle Weiß
+vor dem holden Grün des Tiergartens für Blendung und
+Augenweh! Wir wollen zusehn, daß das verunglückte
+Kaiserpaar, Friedrich III. und seine Gattin Viktoria, mit
+Gottes Hilfe entfernt ist, wenn du das nächste Mal nach
+Berlin kommst. Schau auf die schönen Bäume und Büsche an der
+Allee. Aber da schimmert schon wieder ärgerlich greller
+Marmor durchs Grün, und nun sind wir in der Siegesallee. Ja,
+da sind nun rechts und links 32 (in Worten: zweiunddreißig)
+brandenburgisch-preußische Herrscher und hinter jedem eine
+Marmorbank und auf jeder Bank sitzt — nein, sitzen kann da
+niemand, es ist zu kalt — aber auf jeder Lehne hocken zwei
+Hermen jeweiliger Zeitgenossen des betreffenden Herrschers.
+Es hilft nichts: unser Wagen fährt unerbittlich die ganze
+Reihe entlang und man nennt dir die Namen. Ob wir bis zu
+deinem nächsten Besuch das alles werden entfernt haben?
+Berlin ist ja jetzt sehr tüchtig, was Aufräumungsarbeiten
+betrifft, aber verarbeiteter Marmor soll keinen rechten Wert
+haben. Man müßte doch das Material verkaufen können. 32
+Herrscher nebst Bänken und Zeitgenossen! Da weiß ich keinen
+Rat. Du machst dir aber vielleicht einen Begriff, wie schön
+diese Allee hinauf zur braven alten Siegessäule und hinunter
+zur Viktoriastraße früher war. So, jetzt haben wir die eine
+Seite bis zu Friedrich Eisenzahnen geschafft. Hier sind wir
+am Kemperplatz, und das da soll, weil wir keinen alten mehr
+haben, der neue Roland von Berlin sein. Hier um die Ecke
+könnten wir in das etwas prunkvolle Café Schottenhaml gehn
+(bei diesem Namen denkt man eigentlich an etwas behaglich
+Münchnerisches) und oben das Porzellankabinett bewundern,
+alte Muster der Berliner Manufaktur. Aber unser Wagen wendet
+und erledigt die zweiten 16 von den 32. Da wirf einen Blick
+auf Otto den Faulen, den einzigen von diesen Herren, der
+sich einer gewissen Popularität erfreut, er hat eine so nett
+verdrießliche Art, das Repräsentieren
+nachlässig mitzumachen. Und nun harre aus, bis
+wir zur Siegessäule kommen! Sie ist nicht gerade schön, das
+kann man nicht behaupten. Immerhin erinnert der hohe
+Säulenschaft mit den Geschützrohren an einen Schachtelhalm.
+Und Schachtelhalme sind schön. Und das Ganze gehört nun
+einmal zu unserer Spielzeugschachtel Berlin. Du mußt
+zugeben, daß die Säule trotz der Kanonen etwas Harmloses
+hat. Wenn du übrigens Rundsichten liebst, da oben ist eine
+mit Baedekerstern, da kannst du über den ganzen Tiergarten
+weg nach Süden und Westen und nördlich Moabit sehn und
+östlich über die Reichstagskuppel die ganze Altstadt und
+alle Kuppeln und Türme, die wir heute aus der Nähe gesehen
+haben, noch einmal überschauen.
+
+Weniger harmlos, selbst noch in Begas’ eiliger Pathetik, ist
+dort der Riese auf dem roten Granitsockel. Der bronzene
+Kürassier mit der Faust auf der Urkunde der Reichsgründung
+schaut, seines eigenwilligen Werkes sicher, über alles
+Erreichte hinweg in die Fernen, welche die nicht mehr
+erreichten, die nach ihm kamen. Um das Volk an seinem
+Sockel, den Atlas mit der Weltkugel, den Opernsiegfried am
+Reichsschwert und die verschiedenen Damen, die
+Staatsweisheit und Staatsgewalt bedeuten, kümmert er sich
+nicht. Und das mächtige Reichstagsgebäude hinter ihm scheint
+sich zu ducken mit Kuppel und Türmen. Die Reichstagskuppel
+ist übrigens überhaupt nicht so hoch geworden, wie der
+Baumeister Wallot plante. Aber auch so wie es geworden ist,
+hat dies grollend lagernde Riesentier seine massive
+Schönheit und ist für die Zeit, in der es entstand, eine
+gewaltige Leistung.
+
+Hast du Lust an Glasfenstern mit Reichsadlern, Wandgemälden
+von Städten und Landschaften, Kardinaltugenden, marmornen
+und bronzenen Kaisern, gepreßten Ledertapeten von der
+Vornehmheit internationaler Speisewagen, ‚reichem
+Renaissanceschmuck‘, allegorischen Damen, so laß dich durch
+die Wandelhallen, Lesesäle, den großen Sitzungssaal,
+Erfrischungsraum, Vorsäle und Ausschußsäle führen. Es dauert
+immerhin dreiviertel Stunden. Hast du unter Abgeordneten
+oder Leuten von der Presse einen Freund, laß dir von ihm
+eine Eintrittskarte zur Tribüne verschaffen und wohne einer
+Sitzung bei. Da mußt du dann vor allem achtgeben, daß du
+Rechts und Links nicht verwechselst. Es ist wie bei gewissen
+Bühnenvorschriften vom Schauspieler, nicht vom Zuschauer aus
+gemeint. Also orientiere dich gut, damit du die Kommunisten
+nicht für Völkische hältst und umgekehrt. Nach
+Zeitungsbildern, Kinowochenschau und Karikaturen wirst du
+unsere größeren und kleineren Politiker erkennen, und das
+macht ja immer Vergnügen. Im übrigen empfehle ich dir die
+Lektüre gewisser Seiten von Eugen Szatmaris Berlin-Buch. Das
+führt dich auf muntere Art in diese Welt ein, in der ich
+mich etwas fremd fühle.
+
+Wo in Berlin ein Bismarck errichtet ist, pflegt Moltke nicht
+weit zu sein und auch auf Roon ist bisweilen zu rechnen.
+Unser Wagen bringt dich an beider Denkmälern vorüber und
+zwischendurch an der neuen vor einigen Jahren umgebauten
+Staatsoper, die einst als Krollsches Opernhaus in
+sommerlichem Garten stand.
+
+Dies Etablissement hatte eine besondre Glanzzeit, als noch
+das Gaslicht vorherrschte. Da wurde der Garten ‚märchenhaft‘
+illuminiert, wie wir blasierten Zeitgenossen der Berliner
+Lichtwoche, der A.E.G. und der Osramlampen es uns gar nicht
+mehr vorstellen können. Schon damals lockte Licht Leute
+hierher wie in den Pariser Jardin und Bal Mabille.
+
+Am Reichsministerium des Innern, das früher
+Generalstabsgebäude und Moltkes Heim war — es gibt dort ein
+Moltkegedächtniszimmer — kommen wir vorbei und die
+Alsenstraße hinauf, ein Stück am Kronprinzenufer entlang und
+über die Brücke. Da zur Rechten rund und weiß das
+Lessingtheater. Und jetzt hinter der mächtigen Schwebebrücke
+der Humboldthafen, an dessen Becken sich nördlich der Anfang
+des Spandauer Schiffahrtskanals anschließt, der Wasserweg
+zur Oder. Einer der sympathischsten älteren Berliner
+Bahnhöfe taucht auf, der nach der kleinen Stadt Lehrte
+heißt, aber gar nicht dahin seine Züge sendet, sondern vor
+allem nach Hamburg. Das ist eine schöne rasche Fahrt durch
+die Elb-Ebene und große mecklenburgische und
+niedersächsische Wälder und Felder. Mit alten Glaskuppeln
+und allerlei etwas unordentlich herumliegenden Gebäuden,
+Panoramen und Gartenrestaurants, erscheint, von der
+Stadtbahn überquert, der Ausstellungspark, früher im Sommer
+und wenn die Große Bilderausstellung die Säle füllte, ein
+‚Treffpunkt‘, jetzt ein bißchen veraltet, wie eingeregnet
+von lauter Vergangenheit, überholt von jüngeren
+Unternehmungen. Moabit mit Kriminalgericht, Zellengefängnis,
+der Meierei Bolle, den Kraftwerken, das ist ein Kapitel für
+sich. Wir fahren wieder über eine Spreebrücke und kommen zu den
+‚Zelten‘.
+
+Die großen Gartenrestaurants erheben sich jetzt da, wo
+früher einmal wirkliche Zelte waren. Der Alte Fritz hatte
+französischen Kolonisten gestattet, hier Leinwandzelte
+aufzuschlagen und Erfrischungen an die Spaziergänger zu
+verkaufen. Später gab es hier Gerüste, auf denen musiziert
+wurde. In den Märztagen von 1848 scharte sich um die Gerüste
+das revolutionäre Volk, beriet Adressen an den König, Druck-
+und Redefreiheit, Volksvertretung usw. Eine Weile lang ließ
+man sie gewähren, umstellte sie aber mit Reiterschwadronen.
+Es ging hier noch alles mit Maß und Haltung zu. Varnhagen
+berichtet von den schweigsamen Massen, die in dunkler Nacht
+ruhig von den Zelten durch das Brandenburger Tor in die
+Stadt zurückkehrten. Auch in den Novembertagen 1918 zog an
+den Gärten der großen Restaurants die Menge schweigend
+entlang und wieder waren die Zelte eine Stätte verhalten
+maßvoller Revolution. Im allgemeinen aber ist hier friedlich
+kleinbürgerliche Erholung mit viel Musik, Vorstellungen,
+Tanz und den mächtigen Platten der ‚Zeltentöpfe‘ und
+‚Stammessen‘ oder mitgebrachtem Abendbrot. Es geht beim
+Tanzen bieder zu; auch die Vorführungen sind ziemlich
+harmlos. So ist hier noch heute mitten in der Stadt eine Art
+Ausflugsrast für die unendlich vielen kleinbürgerlichen
+Familien, Gruppen, Vereine Berlins. Schönstes stilles Berlin
+ist die Straße, die sich im Anschluß an die Restaurants am
+Tiergartenrand hinzieht. Aber das kann man so im
+Vorbeifahren nicht sehn, das muß man mit Morgen
+und Abend erleben. Hier wohnt sich’s altertümlicher und
+heimlicher als in den bekannten schönen Straßen am südlichen
+Tiergartenrand.
+
+Grausam schnell saust unser Wagen den Spreeweg entlang am
+Garten und Schloß Bellevue vorbei zum Großen Stern.
+Bellevue: früher spähte man durch den Zaun, um zu sehen, ob
+da die kleinen Prinzenkinder spazierten. Jetzt kann man in
+den Alleen des alten Gartens sich ergehn, in den runden Saal
+zu ebner Erde im Seitengebäude schauen und sich dazu
+königliche Sommerfeste denken, Gartengrabmäler entziffern,
+hinübersehn nach der Altberliner Straße, die Brückenallee
+heißt, wo in verwitternden Balkons Altfrauenblumen sich
+halten. Auf der Schloßterrasse nach der Gartenseite zu saß
+viel in seinen letzten Jahren der tafelfrohe und
+lebenstraurige Friedrich Wilhelm IV., zeichnete vielleicht
+seine romantischen Gartenprospekte, wie man deren im
+Hohenzollernmuseum sehen kann, empfing seine Minister, die
+über seinen seelischen Zustand ihre Bedenken bekamen, und
+träumte sein verlorenes Kaiserreich, in dem ‚kein Blatt
+Papier zwischen ihm und seinem Volke sein sollte‘, während
+die liberalen Berliner sich mit Parlament und Freiheit
+befaßten.
+
+Zu Zeiten des Großen Friedrich hatte Knobelsdorff, der
+Meister von Sanssouci, hier Meierei und Landhaus, nach
+seinem Tode ging der Besitz durch verschiedene Hände, bis er
+endlich an Prinz Ferdinand, Friedrichs jüngeren Bruder, kam,
+dem Boumann der Jüngere das Schloß gebaut hat; der zierliche
+Pavillon aber mit den korinthischen Säulen ist Schinkels
+Werk.
+
+Während wir am Großen Stern den Hubertusbrunnen und
+die Jagdgruppen passieren, brave Bronze, gegen die sich
+nichts einwenden läßt, versuche ich doch diesen Platz in
+alten Zeiten vorzustellen, als hier die echten Parkhüter des
+Jägerkreuzwegs standen, Gartengötter, die später noch auf
+den Korso der schönen Welt schauten. Oh, es hat schon viele
+Berliner Tiergarten und Große Sterne gegeben vor dem, den
+jetzt der Rundverkehr durchtost und in dem vor kurzem als
+Sinnbild des helleren Berlins ein Lichtturm grell
+aufleuchtete.
+
+Bei der Fahrt die Charlottenburger Chaussee hinauf zeig ich
+dem Fremden schnell, wo im Grünen der Weg zu dem alten
+Gartenrestaurant Charlottenhof führt. Das war einmal ein
+schönes Privathaus und ist nun eines der wenigen Cafés im
+Tiergarten selbst, die zum Verweilen einladen. Noch hat der
+Berliner in seinem Park seine Art Luxus und Behagen nicht
+ins beleuchtete Laubwerk verpflanzt. Was würde Paris aus so
+schön gelegenen Plätzen, wie dies Charlottenhof oder das
+kleine Gasthaus bei der Bootanlegestelle am Neuen See es
+ist, gemacht haben!
+
+An dem Stadt-Bahnhof Tiergarten findest du in einer kleinen
+Auslage die Schalen und Teller, die dort die
+Porzellanmanufaktur ausstellt; ich lege dir dringend ans
+Herz, ein paar freie Stunden dem Besuch der nahegelegenen
+Fabrik zu widmen. Das ist ein Stück bestes Altberlin. Längs
+eines stillen Wasserarms zweigt hier die nach dem
+Privatbegründer der Manufaktur, Wegely, benannte Straße ab
+und führt zu den Verwaltungsgebäuden und zu der Fabrik.
+Während die Verkaufs- und Ausstellungsräume in der Leipziger
+Straße allgemein bekannt sind, ist dieser abgelegne Komplex
+mit seinem
+Museum und all den Hallen und Zimmern, in denen das
+Porzellan gewonnen, gebrannt und bemalt wird, bei weitem
+nicht so berühmt und besucht, wie er es verdient. Durch den
+gartenhaften Hof gehen wir an den langen schmucklosen
+Gebäuden entlang und durch einen Torweg in die Fabrik, deren
+Bau auch schon historischen Reiz hat. Dort führt man uns den
+ganzen Weg, den das Porzellan von der Schwemmerde bis ins
+Atelier des Blumenmalers zurücklegt. In den niederen
+Schlämmereikellern setzen sich in der ruhig gleitenden Masse
+in einem weiten Kanalsystem von Rinnen die festen Teile ab;
+aus denen wandert die Flüssigkeit in Kästen, wo auch die
+feineren Bestandteile sich vom Wasser scheiden. Der
+‚Hallischen Erde‘ wird Feldspat, der vor unsern Augen in
+mächtigen Kollergängen grob und in Trommelmühlen staubfein
+zerkleinert worden ist, beigegeben. Die Gesamtmasse wandert
+weiter, erlebt Filterpressen und Masseschlagmaschinen, die
+moderne Form der alten Knetbänke. Auf runden Tischen wird
+sie unter einen Walzengang gebracht. Wir dürfen die
+Gipsformer und die Arbeiter an der Töpferscheibe bei ihrem
+Werk beobachten. Wir besuchen die leichtgewärmten
+Trockenräume, wo die ausgeformten Gegenstände bleiben, bis
+sie reif zum ersten Brande sind, die Brennkammern der
+Gasringöfen, die Stockwerke des Rundofens, Gutbrandraum und
+Verglühraum und die Ateliers, wo die Tonnen zum Glasieren
+stehn. Eine seltsame Unterwelt, halb Backofen, halb Gang zum
+Eisenhammer. Zuletzt langen wir bei den Malern an, die auch
+heut noch treu-inniglich die alten Blümchen mit spitzen
+Pinseln in Metallfarbe aufsetzen, welche
+sich beim Einbrennen verwandelt. Man zeigt uns die Teller
+und Schüsseln in allen Zuständen, vor und nach dem
+Einbrennen, vor und nach ihrem Aufenthalt in den Muffelöfen,
+in denen in schwachem Feuer das Flußmittel von der Farbe
+abschmilzt.
+
+Ein freundlicher Bibliothekar führt uns in den Büchersaal
+und gewährt uns Einblick in die Kabinettsorders des Alten
+Fritz, der sich als Fabriksherr um alle Einzelheiten seiner
+‚Porcellainfabrique‘ kümmerte. Alle Berichte von Bedeutung
+mußten an ihn direkt gehen, er versah sie mit seinen
+gestrengen ‚Erinnerungen‘. Er war ein guter Kaufmann und
+wußte seine Ware anzubringen. Wollten zum Beispiel Juden
+sich niederlassen, ein Gewerbe eröffnen oder heiraten, so
+mußten sie königliches Porzellan kaufen. Dem Philosophen
+Moses Mendelssohn wurden zu einer Zeit, als er schon einen
+großen Namen hatte, zwanzig lebensgroße massive Affen
+zugemutet. Durch große Geschenke, die er gern mit Hilfe
+seiner Fabrik machte, vermehrte der König ihren Ruhm.
+Weltberühmt wurde der Tafelaufsatz, den er der Kaiserin
+Katharina II. von Rußland-überreichen ließ. Unter der
+Fürsorge des Königs gedieh das Unternehmen, immer neue Öfen
+wurden aufgestellt, und die technischen Errungenschaften des
+beginnenden neunzehnten Jahrhunderts kamen der königlichen
+Fabrik zugute. Wohl hatte sie Preußens schwere
+wirtschaftliche Kämpfe mit durchzumachen, bewahrte aber
+durch alle Zeiten die künstlerische Qualität und Eigenart
+ihrer Erzeugnisse. Ein Gang durch die Ausstellungssäle hier,
+ergänzt durch einen Besuch der Geschäftsräume in der
+Leipziger Straße, die Bruno Paul ihre neue Inneneinrichtung und ihm
+und Künstlern wie E. R. Weiß, Renée Sintenis, Edwin Scharff,
+Georg Kolbe, ihren Schmuck verdanken, zeigt uns das Berliner
+Porzellan durch alle Stilperioden als getreues Spiegelbild
+des Zeitgeschmacks. Da sind die Putten und Parzen des
+Rokoko, die allegorischen Gruppen wie etwa das ‚Wasser‘ als
+Schäferin mit einem winzigen Krug, Cupido als Kavallerist.
+Nach den mehr malerischen Blumen aus der Zeit des Neuen
+Palais-Services und des Breslauer Stadtservices mit seinem
+leuchtenden Dunkelblau erscheinen die zeichnerisch schönen
+Buketts des Empire, die klassizistischen Grazien,
+Kaffeetassen, deren Zierformen griechische und etrurische
+Vorbilder haben, die zarten Biskuitgebilde nach Schadows
+Entwürfen, die Luisenbüsten, die schöngestalteten
+Henkelvasen nach Schinkelzeichnungen. Im Berliner
+Stadtschloß, in Schloß Monbijou, in Potsdam, aber auch in
+altem Familienbesitz begegnen uns immer wieder diese Formen
+und Gestalten.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Wo die Charlottenburger Chaussee den Landwehrkanal
+überschreitet, erhebt sich ein etwas umständliches
+Torgebäude, das vermutlich hervorheben soll, daß hier eine
+neue Stadt beginnt. Es ist ziemlich neu, und man glaubt ihm
+nicht. Es gibt hier ebensowenig wie anderswo für das Gefühl
+eine Grenze zwischen Berlin und Charlottenburg.
+Schwesterlich hat Charlottenburg der Nachbarin auch etliche
+Wissenschaft und Kunst abgenommen, so zum Beispiel gleich
+hier zu unserer Linken die Technische Hochschule. Das
+mächtige Gebäude feiert noch einmal mit aller Pracht von Säulen, Gesimsen und
+Skulpturen eine Welt, die mit Säulen, Gesimsen und
+Skulpturen eigentlich nichts zu tun hat. In der Vorhalle hat
+der Dämon des Dampfes ein Bronzedenkmal bekommen wie ein
+Renaissanceheld. Ein Stückchen weiter macht die Berliner
+Straße einen Knick, den man das Knie nennt. Schon Fontane
+sagt von diesem Knie: ‚Seine Rundung ist heute völlig
+reizlos.‘ Reizvoller ist sie seither nicht geworden. Und
+ihre Form verschwindet ganz in dem Durcheinander von Autos
+und Bahnen, die hier die Kreuzung mehrerer Straßen
+überqueren. Die stillste dieser Straßen ist immer noch die
+Fortsetzung der Berliner Straße. An ihr liegen zwischen den
+neuen noch eine ganze Reihe älterer kleiner Häuser aus der
+Zeit, als der Weg von Berlin nach Charlottenburg ein Ausflug
+war, eine Kremserpartie. Man fuhr mit dem Wagen vom
+Brandenburger Tor aus richtig über Land hierher. Man bezog
+Sommerwohnung in den idyllischen Behausungen, die an der
+Straße lagen, welche die Hauptstadt mit der Sommerresidenz
+verbanden, die einst der erste Preußenkönig seiner Gemahlin
+im Dörfchen Lietzow geschaffen hatte und die nach ihr den
+Namen Charlottenburg trägt.
+
+Die Ankunft vor dem schönen Schloß dieser Königin wird uns
+etwas verleidet durch ein großes Reiterdenkmal Kaiser
+Friedrichs mit Umbau und Göttern von 1905 auf den Pylonen.
+Fort damit! Die Anlagen des Platzes sind doch dem Schutz des
+Publikums empfohlen! Dem Schloß gegenüber die beiden
+erfreulichen Kuppelbauten, die — man glaubt es kaum — einmal
+Kasernen waren, erinnern an die etwas unbestimmten
+Gartenarchitekturen, die der romantische Friedrich Wilhelm IV.
+zeichnete, und blicken ehrfürchtig zu Eosanders grüner
+Kuppel mit dem schwebenden Tanzgott hinüber.
+
+Im Schlosse sind schöne, etwas leere Empirezimmer der
+Königin Luise mit viel unbesessenen Sesseln und zierlichen
+Kachelöfen. Im östlichen Flügel, den Knobelsdorff für
+Friedrich den Großen anbaute, ist ein weitläufiger Tanzsaal,
+die goldne Galerie genannt. Und noch älteren Prunk findet
+man auf der Gartenseite in den Gemächern, in Kapelle und
+Porzellankammer des ersten Königs. Durch das Ganze wird man
+leider pantoffelschlurfend geführt. Ungestört aber darfst du
+Fremder in dem großen Park spazieren. Auf dem Weg dahin ist
+ein Durchgangsraum. Pilaster und reiche Kapitelle und
+Medaillons in Stuck, der so aussieht, als müßte er im
+nächsten Windstoß bröckeln, und hält doch schon zweihundert
+Jahre. Dieser wenig beachtete Raum ist ganz besonders voll
+Vergangenheit. Im Garten gehst du an schöner Schloßfront und
+den Büsten der römischen Kaiser entlang und stille Wege zum
+Mausoleum. Das ist auch in seiner in neuerer Zeit
+erweiterten Gestalt noch immer ein würdiges Gebäude, aber
+unvergeßlich ist für jeden, der es noch gekannt hat, das
+erste nach Schinkels Plänen erbaute Todestempelchen, das nur
+den Marmorschlaf der Königin Luise und ihres Friedrich
+Wilhelm hütete. Man hätte für ihren Sohn und ihre
+Schwiegertochter eine andre Ruhestätte bauen und Rauchs
+Meisterwerke allein lassen sollen. Es gibt in diesem Park
+noch ein merkwürdiges Gebäude weit hinterm Karpfenteich und
+nah dem Fluß, das Belvedere, in welchem
+in den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts
+Friedrich Wilhelm II. zu Füßen seiner ‚Gräfin Lichtenau‘
+saß. Fontane hat das Innere des »seltsamen jalousienreichen
+Baus mit den vier angeklebten flachen Balkonhäusern und dem
+kupfernen Dachhelm« besucht (heut ist es eine Art
+Beamtenwohnung und unzugänglich). In den saalartigen
+Rundzimmern war er und in dem dämmerigen Kabinett, wo der
+König die Geister der Abgeschiedenen beschwor, die ihn
+mahnten, auf den Weg der Tugend zurückzukehren. Heut sind
+die Gespenster, die Fontane noch spürte, von ziemlich
+banaler Gegenwart vertrieben, und Vergangenheit wohnt eher
+in manchen Büschen und Wegen des Parks, der sich weit nach
+Norden und Westen hin erstreckt.
+
+Unser Wagen aber lenkt südwärts ins neueste Charlottenburg
+auf den Kaiserdamm bis zum Reichskanzlerplatz. Auf die
+Reichsstraße werfen wir nur einen Blick und ahnen dahinten
+die werdende Kolonie Heerstraße. Südlich vom Kaiserdamm
+bekommen wir die Messehallen, die großen Ausstellungsbauten,
+Funkhalle und Funkturm zu sehen. Groß angelegt und mit Recht
+ein Stolz des neuen Berlin ist diese ganze Straße, die vom
+Brandenburger Tor hieher und weiter führt. Unser Rückweg
+passiert in der Hardenbergstraße die Hochschulen für Musik
+und bildende Kunst, einen einheitlich entworfenen Komplex
+von Gebäuden in hübschem Sandstein. Und dann geht es unterm
+Stadtbahnviadukt hindurch und zur Kaiser
+Wilhelm-Gedächtniskirche, vor der unser Wagen hält. Der
+Führer erklärt, dies Gebäude sei eine der schönsten Kirchen
+Deutschlands.
+
+Nun ist leider noch heller Tag, da sieht man sie zu
+deutlich. Ach, wenn hier eine echte alte Kirche stünde — aus
+Zeiten stammend, die eine der andern den Torso ihrer Träume
+zu langsamem Weiterbauen übergab — und wenn nun heut an die
+altersgrauen Mauern und Zacken unter Engelleibern und
+Teufelsfratzen der wilde Rundverkehr der Trambahnen, Autos,
+Autobusse und Menschenmassen mit einem Echo aus Ruinenstein
+prallte — der ‚Broadway‘ von Berlin-Charlottenburg mit
+seinen Cafés, Kinos, Leuchtbuchstaben und Wanderschriften
+hätte ein Herz, eine Mitte, eine Resonanz. Statt dessen
+steht, seit dreißig Jahren immer noch wie neu, hier das
+Schulbeispiel einer sogenannten ‚spätromanischen
+Zentralanlage‘ mit Hauptturm und Nebentürmen als massives
+Verkehrshindernis mitten auf dem Platz, und gegenüber dem
+Hauptturm einerseits und dem Chor andrerseits sind von
+demselben Architekten — wir wollen seinen Namen vergessen —
+noch aus Stilgefühl zwei gleichfalls romanische Häuser
+errichtet. Es muß abends schon gewaltig von ‚Capitol‘ und
+‚Gloriapalast‘ und der Ufa am Zoo Licht herüberdonnern, um
+die steingewordne Schulweisheit etwas aufzulösen. Wir
+Älteren denken manchmal an die Zeit, als hier einer der
+wunderbaren vom alten Tiergarten übriggebliebenen Bäume
+seine Zweige breitete (Zeitgenossen dieses herrlichen Baumes
+stehen noch heut, der eine in der Wichmann-, der andre in
+der Viktoriastraße), doch das ist belanglos, heut ist heut.
+Aber wenn diese Kathedrale mit dem langen Namen wenigstens
+ein bißchen altern und zerfallen wollte. Da steht sie mitten
+im Gerassel und Gedröhn preußisch
+unerschüttert und macht Augen rechts nach dem
+lieben Gott.
+
+Und das Innere? Schon in dem Vorraum, der vermutlich an den
+Narthex der echten romanischen Kirchen erinnern soll, gehts
+marmorn los. Als Knabe bekommt Wilhelm vom Vater das
+marmorne Schwert gereicht, reitet als junger Kriegsprinz
+durchs Schlachtfeld von 1814 hinter lagernden Schützen, die
+marmorn nach dem Innenportal der Kirche zielen, ratschlagt
+mit Bismarck und Moltke zwischen stilisierten Blumen über
+einer Feldzugskarte und sitzt marmorn zwischen Sohn und
+Enkel, sich huldigen zu lassen. Von den vielen
+Kirchenfenstern ist zu sagen, daß fast unter jedem der
+Stifter leserlich verzeichnet steht. Viel Prinzen sind
+darunter, aber auch Städte und einzelne Mäzene. Deren Enkel
+können, bis diese Inschriften eines schönen Tages verlöschen
+oder verschwinden, noch ein kleines Jahrhundert lang sich
+ärgern, daß Großpapa und Urgroßmama etwa einen glasgemalten
+lächerlichen Satan, der in roten Flammen neben dem
+ruhevollen Heiland brennt, gestiftet haben. In der großen
+Fensterrose bemühen gebildete kleine Propheten sich mit
+ihren Spruchbändern um ein naiv mittelalterliches Benehmen
+und auf dem Goldgrund der Deckenmosaiken halten strebsame
+Leute mit Heiligenschein sich so katholisch, wie es ihre
+protestierenden Gliedmaßen irgend zulassen. Und das alles
+muß unter elektrischer Beleuchtung ein Heiland segnen. Er
+hat den vornehmen Bestand aufzunehmen. Außer den Statuen
+rings ein Taufbecken aus kostbarem Material, eine Ringkrone
+von 5'5 m Durchmesser, eine Orgel mit einem
+Prospekt in getriebenem Kupfer, 80 Registern und 4800
+klingenden Stimmen. — So, hier will ich, ehe der Wagen
+weiterfährt, aussteigen, nicht um in die Kirche, sondern ins
+Romanische Café zu gehen. Es ist Spätnachmittag, da ist es
+noch nicht zu voll. Ich finde die alten Münchner und Pariser
+Freunde. Fahrt ohne mich weiter, ihr richtigen Fremden!
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+.. include:: global.rst
+
+DIE PALÄSTE DER TIERE
+=====================
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`A`\ uf einem Wege, der durch den Tiergarten nach
+Charlottenburg führte und den zu passieren es besonderer
+Erlaubnis und des Schlüssels zu einem Schlagbaum bedurfte,
+weil man auf diesem Wege das Chausseehaus umging und die
+daselbst zu entrichtende kleine Abgabe ersparte«, lag in den
+zwanziger Jahren die Königliche Fasanerie, so erzählt Eberty
+in seinen Erinnerungen eines alten Berliners. Diese
+Fasanerie war von Friedrich dem Großen im Jahre 1742 durch
+seinen Oberjägermeister angelegt worden. Hundert Jahre
+später wurde ihr Gelände auf Anregung des berühmten Zoologen
+Lichtenstein zur Anlage eines Zoologischen Gartens benutzt.
+Lichtenstein und Alexander von Humboldt machten König
+Friedrich Wilhelm IV. den Vorschlag, diese Fasanerie und
+dazu den Tierbestand der Pfaueninsel bei Potsdam dem
+Berliner Publikum zugänglich zu machen. Damals lag der
+neugegründete Zoo noch weit außerhalb der Stadt, und ihn zu
+besuchen bedeutete für die Familien eine Art Tagesausflug.
+Von drei Seiten hat ihn dann die wachsende Stadt umschlossen
+und nur im Norden behütet ein Stück Tiergarten seine
+Häuserferne. Aber auch da, wo ihm die Häuser dicht auf den
+Leib gerückt sind und der Lärm der Hupen, das grelle Licht
+der Scheinwerfer und Reklamen über seine Mauern dringt, —
+man hat kaum das Portal mit den torhütend lagernden
+Steinelefanten durchschritten und ist in einer andern Welt.
+Um zunächst noch gar nicht von den Tieren zu reden, die doch
+schließlich hier die Hauptpersonen sind, hier gibt es einen
+ganz von Mummeln und Schilf bewachsenen Teich, den
+sogenannten Vierwaldstättersee, an dessen Ufern man wie in
+einer Sommerfrische sich bewegt, und an gewissen
+Frühlingsmorgen verwandeln sich die Alleen in Kurpromenaden
+der Brunnentrinker, die mit ihrem Glas Karlsbader in der
+Hand ihren heilsamen Rundgang machen. Auch ein herrliches
+Kinderreich ist der Zoo. Babys werden spazieren gefahren,
+Jungen toben auf den Spielplätzen. Und auf der sogenannten
+Lästerallee bei der Musik kann die reifere Jugend die
+Grundlagen des Flirts erlernen; wenigstens war das zu
+unserer Jugendzeit so.
+
+Von Art und Sitte der Tiere ist schon soviel erzählt und
+geschrieben worden, daß ich dem nichts hinzuzufügen wage;
+dagegen möchte ich gern von den merkwürdigen Behausungen
+reden, die sie hier im Garten bezogen haben. Da sie nun
+einmal zu unserer Lust und Belehrung Gefangene sind, ist man
+darauf bedacht gewesen, ihnen ihr Gefängnis möglichst
+wohnlich einzurichten. Sie sollen das Gefühl haben, in ihre
+Erdhöhle, ihre Schlucht, ihren Hohlbaum, ihr Nest zu
+kriechen, wenn sie in das ummauerte Verlies müssen. Der
+Geier hat auch hier seinen Horst, einen echten Felsen mit
+Alpenkraut und Latschenkiefern, die in den Spalten wurzeln.
+Und doch sind die Felsblöcke wie Kulissen, wie
+Versatzstücke. Und wie vor dem Puppentheater stehen die
+Kinder vor den Eisenstäben, hinter denen der wilde Raubvogel
+hockt. Ach, ihren Augen ist sein Riesenkäfig vielleicht
+garnicht größer als der enge Bauer des Piepmatzes zu Hause
+am Fenster. Der Zoo ist überhaupt eine Fortsetzung der
+Kinderstube. Die roten und gelben Steine des Bärenzwingers,
+die weißen und blauen des Vogelhauses, die gelben und blauen
+des Löwenheims, sie erinnern uns an die Steinchen der
+Baukästen. Zu Stein- und Holz- und Stahlbaukasten kommt noch
+etwas Mosaikpuzzle, und wir haben den maurischen Stil, das
+Venedig, die Tausendundeinenacht der schönen Gebäude im Zoo.
+
+Der hat ja neben anderm auch die würdige Aufgabe, die alten
+Tierkalte der Vorzeit fortzusetzen, und so hat man denn den
+Tieren Tempel gebaut: das Kamel hat seine Moschee. Ihm zu
+Ehren, wenn es wohl auch nichts davon hat, ist die weiße
+Wand mit einem ganz unbenutzten Gitterbalkon geschmückt, und
+es überragt sie ein Turm, der oben einen Halbmond trägt. Von
+da könnte der Muezzin das Abendgebet sprechen nach der
+Fütterung. Einen echt altägyptischen Tempel haben die
+Strauße. Wenn sie aus ihren Toren ins Freie wippen, sind sie
+von Hieroglyphen und Pharaonenstatuen umrahmt. Im
+Schlußstein ihrer Türen schweben die Sonnen des Heiligen
+Reiches. Auf den Säulen des Eingangs bewegen sich unter
+Blumenschäften Tänzerinnen, Zither- und Flötenspieler, und
+der Gott mit dem Sperberkopf wandert wandentlang. In einem
+Repräsentationsraum ihres Hauses, den sie selbst nie
+betreten, haben die Strauße zur Erinnerung an die Heimat
+zwei Memnonssäulen nebst Nil gemalt bekommen.
+
+Das Nilpferd aber hat sein eignes Haus. Innen ist ein
+schauriges rotes Götzenheim, in dem die Kinder vor den
+breiten Zwischenräumen der Gitterstäbe sich fürchten,
+dahinter die unheimliche Masse sich wälzt. Von außen gesehn
+ist es eine Art Badehaus aus Backstein mit einem Bassin, in
+welches das Ungeheuer sich bequem gleiten läßt wie eine
+dicke alte Dame.
+
+Dem Affen wird alles zu Turn- und Spielgerät. Um die Loggien
+seines Palmenhauses mit ihrem Blumenschmuck kümmert er sich
+nicht. Die überläßt er seinen Zuschauern.
+
+Ob sich der indische Elefant für die Mosaikdrachen
+interessiert, die auf den Türen seines Palastes abgebildet
+sind? Liebt das Zebra sein afrikanisches Gehöft, der Büffel
+sein Borkenpalais? Dem Renntier müßte es immerhin
+sympathisch sein, daß an seinem Haus der Dachzierat sich
+ganz so gabelig verzweigt wie sein eignes Geweih. Und Bison
+und Wisent sollten Ehrfurcht haben vor den Totemsäulen, wo
+über Vogelschnäbeln Fratzengötter Frösche schlucken.
+
+Die weißen Mäuse wissen wohl kaum, daß auf den Fenstern
+ihrer Villa schöne Glasmalereien sind. Ihnen ist der
+Brotlaib, den sie durchnagen und durchwandern, mit seinen
+Löchern Haus genug. Aber von den koketten Meerschweinchen
+glaube ich, daß sie ihren winzigen Barockpalast genau
+kennen, sie schnuppern an seinen Malachitsäulen, beäugen
+seine Wölbungen. Und die Stelzvögel sind sicher stolz auf
+die japanische Pracht ihres Heims, die Tauben auf die
+Schiebeläden ihres Boardinghouse. Stolz sind sie auch auf
+ihre Namen, die Masken ihrer Pracht: Mönchssittich,
+Büffelweber, Flötenwürger, Perlbart. Aber das ist ein
+Kapitel für sich |ellipsis|
+
+Was ist denn dort für eine leere Pagode nah bei den
+möblierten Schluchten des Lamas? ‚Nur für Erwachsene‘ steht
+daran, also weder für Tiere noch für Kinder. Für Erwachsene
+ist auch der Musikpavillon. In dem werden am Tage Soldaten
+eingesperrt, die blasen und trommeln müssen. Nachts gehen —
+das hat den Kindern ein naseweiser älterer Vetter eingeredet
+— die Flamingos aus dem benachbarten Teich in den Pavillon
+schlafen.
+
+Zu den hausbesitzenden eingesessenen Tieren gesellen sich
+bisweilen als Nomaden, die nur eine Zeitlang bleiben, wilde
+Völker. Somalis in weißen wehenden Mänteln neigen ihre
+wolligen Köpfe über die glühenden Kohlen des Lagerfeuers und
+braten frischgeschlachtete Hämmel am Spieß. Tripolitaner
+tanzen zu Tamburins. Inder wandeln würdig auf hochgestellten
+schmalwadigen Beinen einher.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Aquarium — da fällt mir das frühere ein, das in einer
+Seitenstraße der Linden lag. Ein sehr alter Onkel hatte in
+der Nähe seine Garçonnière und nahm mich kleinen Jungen ein
+paarmal mit in das Haus, in dem die Tiere des Meeres wohnen.
+Und gerade da, wo die Tiefseefische zwischen Algen und
+Korallen, Tierpflanzen und Pflanzentieren des seimig
+quellenden Meeresgrundes schwammen, war ein Büfett für die
+Besucher eingerichtet. Und da aß ich mit Schauer eine
+unterseeische Schinkenstulle, und der Onkel trank Bier, das
+hinter seinem Glase wallte wie der Met, den Thorr bei den
+Riesen aus dem Weltmeer geschänkt bekommt.
+
+Während dies alte Wassertierreich etwas Höhlenhaftes,
+Irrgartenähnliches hatte mit Überraschungen und Abenteuern
+wie das ‚Tierleben‘ seines Begründers Brehm, ist das heutige
+hier am Zoo ein aufrechtes, übersichtlich gegliedertes
+Gebäude, dessen Stockwerke ungefähr den drei Elementen
+Wasser, Erde und Luft entsprechen: Erdgeschoß Aquarium,
+erster Stock Terrarium, zweiter Insectarium. Und alle Wesen
+wohnen, schwimmen und kriechen um Gestein, Sand und Pflanze
+ihrer Heimat, die in Schaubehälter und Glasbecken
+eingefangen ist. Ein hoher Mittelraum ist als halbtrockner
+Nil oder Rio Grande ausgestattet, und von einer Brücke aus
+Bambusstäben kann man zusehen, wie die Krokodile aus
+seichtem Wasser auf ihre tropisch warme Sandbank kriechen.
+Die Echsen bewohnen ihren Karst, die Klapperschlange ihr
+trocknes Stück brasilische Erde. Für das Behagen der
+Riesenschlange ist durch künstliche Südsonne gesorgt. Nicht
+minder heimatlich haben es die Kleinen und Kleinsten. Der
+Helgoländer Hummer haust in echt Helgoländer Gestein, die
+Forelle in einem Gebirgsbach, der über Geröll plätschert.
+Die Biene arbeitet in ihrem Stock, dem Heimchen ist ein Herd
+gemauert und der Schabe ein echter Küchentisch mit
+schmutzigem Geschirr hingestellt. Der Scarabäus findet
+Kuhmist vor, um daraus die Kugelpillen zu drehen, in denen
+seine Eier Larven werden sollen. ‚Seegras, Seerose und
+Seegries‘ wie für Christian Morgensterns Hecht vom heiligen
+Anton wachsen in bewellten Algengefilden. Sogar Seegurken
+gibt es, und unter den Seenelken ist eine mit wachsweißen
+Blütenblättern wie eine Chrysantheme, die durch Zauber zu
+einem gierig schlängelnden und langenden Tier geworden ist;
+manche Frau könnte sie gut statt der harmlos fallenden
+Stoffblume am Kleide tragen.
+
+Aber am schönsten ist es im reinen Fischreich, wo
+papierdünne Flossenblätter ihre Kiemenfächer regen, wo die
+großen Welse mitBartfäden tasten, wo das Seepferdchen den
+knochenzarten Kopf neigt, wo wechselnde Farben und wandernde
+Muster alle Kunstgewerblerphantasie überbieten, wo man
+Chanchito und Cichlide, Goldorf und Güster, Olm und Ukelei
+heißt. Da findet der Liebhaber auch die erstaunlichen
+Schleierschwänze, eine Zierfisch-Zuchtrasse, die mit ihrem
+bunten Schleppgewand in der Freiheit gar nicht leben könnte,
+so vornehm ist sie.
diff --git a/08-berlins-boulevard.rst b/08-berlins-boulevard.rst
new file mode 100644
index 0000000..abe0419
--- /dev/null
+++ b/08-berlins-boulevard.rst
@@ -0,0 +1,328 @@
+.. include:: global.rst
+
+BERLINS BOULEVARD
+=================
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`D`\ ie Tauentzienstraße und der Kurfürstendamm
+haben die hohe Kulturmission, den Berliner das Flanieren zu
+lehren, es sei denn, daß diese urbane Betätigung überhaupt
+abkommt. Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät.
+Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei
+Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caféterrassen,
+Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben
+werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer
+neuen Buches ergeben. Um richtig zu flanieren, darf man
+nichts allzu Bestimmtes vorhaben. Und da es nun auf der
+Wegstrecke vom Wittenbergplatz bis nach Halensee soviel
+Möglichkeiten, Besorgungen zu machen, zu essen, zu trinken,
+Theater, Film oder Kabarett aufzusuchen gibt, kann man die
+Promenade ohne festes Ziel riskieren und auf die ungeahnten
+Abenteuer des Auges ausgehn. Zwei große Helfer sind Glas und
+künstliches Licht und dies letztere besonders im Wettstreit
+mit einem Rest Tageslicht und Dämmerung. Da wird alles
+vielfacher, es entstehen neue Nähen und Fernen, und die
+glückhafte Mischung,
+
+ | :smallerfont:`‚où l'indécis au précis se joint‘.`
+
+Die aufleuchtenden und verschwindenden, wandernden und
+wiederkehrenden Lichtreklamen ändern noch einmal Tiefe, Höhe
+und Umriß der Gebäude. Das ist von großem Nutzen, besonders
+an Teilen des Kurfürstendamms, wo von der schlimmsten Zeit
+des Privatbaus noch viel greulich Getürmtes, schaurig
+Ausladendes und Überkrochenes stehngeblieben ist, das erst
+allmählich verdrängt werden kann. Diese schrecklichen
+Zacken, Vor- und Überbauten der ‚Geschwürhäuser‘, wie wir
+sie früher zu nennen pflegten, verschwinden hinter den
+Reklamearchitekturen. Den Fassaden der Paläste mit den zu
+hohen Gesellschaftsräumen nach der Straße und den dunklen
+Hinterräumen fürs Privatleben rückt man zunächst durch
+Ladeneinbauten zu Leibe, die das Erdgeschoß großzügig
+vereinfachen. Immer neue Läden entstehn, da die großen
+Geschäftshäuser der City hier ihre bunteren moderneren
+Filialen gründen und die schönsten Detailgeschäfte sich
+ihnen anschließen. Da ergeben sich für Glas, Metall und Holz
+neue Aufgaben und in das frühere Berliner Grau und Fahlgelb
+kommt Farbe. Und sobald eins der Häuser baufällig oder
+wenigstens reparaturbedürftig wird, schneidet ihm die junge
+Architektur den Bubenkopf einer einfachen linienklaren
+Fassade und entfernt alles Gezöpfte. Vor vielen Cafés gehen
+die Terrassen weit auf das Trottoir hinaus und machen Haus
+und Straße zu einer Einheit. Eins hat sogar schon in Pariser
+Art Kohlenbecken für die kalte Jahreszeit hinausgestellt, um
+diese Einheit auch im Winter nicht zu unterbrechen.
+
+In diesem südlicher gewordenen Leben unseres Boulevards
+zeigt sich auch, was Wilhelm Speyer in seinem
+neuberlinischen Roman ‚Charlott etwas verrückt‘ die Ansätze
+zu einem demokratischen Großstadtfrohsinn nennt. »In den
+Gliedern dieser einst so ungelenken Stadt,« sagt er, »dieser
+Stadt voll protestantischer Staats- und Militärphilosophie,
+zuckte ein anglimmendes Feuer. Ein Wille zum Leichtsein,
+zumal in den Frühlings- und Sommermonaten, begann dem Leib
+der Metropole die ersten, nicht mehr ganz unbeholfenen
+Bewegungen mitzuteilen. Sogar die Polizeibeamten hatten
+gelernt, zuweilen zu lachen, wenn es Verwirrung gab. Sie
+brüllten nicht mehr mit gesträubten Schnurrbarthaaren auf
+umgestülpter Lippe. Es waren großgewachsene, mit den
+Gebärden ihrer deutenden Arme hochaufgereckte,
+disziplinierte und dennoch im alten Sinne unmilitärische
+Gestalten. Die froh und frei bewegte täglich zunehmende
+Schönheit der Frauen und Kinder aller Stände stand außer
+Zweifel. So also zerstörte die große Stadt die Schönheit
+nicht, sondern sie erweckte sie, sie förderte sie und ließ
+sie strahlend gedeihen. In den Straßen wurde nicht mehr der
+sauere Bürger mit der allzu abgebürsteten Kleidung und der
+allzu gründlich gesteiften Wäsche sichtbar. Der
+Kleidungssinn war weniger dramatisch, war demokratischer und
+daher eleganter geworden.«
+
+Im neuen Westen ist es für den Flaneur interessant zu
+beobachten oder zu spüren, in welchen Richtungen der
+Verkehr, derber, berlinischer gesagt, der Betrieb,
+intensiver oder schwächer wird und wie eine Straße der
+andern, ja oft in derselben Straßenflucht ein Teil dem
+andern das Leben wegsaugt. Die Tauentzienstraße, die doch
+die genaue Fortsetzung der Kleiststraße ist, hat diese ganz
+leer und still gemacht Das letzte Stück Kleiststraße
+zwischen der Lutherstraße und dem Wittenbergplatz ist der
+deutliche Übergang. In diesem Teil hat man das Gefühl,
+bereits in der Tauentzienstraße zu sein. Das kann nicht nur
+daran liegen, daß hier die Häuser sich modernisieren, es muß
+ein sozusagen unterirdisches Gesetz der Stadt sein. Die
+Lutherstraße hat einen stillen Teil, der genau bis zur Ecke
+der Augsburgerstraße reicht, von wo ab rings um die Scala
+starker Verkehr ist. Man kann Gründe dafür finden. Auf der
+einen Seite dieses Teils sind eine Reihe Privatvillen mit
+Gärten aus älterer Zeit. Aber warum ist denn auch die
+gegenüberliegende Seite still geblieben? Der Kurfürstendamm
+hat der Kantstraße, die an der Gedächtniskirche von ihm
+abzweigt und dann weiterhin mit langsam wachsender
+Entfernung auf annähernd gleicher Höhe mit ihm verläuft, den
+Verkehr weggenommen. Anfangs versucht die Kantstraße noch,
+es ihm gleichzutun, hat ein bißchen Kino und Theater, aber
+schon ehe sie den Savignyplatz erreicht, gibt sie den
+Wettkampf auf und wird weiterhin kleinbürgerlich. Es gibt
+also nicht nur den bekannten Zug nach dem Westen, der die
+Reihenfolge von Geschäftsviertel und Wohnviertel in einer
+Richtung weiterschiebt, sondern viele Sonderwege des
+Verkehrs. Es gibt Ansätze, die nach einer Strecke Weges
+wieder aussetzen, und andre, die glücken. Grundstück- und
+Häuserspekulation muß eine der merkwürdigsten Mischungen aus
+Hasardspiel und Spürsinn sein.
+
+Die Ringbahnbrücke am Ende des Kurfürstendamms führt in die
+Kolonie Grunewald. Ehe da die Villen und Gärten beginnen,
+erleben wir noch eine Strecke volkstümlicher Vergnügungen
+mit Kinos, Tanzsälen und vor allem — den Lunapark. Dieses
+bemerkenswerte Etablissement faßt zusammen, was auch in
+anderen Großstädten von sogenannten Lunaparks, *Magic
+cities* und dergleichen verlangt wird, mit dem besonderen
+Bedürfnis des Berliners nach dem Rummelplatz. Dies Bedürfnis
+ist alt. In seinem ‚Alt-Berlin im Jahre 1740‘ beschreibt
+Consentius die Sommerwirtschaften an der Spree in der Gegend
+des jetzigen Schiffbauerdamms, ihre Irrgärten, ihre
+Karussells mit Ringestechen, ihre Schaukeln, ‚Weiffen‘
+genannt. Solch eine Weiffe war, wie Consentius nach alten
+Texten zitiert, »ein gemachter hölzerner Löwe mit einem
+ledernen Sattel, darauf setzet sich eine Mannsperson, welche
+sich von 1 oder noch besser von 2 andern hin und her stoßen
+lässet, solange, bis er so hoch getrieben wird, daß er 5
+oder 6 Kugeln einwerfen kann in einen darzu aptierten
+Beutel, welcher ohngefähr 6 Ellen oder 2 Mann hoch stehet,
+eine Frauensperson kann sich auch hineinsetzen und sich pro
+lubitu weiffen und ziehen lassen«. Auch von dem Fortunaspiel
+berichtet er, es ist »an der Erde von Holz gemacht, hat 9
+Löcher, das Loch in der Mitte gewinnet, denn eine Fortuna
+steht hierüber gemalet«. Viel lustige Bilder
+veranschaulichen uns die Zeit des Tivoli am Kreuzberg um
+1830. Da taucht zum erstenmal die Kreisfahrbahn, genannt
+Rutschbahn, auf. Topfbäumchen stehn am Geländer der Bahn,
+die Karren haben Plüschtroddeln, und drin sitzt breitbeinig
+die dicke Berliner Madam und ruft dem bemühten mageren
+Gatten zu: ‚Brennecke, halte mir, mir wird schwimmlich!‘ Und
+so gehts weiter bis auf unsre Tage. Überall in den
+Vorstädten, wo Häuserlücken klaffen, füllt eine Zeitlang ein
+Rummelplatz mit seinen Schießbuden, Glücksrädern,
+Tanzplätzen auf Holzscheiben, großen Wurstwettessen und so
+weiter die Leere aus.
+
+Hier im Lunapark ist das nun alles moderner und in größerem
+Maßstab geboten. Über den Luftschaukeln, dem Eisernen Meer,
+der Berg- und Talbahn, der Kletterbrücke leuchtet abends ein
+Riesenfeuerwerk, ein Halensee in Flammen, das es mit dem
+flammenden Treptow und andern brennenden Dörfern des
+Vergnügens aufnehmen kann.
+
+‚Heiße Wiener‘ und ‚Lublinchen‘ haben ihre Buden.
+‚Schokolade, Keks und Nußstangen‘ werden ausgerufen, aber
+man kann auch vornehm auf Terrassen speisen. Ganz Berlin
+kommt hieher, kleine Geschäftsmädels und große Damen, Bürger
+und Bohemiens. Lunapark ist ‚für alle‘. Neuerdings gibt es
+da noch eine besondre Attraktion, das große Wellenbad, wo
+man bis tief in die Nacht plätschern kann.
+
+Wo dann Halensee in Sankt Hubertus und Hundekehle übergeht,
+beginnt die schöne Kolonie Grunewald, an die der Forst viele
+von seinen schmalen Kiefern und Föhren abgegeben hat, die
+nun inmitten gepflegter Büsche und Blumenbeete noch ein
+wenig Wald als Erinnerung bewahren.
+
+Früher war es ein weiter Weg bis in den Grunewald, eine
+Landpartie wie nach Tegel oder Grünau, jetzt wohnen dort
+eine Reihe Wohlhabender und Prominenter. Und wir andern sind
+manchmal zu Besuch im Grunewald, steigen aus Trambahnwagen,
+die umständlich und eingeschüchtert zwischen sanft
+gleitenden Privatautos ihren Schienenweg entlang rütteln,
+gehn ein paar Gartenstraßen hinauf, hinab und dürfen in die
+musikalische Teegesellschaft im Hause des jungen Künstlers
+und Kunstfreundes, in dessen Sippe seit mehr als hundert
+Jahren Kunst und Bankwesen angenehm verschwistert und
+verschwägert sind, oder in eine Abendgesellschaft bei dem
+großen Verleger, der die Vorkämpfer von 1890 mit denen von
+1930 in seinem Hause und Herzen vereinigt.
+
+Um heute Wald im Grunewald zu finden, müssen wir schon ein
+gut Stück weiter, etwa an die Krumme Lanke oder nach
+Paulsborn. Da gibt es hübsche Nachmittagswege, die einem das
+nötige Heimweh nach dem Abend an unserm Boulevard machen.
+Und so finden wir wieder den Weg zurück, den wir gekommen
+sind. Neben der Aufforderung, durch Elida schön zu sein,
+Frigidaire und Elektroluxe zu kaufen, mahnen uns Plakate
+‚Und abends in die Scala‘. Wir gehorchen und begeben uns in
+das berühmte Varieté an der Grenze des alten und jungen
+Westens.
+
+Wenn du dort von deinem Parkettsitz hinaufsiehst in den
+blauen weißbewölkten Himmel der Deckenmalerei, bemerkst du
+eine Reihe heller Scheiben, aus denen im Staubtrichter
+Lichtkegel auf die Artisten fallen. Über den Balkonlogen
+sind beleuchtete Metallapparate zu sehn und in dem
+Bühnenrahmen Öffnungen wie Schiffsluken. Ich bin einmal zu
+dem gegangen, der all diese Lichtquellen, das Rampenlicht
+und die Kronleuchter des Saals verwaltet. Statt Regisseure
+und Stars zu interviewen, habe ich den Beleuchtungsmeister
+und seine Getreuen aufgesucht. Er hat mich in seinem
+Hauptquartier empfangen bei den Apparaten seines
+Schaltraums. Da werden Rampen und Saalkronleuchter im
+Wechsel hell und dunkel gemacht. Von dort gehen Drähte zu
+den Regulierwiderständen und Telephone zu der Mannschaft
+dieses Lichtkommandanten. Dann sind wir heimliche Treppen
+hinaufgestiegen, erst in die Kammer der Widerstände, dann
+weiter durch das hölzerne Chaos des Dachbodens zu den
+‚Brücken‘. So heißen die Arbeitsräume der Mannen an den
+Scheinwerfern, die um die Bewegungen der Artisten den
+mitwandernden Lichtkreis schaffen. Und während wir
+herumspazierten, beschrieb er mir, wie der Vorhang hinter
+den Künstlern rot, schwarz und elfenbeinern auf ihre Kostüme
+und Nummern abgestimmt wird, wie Schatten unter den Augen
+und Entstellungen vermieden werden, wie vor jedem Programm
+lange beraten wird und dann eine Generalprobe fürs Licht
+stattfindet, bei der er unten neben dem Kapellmeister sitzt
+und mit seiner Schar da oben telephoniert.
+
+Auch hinter die Szene bin ich über den Hof, aus dem man
+hinter einem verwilderten Garten unser Pantheon, den
+Wilmersdorfer Gasometer, sieht, gekommen zu den verständigen
+Leuten, die das törichte Künstlervolk beaufsichtigen, den
+Strippenziehern, die es dem Clown ermöglichen, scheinbar die
+Kugeln vom Gestell zu schießen. Hier walten, dem Publikum
+unsichtbar, Hände, die Reifen und Flaschen zuwerfen und
+abfangen, und gelassene Männer in Arztschürzen und
+Arbeiterblusen, die das zu laute Geschwätz der Girls
+dämpfen; sie sollen erst toben, wenn sie draußen auf der
+Bühne wie Kinder im Freien sind. Und sind die Kinder
+draußen, werden sie noch weiter verwaltet von den
+Erwachsenen, die mir vorkommen wie die wahren Akteure des
+Schauspiels. Sie schieben den Spielenden neues Gerät zu,
+wenn das vorhandene keinen Spaß mehr macht, sie halten den
+Hintergrundvorhang an Seilen zurück, damit die Bälle der
+Unvorsichtigen nicht anprallen. Und wenn sie dann pustend,
+erschöpft und schwitzend ankommen, die eitlen talentvollen
+Kinder, die immer des Guten zuviel tun, werden sie
+abgetrocknet und eingemummelt von den Hütern.
+
+Beachte auch einmal die sichtbaren Helfer und Hüter, die
+ebenfalls nicht auf dem Programm stehn, wie sie sich
+aufopfern. Den bunten Wunderjongleur, den grotesk angezognen
+musikalischen Clown begleitet ein ernster Herr im
+Straßenanzug. Er macht selbst ein paar Tricks, die eine
+gewisse klassische Vollkommenheit haben, aber nur, um die
+neuen seines Gefährten zur Geltung zu bringen, er hat seine
+liebe Not mit dem Gesellen, der soviel glitscht und purzelt,
+er muß achtgeben, daß der andre nicht heimlich an die
+Sektflasche geht, er hat Sorgfalt mit Gegenständen, die der
+Verwöhnte wegschmeißt. Er läßt sich lächerlich machen,
+besudeln, quälen und wendet sich immer wieder ohne Groll mit
+leidendem und stolzem Lächeln zu dem Publikum, und seine
+Handbewegung entfesselt Beifall für den andern. Als
+Gebrauchsmännchen, als Drohne, begleitet er die starke Frau
+und ist ihr leichter Kavalier. Ehe sie sich an die Arbeit
+macht, soupiert sie mit ihm. Kurioses Souper: kaum hat sie
+einen Bissen gegessen, einen Schluck getrunken, so lüstet es
+sie schon, Tischbeine und Stühle zu stemmen und aus allem
+Gerät Hanteln zu machen. Da muß der Kavalier, der
+Frauenlaunen kennt, rasch Gläser retten, Teller räumen
+und dabei möglichst lange die Dehors des glücklichen
+verliebten Zechers wahren. Eh er sichs versieht, wird er am
+Schlawittchen gepackt und in die Lüfte gewirbelt, und auch
+dabei darf er die Fassung nicht verlieren und muß weiter
+lächeln. Zuletzt gerät er ganz oben auf den Flügel, den die
+Gewaltige sich auf den Busen setzt, um darunter mit
+Nachtigallenstimme ‚Still ruht der See‘ zu singen. Und er da
+droben legt die Hand an die Ohrmuschel und lauscht wie eine
+Nymphe.
+
+Ganz Nymphe, Engel, Peri ist die Helferin. In gelbem Peplon
+und türkischen Hosen steht sie, Standbein und Spielbein,
+gelassen an der Kulisse und wartet, bis der Illusionist
+ihrer bedarf, an der schwertdurchstoßenen, unheimlich
+zusammengeschobenen Kiste, in der er einen jungen Burschen
+untergebracht hat. Ihr Mienenspiel lenkt ab von seiner
+Zauberei, die wir doch nicht durchschauen dürfen. Und die
+Selbstlose lächelt nicht, um uns zu gefallen, sondern nur,
+damit er uns gefalle. Sieh, jetzt ist sie selbst das Opfer
+und kommt in den Kessel des Magiers, dem sie wieder
+entsteigt mit dem langsamen Lächeln, das des Künstlers
+Pausen füllt.
+
+Und jetzt die in Reiterstiefeln! Sie hat hinter der Szene
+den kleinen Pudel betreut, der vor Lampenfieber zitterte.
+Sie weiß, wann das ungeduldig stampfende Pony Zucker
+bekommen muß und wann lieber nicht. Sie rückt die Taburetts,
+hält im rechten Moment die Reifen in die Höhe und tut bei
+alldem, als wärs ein Vergnügen und nicht saure Arbeit, deren
+Ruhm doch nur der erntet, der da in der Mitte mit der
+Peitsche knallt. Bisweilen tänzelt sie eins oder schlägt gar
+einen Purzelbaum, das alles aber nur dekorativ, nur Pedal,
+nur Farbfleck.
+
+Die Tiere kann man ja nicht ganz zu den Nebenpersonen und
+Ungenannten rechnen. Arbeiten sie auch nur gezähmterweise,
+so ernten sie doch einen Teil vom Ruhm ihres Herrn und sind
+vielleicht sehr ehrgeizig, besonders die Seelöwen. Über die
+Gefühle der Pferdchen, Bären und Elefanten erlaube ich mir
+kein Urteil. Und von den Äffchen glaube ich, daß sie sich
+ein wenig ärgern über den zoologischen Verwandten, der die
+bessere Karriere gemacht hat.
+
+Ein langes und breites gäbe es von den Gegenständen im
+Varieté zu sagen, den blinkenden Metallständern und
+-tischen, einem Salonmobiliar, das seine Vornehmheit
+preisgibt, um balanciert, geworfen und lächerlich gemacht zu
+werden, dem vornehmen Diwan, der mit einmal nur noch Kiste
+ist, aus der die Pirouettentänzerin steigt, den winzigen
+Plüschsesselchen, die sichs gefallen lassen, daß Elefanten
+auf ihnen hocken, der vergoldeten Metallbettstatt, die es
+zuläßt, daß ein Clown auf ihren Goldknöpfen musiziert, den
+Häkeleien der Decke, auf welcher Gläser und Messer hüpfen,
+der ländlichen Bank, von der sich die Exzentriks erhoben
+haben und die leer stehn bleibt wie am Hintergrund klebend,
+während sie vorn agieren. Und dieser Hintergrund selbst, die
+gemalten Kandelaber auf der Salonwand und die heroische
+Landschaft, alle haben sie den Reiz der unbeachteten Dinge,
+die selbstlos die andern, die zielbewußten, zur Geltung
+bringen — im Varieté mehr als irgendwo sonst.
diff --git a/09-alter-westen.rst b/09-alter-westen.rst
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--- /dev/null
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+.. include:: global.rst
+
+ALTER WESTEN
+============
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`D`\ er alte Westen — vom Tiergartenviertel
+abgesehen, das zwar auch viel gelitten, aber doch
+durchgehalten hat — der alte Westen hat verloren, wie man
+von Schönheiten sagt, die aus der Mode gekommen sind. ‚Man‘
+wohnt nicht mehr im alten Westen. Schon um die
+Jahrhundertwende zogen die wohlhabenden Familien fort in die
+Gegend des Kurfürstendamms und später noch weiter bis nach
+Westend oder Dahlem, wenn sie es nicht gar bis zu einer
+Grunewaldvilla brachten. Aber manche von uns, die im alten
+Westen Kinder waren, haben eine Anhänglichkeit an seine
+Straßen und Häuser, denen eigentlich nicht viel Besondres
+anzusehn ist, behalten. Uns ist es ein Erlebnis, eine der
+Treppen hinaufzusteigen, die ehedem zu Freunden und
+Verwandten führten. Es haftet soviel Erinnerung sowohl an
+den nüchtern gediegenen Aufgängen mit braunem Holzgeländer,
+farbloser Wand und den graugeritzten Gestalten im
+Fensterglas als auch an gewissen Palasttreppen mit steil zu
+ersteigendem Hochparterre, falscher Marmorwand und pompöser
+Glasmalerei. Führt uns ein Anlaß oder Vorwand — zum
+Beispiel, ein möbliertes Zimmer zu besichtigen — in eine der
+altvertrauten Wohnungen, so finden wir unter neuer Schicht
+die frühere Welt wieder: hinter verbarrikadierenden
+Schränken die Glasschiebetür, die einst Salon und Berliner
+Zimmer trennte, im sichtbaren schrägen Diwan den Schemen des
+Flügels, der damals hier stand mit seiner Samtdecke und den
+Familienphotographien. Nahe dem Fenster ist in dem ärmlichen
+Topfblumengestell noch etwas von der Tropenwelt der
+Zimmerpalmen geblieben. Von dem Haut-pas am Hoffenster des
+Berliner Zimmers sehen wir auf den Hof mit dem blassen Gras,
+das zwischen Steinen sprießt wie einst. Nur der Pferdestall
+und die Wagenremise des alten Generals aus der Beletage sind
+verdrängt durch eine Autoreparaturwerkstatt.
+
+Ein paar Häuser der alten Zeit sind noch unverändert in
+Nebenstraßen der Maaßen-, Derfflinger- und Kurfürstenstraße,
+die führen in Gärten ein wunderbares Inseldasein. Andre sind
+trotz ihrer Gärten verkommen, im Karlsbad zum Beispiel nahe
+der Potsdamer Brücke. Die eine Brunnenfigur dort im Grünen
+zerfällt so sehr, daß bald ihre Trümmer fortgeschafft werden
+müssen. Die ähnliche im Vorgarten des alten Familienhauses
+mitten im lebhaftesten Geschäftsviertel, Potsdamerstraße
+nahe der Linkstraße, ist noch ganz wohlerhalten, obgleich
+schon eine Zeitung mit ihrem Riesenplakat oben den
+antikisierenden Fries des Hauses verdeckt und im ersten
+Stockwerk sich der Vorderräume bemächtigt hat.
+
+Alter Westen — selbst in den rauchgeschwärzten Straßen nahe
+den Bahnhöfen bewahrt er noch hie und da einen Traubenfries,
+eine weibliche Maske zwischen nackten Jünglingen, die, den
+Thyrsusstab an der Schulter, auf Ranken hocken, eine
+Türfassung wie Tempeltür, all das erbaut, modelliert in
+schlechtem oder mäßigem Material von den allerletzten
+Schinkelschülern, letzte Reste des preußischen
+Griechenwesens.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Ehe wir in Museen und in fremden Ländern die echte Antike zu
+sehen bekommen, gesellt sich beiläufig dem Großstadtkind ein
+wenig Mythos aus zweiter Hand, im Elternhause etwa ein
+bronzener Apoll, der von des Vaters Schreibtisch zur Tür
+hinzeigt, oder im Salon eine Venusbüste, die den Marmor
+ihrer Armstümpfe in düsterm Glase spiegelt: seltsame nackte
+Wesen, man weiß nicht, ob sie zuschauen oder wegschauen.
+Kommt das Kind ins Freie, so begegnet ihm auf Schulweg oder
+Spaziergang bald ein und das andre Wesen dieser wartenden
+Welt. Hinter einem Gartenzaun hebt eine Flora Kranz oder
+Schale. In einer Türnische schänkt eine Hebe aus einem Kruge
+Unsichtbares. Auf der Freitreppe vor der Kohlenhandlung
+steht, das rechte Knie vorgeschoben, in schmiegendem
+Faltenkleid eine der vielen Grazien, die etwas zu halten
+oder anzubieten scheinen, das meist nicht vorhanden ist. Von
+uns älteren Kindern des Berliner Westens erinnert sich
+mancher vielleicht noch an die vier oder sechs Musen, die in
+einem Vorgarten der Magdeburgerstraße standen. Sie sind
+inzwischen verschwunden. Bruchsteinern standen sie da und
+hielten artig, soweit sie noch Hände hatten, ihre Kugel oder
+ihren Stift. Sie verfolgten mit ihren weißen Steinaugen
+unsern Weg, und es ist ein Teil von uns geworden, daß diese
+Heidenmädchen uns angesehen haben.
+
+Ob es wohl noch irgendwo im Tiergarten den bärtigen Apoll
+gibt, der damals auf einem Spielplatz, den ich jetzt nicht
+mehr finde, stand? Wir haben gegen seine Hinterseite, da, wo
+sie den stützenden Stumpf überragte, Prallball gespielt. Das
+war nicht ehrerbietig, hat aber eine Beziehung hergestellt.
+
+An unserm Wege geblieben sind mancherlei Sphinxe, die vier
+zum Beispiel, die auf der Brücke sich wegwenden von den
+beiden Taten des Herkules, welche auf mittlerer Brückenhöhe
+geschehen. Sie tragen sanft jede ein Kind mit Füllhorn auf
+dem Rücken und lassen die Autobusse vorübergehen. Die
+Herkulesse der beiden Taten sind etwas beunruhigend. Sie
+stehen so, daß man immer in Sorge ist, sie selbst oder ihre
+Gegner, der Löwe und der Zentaur, könnten ins Wasser fallen,
+wenn sie es weiter so treiben. Die Sphinxe hingegen sind
+beruhigend. Rätsel geben sie nicht auf. Eine noch harmlosere
+weiß ich über dem Portal eines Hauses, das der Mauer des
+zoologischen Gartens gegenüber liegt. Die wartet wie eine
+freundliche Hausmeistersfrau und hat doch Flügel und Tatzen.
+Allein diese Katze gehört schon halb in die Gegend des
+Kurfürstendamms und nicht mehr in die alte Welt, in der wir
+bleiben wollen. Wir finden zurück in stillere Straßen, und
+angesichts kleiner Kapitelle an den verschiedenen Etagen
+einiger Häuser fällt uns der erste Unterricht über
+Säulenarten ein, den uns bei einem Spaziergang der Vater
+oder der ältere Bruder gab: er lehrte uns den dorischen
+Fladen, die ionische Schnecke und den korinthischen Kelch
+mit seinen vielerlei Blättern unterscheiden. Und fortgesetzt
+wurde diese Vorschule vor ganzen Säulenhallen, wenn man bis
+unter die Linden kam und vom Brandenburger Tor bis zum
+Opernhaus und zur neuen Wache vordrang. Kam man aber nur bis
+zu den Tortempelchen am Leipziger Platz, gab es in nächster
+Nähe wieder etwas wenig Beachtetes zu entdecken. Ich meine,
+im Rasen verteilt, die acht Sandsteingruppen, die — einst
+Laternenträger auf einer längst abgerissenen Brücke — hier
+im Grünen gelandet sind. Daß es Laternen sind, was sie
+tragen, erkannten wir nicht, wir fanden sie nur
+geheimnisvoll um undeutliche Gegenstände und um einander
+bemüht. Sie haben mich immer viel mehr interessiert als die
+beiden Generäle Graf Brandenburg und Graf Wrangel, welche
+näher an der Straße das Interesse auf sich zu lenken suchen.
+Wenn ich eine Stimme im Rat der Stadt hätte, würde eine
+ganze Reihe solcher Kriegshelden und sonstig berühmten
+Männer, die auf Plätzen, an Brücken und Alleen sich
+vordrängen mit ihren porträtähnlichen Steingesichtern oder
+Bronzeröcken, durch unbestimmte Gartengötter ersetzt, die
+nicht viel anhaben.
+
+Nun, bis es dazu kommt, wollen wir zufrieden sein mit dem,
+was wir haben, und sei es auch nur das Kleinwerk an alten
+Häusern, Medaillons mit Mädchenköpfchen in reichem Haar oder
+Jünglingsgesichtern unter phrygischer Mütze, kleinen Opfer-
+oder Triumphzügen in Flachrelief über einer Beletage und
+Putten, die zwischen Blattwerk und Arabesken über Türen oder
+unter Fenstern hocken. Diese Putten waren immer besonders
+vertrauenerweckend, da sie an den eigenen Knabenkörper
+erinnerten. Ungewöhnlich verlockend aber wurden sie vor dem
+Zeughaus, wo sie überlebensgroß zu Füßen der Riesinnen
+stehen und, während die da oben nah bei ihren gewaltigen
+Brüsten Belehrendes vornehmen, sich selig an die Fülle der
+Gewandfalten schmiegen dürfen.
+
+Bekommt man solche Putten und Göttinnen nur selten zu sehen,
+so gibt es doch eine andere Art mythologischer Personen,
+eine ganze *Plebs deorum*, die uns häufig Gesellschaft
+leistet: die Karyatiden und Atlanten. Von so gelehrten Namen
+weiß das Kind nichts, es sieht Mädchen, die, unter leichter
+Last in die Hauswand eingelassen, ihr kleines Kapitell als
+Kopfputz tragen. Schon vom Schoß ab werden sie Mauerwerk.
+Andre müssen sich mühen und ducken, um vorragendes Gebälk zu
+stützen. Da wechseln die Arme, bald wird der rechte, bald
+der linke gebraucht und die freie Hand ruht auf dem Knie.
+Bärtige Männer schleppen das Haus auf erhobenen Armen und
+mit dem Nacken. Jünglinge stemmen die eine Schulter unter
+den Torbogen und strecken den Arm dem Nachbarn hin über ein
+Löwenhaupt. Manche haben wirklich schwer zu schleppen und
+schlagen gewaltige Bauchfalten, andre scheinen die Mühe
+etwas zu übertreiben und machen mehr Muskelspiel als
+erforderlich.
+
+Während diese Männer und Weiber im Freien ihr Wesen treiben,
+erwarten uns bei seltenen festlichen Gelegenheiten einige
+von ihnen in geschlossenen Räumen. Man wird mitgenommen, um
+den Freischütz oder die Zauberflöte zu hören und sieh, da
+tragen die weißen Freundinnen von der alltäglichen Straße
+feierlich die Brüstungen des Zuschauerraums. Und in einem
+andern Kunsthause stehen zwei, die ich immer besonders
+geliebt habe, mühelos aufrecht unter ihrer Last wie ihre
+Vorbilder im Tempel zu Athen. Das sind die beiden an der
+großen Orgel der Philharmonie, die sich rechts und links von
+dem filigranenen Gitterwerk des mächtigen Musikheizkörpers
+erheben. Sie halten Leiern in den Händen, ohne
+hineinzugreifen, und schauen leeren Gesichts geradeaus. Und
+all unser Gefühl konnte in die Hülsen ihrer Gesichter
+eingehen, wenn die Wasser der Musik uns zu ihnen
+emportrugen. Wohl gibt es da näher als diese gestrengen
+Göttinnen zwei christliche Engel, die mit belasteten Flügeln
+unter der Saalwölbung sich ducken und viel entgegenkommender
+auf uns heruntersehen, wir aber bleiben den fernen
+Heidenfrauen treu.
diff --git a/10-tiergarten.rst b/10-tiergarten.rst
new file mode 100644
index 0000000..011e83a
--- /dev/null
+++ b/10-tiergarten.rst
@@ -0,0 +1,157 @@
+.. include:: global.rst
+
+TIERGARTEN
+==========
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`H`\ erbstsonntag. Dämmerung. Die Erde dampft ein
+wenig, nicht so feucht wie Feld, mehr wie Kartoffelacker.
+Auf den vielen, vielen ins Halb- und Ganzdunkel verstreuten
+Bänken an den schlängelnden Pfaden sitzen Liebespaare.
+Manche scheinen mir noch ein bißchen ungeschickt in der
+Liebkosung, sie könnten von einem Pariser Arbeiter, der sein
+Liebchen streichelt, lernen. Manche haben für ihre
+Zweieinsamkeit eine ganze Bank erwischt, aber auch die,
+welche mit andern Pärchen teilen müssen, lassen sich nicht
+stören.
+
+Ich suche nach dem bärtigen Apoll unsres Kinderspielplatzes.
+Von dem habe ich übrigens inzwischen gelernt, daß er aus dem
+achtzehnten Jahrhundert ist, ursprünglich vor dem Potsdamer
+Stadtschloß, dann vor dem Brandenburger Tor stand. Er kommt
+sogar im Baedeker vor, wenn auch nur kleingedruckt. Ich
+finde ihn nicht, ich gerate an den Goldfischteich. Das
+Dreimusikerdenkmal da am Ende mit seinen Halbfiguren in den
+Nischen lasse ich weitab liegen und gehe zu den Putten in
+den natürlichen, von Buschwerk gebildeten Nischen. Da ist
+ein Merkurbübchen mit Flügelkappe und Schlangenstab, der
+seine winzige nackte Landwirtin, die eine Garbe zu halten
+scheint, streichelt. Das bedeutet gewiß den Bund von Handel
+und Landbestellung. Am Ufer gegenüber finde ich einen Putto
+mit preußischer Pickelhaube und einer Art Seitengewehr bei
+einem Mitmännlein, das von ihm weg Tuba bläst. Die beiden
+erinnern an reizende Allegorien der Porzellanmanufaktur.
+Einer dritten Gruppe fehlt zuviel von den Armen, als daß ich
+erriete, was sie hielten und bedeuteten. Sie sind besonders
+schön, so wie sie sind. Das soll kein ästhetisches Urteil
+sein! Mit Ästhetik komm ich nicht weiter, muß es auf andre
+Art versuchen.
+
+Durch einen Seitenweg schimmert von der Siegesallee herüber
+ein Stückchen Markgraf. Ich laß es von fern locken, werde
+mich wohl hüten hinüberzugehn zu den unglücklichen
+Zweiunddreißig mit der wechselnden Beinstellung. Wieder ein
+Busch und ein Sandsteinpärchen, sie mit Flachs versehn, er
+auf ein Rad gestützt. Steuermann? Preußische Seehandlung?
+
+Und hier führt ein Weg vom Teich fort zu dem Rasenrund, auf
+dem Tuaillons Amazone, eine größere Nachbildung des
+Originals vor der Nationalgalerie, ruhevoll und gespannt zu
+Pferde sitzt, die erste Berlinerin, die den Rücken in
+korsettlos sanfter Biegung gehalten hat im Gegensatz zu
+ihrer fürstlichen Zeitgenossin, die nicht weit von hier
+eingeschnürt, in immer schlimmer werdendem Hut, bei den
+Blumen des Rosengartens auf Abholung wartet.
+
+Ich gehe weiter ohne bestimmte Richtung, weiß nicht, ob ich
+zur Rousseau- oder zur Luiseninsel kommen werde. Und
+glücklich verirrt, steh ich mit einmal vor dem Apoll, den
+ich nie wiedergefunden habe seit Jahren. Ich sehe ihn im
+Profil. Mondlicht bewegt die Hand, mit der er in seine
+steinerne Leier faßt. Er hat eine kräftige Art, zuzugreifen,
+nicht distinguiert klassizistisch, sondern wie von alters
+her, er braucht sich keine Mühe zu geben, Antikisches zu
+tun, er kann noch Barock, der gute Gartenmusikant unseres
+Spielplatzes. Aber Spielplatz ist hier nicht mehr.
+
+Immerhin ist es jetzt im veraltenden Halbdunkel noch so
+buschig und labyrinthisch hier wie vor dreißig, vierzig
+Jahren, ehe der letzte Kaiser den Naturpark in etwas
+Übersichtlicheres, Repräsentativeres umschaffen ließ. Daß
+auf seinen Befehl das Unterholz gelichtet, viele Wege
+verbreitert und die Rasenflächen verbessert wurden, ist
+verdienstlich, aber darüber sind dem Tiergarten gewisse
+intime Reize verlorengegangen, eine holde
+Kinderstubenunordnung, Zweigeknacken und das Rascheln vieler
+nicht gleich weggeräumter Blätter auf engen Pfaden. Aus
+dichterem Laub tauchten damals die Teiche auf. Und an
+Denkmälern gab es nur die wenigen freundlichen Marmorleute
+wie etwa den Herrn von Goethe, dem es anzumerken ist, daß er
+sich hier nur vorübergehend aufhält, um einen neuen Umwurf,
+eine Art preisgekrönten Domino, anzuprobieren und dem
+Unterricht beizuwohnen, den griechisch gekleidete Fräulein
+aus seinen Dichtungen kleinen Knaben erteilen — oder den
+guten Friedrich Wilhelm, der auf die Luiseninsel schaut. Er
+soll schon hingesehn haben, eh dort seiner Luise das Denkmal
+errichtet wurde, das alle Kinder lieben. Kenner haben uns
+belehrt, daß des Königs Gestalt und Gewandung besonders
+genau und gründlich ausgeführt sei. Es fehlt nicht einmal
+der Riester am Stiefel des sparsamen Monarchen, der
+bisweilen geflicktes Schuhwerk getragen haben soll.
+
+Bei dieser Gelegenheit will ich einiges anbringen, was ich
+aus der Geschichte des Tiergartens gelernt habe. Geschenkt
+hat laut einer Urkunde von 1527 den Platz die Gemeinde Cölln
+an der Spree dem Kurprinzen Joachim dem Jüngeren ‚zur
+Anrichtung eines Thier- und Lustgartens‘. Noch unter dem
+Großen Kurfürsten reichte der Tiergarten mit seinem starken
+Wildbestand bis zum heutigen Gendarmenmarkt, und der
+sogenannte kleine Tiergarten umfaßte ganz Moabit und die
+Gegend des Wedding. Allmählich griffen dann Dorotheen- und
+Friedrichstadt in das Waldgelände ein. Eine große Allee
+wurde angelegt nach dem Schloß der Königin Sophie Charlotte.
+Und es begann die Umwandlung des Jagdreviers in einen
+Lustwald. Der Plankenzaun fiel, der einst das ganze Gebiet
+umgab. Der Große Stern entstand und die Alleen, die von ihm
+abzweigen. Friedrich der Zweite ließ diesen Platz mit
+geschnittenen Hecken und pyramidal gestutzten Buchen
+umgeben. Über ein Dutzend Statuen kamen darauf, aber keine
+Markgrafen, sondern Pomonen, Floren, Ceres, Bacchus und
+ihresgleichen. Das Volk nannte sie die Puppen, und den
+weiten Weg zu ihnen nannte es ‚bis in die Puppen‘. Vom
+Goldfischteich habe ich gelesen, daß er noch Karpfenteich
+hieß, als E. Th. A. Hoffmann daselbst seinen geliebten Kater
+Murr verscharrte. Vielleicht lächelte damals noch die Göttin
+des großen oder Venusbassins auf ihren Cupido nieder wie zur
+Zeit, als hier der junge Philipp Hackert seine ‚Aussichten‘
+malte. Nicht weit vom Großen Stern legte Knobelsdorff sein
+Labyrinth an, einen Irrgarten, aus dem sich der Poetensteig
+schlängelte, von welchem noch ein Ausläufer erhalten ist in
+dem Pfad, der zum Denkmal Friedrich Wilhelms führt.
+
+Um 1790 entstand nach dem Vorbilde der Stätte, wo Jean
+Jacques bestattet worden, in einer sumpfigen Partie des
+Parkes die Rousseauinsel, unsere Rousseauinsel, um die wir
+ruderten und Schlittschuh liefen und sie bei ihrem Namen
+nannten, lange ehe wir wußten, von wem sie ihn hatte. Villen
+und Landhäuser näherten sich dem Park, das gastfreie Haus
+des Jacob Herz Beer, der Meyerbeers Vater war, und Ifflands
+schönes Gartenheim. In der werdenden Tiergartenstraße wohnte
+Schleiermachers Freundin Henriette Herz. Eine bekannte
+Karikatur der Zeit läßt sie mit Schleiermachers Kopf im
+Ridikül am Tiergartenrand spazieren gehn. Unterschrift: ‚Die
+Hofrätin Herz hat sich einen Ridikül angeschafft.‘ Der Park
+selbst war damals noch recht verwildert, nur die sogenannten
+englischen Partien wurden gepflegt. Systematisch
+umgeschaffen hat den Tiergarten erst Lenné in den dreißiger
+Jahren. Doch ließ er noch kleine Wildnis genug, die bis in
+unsere Kindertage blieb. An diese Zeit erinnern mich am
+meisten die winzigen hochgeschwungenen Brückenstege über
+den Bächen, die manchmal bewacht sind von munteren
+Bronzelöwen, denen von Maul zu Maul Geländerketten hängen.
+
+Und ganz wie damals ist oder scheint mir der Neue See. Es
+wird zu spät, heut hinzugehn, so zeichne ich in Gedanken die
+Buchten um seine Bauminseln, wo wir im Winter kunstvoll
+holländernd große Achten ins Eis schrieben und im Herbst von
+der Holzbrücke am Bootshaus in den Kahn stiegen mit der
+Herzensdame, die unser Rudern steuerte. Und lasen wir später
+im berühmten Gedicht, das wohl einem südlicheren Park
+gewidmet ist,
+
+ | ‚Wir fahren mit dem kahn in weitem bogen
+ | Um bronzebraunen laubes inselgruppen’
+
+so dachten wir Berliner Kinder an unsern Neuen See.
diff --git a/11-der-landwehrkanal.rst b/11-der-landwehrkanal.rst
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--- /dev/null
+++ b/11-der-landwehrkanal.rst
@@ -0,0 +1,259 @@
+.. include:: global.rst
+
+DER LANDWEHRKANAL
+=================
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`E`\ r beginnt und endet zwar bei Fabriksschlöten
+und hat die geschäftigsten Teile der Ober- und Unterspree zu
+verbinden, aber unterwegs wandert er durch soviel
+Stadtidyll, daß sein Name in unserm Ohr einen sanften Klang
+hat, als wäre er noch der alte Schafgraben, der einst an den
+südlichen Stadttoren entlang floß, oder der ‚grüne Strand‘,
+wie man ihn bis in die achtziger Jahre nannte, ehe seine
+Ufer mit Quadern bekleidet wurden, wodurch er zu seinen vier
+Schiffsbreiten kam.
+
+Langsam gleiten durch sein Wasser die schwerbeladenen Kähne.
+An Bordrand stakt einer mit langer Stange das Fahrzeug vom
+Fleck, ein Hündchen hockt, ein Feuerchen raucht. Das dampft
+aus der kleinen Küche wie im Zigeunerwagen. Andre Kähne
+lagern an einigen Uferstellen und bieten Äpfel feil, rot wie
+die Backen der Schifferkinder.
+
+Bald nachdem der Kanal die chemischen Werke und technischen
+Institute von Charlottenburg verlassen hat, beginnen
+Baumalleen ihn zu säumen, und sein Strand heißt eine Strecke
+lang Gartenufer. Und Brücken überschreiten ihn, die wie
+Gartenstege über Gartenbächen sind. Da ist die
+Lichtensteinbrücke, die vom Hintereingang des Zoologischen
+Gartens zum Tiergarten führt, gar nicht weit von der
+Schleuse, in deren glatt angleitende Flut und schäumend
+abstürzende Wellen die Kinder so gerne schauen. Daß die
+Stille dieser Brücke einmal entweiht worden ist von
+Schurken, die ein paar Schritt weiter den sterbenden Leib
+einer edlen Kämpferin, welche ihre Güte und Tapferkeit mit
+dem Tod büßen mußte, ins Wasser geworfen haben —, man kann
+es sich kaum vorstellen, wenn man hier die spiegelnden
+Wipfel im Wasser ansieht. Begreiflicher schon ist es, daß
+mancher Verzweifelte, manche Verlassene in den lockenden
+Wassern des Kanals den Tod gesucht haben.
+
+An der Corneliusbrücke geht die Parklandschaft des
+Gartenufers mit grüner Brandung in die Stadtlandschaft über.
+Und die Atmosphäre, die in dieser Gegend den Atem von Park,
+Stadt und Wasser vereint, ist von zartem Farbenreichtum, wie
+man ihn in dem hellgrau umrissenen Berlin sonst selten
+findet. Kein Sonnenaufgang über den Bergen, kein
+Sonnenuntergang an der See läßt den, der in Berlin Kind war,
+die süßen Morgen- und Abendröten überm Frühling- und
+Herbstlaub des Kanals vergessen.
+
+Dann führt von der Herkulesbrücke bis zu dem wie auf einem
+chinesischen Bilde geschwungenen Fußgängersteg, der
+merkwürdigerweise Lützowbrücke heißt (aber nur nach dem
+Dorf, nicht nach dem Kriegshelden), ein Stück Sandweg bis zu
+der winzigen Parkanlage neben dem Klubhaus der Von der
+Heydtstraße. Auf diesen Uferpfad gehen zum größten Teil
+Hinterhäuser. Und die paar Zugänge der Häuser, die dieser
+verwunschenen Gegend den Namen einer numerierten Straße
+verschafft haben, scheinen Türen zum Glück zu sein.
+Kastanien beschatten den immer dämmerigen Pfad und weiterhin
+das Ufer, Kastanienbäume, die das Kind des Berliner Westens
+in allen Jahreszeiten kennen lernt; an den feuchtstrotzenden
+Knospen, den Blütenkerzen und den braunen Früchten, die sich
+aus stachliger Hülle lösen, hat es im Spazierengehn seinen
+ersten und angenehmsten Unterricht in der Botanik. Vor der
+kleinen Parkanlage, bei der sich der Kanal zu einer Art
+Ententeich verbreitert, neigen sich Bäumchen übers Wasser,
+nach deren Namen das Kind fragt, um dann zum ersten Male das
+Wort Trauerweiden zu hören. Von dem Nordufer des Kanals, der
+Königin Augustastraße, führen nun alle Seitenstraßen in den
+Tiergarten. Was hier an Häusern in Gärten steht, hat mit
+Säulchen und Friesen, glatter und spalierbespannter Wand die
+gute alte Zeit bewahrt. Zwischendurch gibts ein paar
+Wagnisse und sanfte Entgleisungen ins Gotische oder
+Nordisch-Üppige, aber das wirkt nur putzig wie Pagode und
+künstliche Ruine in einem guten Garten. Je schmaler diese
+Straßen sind oder werden, um so liebenswürdiger wirken sie,
+wie etwa die Hildebrandt- oder die Regentenstraße.
+
+Eine von ihnen verbreitert sich zu einem kleinen Platz rings
+um die Matthäikirche; dies schmale Gotteshaus mit dem
+spitzen Turm und spitzigen Nebentürmchen in dem gelben und
+rötlichen Backstein erbaut, der so vielen Kirchen von Berlin
+eine gewisse Ähnlichkeit mit Berliner Bahnhöfen gibt, erhebt
+sich aus Efeuranken und über Fliederbuschwerk. Es bewahrt
+noch eine kärgliche Vornehmheit von der Zeit her, da es das
+Rendezvous der frommen Lebewelt war, der Leutnants und
+Geheimratstöchter, die zusammen beteten und tanzten, und im
+Volksmunde die Polkakirche hieß.
+
+Der angenehm private Charakter der Königin Augustastraße
+wird an ein paar Stellen gestört durch prätentiöse
+öffentliche Gebäude, Reichswehrministerien und
+Reichsversicherungsämter und dergleichen, aber sie ist immer
+noch eine freundliche Uferpromenade. Ebenso das
+gegenüberliegende Schöneberger Ufer, an welchem sich die
+Neubauten und Umbauten dem stillen Wesen der alten Häuser im
+allgemeinen gut anpassen. Knapp vor der Ecke der
+Potsdamerstraße gab es bis vor kurzem eine ganz kleine
+Synagoge, eine winzige Orientmauer, die wir liebten. Sie ist
+nun weggebrochen mit ihren Nachbarn, um einem großen Eckhaus
+Platz zu machen, ähnlich denen, die sich an den andern Ecken
+der Doppelbrücke erheben. Bei dieser Potsdamer Doppelbrücke
+streift unser stilles Wasser einen Augenblick dichteste
+Großstadt. Da wird es abends bestrahlt von Lichtreklamen und
+tags erschüttert von drängendem und stockendem Verkehr.
+Dieser Großstadtlärm bekümmert wenig vier Herren, die dort
+auf Postamenten an den äußeren Ecken der beiden Brücken in
+Bronze bei ihren Apparaten sitzen. Jeder hat ein nacktes
+Bübchen zu seinen Füßen, das mit den subtil ausgeführten
+Instrumenten spielen darf. Gauß und Siemens arbeiten eifrig
+und ohne aufzublicken an ihren Erfindungen und Experimenten,
+während Röntgen in veritablen Schnürschuhen seinem Kleinen
+zeigt, was er fertig hat, und Helmholtz, der Theoretiker,
+müßig vor sich hinträumt. Leute von Geschmack und mit ihnen
+der Baedeker behaupten, die Denkmäler seien nicht besonders
+glücklich aufgestellt. Ich rechne sie zu den harmlosen. Ihre
+Anwesenheit hat etwas Tröstliches, so oft man über den Damm
+zu ihnen in sichern Port gelangt ist. Auch ist es
+erfreulich, daß die Unbilden der Witterung den mit sehr
+ähnlichen Röcken leichtbekleideten Herren und den nackten
+Bübchen gar nichts ausmachen.
+
+Wir verlassen eine kleine Weile das Schöneberger Ufer und
+treten in das Eckhaus der Potsdamerstraße ein. Das ist außen
+gelbgetüncht und zu modernster Bandstreifenarchitektur
+vereinfacht. Innen aber erinnern im Treppenhaus und in den
+Fluren der einzelnen Stockwerke Stuckornamente an die Zeit,
+da es ein großbürgerliches Wohnhaus war. Jetzt ist es ganz
+Bürohaus geworden. G. m. b. H.s hausen hier mit abgekürzten
+Namen, Hibado und Raweci oder so ähnlich, Anwaltbüros und
+Ärztesprechzimmer gibt es und einen großen Verlag, und da
+wir mit diesem befreundet sind, dürfen wir in seine Räume
+eintreten und aus dem Fenster sehen auf das
+Pfefferkuchenpflaster des Karlsbades, dieser alten
+Seitengasse, die mit verwilderten Vorgärten und brüchigen
+Balkonen vergangener Vornehmheit nachhängt. Dort drüben,
+schon fast an der Flottwellstraße, weiß ich den Torweg,
+durch den Schienen zu einem Fabrikgebäude im Hofe führen,
+und in demselben Hofe der modernen Fabrik gegenüber ein
+Gartenpavillon, vielleicht Rest eines Landhauses an der
+alten Potsdamer Chaussee, ein winziges bürgerliches Trianon
+mit ein paar Stufen zum Glück, zu umranktem Vorplatz mit
+Steinvasen über der Balustrade und zu der Glasveranda, aus
+der man jetzt statt auf Gärten auf den Hühnerhof des
+Hauspförtners und die grünüberwucherte Wand des Nachbarn
+schaut. So ähnlich mag auch das Haus gewesen sein, in
+welches im Jahre 48 in den Märztagen der Prinz von Preußen
+flüchtete, als er in der Dämmerung durchs Potsdamer Tor
+entkommen war. Hier konnte er sich verborgen halten im alten
+Karlsbade. Wir hören Leierkastenmusik und eine Stimme und
+gehen über den Flur an ein Hoffenster des Hauses. Einer der
+schachttiefen Höfe liegt unter uns, wie ihn Tausende von
+Berliner Bürohäusern haben. Lauter kahle Fenster, hinter
+denen Umrisse von Schreibmaschinen, Regalen und Kartotheken
+zu sehn sind. Aber ein paar der Fenster gehn auf, und die
+Mädchen mit den schwarzen Schutzärmeln sehen ein bißchen
+hinunter auf die Musik.
+
+Ist der Kanal unter der Potsdamerbrücke hindurch, darf er
+noch eine Weile an stillen Ufern hinfließen. Dann
+überschatten ihn Viadukte, er streift Zugänge und Zufahrten
+von Bahnhöfen, und wo er sich dann zum viereckigen Hafen
+erweitert, ist er von Eisenbahnämtern gerandet. Am
+Hafenplatze aber stehn von alters her eine Reihe schöner
+Platanen. Wer aus dem Westen Berlins nach dem Süden Europas
+reisen will, kommt auf dem Weg zum Anhalter Bahnhof an
+diesen Bäumen vorbei und empfängt von ihren hellgefleckten
+Stämmen und dem Flimmern ihres Laubes ein Vorgefühl von
+Eukalyptusstämmen und Olivenlaub.
+
+Von hier führt ein kurzes Stück Straße zu dem Hochbahnhof
+Gleisdreieck, der über dem gewaltigen eisernen Spinnennetz
+von Schienensträngen liegt, auf denen von Güter-, Fern- und
+Untergrundbahnen Dampfgestoßenes und elektrisch Gleitendes
+zusammenströmt. Das, was da oben zu erleben ist, gehört zu
+der Rundfahrt mit Stadt-, Ring- und Hochbahn, die Baedeker
+uns empfiehlt, zu der Fahrt, die eine Art neue Stadtmauer um
+das ältere Berlin baut und zum Teil Spuren früherer Mauern
+verfolgt.
+
+Jetzt aber folgen wir dem Wasserweg des Kanals, der eine
+Strecke lang neben dem Viadukt der Hochbahn eine sanft
+gebogene Linie beschreibt, um sich am Halleschen Tor von ihm
+zu entfernen. Nun steigen zinnenbewehrte Rundtürme auf:
+Gasanstalten, die ältesten von Berlin, die in den zwanziger
+Jahren von der englischen Imperial-Continental-Association
+gegründet wurden. Und gegenüber erstreckt sich das Planufer,
+in alter Zeit eine vorstädtische Wohngegend und immer noch
+bequem und weit zu gehen. Es führt an Straßen und Plätzen
+hin, deren Namen Vergangenheiten enthalten, Am
+Johannestisch, Johanniter- und Tempelherrenstraße. Eine
+jüngere putzige Vergangenheit wird überliefert: ein Saal der
+Stadtmission, die hier, ein Werk des berühmten Hofpredigers
+Stöcker, ihre Stätte hat und ihre ‚Schrippenkirche‘ abhält,
+in der Bettler und Obdachlose zwei Schrippen, einen Becher
+Kaffee und ein Wort für die Seele bekommen; ein Saal dieser
+Mission war früher einmal Theaterraum einer Possenbühne, in
+der der sogenannte Meerschweinchendirektor Carli Callenbach
+regierte.
+
+Urbanhafen: ein Seitenkanal umfließt eine trapezförmige
+Insel, auf der aus- und eingeladen wird, Hebebrücken und
+Kräne sind am Werk. Gen Norden aber hinterm Wasser erstreckt
+sich ein Schlachtfeld von Erdarbeiten, Abbruch und Aufbau,
+Ruinenstadt und werdende Stadt. Das ganze Gebiet des
+früheren Luisenufers vom ehemaligen Engelbecken bis zum
+weiland Torbecken ist trockengelegt worden, um einer
+großen Avenue Platz zu machen, die von Norden nach Süden
+gebaut wird. Angelockt von dem Chaos aus Sand und Schutt,
+gehen wir ein Stück in der Richtung nach dem Kottbuser Tor
+zu. Da wird gerade an der Hochbahn umgebaut und wir geraten
+unter ein grelles Netzwerk mennigroter Eisenträger. Die
+Kottbuserstraße führt uns zurück an den Kanal, und wir
+kommen in die Budenstadt eines Marktes, der das ganze
+Maybacher Ufer bedeckt. Hier scheint von Süden her ganz
+Neukölln herbeigekommen zu sein, um einzukaufen. Es gibt
+alles: Pantoffeln und Rotkohl, Ziegenschmalz und
+Schnürsenkel, Krawatten und Fettbücklinge. Neben der alten
+Jüdin, die Pelzfetzen breitet und Seide auspackt, ißt eine
+Nachbarin von ihrem Gemüsekarren eine rohe Karotte. Dem
+wüstesten Fischgestank gegenüber verheißen die Flaschen mit
+Maiglöckchenessenz billig süßen Duft. Und streifenweise
+unterbricht die andern Auslagen immer wieder ein ‚Posten‘
+Strümpfe aus Seidenflor oder aus unzerstörbarer
+‚Panzerseide‘. Stellenweise münden die Läden der Straße in
+den Marktverkauf. Das Emailgeschäft baut seine Ware den Damm
+herüber. ‚Tulpenzwiebeln ausnahmsweise billig vor
+Feierabend‘, ‚Gelegenheitskauf, junge Frau‘, ‚Echte
+Beerblanche‘, ruft es. ‚Winterrote, alle mehlig‘, preist
+einer seine Kartoffeln. Neben ihm gibt es wahrhaftig noch
+etwas zu sehn, was uns schon Museumsgegenstand scheint,
+richtige Haarnadeln wie in unserer Jugendzeit und runde
+Kämme, wie damals Frauen sie ins Haar steckten.
+
+Die Einmündung des Teltowkanals und der rechte Winkel, den
+unser Kanal bildet, ist durch allerlei Schuppen und
+Bretterwände verbaut und man muß wie so oft das Leben der
+Stadt von den Inschriften ablesen: ‚Gerüstbau- und
+Verleihanstalt‘, ‚Hunde werden geschoren und kupiert‘,
+‚Rohre, Träger, Formeisen, Zaunstäbe, Nutzeisen aller Art‘,
+‚Altes Studentenbad‘. Über dieser Inschrift flattern
+schwarzweiße Fähnchen. Aber was sie verheißt, ist nicht mehr
+zu finden.
+
+Noch einmal teilt sich unser Kanal und geht mit zwei Armen
+in die Spree. Wir gehen den Freiarchengraben an dem etwas
+kümmerlichen Grün des Schlesischen Busches entlang und einen
+Pfad bis an den Fluß, der hier den breiten Osthafen bildet.
+Mit rotem Verdeck schwimmt ein stolzes Steinschiff, der
+Neubau der ABOAG, von Süden her.
+
+Das ist der Landwehrkanal. Man behauptet, er solle auch bald
+einmal trockengelegt werden, er rentiere sich nicht mehr.
+Dann würde uns wieder ein Stück Leben zu blasser Erinnerung
+werden.
diff --git a/12-der-kreuzberg.rst b/12-der-kreuzberg.rst
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--- /dev/null
+++ b/12-der-kreuzberg.rst
@@ -0,0 +1,238 @@
+.. include:: global.rst
+
+DER KREUZBERG
+=============
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`D`\ er ist obligatorisch. Eine Sehenswürdigkeit.
+Die höchste Erhebung über der Spree-Ebene. Da ich ihn seit
+langer Zeit nicht mehr besucht habe, beschloß ich ihn jetzt
+gewissenhaft zu besichtigen und begab mich gen Süden.
+Unterwegs in einer Nebenstraße der Großbeerenstraße gab es
+ein paar Schaufenster, vor denen mußte ich stehenbleiben. So
+lange konnte der Kreuzberg auf mich warten. Das eine verhieß
+Wäscheanfertigung jeder Art aus vorhandenem sowie aus
+geliefertem Material. Da lehnte über die Leine mit den
+Spitzentaschentüchern eine nachdenkliche Stoffpuppe ihre
+marmorgrauen Arme. Unter roter Kappe hatte sie blaugraue
+Locken, altfarben, wie Ahnenbilder sie haben. Es war schwer,
+an ihren einladenden Augen und Armen vorbeizukommen. Und
+wenige Schritte weiter war eine Vogel- und
+Vogelfutterhandlung. Auch für Fische und gegen Insekten gab
+es da mancherlei einzukaufen, und ich las Worte wie
+Piscidin, Wawil, Dermingin, Radicalin, Milbin. Vor allem
+aber einen Vers allgemeineren Inhalts, den ich mir gemerkt
+habe:
+
+ | Ein Vöglein im Heim
+ | Erfreut groß und klein.
+ | Große Auswahl in Sing-
+ | Und Ziervögel.
+
+Ich weiß nicht, ob die beiden letzten Zeilen auch als Vers
+gemeint sind, aber ich lese sie so.
+
+Das alles hielt mich begreiflicherweise auf, aber
+schließlich stand ich doch am Fuß des Berges vor dem großen
+Becken des Wasserfalls im Viktoriapark. Im Wasser lachte ein
+faunischer Fischer aus Bronze, der eine zappelnde Nixe in
+sein Netz zwang. Außer mir sah ihm bei dieser Tätigkeit von
+der nächsten Brandmauer der Kreuzbergstraße ein riesiges
+Reklamefräulein staunend zu, ohne darüber ihre Arbeit zu
+vernachlässigen. Sie mußte die Wäsche in ihrer
+Riesenschüssel mit empfehlenswerten Seifenflocken behandeln.
+Ich aber ging einem kleinen Jungen nach, der auf seinem
+Dreirad bergauf fuhr bis zu dem Sandspielplatz. Am Lido, in
+Ostende und an der Riviera soll das gesellige Strandleben
+sehr entwickelt sein, in Berlin gibt es in verschiedenen
+Volksparks aber auch sehr schöne Sandplätze. Sie haben meist
+eine Holzfassung, auf deren Brüstung die ganz Kleinen ihre
+Kuchenformen stülpen, während innen in der weiten Sandwüste
+die Größeren Berge mit Tunneln und mit Rauchlöchern für
+Vulkane bauen. Neidisch und erwachsen sehe ich den Eifrigen
+zu und komme auf eine Bank neben ein paar alte Frauen zu
+sitzen, von deren Gespräch ich wie einen Refrain oder wie
+Pedal einer Klaviermusik immer nur höre: »Da hat se ja nu .
+. . da wird se ja auch . . . da hat se alles jehabt . . .«
+Aber ich habe weiter Park und Berg zu besichtigen und suche
+zunächst pflichtgetreu die Denkmäler der Freiheitsdichter
+auf, die hier im Grünen verteilt sind. Es sind
+angenehmerweise nur Hermen, harmlos unter Büschen, über
+Beeten wie die, welche im Pariser Luxembourggarten dichten.
+Da haben wir Rückert in langem Haar mit
+Schmetterlingskrawatte. In ein Notenheft, das breit genug
+ist für Ghaselen, schreibt er an einer Strophe, deren
+Komplikationen ihm Stirnfalten über den sinnenden Augen
+machen. Unten an seinem Sockel spielt auf seiner Leier ein
+Bambino. Unweit steigt Körnern der Kragen hoch an die
+Koteletten des nach links oben strebenden Hauptes. Sein
+Militärmantel ist zur Toga drapiert, und mit seiner
+Dichterrolle faßte er gleichzeitig das Schwert. Auch drüben
+Heinrich von Kleist braucht die Linke nicht nur zum Halten
+des Dichterhandwerks, sie faßt zugleich des Schoßes
+Draperie, während die Rechte mit dem Gänsekiel unter dem
+versonnenen Kinn langfährt. Auf Uhlands Rolle steht
+geschrieben ‚Das Alte Recht‘. Er sieht überzeugt geradeaus.
+Hübsche Blaublümchen blühn im Beet vor seinem Sockel. Und
+davon blühn noch mehr und dichter beieinander an dem
+Seitenbach des Wasserfalls, an dem entlang ich nun weiter
+hinauf muß, dankbar für alles, was mich unterwegs aufhält.
+Es gibt noch einige zoologische und botanische Ablenkungen.
+Hinter Drahtgitter Goldfasanen und Rehe. Man darf sie weder
+füttern noch necken. Denn, steht geschrieben, Gesundheit und
+Leben der Tiere ist hierdurch gefährdet. Vor den
+Blumenbeeten mit den gelehrten Porzellanschildchen höre ich
+Nachbarstimmen auseinandersetzen: »Das ist auch ’ne
+Alpenrose, sag’ ich dir, nur ’ne andre Sorte, steht ja
+Orient drauf.« Bei den Pfingstrosen fragt mich ein blasses
+Rothaariges: »Können Sie mir mal sagen, wie spät’s is?« und
+mahnt mich so zur Eile. Ich halte mich also nicht auf bei
+den Probeporträts, welche auf halber Berghöhe, wo der Weg
+über die Brücke des Wasserfalls führt, ein Photograph
+ausstellt. Auch nicht bei dem tiefgebetteten Milchkurgarten,
+aus dem ich doch meine Sommerfrische machen könnte. Nein,
+statt mich zu erholen, steige ich neben künstlichem Fels die
+Granitstufen hinauf, sechzig Stufen der oberen Terrasse bis
+zum großen Denkmal.
+
+Neben mir erklärt ein Familienvater Frau und Kindern, was es
+da unten ringsum an Türmen und Dächern zu sehen gibt, er
+zeigt ihnen die Hallen des Anhalter Bahnhofs,
+Reichstagskuppel und Siegessäule, nahe Gnadenkirche und
+ferne Lutherkirche. Als er dann zu den grünspanigen Kuppeln
+am Gendarmenmarkt, zu Hedwigskirche, Dom und Schloß kommt,
+wird die kleine Tochter ungeduldig und fragt: »Wollen wir
+nicht bei den kleinen Fluß gehn?« Damit meint sie den
+Wasserfall. Der Vater aber gelangt erklärend weiter zu den
+Kirchen der Altstadt. Ich denke bei den Namen nach, wer wohl
+in vergangenen Zeitläuften von dieser Höhe auf die alten
+Türme hinuntergesehen haben mag. Da fällt mir die Anekdote
+von dem Kurfürsten Joachim ein, der hier oben ein paar
+Stunden seltsamer Angst und Spannung verbracht hat. Dem
+hatte nämlich sein gelehrter Sterndeuter Carion, dem er eine
+Sternwarte in seinem festen Schloß zu Cölln an der Spree
+eingerichtet hatte, prophezeit, es werde am 15. Juli 1525
+ein grausames Wetter die Städte Berlin und Cölln ersäufen.
+Der Tag brach, wie die Chronisten erzählen, wolkenlos an,
+mittags herrschte glühende Hitze, der Himmel bekam ein
+fahles Gelbgrau und am Horizont erschien eine schwarze
+Wolke. Da gab es Unruhe im Schloß, die Hofwagen wurden eilig
+angeschirrt, und der Kurfürst lief mit verstörter Miene
+durch die Gemächer. Und als die Wolkenwand höher stieg und die
+ersten Blitze zuckten, sprangen die Tore des Schlosses auf,
+der Kurfürst, seine Gemahlin und die Kinder fuhren im
+vierspännigen Wagen über den Schloßplatz, die vornehmsten
+Räte, Offiziere und Hofdiener folgten zu Pferde und zu Fuß,
+mit eilig zusammengeraffter Habe beladen.
+
+Nach Süden ging der Zug, wo sich die Cöllnischen Weinberge
+erhoben. Hier hat es nämlich vormals Weinberge gegeben, auf
+denen wirklich Wein gedieh. Er war wohl ziemlich sauer,
+wurde aber nicht nur in der Mark getrunken, sondern auch
+nach Polen, Rußland und Schweden ausgeführt. Erst als der
+Branntwein aus einem Medikament gegen Heiserkeit, Gicht,
+Kopfweh, Wurm und stinkenden Atem allmählich ein beliebtes
+Getränk wurde, das man nicht nur in Apotheken kaufte, hat er
+den Weinbau von diesen Tempelhofer Bergen verdrängt. Auf den
+höchsten der Hügel, den, der heute Kreuzberg heißt, ging der
+Zug des Kurfürsten und suchte dort Schutz gegen die drohende
+Sintflut. Hier oben wartete man auf das Wetter, das nicht
+kam. »Als er aber lange darauf gehalten und nichts daraus
+geworden, hat ihn sein Gemahl (wie sie denn eine sehr
+christliche und gottesfürchtige Fürstin gewesen) gebeten,
+daß er möchte wieder hineinziehen und bei seinen armen
+Unterthanen ausharren . . . Davon ließ er sich bewegen und
+ist um 4 Uhr gegen Abend wieder gen Cölln gezogen. Ehe er
+aber aufs Schloß kommen, hat sich ein Wetter bewiesen und
+wie er unter das Schloßtor kommen, hats dem Kurfürsten vier
+Pferde vor dem Wagen samt dem Knechte erschlagen und sonsten
+keinen Schaden mehr getan.« So zu lesen in Peter Hafftitz’
+Mikrologikon.
+
+Was sah der geängstete Monarch, wenn er von der drohenden
+Wolke weg auf seine Residenz blickte? Hinter Sumpf und Sand
+einen Wall mit Türmchen und Zinnen, dahinter seine Burg
+‚Zwing-Cölln‘, wie sie das Volk nannte und von der heut nur
+noch der Grüne Hut übrig ist, jener runde Turm an der
+Spreeseite mit dem grünspanbedeckten Kupferdach, in Cölln
+ferner Kuppeln und Spitzen der Glockentürme von Sankt Peter
+und nah dabei das Dominikanerkloster, wo vor einigen Jahren
+Tetzel gehaust hatte, um den Cöllnern und Berlinern die
+Höllenqualen recht genau darzustellen und Ablaßzettel zu
+verkaufen . . . Und weiter wanderten seine Blicke über das
+Haus des Heiligen Geistes zu Sankt Marien und Sankt Nicolas,
+zu den Grauen Brüdern und über die Mühlen am Wasser bis zum
+Köpenicker Tor, durch das er damals zur Jagd geritten war an
+dem schlimmen Tage, als ihm die verschworenen Junker auf der
+Heide auflauerten. Dort am Tor hatte das Haupt des kecksten
+der Rebellen aufgesteckt geprangt und ein ganzes Jahr lang
+von seiner Eisenstange herabgegrinst. Zwischen den Kirchen
+und stolzen Eckhäusern der Breiten- und der Klostergasse
+waren nur niedere Schilfdächer und ein paar moosige
+Ziegeldächer zu sehn und viel freies Feld, Acker und Weide
+und Tümpel mitten in der Stadt.
+
+Von diesem Hügel haben Schweden und Kaiserliche abwechselnd
+auf die bedrängte Stadt geblickt, die dann der Große
+Kurfürst zur zackig umwallten Kanonenfestung umschuf.
+Im Siebenjährigen Krieg sind Österreicher und Russen hier
+gewesen. Feuerkugeln mit langen Schwefel- und Pechkränzen
+schossen hinunter. Danach hat der arme Sandhügel eine Weile
+Ruhe von der Weltgeschichte gehabt. Erst anno 1813 haben die
+Berliner auf dem Tempelhofer Berg und den Rollbergen
+Schanzen zur Stadtverteidigung angelegt. Aber der Feind kam
+nicht bis an die Stadt, nur der Kanonendonner von
+Großbeeren. Und bald danach läuteten die Glocken Dank für
+den Sieg bei Leipzig. Im Jahre 1818 wurde der Grundstein
+gelegt zu dem Siegesdenkmal, das hier hinter mir aufragt.
+Die Majestäten von Rußland und Preußen warfen Kalk aus der
+Maurerkelle auf das Lager des Steins. Und dann wuchs, ganz
+aus Eisen gegossen, Schinkels Denkmal im sogenannten
+‚altteutschen Style‘ empor, und zwar, wie ein Zeitgenosse
+berichtet, »auf einem achteckigen Unterbau, welcher eine
+erhöhte mit steinernen Platten bedeckte Terrasse um das
+Monument bildet, die sich auf elf rings um das Achteck
+laufenden Stufen erhebt . . . Bei den Teilen und bei dem
+Ganzen hat die Architektur des Kölner Domes zum Muster
+gedient . . . Das Ganze bildet einen thurmartigen Baldachin,
+der sich über zwölf Kapellen oder Nischen erhebt, aus denen
+die im Grundriß bestimmte Kreuzform des Ganzen
+zusammengesetzt ist. Diese nischenartigen Kapellen sind den
+zwölf Hauptschlachten des großen Krieges gewidmet und jede
+Nische ist mit einem charakteristischen Siegesgenius
+ausgefüllt, dessen Gestalt dem durch ihn personificierten
+Ereignis entspricht. Die schöne Aufgabe dieser Gestalten für
+den Bildhauer ist bereits in vollendeten Figuren durch die
+Professoren Rauch, Tieck und Wichmann jun. sehr glücklich
+gelöset . . .« Die Genien haben klassizistisch abgeschwächte
+Ähnlichkeit mit den Fürsten und Helden der Zeit, Culm mit
+Löwenhaut und Keule sieht dem König Friedrich Wilhelm
+gleich. Dennewitz trägt Bülows Züge. Blücher ist zweimal
+vertreten, stürmend an der Katzbach, im nordischen Harnisch
+bei La Rothiere. Der Siegesgöttin von Paris verlieh Rauch
+die Gesichtszüge der Königin Luise und ließ sie in der
+Rechten eine kleine Quadriga tragen, die an die
+wiedergewonnene große auf dem Brandenburger Tor gemahnt.
+Belle-Alliance aber, der Endsieg, blieb den unumgänglichen
+Föderierten vorbehalten: das Haupt hat die Züge der
+russischen Kaiserin Alexandra Feodorowna, und obendrein sind
+noch auf der Mittelfalte ihres Gewandes als Stickereien die
+übrigen elf Genien in Relief wiederholt. Später wurde für
+das Denkmal eine höhere Untermauerung geschaffen und es
+wurde mittels hydraulischer Pressen bis zu seiner
+gegenwärtigen Höhe gehoben.
+
+Benommen von alter Zeit und dem Abendwind, der von den
+Brauereien her Geruch von Malz wehte, wie man ihn in München
+riecht, hätte ich gern jemanden gefragt: Wo ist denn hier
+der Dustere Keller ? Der muß einmal hier am Abstieg gelegen
+haben. In Urzeiten war es eine Schlucht mit Aschenurnen,
+dann hauste dort in fritzischen Zeiten ein wunderlicher
+Einsiedler. Dann war es ein beliebtes Ausflugsziel. Und in
+den heimlichen Tagen vor den Freiheitskriegen gründeten die
+vaterländischen Turner Jahn und Friesen in der Wirtschaft
+mit ihren Freunden den Deutschen Bund, in welchem der
+aufgelöste Tugendbund weiterlebte. Aber da seh ich Flieger
+im Osten über Tempelhof und besinne mich auf die Gegenwart.
diff --git a/13-tempelhof.rst b/13-tempelhof.rst
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index 0000000..d7c07ea
--- /dev/null
+++ b/13-tempelhof.rst
@@ -0,0 +1,166 @@
+.. include:: global.rst
+
+TEMPELHOF
+=========
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`J`\ a, da drüben ist unser großer Flughafen. Da
+kann man die surrenden Stahlvögel niedergleiten sehn auf
+grüne Fläche und anrollen auf die geteerte Bahn. Und wieder
+aufsteigen im Kreisflug nach allen Himmelsrichtungen. Und in
+der Halle der Lufthansa stehn sie nebeneinander wie
+Lokomotiven im Schuppen. Kennerisch sieht die Menge der
+Ankunft und Abfahrt zu, und die kleinsten Burschen reden im
+Ton des sicheren Mannes über Tragflächen und Spannweiten,
+sie waren ja draußen auf der ‚ILA‘, sie wissen ja Bescheid
+mit allen Aerogleitern, Eindeckern und Doppeldeckern, genau
+wie sie alle Autoarten kennen, da brauchte man nur die
+Gespräche vor den Ausstellungshallen der Messestadt
+anzuhören. Oft sollen sie übrigens auch den größten Unsinn
+reden, haben mir Sachkenner versichert, aber sie bringen ihn
+so herrlich trocken und bestimmt heraus, die kleinen
+Berliner. Merkwürdig ist auch, wie neidlos selbst die
+Ärmsten alles Sportgerät ansehen. In dem Schwirren der
+Propeller und im Rollen über beständig explodierendem Benzin
+muß ein gemeinschaftliches oder mitteilsames Glück liegen.
+Wer sich kein Auto leisten kann, wird dann eben Chauffeur
+werden. Oder vielleicht Flugzeugführer, denkt mancher von
+den Kleinen, wenn er hier die Piloten in ihrer flatternden
+Ledertracht, in dieser seltsamen Fledermausuniform,
+vorübergehn sieht.
+
+Wo das Gebiet des Flughafens aufhört, schließen sich
+Sportplätze an und die Jungen laufen dort hinüber zu ihren
+Fußballkameraden. Den Kindern und den Fliegern gehört diese
+weite Fläche. Und es ist doch noch gar nicht so lange her,
+da war sie Schauplatz von veralteten Paraden und Revuen, da
+herrschte hier das Gegenteil der Sportelastizität, der
+steifstarre Stechschritt der Garden. Hier wurde zweimal im
+Jahr die Berliner Garnison ihrem höchsten Kriegsherrn
+vorgeführt, hier waren von den Zeiten des Großen Friedrich
+bis zum Weltkriege die letzten Musterungen vor dem Feldzug.
+Nun ist es hoffentlich für eine gute Weile vorbei mit diesen
+traurigsten aller Felder, diesen zu leeren oder zu vollen
+Exerzierplätzen, die ernüchternd sind wie die Kasernen, aus
+denen sie sich füllten. Statt Kasernen werden Siedlungen
+angelegt, wie hier ganz in der Nähe Neu-Tempelhof mit seinen
+stillen Ringen, hübschen Torwegen zu Gärten, ansteigenden
+und absinkenden Straßen und Häusern, die an altes Potsdam
+erinnern.
+
+Von dem Dorf, das nach den weiland Tempelrittern heißt,
+steht nicht mehr viel in Tempelhof. Selbst die kleine
+Granitkirche im Gemeindepark hat ihre Gestalt verändert. Und
+sonst ist vom Dorf nichts übrig geblieben als ein paar
+eingesunkene einstöckige Häuschen mit Vorgärtchen, wie man
+sie hier und da in den Berliner Vorstädten findet. Das
+heutige Tempelhof ist einer der schrecklichen Eilbauten aus
+der Zeit nach 1870 im Bauunternehmer- und
+Maurermeistergeschmack, wie deren noch allzuviel rings um
+Berlin lagern und erst allmählich von den neuen Wohnblöcken
+ohne Seitenflügel und Quergebäude, ohne Berliner Zimmer und
+Fassadenstuck verdrängt werden.
+
+Dafür gibt es aber zwei Monumente der neuen Zeit, das
+Ullsteindruckhaus mit seinem stolzen sechzehn Stockwerk
+hohen Turm und den gewaltigen Komplex der Sarottiwerke,
+beide am Teltowkanal gelegen. In dem einen wird der in den
+Redaktionen und Setzereien der Kochstraße gesammelte Geist
+auf dem Wege über allerlei Rotation, Schnellpressen, Falz-,
+Heft- und Zusammentragemaschinen zu Zeitungen,
+Zeitschriften, Broschüren und Büchern, in dem andern wird
+die in den Tropen gesammelte, weither gewanderte Kakaobohne
+auf dem Wege über Bürstenwalzen, Brech-, Schäl-, Reinigungs-
+und Eintafelungsmaschinen zu hübsch verpackter Schokolade.
+Es ist erstaunlich, wie der trübe Niederschlag und Satz
+unserer Einfälle aufschwillt zu unendlichen, wohlbedruckten
+Papiermassen und wie die verstaubten, in runzligen Säcken
+zusammengeduckten Bohnen zu unzähligen säuberlichen Tafeln
+und Pralinen werden. Das alles machen die klugen Räder und
+Walzen, vor deren vielerlei Drehen, Stampfen, Greifen und
+Schleudern uns unwissenden Besuchern der Verstand
+stillsteht, während ihre tausend Wächter, Aufpasser und
+Hüterinnen in Kitteln und Häubchen unsre verwunderten Mienen
+belächeln. (Welch ein Heer von munteren und stillen Berliner
+Arbeiterinnen hab ich in diesen Tagen kennen gelernt, leider
+nur so im Vorübergehn. Ich möchte unsichtbar zugegen sein,
+wenn sie in ihren Kantinen zusammensitzen, hören, was sie
+auf ihren Heimwegen miteinander reden, was sie vom Leben
+denken . .) Ja, da stehn wir betäubt im Riesensaal der
+Berliner Illustrierten und sehn an der Decke die
+Papierrollen hinlaufen, sich niederlassen in
+das eiserne Greifen und Drehen und als bebilderte
+aufgeschnittene fertige Zeitschrift herausspazieren. Da
+schleichen wir durch den Saal der ‚Längsreiber‘, wo die
+Walze über die Reibetröge, Granit über Granit, wandert und
+Massen bewegt, die dann weiterwallen zu Tafelformen,
+Füllmaschinen und Schüttelbahnen, um ohne Eingriff von
+Menschenhand in Stanniol, Wachs und Pergament, in Karton und
+Kiste zu schlupfen.
+
+An Tempelhof schließt sich Mariendorf an, wohin ich wohl
+kaum gekommen wäre, hätte mich nicht einer der Tüchtigen und
+Glücklichen, die mit der flimmernden Leinwand zu tun haben,
+in das Glashaus mitgenommen, wo die Filme gedreht werden.
+Rundherum ist ödes Weichbild und Weltende. Innen aber ist
+wunderlich belebte Welt. Sind es Baracken oder Kulissen, ist
+es Biwak oder Kinderstube, was da in wechselndem Hell und
+Dunkel auftaucht? Ein paar Stolperstufen führen hinunter in
+eine Alpenlandschaft, vor der wie zum Spielen Kurort,
+Station und reizende kleine Eisenbahn aufgebaut sind. Eine
+Ecke weiter bekommt man von dem Zug ein Stück in natürlicher
+Größe vorgesetzt. Da dürfen wir hineinklettern bis in das
+Schlafcoupé, in dessen Kissen die verlassene Braut
+aufschrecken mußte. Wir stehen im Gang und sehn an Tür und
+Fenster, Bettstatt und Decke alle Einzelheiten eines
+wirklichen Schlafwagenabteils. Und neben uns steht die
+zartgliedrige Schöne, die dort vorhin im Lichtkegel der
+lauernden Lampe lag. Sie führt uns dann hinüber in die Koje,
+in der gerade eine Aufnahme stattfindet. Wir kommen hinter
+den Kanonier des Lichtgeschosses zu stehn. Neben dem
+Operateur steht der Befehlshaber und gibt ein Zeichen. Der
+Mann am Klavier spielt eine Tanzmelodie. Und nun fangen dort
+an der Bar die Grellbestrahlten an, sich zu bewegen. Es ist
+eine Art Karnevalsfeier. Konfettistreifen werden über Fräcke
+und nackte Schultern geworfen. Lärmende Masken bedrängen
+tanzende Paare auf der Estrade. Einsam inmitten der Tobenden
+sitzt einer bei seinem Glase, den Ellbogen auf den Bartisch
+gestützt, starrblickend, fern. Man flüstert uns einen
+berühmten Namen zu. Jetzt hebt er den Kopf und sieht zu uns
+herüber. ‚Er sieht uns an, als wären wir seine Gespenster‘,
+sage ich Ahnungsloser. ‚Nein,‘ belehrt man mich, ‚er sieht
+nichts als blendendes Licht!‘ Die Musik setzt aus. Der
+Regisseur geht zu den Bargästen und macht seine
+Manöverkritik. Und dann müssen die Geduldigen gleich noch
+einmal übermütig sein und der in ihrer Mitte muß wieder
+erstarren. ‚Ein anstrengendes Handwerk‘, meint die
+Erfahrene, die uns führt. ‚Und das Schlimmste ist das lange
+Warten und Immer-Paratseinmüssen. Es ist wie beim Militär.‘
+Wir Laien bekommen natürlich doch große Lust mitzuspielen
+und wäre es auch nur als Figuranten. Wir möchten auch einmal
+vorkommen auf der Leinwand, einmal uns selbst spielen sehn.
+
+Wir Berliner sind leidenschaftliche Kinobesucher. Die
+Wochenschau ersetzt uns alle nicht erlebte Weltgeschichte.
+Die schönsten Frauen beider Kontinente gehören uns
+alltäglich mit ihrem Lachen und Weinen im wandernden Bilde.
+Wir haben unsre großen Filmpaläste rund um die
+Gedächtniskirche, am Kurfürstendamm, in der Nähe des
+Potsdamerplatzes, in den Vorstädten, und daneben die tausend
+kleinen Kinos, helle, lockende Lichter in halbdunklen
+Straßen aller Stadtteile. Oh, es gibt sogar eine Reihe
+Vormittagskinos, rechte Wärmehallen für Leib und Seele. Im
+Kino ist der Berliner auch nicht so kritisch,
+beziehungsweise nicht so abhängig von der Kritik seines
+Journals wie im Theater. Er läßt sich überfluten von der
+Illusion. Es ist Lebensersatz für die Millionen, die ihren
+monotonen Alltag vergessen wollen. Da gibt es keine Pause
+des Erwachens und sich Besinnens. Nirgends läßt sich
+Volkslust, Kollektivgenuß so miterleben wie in den kleinen
+‚Kientöppen‘, in denen nur ein jammerndes Klavier die
+Musikbegleitung liefert. Noch lieber wäre mir manchmal zu
+den herzergreifenden Szenen, bei denen unsere Tränen ‚ohne
+denkerstörung‘ rollen, Leierkastenmusik, wie sie auf unseren
+Hinterhöfen dröhnt und säuselt.
diff --git a/14-hasenheide.rst b/14-hasenheide.rst
new file mode 100644
index 0000000..64252e8
--- /dev/null
+++ b/14-hasenheide.rst
@@ -0,0 +1,124 @@
+.. include:: global.rst
+
+HASENHEIDE
+==========
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`H`\ asen gibts hier nicht und auch keine Heide
+mehr, aber wer sich bei Namen von Stadtteilen etwas der
+ursprünglichen Bedeutung Entsprechendes vorstellen möchte,
+den wird es interessieren, zu erfahren, daß im Jahre 1586
+laut Chronik der Cöllner Stadtschreiber eine kurfürstliche
+Verordnung verfügte: ‚Den 18. May ist uff Churfürstl. Gnaden
+ernsten Befehlich den Burgern in beyden Stedten ufferleget,
+Löcher in den Zeunen an den Gerten zu machen, damit die
+Hasen hineinlauffen konnen.‘ Noch Friedrich Wilhelm I.
+erwiderte auf ein Gesuch um Hütungsgerechtigkeit in der
+Heide: ‚Soll Haasen-Garten bleiben.‘ Unter Friedrich dem
+Großen entstanden dann die ersten ländlichen Wirtschaften
+und nach den Freiheitskriegen Kaffeegärten, und zwischen
+ihnen ein riesiger Rummelplatz, der mit seinen Würfelbuden,
+Kraftmessern, starken Jungfrauen, Seiltänzern und
+Wundertieren sich von der Gegend der Bärwaldstraße bis zu
+dem Turnplatz erstreckte. Vor den Vergnügungslokalen ging
+mit seinem hölzernen Kasten am Tragriemen der
+Zigarrenverkäufer auf und ab — denn hier durfte der sonst
+vielfach verbotene Tabak geraucht werden, bot Fidibus und
+Lunte und rief: ‚Cigaro mit avec du feu.‘
+
+Aus alten Heftchen und Bildern der fünfziger Jahre kennt man
+die Omnibusfahrten nach der Hasenheide, Madam Brösecke mit
+Mann und vielen Kindern auf der Fahrt vom Dönhoffplatz
+hieher. »Bei Streitz ist Konzert und bei Happolt Ball. Bei
+Höfchen werden die Putzmacherinnen poussiert und dann geht’s
+zum Turnplatz!« Happolt ist offenbar das Feinste gewesen:
+Marmorsäle, Glassalon, Trumeaux vom Mosaikfußboden bis zur
+gemalten Decke, ‚Kronenleuchter wie in dem Palast eines
+Fürsten‘ usw. Und dann war da noch Lücke, wo die
+Aristokraten sich trafen, Hofräte, Geheime Ober Titularräte
+und Calculatoren. Madam Brösecke bleibt lieber mit ihren
+Gevatterinnen bei Höfchen, wo »eine Legion Kaffeekannen mit
+duftigem Cichorien-Mokka und Hunderte von kleinen,
+Finkennäpfen ähnlichen Tassen, dazwischen Weißbier und
+Schnappsgläser auf allen Tischen« stehen, während es ihre
+Tochter Pinchen hier zu ‚gemischt‘ findet.
+
+Die Bier- und Kaffeegärten sind geblieben bis auf den
+heutigen Tag und immer größer geworden. Sie sind fast zu
+groß, sie haben das Monströse der Zeit der Riesenportionen
+und Doppelkonzerte behalten und überbieten einander in ihren
+Ankündigungen. ‚Täglich großes Terrassenstimmungskonzert bei
+freiem Eintritt‘, donnert es uns von einem Eingang an, und
+nicht weit davon behauptet ein Lokal, ‚trotz aller
+Neueröffnungen das führende Café‘ zu sein und zu bleiben. Es
+verheißt ‚täglichen Tanz auf erleuchteter Glastanzfläche‘
+und dazu Musik einer ‚Rheingoldkapelle‘. Aber der alte
+Rummelplatz ist nicht mehr da. Die ‚Neue Welt‘ ist heute
+eins der großen Gartenlokale mit Sälen für Versammlungen und
+Festlichkeiten. Ältere Leute werden sich noch der Zeit
+erinnern, da man bei dem Wort ‚Neue Welt‘ an Panoramen,
+sogenannte naturwissenschaftliche Museen, ‚Wilde‘,
+Dompteusen in Stulpstiefeln und Kraftmenschen
+dachte. Ich habe hier als kleines Kind den lächelnden Mund
+und die rosa Wangen des Mädchens gesehn, dem der Kopf
+abgeschlagen und wieder aufgesetzt wird, vielleicht auch
+jene erste Dame ohne Unterleib, zu deren schönen
+Armbewegungen ihr Unternehmer die Verse von der Lotosblume,
+die sich ängstigt, aufsagte; sicher aber kam mir hier zum
+ersten Male der Name Dante zu Ohren in einer Bude, wo einige
+seiner Höllenstrafen panoramisch-plastisch dargestellt
+waren. Es war sehr schaurig. So etwas wird uns heute nicht
+mehr geboten.
+
+Ein andres Stück Hasenheide ist geblieben: Turnvater Jahn
+schaut noch immer, wenn auch nur als Büste, vom Postament
+seines Denkmals auf sporttreibende Jugend nieder, nah bei
+der Stätte, auf der er die erste Turnerschaft versammelte.
+Er sieht wohlgefällig auf die bräunlichen Buben und Mädchen
+in Schwimmkostümen nieder, die hier wie an so vielen Plätzen
+rings um Berlin ihre Bälle stoßen und schleudern. Und wenn
+wir über die Sandhügel des etwas verwilderten, von zwergigen
+Föhren bestandenen Gartens hinter dem Denkmal gehn, eine der
+vielen Stätten, wo die Berliner Sonne und Luft finden, mögen
+wir auch mit friedlichem Wohlwollen an die kriegerischen
+Jünglinge und Tyrannenmörder von damals denken, denen
+Freiheit, Vaterland und stärkende Pflege des eigenen Körpers
+eine Gesamtheit befreundeter Gedanken war. Bis dann diese
+Befreier und heldischen Jünglinge und vor allem ihr Führer
+und Vorbild die Tyrannei von seiten des geliebten
+Vaterlandes selbst erfahren mußten. Hier also hat Jahn im
+Jahre 1818 den ersten Turnplatz eröffnet, nachdem er schon
+vor den Freiheitskriegen mit einigen Schülern auf den Wiesen
+zwischen dem Halleschen und dem Kottbuser Tor die neue Kunst
+des Turnens geübt hatte. Wenn damals noch der wagerechte Ast
+einer Eiche das Reck bildete, Sandgruben zum Tiefsprung und
+die steilen Wände der Rollberge zum Sturmlauf benutzt
+wurden, so hatten sie hier in der Heide richtige Geräte,
+Barren, Ein-, Zwei- und Vierbäume. Aber schon im nächsten
+Jahr verhängten die Demagogenverfolger eine Turnsperre,
+verhafteten Jahn und ließen alle Geräte vom Turnplatz
+fortschaffen. Auch nach seiner Freilassung blieb Jahn noch
+lange unter Polizeiaufsicht. Und erst nach 48 wurde sein
+Werk richtig anerkannt und wurden die vielen Turngemeinden
+gegründet, die in ihm ihren Turnvater sehen. Die haben dann
+aus allen Teilen der Welt die Steine gesandt, aus denen das
+Postament seines Denkmals gebaut ist.
+
+In dem alten Garten nahe dem Restaurant, wo Familien Kaffee
+kochen können, sind trümmerhaft, kulissenhaft ein paar nicht
+mehr gebrauchte Schießstandteile stehengeblieben. Auf ihren
+Zielscheiben bemerkt man verblassende Figuren der
+Feindesgestalten rund ums Zentrum. Wobei einem zumut wird,
+als lebte man schon in Zeiten, die nur noch aus
+Überlieferungen und Museumsstücken begreifen, daß Menschen
+einmal so töricht waren, aus Röhren mit Pulver aufeinander
+zu feuern. Recht altertümlich wirkt auch der Reklamekasten
+eines Photographen, der nahe dem Straßeneingang aufgestellt
+ist. Darin sind die preisgekrönten Modelle vom
+Meisterschaftsfrisieren eines Friseurgehilfenvereines in
+Neukölln zu sehen. Wir erblicken komplizierte Ondulationen
+reichbehaarter Mädchen und Frauen, wie sie in Natur wohl
+nicht einmal in den entlegensten Teilen von Neukölln mehr
+vorkommen.
diff --git a/15-ueber-neukoelln-nach-britz.rst b/15-ueber-neukoelln-nach-britz.rst
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@@ -0,0 +1,70 @@
+.. include:: global.rst
+
+ÜBER NEUKÖLLN NACH BRITZ
+========================
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`U`\ m seiner selbst willen Neukölln aufzusuchen,
+dazu kann man eigentlich niemandem raten. Vielleicht
+entsteht hinter den Riesengerüsten, die zur Zeit den
+Hermannsplatz, mit dem dieser Stadtteil ungefähr beginnt,
+überragen, schöne neue Architektur. Aber das eigentliche
+Neukölln ist eine der Vorstädte, die in den siebziger Jahren
+kaum zehntausend Einwohner hatten und jetzt zwischen zwei-
+und dreihunderttausend haben. Auf dem Hohenzollernplatz
+reitet natürlich ein bronzener Kaiser Wilhelm I. In breiten
+Straßen sind viel Warenhäuser, Kinos, Ausschank, Dampfwurst,
+Rundfunkbastelgeschäfte und stattliche Fronten, welche die
+Trübsal der Hofwohnungen verbergen. Es findet sich zwischen
+Hermannstraße und Bergstraße auch eine Gegend, wo das Elend
+sichtbarer wird, das sogenannte Bullenviertel, wo abends
+arbeitsmüdes Volk aus überstopften Trambahnen steigt und
+viel kümmerliche Kinder auf der Straße herumtreiben. Eine
+traurige Gegend. Als sie noch Rixdorf hieß und Ausflugsort
+war, mag sie interessanter gewesen sein. ‚Musike‘ ist nicht
+mehr in Neukölln, wie sie, nach dem bekannten Liede zu
+schließen, in Rixdorf gewesen ist. Übrigens habe ich nur
+geringe Kenntnisse von dieser Vorstadt. Seine neueren
+Denkmäler, einen Reuterbrunnen und einen Friedrich Wilhelm
+I. (dem König als Ansiedler der frommen Böhmen gestiftet)
+habe ich mich bisher noch nicht entschließen können zu
+besichtigen. Ich bin immer nur rasch mit der Tram durch
+Neukölln gefahren, um wo anders hinzukommen. Vor allem nach
+Britz. Wenn man in diesem kleinen Vorort an ein paar rührend
+tiefliegenden Sommerhäusern aus alter Zeit und der
+Tankstation mit ihren Olex- und Shell-Plakaten vorbei in die
+Dorfecke einbiegt, gerät man eine schlängelnde Straße hinab
+zu einem waldigen Abhang. Hat man dann noch ein Stück Weg an
+‚dorrendem Geländer‘ hin zurückgelegt, so erscheint hinter
+Baum und Teich — wohltuender Anblick — die Siedlung. Ihre
+Farben leuchten, gelb, weiß und rot und dazwischen das Blau
+der Umrahmungen und der Balkonwände. Wir gehen eine der
+ausstrahlenden Straßen in den runden Komplex hinein, die
+offene Seite eines Vierecks entlang, an dessen drei andern
+Seiten schmale Häuser eine große Gartenanlage umgeben.
+Hinterhäuser sind nirgends zu finden, den Treppen sind runde
+Ausbuchtungen eingefügt. Jedermann hat sein Stück Gartenland
+wie in den Laubenkolonien, nur viel gepflegter und innerhalb
+eines viel gemeinsameren Ganzen. Wir kommen in den inneren
+Ring und sehen endlich den Teich, die Mitte, um die sich in
+Hufeisenform die ansteigenden Ufer mit einem Häuserring
+fügen. In schönem Gleichmaß haben die Häuser eine Reihe
+Dachluken, kleine und große Fenster und farbig vertiefte
+Balkone. An der Seite, wo das Hufeisen schmal wird, hat die
+glückhafte kleine Stadt ihren Marktplatz; Schaufenster von
+Konsumgenossenschaften, welche die Siedler in, wie man uns
+versichert, sozial rationeller Weise mit Lebensmitteln
+versorgt. Wir betreten ein Haus. Auch innen ist es bunt,
+aber kein überflüssiger Zierat, alles schmucklos und doch
+schmuck. Das ist eine der vielen Siedlungen, die den
+stärksten Vorstoß in das Chaos der Zwischenwelt, die Stadt
+und Land trennt, bedeuten. Wohnungsnot, Schönheitssehnsucht,
+die Richtung der Zeit auf das Gemeinsame und der Eifer der
+jungen Architektengeneration waren hier wie in Lichtenberg,
+Zehlendorf und andern Enden der Stadt am Werke,
+menschenwürdige Wohnstätten zu schaffen. Ein Werk, das
+dauernd fortgesetzt wird und wohl das Wichtigste ist, was
+zur Zeit mit Berlin geschieht. Dieses neue, werdende Berlin
+vermag ich noch nicht zu schildern, ich kann es nur preisen.
diff --git a/16-dampfermusik.rst b/16-dampfermusik.rst
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index 0000000..cea0e5d
--- /dev/null
+++ b/16-dampfermusik.rst
@@ -0,0 +1,146 @@
+.. include:: global.rst
+
+DAMPFERMUSIK
+============
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`‚H`\ ier können unentgeltlich Ziegelsteine
+abgefahren werden. Nachfragen beim Bauführer.‘ Das sind die
+Steine der alten Jannowitzbrücke, die abgebrochen wird, weil
+mitten in der alten Hafenstadt Cölln am Wasser vieles neu
+werden soll. Eine Untergrundbahn wird hinübergetunnelt. Es
+zischt und stampft um Stahlgerüste und Walzen. Durch Schutt
+und an Sperren entlang schlängle ich mich an die
+Abfahrtsstelle der Dampfer, die spreeaufwärts fahren.
+Vergnügungsdampfer mit Musik. Das möchte ich erleben; steht
+doch auch im Baedeker, den ich jetzt immer so neugierig
+studiere, unter 4. Tag, nachmittags: Dampferfahrt nach
+Grünau. Aber der Mann am Schalter der
+Schiffahrtsgesellschaft will, daß ich statt nach Grünau nach
+der Woltersdorfer Schleuse fahre, ich weiß nicht weshalb, er
+ist streng mit mir, wie viele seinesgleichen in Berlin. Er
+erlaubt mir, erst noch im Restaurant am Wasser zu essen.
+Inzwischen füllt sich der Dampfer, die besten Plätze werden
+besetzt. Ich gedenke mit dem zweiten zu fahren, der eine
+Viertelstunde später abgehen soll, werde aber im
+entscheidenden Augenblick in den ersten beordert und
+verfrachtet. Da bin ich wieder einmal ins Altertümliche
+geraten. Hier sitzen nämlich die Leute, die noch dick sind.
+In raschen Motorbooten treibt die schlanke sportliche Jugend
+von heute an uns vorbei; wir aber sitzen, feiste Herren in
+den besten Jahren und Madam’s in umfangreichen Stoffbergen
+wie auf Altberliner Scherzbildern. Qualvoll langsam
+schleichen wir vorwärts, überflüssig und müßig zwischen all
+dem Fleiß der Eisenhallen, Schornsteine und Krane an den
+Ufern.
+
+Da sind Weizenmühlen mit mächtigen Elevatoren, die das
+Getreide aus dem Lastkahn heben, andre, die es mit
+Exhaustoren aus den Kähnen saugen. So kommt es in die Mühle
+hinein, wird gewogen, gesiebt, gewaschen, getrocknet,
+gequetscht, gemahlen und wieder gesiebt, in Säcke gefüllt,
+alles am laufenden Band und in gleicher Weise als fertiges
+Mehl für den Weitertransport zum Kahn zurückgeleitet. Wir
+kommen unter der Oberbaumbrücke hindurch. Von den
+backsteinernen neu-altmärkischen Warttürmen seh ich hinüber
+zu dem großen Kühlhaus, das hinter seinen Gerüsten schon
+fast vollendet über den Osthafen ragt. In weiten Lagerräumen
+sollen dort Tausende und Tausende von Eiern, Riesenfrachten
+von Gemüse, Obst und Fleisch in Kühlzellen bis zum Verbrauch
+aufgehoben werden. Drüben am Treptower Strand kommt grüner
+Park ans Wasser. Ich möchte am liebsten aussteigen und zu
+den Kindern gehn, die da hinten in fliegenden Kästen, auf
+schwingenden Seilen sich vergnügen. Da muß doch wohl noch
+die Liliputeisenbahn sein, die auf ihrer Schiene rundum fuhr
+gleich der, die man im Kinderzimmer aufbaute und aufdrehte.
+Es waren drei offne Aussichtswagen, die gingen hinter
+kleinem Rauch zweimal im Kreise mit Läuten und Pfeifen über
+Feld und durch die beiden Tunnel. ‚Klettermaxe‘ hieß die
+Lokomotive, darin der Zugführer saß. Eierhäuschen heißt das
+Etablissement und die Straße dahinter führt zur großen
+Sternwarte. Da breitet sich auch der Rasen, auf dem das Volk
+frei lagern darf wie in Versailles auf unverbotnem Gras. Ich
+möchte aussteigen, aber unser Dampfer hält nicht. Zu unserer
+Linken taucht nun das ‚Gelsenkirchen an der Spree‘ auf,
+Oberschöneweide und dahinter Rummelsburg. Am Ufer Zillen,
+die Schlacke laden, dahinter Metallwerke, die rote
+Textilfabrik, das Transformatorenwerk und fern noch einmal
+die Riesenschornsteine des Großkraftwerks Klingenberg. All
+dieser rauchende ragende Fleiß beschämt unsre fette Ruhe,
+unser elendes Schneckentempo. Jetzt machen wir gar Musik!
+
+Es geht an Köpenick vorbei. Das verlockt weniger zum
+Aussteigen. Ich weiß zwar, hinter dem alten Burggraben, der
+jetzt Ententümpel ist, erheben sich Schloß und Kapelle. Es
+ist das Schloß, in dem der Kurfürst Joachim mit der schönen
+Spandowerin Anna Sydow gehaust hat, das Schloß, an dessen
+Tür sein Todfeind, der Ritter von Otterstedt, die berühmten
+Worte anschlug:
+
+ | ‚Jochimke, Jochimke, hüte dy.
+ | Fange wy dy, so hange wy dy‘.
+
+Aber um dahin zu gelangen, muß man durch die übliche
+Langweile trister Miethausblöcke und Kaiser Wilhelmsplätze.
+Hinterm Schloß gäbe es allerdings dann den Wendenkietz mit
+Fischerhütten, Reusen und Netzen, und verwitterndes
+Mauerwerk um den Alten Markt. . . Es sitzt aber alles Volk
+so unbeweglich um mich herum, ganz der Dampfermusik und dem
+künstlichen Feiertag hingegeben. Ich kann nicht durch.
+Mitleidig winkt uns aus den vielen Bootshäusern,
+Badeanstalten und Freibädern junges Volk zu. Und rings um
+mich wird dauernd wieder gewinkt. Winken ist die
+Haupttätigkeit des Dampferpublikums.
+
+Nun werden wir über den See transportiert und halten vor
+einem Gasthaus, wo wir Rieseneisbeine essen sollen, das
+steht diktatorisch angeschrieben. Und da hier viele
+aussteigen, brauche ich nun auch nicht mehr bis zur
+Woltersdorfer Schleuse durchzuhalten; ich klettere mit den
+andern die angelegte Treppe hinunter, begebe mich unter
+Preisgabe meines Retourbilletts an den Eisbeingeboten vorbei
+rasch in den Wald und gehe sandige Wege unter Föhren, die im
+Nachmittagslicht chinesische Silhouetten bekommen.
+
+Als ich dann auf die Chaussee kam, hatte ich doch noch
+Glück. Ein Auto taucht auf, das ich erkenne: es ist der
+Graham-Paige des Freundes. Ich winke wie ein
+Schiffbrüchiger. Und nun darf ich nach all der feisten
+Nachbarschaft auf dem Dampfer neben der schlanksten der
+jungen Berlinerinnen sitzen, die einen Kinderballon bunt
+flattern läßt, den sie von Treptow mitgenommen hat. In
+erfrischendem Tempo fahren wir an hockenden Dorfhäusern
+vorbei zwischen Kornfeldern und zart ansteigenden Höhen. Da
+ist Königswusterhausen. Der Turm der Telefunkenstation aus
+eisernem Spinnweb. Das schöne gelbe Vorgebäude des
+Jagdschlosses, in dem das Tabakkollegium tagte. Wir kennen
+den Tisch der Rauchkumpane aus dem Zimmer im
+Hohenzollernmuseum. Ich beschreibe meiner Nachbarin des
+Königs Hofnarren, den Professor Gundling in seiner
+parodierten Zeremonienmeistertracht, rotem, samten
+ausgeschlagenem Leibrock mit Goldknopflöchern, gestickter
+Weste und mächtiger Staatsperücke aus weißem Ziegenhaar.
+Obendrauf ein Straußenfedernhut, unten dran strohfarbene
+Beinkleider, rotseidne Strümpfe mit Goldzwickeln und Schuhe
+mit roten Absätzen. Während wir von diesem armen Narren und
+seiner Welt plaudern, geht es weiter die lange Straße nach
+Storkow und in halber Nacht Waldwege nach dem
+Scharmützelsee.
+
+Spät sitzen wir auf der Terrasse des Hotels von Saarow. Oben
+wird getanzt. Am Wasser ist Rampenbeleuchtung, die ein Stück
+See aus der Nacht hebt.
+
+Zur Nacht werden wir hier bleiben und morgen wird der weite
+See in unsern Fenstern sein. Und dann fahren wir über
+Pieskow hinaus und steigen aus bei den hübschen, im Grünen
+versteckten Häusern der Schauspielerkolonie ‚Meckerndorf‘.
+Und machen in Saarow selbst Besuch in einem der
+kühngiebeligen Häuser der Malerkolonie. Werden wir den See
+hinauf in ferne Uferwinkel Motorboot fahren? Oder zu Fuß
+durch die Wälder gehn bis zu den Markgrafensteinen? Oder
+Pfade so nah als möglich am Wasser?
+
+Schade, daß es zum Baden schon zu spät im Jahre ist.
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+++ b/17-nach-osten.rst
@@ -0,0 +1,542 @@
+.. include:: global.rst
+
+NACH OSTEN
+==========
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`L`\ ohnt's noch, vom heutigen und gestrigen
+Alexanderplatz zu sprechen? Er ist wohl schon verschwunden,
+ehe diese Zeilen gedruckt werden. Schon wandern die
+Trambahnen, Autobusse und Menschenmassen um die Zäune
+breiter Baustellen und tiefaufgerissener Erdlöcher. Die gute
+dicke Stadtgöttin Berolina, die hier früher von hohem
+Postament den Verkehr regelte, ist abgewandert. Das
+benachbarte Scheunenviertel mit seinen schiefen und geraden,
+verrufenen und armselig ehrlichen Straßen und Gassen ist zum
+größten Teil bereits eingerissen. Düster ragen von Süden die
+Mauern des Polizeipräsidiums über die Trümmerstätte des
+Platzes. Von Nordosten überwächst Häuser und Zäune der hohe
+Turm der Georgenkirche. Polizei und Kirche werden so
+bleiben. Aber was sonst hier noch steht, wird fast alles
+eingerissen oder umgebaut werden. Die meisten Grundstücke
+und Parzellen sind bereits im Besitz der Hoch- und
+Untergrundbahn, die ihren Schacht gen Osten gräbt. Was sie
+davon abtreten wird, darf dann der neue Besitzer nicht nach
+Gutdünken bebauen, alle künftigen Bauten hier sind gebunden
+an die Entwürfe des Stadtbauamts. So besteht keine Gefahr,
+daß die Spekulation häßliche Mietskasernenblöcke mit
+düstern, luftarmen Quer- und Hintergebäuden türmt und
+kleistert. Um eine Mittelinsel, auf der Kreisverkehr
+eingerichtet werden wird, sollen in Hufeisenform Hochhäuser
+aufwachsen.
+
+Wo Altes verschwindet und Neues entsteht, siedelt sich in
+den Ruinen die Übergangswelt aus Zufall, Unrast und Not
+an. Wer hier die Schlupfwinkel kennt, kann in seltsame
+Wohnstätten finden und führen, schaurige Zwischendinge von
+Nest und Höhle. Da versteckt sich zum Beispiel in den
+Kellerräumen einer abgerissenen Mietskaserne, die einen der
+großen Obstläden enthielt, welche zur nahen Markthalle ihre
+Wagen und Körbe sandten, hinter Schutt und Mörtel der
+‚Bananenkeller‘, eine traurige Schlafstelle für Obdachlose,
+die in den Nachtasylen nicht mehr unterkommen können oder
+wollen. Sie kriechen hier in ihren Winkel, wenn die Lokale
+rings am Platz und in den nahen Straßen geschlossen werden.
+Sie ziehen die Beine nur ein bißchen näher an den Bauch und
+zerren die Jacke über die Knie, wenn wir unbefugten
+Eindringlinge an ihnen vorüberstolpern. Andre Kellerräume
+enthalten kleine Basare, deren Inhalt an den Pariser
+Flohmarkt erinnert. Da sind zu verkaufen: Konservengläser
+und Karbidlampen, Vogelkäfige und Papierkörbe, alte
+Zylinderhüte und Lampenzylinder, Russenkittel, ‚kaum
+getragene‘ Schuhe, Schnürsenkel und Ölgemälde mit
+‚Gold‘rahmen, Plumeaux und sogar Straußenfedern. Auch die
+Oberwelt ist voll fliegenden Handels. Am Zugang des
+Georgenkirchplatzes, wo im Regen frierende Dirnen um die
+Ecke schleichen und starr stehen, sah ich aus der Zaunlücke
+des Abbruchs eine graue Alte den armen Geschöpfen
+weißleinene feste Unterbeinkleider hinhalten. Das sollten
+sie gegen die Kälte über die durchbrochene ‚Reizwäsche‘
+ziehen.
+
+An Ruinen entlang, die an die Trümmer zerschossener Städte
+erinnern, kommen wir in die Münzstraße und in dichtes
+Gedränge. Vor dem Ausschank liegt ein Weib auf dem Boden,
+über ihr, noch in Boxerstellung, einer der Gesellen in Mütze
+und Sweater, die hier vorherrschen. Interessiert sehen die
+Umstehenden zu. Einzugreifen wagt keiner. Es zeigt sich auch
+kein ‚Grüner‘. Die Justiz, die hier vollzogen wird, erfreut
+sich allgemeiner Anerkennung. Wir werden weitergedrängt.
+‚Ihr seid wohl übrig jeblieben von jestern‘, ruft einer
+unsrer kleinen Gruppe nach. In der nächsten Straße, ich weiß
+nicht, ob wir näher oder weiter vom Platz sind, drängen sich
+die Leute um einige Straßenhändler. Da ist der mit den
+Krawatten überm Arm: ‚Alles für eine Mark. Die janze
+Filmwelt trägt meine Binder.‘ Der drüben mit den
+Schnürsenkeln scheint große Beredsamkeit zu entwickeln, aber
+durch seine zahlreiche Zuhörerschaft können wir nicht
+hindurch. ‚Zauberhölzchen‘, schreit’s von rechts her neben
+dem Stand mit den Visitenkarten, die gleich mitzunehmen
+sind, frisch von der Prägemaschine. Dampf steigt warm auf um
+den Schild ‚Bouletten von Roßfleisch, Stück 5 ch.‘. Jetzt
+sind wir, glaube ich, in der neuen Königstraße. Hier
+interessieren mich am meisten die Anschläge und Aufschriften
+über und an den Läden: ‚Hundeklinik und -Bad, Hunde- und
+Pferdescheranstalt‘ und kleiner darunter ‚Kupieren,
+kastrieren, schmerzl. Töten‘. ‚Der neue Hut, aber ein
+Cityhut muß es sein‘, ‚Künstlergardinen‘ (was für Vorhänge
+mögen das sein?). Und vor einer tiefen Tür ‚Achtung! Hier im
+Keller ist Rattengift gelegt.‘ Ein Laden umfaßt zweierlei
+Gewerbe: Übersetzungsbüro und Kunststopferei.
+
+Zurück in die Gegend des Platzes und nach Osten. War hier
+die Ecke oder auf einer andern Wanderschaft oder — nur
+geträumt, wo ich oben am Erkerfenster die Inschrift Hotel
+verkehrt, auf den Kopf gestellt, bemerkte? Ein seltsam
+grausiger Anblick, der das ganze Haus gespenstisch machte,
+dies ⅂Ǝ⊥OH¡
+
+Noch eine ganze Strecke weiter kann ich nicht auf die Straße
+und die Menschen sehen, sondern bleibe mit den Augen an der
+Riesenliteratur anpreisender Worte auf Bretterzäunen und
+Schaufenstern der kleinen Läden und großen Ausverkäufe
+haften. In der Auslage des Tabaksladens kniet eine Nymphe im
+Lendenschurz unter einem Baum mit stilisierten Blättern,
+neben ihr wartet, wie sonst ein Krug, ein Aschbecher mit
+einer Steingutzigarette. Das ist ‚Flora Privat, leicht, süß,
+duftig, die Siegerin der 2 Pfennig-Zigaretten‘. Im Papier-
+und Galanteriewarengeschäft finden sich zwischen Rhein- und
+Weinliedern und der kuriosen Witzkiste die ‚neuen
+Tanzschellenbänder, eine reizende Spende‘. Überraschend sind
+manche Wortbildungen. Die ‚Naturange‘ erschreckt ja auch in
+andern Stadtteilen, aber ‚Stilla Sana‘, den stärkenden
+Wermutwein, habe ich nur hier bemerkt. Er stand neben
+anerkannt vorzüglichen und preiswerten Fruchtweinen ‚zur
+Einsegnung und Jugendweihe mit 5% Rabatt‘. Erstaunlich ist
+auch das ‚Darmgleitmittel Rodolax‘. Leibharnische finden in
+dieser Gegend die umfangreichsten Damen, Passendes für die
+stärksten Figuren, zum Beispiel den neuen Hüftformer mit
+Magenbinde. Der ‚Kavalier‘ kann den eleganten Tanzschuh
+kaufen, der vorn recht spitz ist. Über die käferbraune Mitte
+des Promenadenschuhs schließt sich die schwarze Kappe
+wie mit einem Bändchen. Es gibt auch treuherzig
+Kleinbürgerliches: ‚Borgen Pech / Ware los / Gäste weg‘,
+schreibt ein Wirt an seine Destillentür, und in der ‚Grünen
+Quelle‘ hängt überm elektrischen Piano das Bild eines Löwen
+und darunter steht geschrieben: ‚Brülle, wie ein Löwe
+brüllt, wenn das Glas nicht vollgefüllt.‘ Neben greller
+Werbewoche im ‚Küchenhimmel‘ und ‚Möbelcohn‘ wirkt rührend
+volksliedhaft die etwas blasse Inschrift an einer
+Handelsgärtnerei ‚Blumen für Freud und Leid‘.
+
+Bei solcher Lektüre sind wir in die Große Frankfurterstraße
+geraten. Betäubendes Sägen und Rasseln dringt über den
+Bretterzaun, der die Mitte des Dammes absperrt. Auf die
+Männer, die den Hammer niederprasseln lassen und Stricke
+ziehen, welche über Winden laufen, lächelt aus der
+Maskengarderobe für Ernte- und Kinderfeste, Volks- und
+Ländertrachten ein Wachsmädchen in Brünnemieder und weißer
+Haube herab. Das Eisengerüst der Dampframme ragt vier
+Stockwerk hoch. Und dort, wo das Pflaster aufgerissen ist,
+schimmern frühlingsgrün in der herbstlichen Straße
+Zementsäcke, die übereinandergeschichtet liegen. Einer der
+Arbeiter, die sie einen nach dem andern leeren, trägt eine
+ebenso grüne Joppe, die angeleuchtet wird von der Gasflamme
+neben der Maschine wie Parklaub von den Kandelabern
+vornehmer Avenuen. Er schüttet den Zement auf eine Stelle,
+auf die von andern eine braune Masse geschippt wird. Und die
+Mischung dringt in den Behälter, der sich wie eine
+Baggermaschine im Kreise bewegt und seinen Inhalt in einen
+Schlund gießt, aus dem die Masse feucht in die wartende
+Lore fällt. Die karrt die Beute fort bis dahin, wo die
+vorangewanderte Schicht austrocknet, und das Feuchte wird an
+das Trocknende gepappt. Kleine Jungen bestaunen mauloffen
+das Schauspiel der Arbeit. Und auch die Großen bleiben
+stehn. Zuschauen können die Berliner noch immer wie in alter
+Zeit, als sie es noch nicht so eilig hatten wie heute. Nur
+scheinen inzwischen ihre Sachkenntnisse gewachsen zu sein.
+Es sind nicht mehr die Naiven, die Hosemann gezeichnet hat,
+wie sie auf die großen Röhren der englischen Gasgesellschaft
+starren und sagen: ‚Wenn ick nur wüßte, wie sie das Öl durch
+die Kanone da ruff kriegen.‘
+
+Am Straßenrande erwarten uns neue Versprechungen. Der
+Hackebär hat eigne Wurstfabrik. Seine neue Bauernkapelle ist
+da. Es wird wieder den alten Betrieb geben, Stimmung, Humor.
+Viel Volk wartet schon unter wehenden Wimpeln. In einen
+Salon im Hinterhaus locken von der Wand des Durchgangs
+Friseur und Friseuse aus weißer Pappe. Gewaltige Filmreklame
+verkündet Amerikas berühmtesten Cowboy und den Grafen von
+Cagliostro. Der hohnlächelt über ihren Fächer weg auf eine
+schmerzlich stirnrunzelnde Brünette. Dunkle Nebenstraßen mit
+altertümlich sanften Namen unterbrechen unsern grellen Pfad.
+Ach, der alte Weinkeller mit den einladenden Strophen an
+schräger Wand über den tiefen Stufen!
+
+Und jetzt stehn wir am Torweg zum Rosetheater. Gegeben wird
+‚Der Verschwender, Romantisches Volksstück von Ferdinand
+Raimund‘. Es fängt erst in zehn Minuten an. Wir können noch
+den Durchgang zu Ende gehn bis zu den herbstlichen Skeletten
+der Laubengänge, die hier ein Sommerzelt bilden. Da steht
+gegen himmelhohe Brandmauer — wie eine Kulisse vor
+Theaternacht — mit grünen Pilastern und Fensterrahmen licht
+ein altertümliches Häuschen. Hier wohnten vielleicht früher
+die, denen das Theater gehörte, und damals war gewiß der
+Eingang von der Gartenseite; denn hier führen breite Stufen
+einer alten Terrasse in das Schauspielhaus.
+
+Wir haben unsre Plätze im Saal eingenommen und schauen ein
+wenig umher. Die vielen Mädchen in rosa und hellblauen
+Blusen! Mit nackten Armen, aber nicht ganz nackten, wie sie
+unsere ausgeschnittnen westlichen Damen haben, sondern mit
+breiter Atlaspasse über der Schulter. Seht dort im
+Proszenium die Reihe Gesichter, die noch ihres Berliner
+Daumier harren, den alten Angestellten, der über dieser
+selben Krawatte und dem hohen Kragen um 1900 einen Verdruß
+gehabt hat, wovon noch ein Schreck in seinen Gesichtsfalten
+geblieben ist, und neben ihm eine der gestrengen Gattinnen,
+deren energische Züge an ihren weiland Landesherrn, den
+Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, erinnern. Und der dicke
+Hauseigentümer. Und der magere lockige Friseur. Schaut
+hinunter ins Orchester, wie tief es wohnt in einem Kasten
+rot wie Ochsenblut. Schaut hinauf zu den silbrigen Schwänen,
+die ihre Hälse unter die Brüstung des Ranges schmiegen.
+
+Der Vorhang geht auf vor dem prächtigen Saal des
+Verschwenders, der soviel Freunde und Lakaien hat. Wand und
+Gewänder sind koloriert wie in unsern liebsten
+Kinderbüchern, und zwischen den vornehm Bewegten und
+Redenden stehn kleine Sophas wie in den Puppensalons unserer
+Schwestern. Ganz Märchenwelt ist Fels und Himmel hinter der
+Fee Genistane, die starr und hold steht wie aus Zuckerkand.
+Wie auf unsern Glückwunschkarten damals die dickere Blume
+sich öffnete über der zarteren, so gehn große Pappblumen auf
+vor ihrem dienstbaren Geist Azur. Nah ihren betenden Händen
+ist ein kleiner Steinaltar streng klassizistisch und
+makellos wie ein Altberliner Grabmonument. Eine Kinderstimme
+hat diese Fee, die Stimme eines eifrigen Kindes, das
+aufsagt. Aufsagend steht sie zum Publikum, nicht zu dem
+geliebten Schützling gewandt, als sie von ihm Abschied
+nimmt. Und sowohl seine trauernden Gebärden als ihre Verse
+kommen jedes für sich zu uns. Das ist ergreifender als
+manches berühmte Zusammenspiel. Gestalten, von denen sie
+sagt, daß sie ihr erscheinen, streifen hinten über die
+Himmelswand. Und nun sinkt sie in den Spalt, wo es
+vielleicht noch tiefer hinuntergeht als hier vor uns in das
+Orchester. Als sie verschwunden ist, nahen dem Verlassenen
+tröstliche Schleierbreiterinnen. Es sind dieselben Mädchen,
+die im Schloß vor den lächelnden Gästen Ballett tanzen.
+Langsames Ballett mit deutlichen Pausen zwischen den
+einzelnen Figuren. Die Tänzerinnen nicken zu den Zäsuren der
+Musik. Mit Würde tragen sie ihre weißen Gewänder. Und auch
+im andern bunteren Kostüm, einer Art spanischer
+Dirndltracht, bleiben sie unter dem rasselnden Jubel ihrer
+Tamburine feiertäglich. Im Schlosse des reichen Julius von
+Flottwell (muß man mit solchem Namen nicht verschwenderisch
+leben?) könnt ihr noch lernen, was Reverenzen waren, wenn
+Julius den Präsidenten, der ihm nicht wohl will, Amalie, die
+Geliebte, und seinen Nebenbuhler, den Baron Flitterstein,
+begrüßt. Mißtrauen, Leidenschaft und Haß muß er zurückhalten
+hinter der weltmännischen Verbeugung und uns doch sehen
+lassen. Schönes altes Theater, wo die Bettler wunderbare
+Mönchskutten haben und wankende Stäbe. Wo überm schwankenden
+Schiff Blitze durch den Seesturm zucken und die jagenden
+Wolken anstrahlen, viel zauberischer als die Berliner
+Lichtwoche ihre Monumente. So verlockend ist keins eurer
+Schaufenster beleuchtet wie in der kleinen Felsschlucht der
+Schatz, den Genistanes Bote zuletzt, zu guter Letzt ihrem
+verarmten Julius schenkt.
+
+Geht schnell gen Osten, solang es noch hinter den Kinos und
+Varietés solch altes rotgoldnes Theater gibt!
+
+Darüber haben wir nun aber die vielen Kinos und Varietés der
+Gegend versäumt. Man könnte noch in den Tanzpalast zur Möwe
+eintreten, wo altdeutscher Ball für die ältere Jugend
+stattfindet. Aber der Schub der heimkehrenden
+Sonnabendtheatergäste drängt uns in entgegengesetzter
+Richtung ein Stück in die Frankfurter Allee hinein. Eine
+Erinnerung taucht auf. Die Januartage 1919: da flogen hier
+Granaten entlang. Der Kampf um Lichtenberg! Und wenn man
+zurückgedrängt wurde, in engen Gassen die Schleichhändler
+mit Brillanten, Seife und englischem Tabak, Feldgraue mit
+Rauchwaren und mit Schokolade aus dem besetzten Gebiet,
+Leierkasten mit der Marseillaise, Gitarrengezupf. . .
+
+Eine Wackeldroschke poltert uns zurück zum Alexanderplatz
+und ein paar Straßen nach Norden und hält vor einem lärmend
+vollen Lokal. Über Bechern und Mollen, wendischen
+Backenknochen der Mädchen und zartfrechen Knabengesichtern
+ragt die Trompete des backenaufblasenden Krauskopfs, den
+eine Dame mit Broderien am Kragen auf dem Klavier begleitet.
+Der fettnackige Wirt erzwingt uns unter seinen alltäglichen
+Gästen etwas schonungslos Platz. ‚Ich küsse Ihre Hand,
+Madame‘, das wird hier ebenso gern gehört wie im schicksten
+Westen, aber dann abgelöst von einer Art Militärmarsch, den
+alles Volk mit preußischem Eifer mitsingt. Wir brauchen aber
+nicht zu glauben, etwa in ein nationalistisches Lokal
+geraten zu sein. Gerade kommt ein Bursche an unsern Tisch,
+der eine Unterstützungskollekte für die Streikenden im
+Westen zum Unterschreiben vorlegt. Ein sentimentales
+Rheinlied steigt hinauf zu dem Transparent ‚Riesendampfwurst
+50 ch‘. Ein paar Jungen setzen sich an eine Seite unseres
+Tisches und rücken langsam, noch mißtrauisch und schon
+zutulich, näher. Aus dem, was sie übertreibend und
+abschwächend vorbringen, ist zu entnehmen, daß sie keine
+‚Bleibe‘ haben. Mit den Zufallskameraden von gestern wollen
+sie nicht übernachten. Sie werden vielleicht auf
+‚Bodenfahrt‘ gehn, wenn nichts andres sich bietet. In
+manchen Häusern findet sich ein gutmütiger Bewohner, der
+denen, die auf dem Boden kampieren, morgens warmen Kaffee
+bringt, er hat vielleicht selbst in seiner Jugend unterm
+Stadtbahnbogen geschlafen. Er weiß, wie’s tut, kein Quartier
+zu haben. Einer von den Jungen führt uns weiter durch ein
+Gewirr von grellen und düstern Ecken. Er weiß hier ein
+‚schnaftes‘ Tanzlokal. ‚Polarstern‘ heißt es oder so
+ähnlich. Ein tiefes Berliner Zimmer. Über dem Zugang zum
+Nebenraum ein Lambrequin starr und staubig. Aus dem
+Hintergrund kommen Mädchen- und Jungenpaare zum Tanz, zu dem
+zwei zusammengeschrumpfte Musiker Klavier und Geige spielen.
+Es wird hingebungsvoll getanzt, wie wir das aus ähnlichen
+Stuben und ‚Dielen‘ kennen, nur verzweifelter, so scheint es
+uns wenigstens, und noch genußsüchtiger — als lauere Elend
+oder Gefahr. Es ist nach ein Uhr.
+
+Unser Führer (darin sind die eleganten und die kragenlosen
+Bummler von Berlin einander ähnlich) muß noch weiter, in die
+Gegend der Kommandantenstraße und hinter das Hallesche Tor.
+Unterwegs will er uns nahe bei der Markthalle etwas zeigen.
+Wir stehn wieder dem Polizeipräsidium gegenüber. Er schiebt
+uns durch ein niedriges Tor in die Wärmehalle. Er belehrt
+uns über die geduckten und aufrechten Gestalten. Er
+unterscheidet Einheimische und solche, die ‚auf der Walz‘
+sind. Hier darf nicht geraucht, gesungen, Karten gespielt
+oder gehandelt werden. Aber ein bißchen gehandelt wird doch,
+meist eine Art Tauschhandel, wie es scheint. Geschenkte oder
+‚gefundene‘ Kleidungsstücke, die einem andern besser passen.
+Einer nah am Ofen tauscht Schmöker gegen Brot ein. Sind es
+Fußlappen oder Zeitungen, was der da auf der Holzbank aus
+dem abgezogenen Stiefel holt? Beim Hinausgehn seh ich, daß
+wir unterm Stadtbahnbogen sind. Wir kommen in eine Straße,
+wo es nach Obst riecht, aber die Speicher der Früchte sehen
+aus wie Kontore. Hier wird auch am Tage nicht an den
+einzelnen verkauft. Der Markt von Berlin breitet sich nicht
+auf die Straße aus wie der an den Hallen in Paris.
+Wunderliche Auslagen in den nächsten Fenstern, in einem
+lauter Pappe und Einschlagepapier, ‚Schlächter- und
+Butterbrotpapiere‘, ‚Würstchenteller in allen Größen und
+Preislagen‘, Wiegeschalen, Kisten und Einsätze, eine ganze
+Negerhütte aus Bast, von einer nächtlichen Katze bewacht. Um
+die Ecke: ein koscheres Restaurant und ein Hotel mit
+geheimnisvollen Gardinen. An einer fensterlosen Mauer ein
+Zettel wie ein Wahlanschlag: ‚Deutsche Frühkarpfen für die
+Herbstsaison‘. Wir kommen unter die Eisensäulen des
+Viadukts. Diese Stadtbahnarchitektur sieht heute so
+altertümlich aus. Nur ein Blick in den Wartesaal. Bündel und
+Säcke als Kopfkissen der sitzend Schlafenden. Leeres Glas
+und mattes Blech des verlassenen Büfetts. Draußen vor
+wartenden Wagen halbschlafende Pferde spreizbeinig starr.
+Eine Kneipe, wo Markthelfer auf ihre Arbeit und Arbeitslose
+auf eine Gelegenheit warten. Ein paar Chauffeure rühren in
+der Löffelbrühe. Marktfahrer zeigen einander Stücke aus
+ihren Körben und besprechen kaufmännisch die ‚Lage‘. Der in
+Hemdsärmeln, der zwischen den Tischen entlang geht und
+Bekannte und Unbekannte beobachtet, ist nach der Meinung
+unseres Führers der ‚Rausschmeißer‘. Heute bekommt er nichts
+zu tun. Zwischen dem Alten, der in seinen Bart brabbelt, und
+der dicken Marktfrau, die über ihrem Korb eingenickt ist,
+erscheint an der Banklehne ein wunderbar gemeißelter
+Jünglingskopf in offnem Hemd. Er schläft tief und selig auf
+dem harten Holz wie in paradiesischen Gefilden. Über ihm ein
+handgeschriebener Anschlag: ‚Laden für Gänseausnehmen zur
+Saison abzugeben (Laufgegend)‘. In eine gegenüberliegende
+auch schon oder noch offne Bierstube werden wir nicht
+eingelassen. Die soll nur für reisende Händler sein. Das
+sind die Makler zwischen den Kleinbauern und den Berliner
+Gemüsehandlungen.
+
+Nun wird es Zeit, die Halle selbst zu betreten. Dort werden
+wir als Müßiggänger geduldet, aber nicht so wohlwollend
+ironisch empfangen wie der Noceur von Paris in den Ständen
+vor und in den Hallen. Kartoffelschälerinnen schauen etwas
+verdrossen zu unserer Gruppe auf. Neben seinem Wagen der
+Bursche in samtener Mütze und mit schönen Stulpstiefeln und
+auf dem andern Wagen der in leuchtend grüner Jacke, die
+durch grauen Dämmer strahlt, drehen finster die Köpfe nach
+uns. Nur der kleine Graukopf, der, aus dunklem Seitengang
+kommend, uns unter ‚Resi noch besser als Rahma‘ begegnet,
+nickt freundlich und flüstert uns auf sächsisch unflätig
+anspielende Verse auf die verschiedenen Margarinesorten zu.
+Wir stolpern hinaus zwischen Porree, Lauch und Rübe.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Heim. Ein paar Stunden Schlaf. Um sechs habe ich Rendezvous
+zum Besuch der andern Zentralhalle, der des Blumenmarktes.
+
+Frühmond über blau-leerem Asphalt. Wechsellichter von Tag
+und Nacht auf den Panzern des Hochbahnhofs. Nachtglanz in
+der Station. Ich nehme Platz zwischen Barhäuptigen und
+Mützen, Schürzen und Kitteln, Kiepen und Körben. Über die
+Eisennetze des Gleisdreiecks und den Kanalabgrund unter der
+Möckernbrücke zum Halleschen Tor.
+
+Eine Zeitlang steh ich bei den frierenden Statuen der
+Brücke, die einen Gewerbe- oder Ackerbauzweig zu
+allegorisieren versuchen. Aus Gelesenem und alten Stichen
+taucht das Bild des wirklichen Halleschen Tores auf, die
+niedrige Stadtmauer, mehr Gartenmauer als Wehr (sie sollte
+wohl auch weniger verteidigen als Fremden- und
+Steuerkontrolle ermöglichen und die Desertion erschweren),
+die beiden Mauerpfeiler des Tores, oben durch eine
+Eisenstange verbunden. Steinerne Schmuckvasen. Solang es
+hell ist, stehen die Torflügel offen. Die Zolleinnehmer und
+die Dragoner der Torwache sitzen beim Kartenspiel, bis
+wieder eine Hammelherde kommt. Dann hat der Einnehmer der
+Schlachtsteuer Arbeit. Jede Herde, die in die Stadt soll,
+muß gezählt werden. Die Torflügel werden beide geschlossen,
+es bleibt nur eine Klappe offen. Und während sich draußen
+Volk und Vieh staut, wird zunächst der Leithammel
+hereingelassen. Nach ihm die andern, Stück für Stück, am
+vorgehaltenen Fuß des zählenden Zöllners vorbei. Ich sehe,
+wie sie sich klemmen und drängen, während ich in die Leere
+von Brücke und Platz starre. Da aber kommt vom Hochbahnbogen
+her mit einem Schub Umschlagetücher und Mützen, Bastkörbe
+und Rucksäcke mein Bekannter, der junge Blumenhändler, der
+mich mitnehmen will.
+
+Wir gehn über das Rondell des Bellealliance-Platzes und die
+Friedrichstraße hinauf bis an den Eingang zu dem
+bahnhofbraunen Gehöft, über dessen Torstein ein städtisches
+Bärenwappen prangt. Im Hofgang werden hinter verblichenen
+Schaufenstern einige Arrangements künstlicher Blumen
+sichtbar, wie man sie von französischen Friedhöfen kennt. In
+der Halle wird mein Führer von aller Welt gegrüßt. Die gute
+Frau aus Zossen, die hinter ihrem Grünzeug hockt, nimmt ihm
+seinen Korb zum Aufheben ab. Ihre Nachbarin erzählt: ‚Bei
+uns sind heut nacht zwei Mädchen angekommen‘. ‚Fruchtbare
+Gegend Mariendorf‘, sagt mein Begleiter. ‚Na, nu mußt du
+dich auch ranhalten, Karle‘, meint die Zossnerin. Ein
+vorüberstreifender Kollege macht eine Art Terminhandel mit
+Karl und fragt ihn dann: ‚Hast du Affenflöten ?‘ Karl gibt
+ihm eine Zigarette. Das da, zeigt er mir, sind reiche Leute,
+denen gehört ganz Werder und denen daneben halb Teltow. Er
+geht eilig von Stand zu Stand, wählt, handelt, bestellt und
+nimmt Bestellungen mit. Zwischen den blaßbunten Haufen
+heimischer Herbstblumen lagern enggebunden Rosen, die mit
+Flugpost aus Holland gekommen sind. Es wird flink gehandelt
+und dabei fliegen Witzworte hin und her zwischen dem jungen
+Mannsvolk und den alten Weibern. Auch untereinander necken
+sich die Männer. Mit den jungen Frauen sind sie leiser und
+vorsichtiger. Aber alle hier sind morgendlich munter. Man
+ist gut aufgelegt trotz häufiger Wechselfälle. Es war doch
+schon Frost heut nacht. In Britz sind alle Dahlien erfroren,
+erzählt die Frau, die mit dem Kaffeetopf und den
+Pflaumenkuchen kommt und bei der im Stehen gefrühstückt
+wird. Das hört man sich mit einer Art ländlichem Fatalismus
+an. Mit einmal komme ich mir vor wie unter Stadtbauern alter
+Zeiten, als noch innerhalb der Tore viel Gemüsegarten und
+Acker war. Wir machen noch ein paar Schritte in die
+Topfhalle zu den Chrysanthemen. Die Topfhalle ist angebaut
+worden, weil es in der großen schon zu voll war. Aber bald
+wird das ganze Gehöft nicht mehr ausreichen. Die Halle wird
+in die Vorstadt verlegt werden. Der alte Kirchhofsgärtner
+aus Westend begrüßt meinen Begleiter, er sieht etwas
+verächtlich auf die Straßenhändler, die bei der Frau in der
+Türecke ‚Mist‘, das ist Ausschuß, kaufen. Er ist
+alteingesessen. Schon seinem Vater hat die Gärtnerei der
+Besitzer einer Tiergartenvilla geschenkt, bei dem er vor
+sechzig Jahren Gärtner war. An Armen voll papierumwickelter
+Veilchentöpfe und lose gebundner Chrysanthemen schieben wir
+uns vorbei. Der brave Kumpan, der meines Begleiters Einkäufe
+in seinem Lastauto mitnehmen will, geht mit uns über die
+Straße in eine Destille, wo eine Molle ‚gehoben‘ wird.
+Draußen sind zwischen Karren, Wagen und dicken Gäulen schon
+die Straßenreiniger an der Arbeit. Noch einmal zum Abholen
+in die Halle. Da wird auch schon aufgeräumt, während noch
+ein paar Alte aus schrumpflichen Portemonnaies und Junge aus
+Westen- und Hosentasche zahlen. Schmutz und Rest bleibt in
+Berlin nirgends lange liegen. Diese Stadt räumt gern auf.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Gemüse und Blumen sind nun ‚erledigt‘. Bleibt das Fleisch.
+Also auf zum Zentral-Vieh- und -Schlachthof im Osten. Schon
+der alte Viehmarkt, der bis 1871 bestanden hat, war am
+Landsberger Tor. Ein Stück weiter östlich erstreckt sich
+jetzt über ein Gebiet von fast 190 Morgen der Riesenkomplex
+mit Ställen, Verkaufshallen, Schlachthäusern,
+Verwaltungsgebäuden, zweigeteilt von der Thaerstraße,
+durchzogen von Triebstraßen, begrenzt von den langen Rampen
+an der Ringbahn, deren Viehbahnhof 15 Kilometer Gleis und
+eine große Anzahl von Ausladebuchten umfaßt. Erst bekomm ich
+die Menschen zu sehn, Beamte, Tierärzte und im Börsengebäude
+Viehhändler in langen Mänteln, Agenten,
+Großschlächtermeister. Mein Führer erzählt mir die Arbeit
+der Kommission, welche die Preise bestimmt, Auftrieb,
+Untersuchung und Unterbringung der Tiere, den Handel durch
+Handschlag. Er zeigt mir die hintereinanderlagernden Hallen,
+die der Rinder, die der Hämmel und die riesenhafte
+Schweinehalle, die in ihren Buchten ungefähr 15.000 Tiere
+faßt. Sie reicht im Norden bis an die Rampen der Geleise,
+auf denen das Vieh aus den Provinzen angerollt wird. Und
+längs der Rampen erstreckt sich die lange schmale
+Kälberhalle. Da nach Osten, das sind die Stallungen, die
+Dungverladung, der Seuchenhof, die Häutesalzerei usw. An den
+Markttagen öffnen sich die Hallen, und durch drei Tore
+werden Rinder, Kälber und Schafe hinübergetrieben zum
+Schlachthof. Die Schweine wandern ihren besonderen Weg längs
+der Schienenstränge. Wir gehn in den Schlachthof hinüber und
+dort einer Schweineherde nach, die zum neuen Schlachthaus,
+einem mächtigen roten Gebäude, trottet. Wir sehen, wie
+unterm Stock des Treibers die bunt gezeichneten rosagrauen
+Rücken und die Ringelschwänzchen in der Luke verschwinden
+Nun stehn wir drinnen in der weiten Halle. Weißer Dampf
+steigt auf von den Brühkesseln. Da aus dem kleinen
+Holzverschlag kommt das erste Schweinchen herausgeschlüpft,
+lautlos und vertrauensvoll seinem Mörder entgegen. Das ist
+ein hübscher junger Bursche in Hemdsärmeln. Er holt gelassen
+aus mit dem Beil und schlägt dem Tier vor den Kopf. Es legt
+sich sanft auf die Seite. Und während ein andrer auch sehr
+sympathisch aussehender junger Mann ihm den Halsstich
+versetzt, zucken nur noch die Beinchen. Da wartet ja schon
+das nächste und ein drittes drängt sich hinterdrein. Ich
+wundre mich, daß sie gar nicht quieken, weder hinter dem
+Verschlag noch hier unterm Beil. Ich muß immer wieder das
+Gesicht dessen ansehn, der den Schlag tut. Merkwürdig: die
+Viehhändler vorhin, die Agenten und Schlächtermeister sahen
+eigentlich viel blutrünstiger drein als dieser Jüngling mit
+der zarten Gesichtsfarbe, der die Mordtat vollzieht . . .
+Wir kommen ins Rinderschlachthaus. Da gibt es eine rituelle
+Ecke. In der steht vor dem kopfunten hangenden Rind der
+Schächter, der ihm den Halsschnitt gemacht hat. Er hat einen
+schwarzgrau und scharf vorstehenden spitzen Bart. Auf
+welchem alten Bild hab ich solch einen Bart gesehen? Die
+Hämmel muß man besuchen, wenn sie abgezogen werden. Es ist
+erstaunlich, wie säuberlich und glatt das zugeht. Sind sie
+an einer Stelle aufgeschnitten, so greift ihnen einer, der
+es versteht, ganz sanft unter den Pelz, das Fell gleitet
+weich und spurlos ab, und darunter erscheint ein Wesen aus
+hellem Elfenbein. Es geht überhaupt sehr säuberlich zu auf
+diesem Massenmordhof. Blut und Entsetzen wird rasch
+fortgewaschen, Geschlinge, Kuttel und ‚Kram‘ werden
+beiseitegeschafft. Bald ist der Boden wieder blank wie
+spiegelndes Parkett.
+
+Von Halle zu Halle wandern wir bis zum Ausgang. Die
+Eisenstäbe, die dort wandentlang ziehen, das sind die
+Laufkatzen, daran die an Haken aufgehangenen Tiere
+transportiert werden. Noch ein Blick in das große Gehöft des
+Fleischmarktes. Den hätte man eigentlich zu früherer
+Morgenstunde besuchen müssen, wenn er von Wagen und Menschen
+wimmelt. Die Gebäude dieser Sonderstadt sind neueren Datums
+und imposante Schöpfungen. Im Kühl- und Gefrierhaus kann man
+die weiten Räume mit den tausend verzinkten
+Eisenblechkäfigen des Konservenfleisches besuchen.
+
+Soll ich heute noch weiter nach Nordosten vordringen? Heut
+ist in Weißensee Pferdemarkt. Da werden sowohl Reitpferde
+als auch alte Klepper verkauft. Auch dort wird der Handel
+durch Handschlag abgeschlossen. Ein andermal.
diff --git a/18-norden.rst b/18-norden.rst
new file mode 100644
index 0000000..50eb7fd
--- /dev/null
+++ b/18-norden.rst
@@ -0,0 +1,201 @@
+.. include:: global.rst
+
+NORDEN
+======
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`S`\ o sehr ich unsere Schaufenster im Westen liebe
+mit ihren immer neuen Gruppierungen, Beleuchtungen,
+Überraschungen — in der Woche vor Weihnachten wird’s mir zu
+üppig hinterm Glase. Immer wieder diese Lebensmittelmassen
+(Mittel, die kein Zweck zu heiligen imstande ist. Eher
+schänden sie ihn), diese riesigen ‚Freßkörbe‘, in denen
+Schnapsflaschen, Würste, Ananas und Trauben mit schimmernden
+Schleifen gebunden und auf Tannenstreu gebettet überquellen!
+In allen Preislagen wird mit der Ware zugleich seelenvolle
+Aufmachung feilgeboten, um den Berlinern, die ‚zu nichts
+kommen‘, das reizende Selber-Basteln, -Betten und -Binden zu
+ersparen. Immer wieder die Buchläden mit dem kolorierten
+Märchenaufguß für die lieben Kleinen. Und die Wälder von
+versilberten Tannenzapfen zwischen Nickel- und Eisenwaren,
+Fichtennadeln, die aus Schuhen kriechen, Lametta, das auf
+Schlupfer schneit. Jahrmarkt-ähnlicher wird es, wo richtige
+Buden stehn. Neben Christbaumschmuck aufblasbare Gummiwesen
+zum Quieken, rote und grüne Quetsch-Affen. Eine Frau läßt
+vor ihrem Verschlag einen künstlichen Piepmatz auf dem
+Trottoir die Bewegung des Pickens machen und sagt dazu: ‚Das
+neueste von der Leipziger Messe.‘ Und als ich vor diesem
+Phänomen eine Weile stehn blieb, wandte sich der
+Mitverkäufer persönlich an mich: ‚Noch so einen einpacken,
+Herr Chef?‘ Merkwürdige neuzeitliche Nuance der
+ehrerbietigen Anrede. Früher hätte er ‚Herr Doktor‘ gesagt.
+In München schlechthin ‚Herr Nachbar‘.
+
+Das war, glaub ich, am Leipziger Platz. Je tiefer ich in die
+Stadt und nach Norden kam, um so kleinstädtischer und echter
+wurde der Weihnachtsmarkt. Und das Angebot in den Auslagen
+der Geschäfte war nicht mehr so schrecklich distinguiert. Da
+stand dick (es war die Gegend des Rosenthaler Tors) ‚Was wir
+bieten‘ und ‚Dreipreis 25, 50 und 95 ch.‘ Und ‚Gänsebrust
+das beste Festgeschenk‘. Und die kleinen Gänsebrüste hingen
+ohne weitere Tannenzutat wartend aufgereiht. Die Wagen am
+Straßenrand waren voll billiger derber Pfefferkuchen.
+Wurstbuden unterbrachen den bunten Kram mit warm wehendem
+Dampf. Immerhin vermißte ich manches von der rührenden
+Kleinwelt des alten Berliner Weihnachtsmarktes. Nirgends
+hörte ich das frühere ‚Zehn Pfennig der Taschenkalender‘ von
+Kinderstimmen. Zur Zeit, als wir das hörten, erinnerten sich
+unsere Eltern an das ‚Einen Dreier das Schäfchen‘ noch
+früherer Zeiten. Und wo sind die Knarren und Waldteufel hin?
+Aber keine Neuzeit vertreibt die Tannenbäume. Wo immer das
+Trottoir sich platzartig erweitert, stehen sie zum Verkauf,
+stattliche und rührend dürftige. Auch ganz winzige mit drei
+bunten Kerzen. Man erzählt, gestern soll hier in der Nähe
+ein Lager mit ein paar hundert Bäumen ausgeplündert worden
+sein. Gefühlvolle Räuber! Wie behandelt die
+Rechtsgelahrtheit diese Art Diebstahl? Dies Brennholz mit
+Imponderabilien? Dies nicht lebensnotwendige Bedürfnis. Auch
+in den übelsten Schenken bei bösen pflaumenaugigen Hexen
+steht ein Bäumchen auf schmierigem Tischtuch. Das Christkind
+kann’s immer noch mit dem Radio aufnehmen.
+
+Durch die Ackerstraße nach dem Wedding zu. Selbst diese
+traurige Gegend bekommt etwas vom Weihnachtswald und bunten
+Markt ab. Aus dem Hof der riesigen Mietskaserne, dem ersten
+Hof — sie hat wohl fünf oder sechs, eine ganze Stadt von
+Menschen wohnt darin. Alle Arten Berufe lassen sich erraten
+aus den Anschlägen: Apostelamt, Pumpernickelfabrik, Damen-
+und Burschenkonfektion, Schlosserei, Lederstanzerei,
+Badeanstalt, Drehrolle, Fleischerei . . . Und noch so und
+soviel Schneiderinnen, Nähterinnen, Kohlenmänner, die in den
+endlosen, grau-rissigen Quer- und Seitengebäuden hausen —
+aus dem ersten Hof dieses Musterbeispiels der Wohnverliese
+von gestern kommen durch den runden Torweg drei Burschen,
+einer mit der Gitarre, die beiden andern mit Kerzen, die sie
+im Gang auspusten. Die spielen und singen hier von Hof zu
+Hof Weihnachtslieder und halten dabei ihre brennenden Kerzen
+in den Händen.
+
+Die Wölbungen dieser Torgänge geben dem Großstadtelend
+wenigstens noch ein Gesicht. Sonst ist hier im Norden wie
+auch in den proletarischen Teilen von Schöneberg oder
+Neukölln den Häusern von außen meist nicht anzusehen,
+wieviel Armut sie bergen. Wie die Menschen keine bunten
+Lumpen tragen — leiser Trost des Bettlers in
+Mittelmeerländern, daß sein Elend ein Gewand hat —, sondern
+abgeschabtes Bürgerkleid und verwetzten Soldatenrock aus dem
+unerschöpflichen Tuch des Krieges, so haben auch die Gebäude
+eine heruntergekommene Bürgerlichkeit. Sie stehn in endloser
+Reihe, Fenster an Fenster, kleine Balkone sind vorgeklebt,
+auf welchen Topfblumen ein kümmerliches Dasein fristen. Um
+eine Vorstellung vom Leben der Bewohner zu bekommen, muß man in
+die Höfe vordringen, den traurigen ersten und den
+traurigeren zweiten, man muß die blassen Kinder beobachten,
+die da herumlungern und auf den Stufen zu den drei, vier und
+mehr Eingängen der lichtlosen Quergebäude hocken, rührende
+und groteske Geschöpfe, wie Zille sie gemalt und gezeichnet
+hat. Manchmal scharen sie sich um einen Leiermann, der hier
+noch eher auf Almosen hofft als in bürgerlichen Quartieren,
+oder um die Sängerinnen der Heilsarmee mit ihren
+rotbebänderten Hüten und militärischen Mänteln, die den
+Armen dieser Welt die Reichtümer des Jenseits versprechen.
+Wer Gelegenheit hat, die dumpfen Stiegen hinaufzutasten bis
+zu den armseligen Wohnküchen mit ihrem Kohldunst und den
+Schlafkammern mit dem säuerlichen Säuglingsgeruch, kann
+‚lernen‘.
+
+Auch in den Gesichtern derer, die gegen Abend aus den Hallen
+der Ringbahnhöfe Wedding und Gesundbrunnen kommen und durch
+die Straßen oder an Zäunen und Baustellen entlang ins
+Trostlose heimtrotten, steht allerlei geschrieben. Man muß
+aber länger hineinsehn, auf den ersten Blick lassen sich
+diese Menschen nicht soviel anmerken wie andre Völker, die
+einen leichteren, unmittelbareren Weg vom Gefühl zur Geste,
+zum Ausdruck haben. Umso mehr Kräfte sammeln vielleicht
+diese Zurückhaltenden und Gefaßten für ihren Kampf gegen den
+größten Feind der Menschheit von heute.
+
+Humboldthain: nur ein paar größere Buben jagen um den
+Spielplatz. Für die kleinen, die man hier im Sommer auf den
+Sandhaufen sah, ist es schon zu kalt. Auch von der berühmten
+Spielbank der Arbeitslosen ist heute nichts zu sehn, die im
+Herbst hier im Grünen auf den Bänken Karten auf rote und
+bunte Taschentücher als Spielteppich warf, Zahlen erschallen
+ließ und mit kleinen Münzen klapperte. Da gab es
+Spielergesichter über kragenlosen Hälsen so ernst und
+versunken wie die über den Frackhemden von Monte Carlo. Soll
+ich die Ringbahn nehmen, zur Landsberger Allee fahren und in
+den Friedrichshain gehn, um spielende Kinder zu sehn? Dort
+findet nämlich richtiger Wintersport statt in diesen Tagen.
+Dort wird den ‚Kanonenberg‘ hinuntergerodelt, immer zwei und
+drei auf einem Handschlitten —
+
+Nein, heut will ich lieber weiter nach Norden ins Freie. In
+der Badstraße seh ich zwischen den Häusern einen dünnen Bach
+fließen. Das ist die gute Panke. Ich muß an die Stelle in
+der Karlstraße denken, wo sie noch heimlicher fließt mitten
+zwischen hohen Hinterhausmauern, sie, die einstmals nah
+ihrer Mündung in die Spree ein hübsch eingerichtetes
+Badehaus gehabt haben soll und jetzt ein recht trübseliges
+Wässerchen geworden ist.
+
+Auf einer Trambahn lese ich: Pankow, Niederschönhausen. Ich
+springe auf. Und nun fahr ich durch dies seltsame Gemisch
+von Großstadt und Gartenstadt, wo es Musterbeispiele von
+allem gibt, dazu noch den Schloßpark mit seinen alten Eichen
+und den Bürgerpark mit dem stolzen Toreingang, die üblichen
+Vorstadtstraßen und halb dörfliche mit den lieben, etwas
+eingesunkenen Häuschen derer, die vor bald hundert Jahren
+hier aufs Land zogen, dann nahe bei Villen vornehmer alter
+Bankierfamilien Baracken, die aus der Kriegszeit stammen,
+voll kinderreichem Elend, und weiterhin Kleingartenkolonien.
+Und dann in Parkeinsamkeit das Schlößchen von
+Niederschönhausen, ganz verlassen und verschlossen, die
+hohen Fenster innen von Brettern verstellt. Da wohnte zur
+Sommerzeit Friedrichs des Großen Gemahlin, die arme
+Elisabeth Christine. Von dieser Vergessenen würde man, glaub
+ich, selbst wenn man in das Schloß hineinkönnte, keine Spur
+finden.
+
+Auf dem Rückweg kam ich in der Badstraße gerade zurecht, um
+im Kinotheater die Revue zu sehn. Eine Revue mit fünf
+Tanzmädchen. Um ihre zackig gerahmten Bewegungen war noch
+Rest der Eierschale tüchtiger Einstudierung zu spüren. Wie
+die Flitterstreifen über sie liefen und auf
+Vogelscheuchstangen des Reifrocks von ihnen abstanden,
+während sie sangen: ‚Wenn die Sterne wandern — Nachts am
+Himmelszelt — Einer sagt’s dem andern — Schön ist’s auf der
+Welt!‘ Ach, und die eine im Falterkleid, die am Hintergrund
+festsaß ganz wie ein aufgespießter Schmetterling. Und die
+südlich bekleidete Busendame, die das Lied sang: ‚Wenn in
+Sevilla . . .‘ Und ihr Partner, der sein Spanisches trug wie
+ein Lakaienhabit und beim Singen immer auf sie und ihren
+Busen zeigte. Und zuletzt die historische Modeschau von Evas
+Feigenblatt übers Keuschheitsschloß der Gattinnen alter
+Ritter, als welche, laut begleitendem Gesang, gleich so bös
+und bitter wurden, bis zu den Hemdhöschen von heute.
+Zwischendurch durfte sich ein Soldat in einer Küche recht
+zynisch aufführen und Späße machen, die fast der *Gaité
+Montparnasse* würdig waren (wir werden Weltstadt!). Zuletzt
+aber standen Silbersterne über Apotheoseköpfen, Silbersterne
+wie vom Weihnachtsbaum, und die guten Mädchen wurden
+himmlische Heerschar, die den Hirten erscheint. Mir war es
+noch nicht genug mit dem einen Theater. Ich war noch am
+Weinbergweg, wo in alter Zeit Mutter Gräberts berühmtes
+Stullentheater geblüht haben soll und noch jetzt eins blüht,
+das zwar Lachbühne heißt, in seinem Riesenprogramm von acht
+Uhr bis nach Mitternacht aber auch ein ernstes Liederspiel
+enthält, und gerade das bekam ich zu sehn. Es hieß
+‚Zigeuner‘. Ob nun die schöne Else von Felsing im Jagdgewand
+auftrat und an des Zigeuners Sohn wieder gut machte, was man
+seiner entführten Mutter angetan, ob der grüne Oberförster
+Wolter, Hand an der vorstehenden Flinte, mit strenger
+Forderung auftrat, ob die Liebenden flüchteten oder die
+Zigeunermusikanten eins sangen, fast die ganze Zeit stand
+die alte Minka in der rechten Ecke und rührte die Suppe über
+dem Holzfeuer. Dann schloß sich der Vorhang rund um die
+Bühne, die auch seitlich vom Zuschauerraum eingefaßt ist. Es
+war ein Sonnabend abend. Das Theater war voll dankbarer
+Einwohner einer der vielen Kleinstädte von Berlin.
diff --git a/19-nordwesten.rst b/19-nordwesten.rst
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--- /dev/null
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@@ -0,0 +1,361 @@
+.. include:: global.rst
+
+NORDWESTEN
+==========
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`W`\ o sich heute die Museen an der Invalidenstraße
+erheben (zwischen dem der Landwirtschaftlichen Hochschule
+und dem geologischen das für Naturkunde, darin man den
+berühmten Urvogel bewundern kann und allerhand saurische
+Zeitgenossen von ihm in Skelett oder Abguß), da ließ einst
+der Alte Fritz Maulbeerplantagen anpflanzen, damit seine
+Invaliden Seidenraupenzucht trieben. Ein Stückchen weiter
+nach Norden steht noch heute das Invalidenhaus, das er
+*‚laeso et invicto militi‘* errichtete. Es lag damals in
+ödem Gebiet, das einst Sandscholle hieß. Dort soll sich der
+Sand bisweilen so hoch an der Stadtmauer gehäuft haben, daß
+man über sie weg in die Stadt reiten konnte. Schön ist der
+Eingang zu dem Invalidenhaus mit der rundgewölbten Holztür
+und dem Oeil de bœuf darüber. Im Hof sieht man Kanonenrohre
+liegen, verrostende Kriegsvergangenheiten. Und viele
+berühmte Kriegsmänner ruhen auf dem Invalidenfriedhof
+daneben. Das ist einer der Altberliner Kirchhöfe, wo man
+noch eine ganze Reihe schöner Grabmonumente zu sehen
+bekommt. Antikische Helme auf Schilden oder eine Steinvase
+von wunderbar einfacher Größe auf Grabsteinen der Obersten
+und Kommandanten des Invalidenhauses, Friesens schwarzes
+Kreuz, Scharnhorsts hohen Marmor mit dem sterbenden Löwen,
+Trophäen über Winterfeldts Grab und die Zinkplatte über dem
+Grabe Tauentziens. Auch einen der preußisch neugotischen
+Turmbaldachine, die nach Schinkels Entwürfen in der
+königlichen Eisengießerei geschaffen wurden.
+
+Es ist schön, hier von Stein zu Stein zu wandern; so dicht
+wie hier sind nur noch selten die Monumente der älteren
+Berliner Friedhofkunst beisammen, Denkmäler der Zeit
+Schadows und Schinkels und der spätfriderizianischen Zeit,
+die Grazie und Strenge so einzig vereinte. In der
+Chausseestraße, am Prenzlauer Tor und südlich vom Halleschen
+Tore und in einigen andern in der Altstadt verbliebenen
+Kirchhöfen kann man ähnliche efeuumgebene Wege in die alte
+Grabkunst wandern zu den Malen Berühmter und Vergessener.
+Leider muß man dabei oft vorbeifinden an den Kuppeln,
+Baldachinen und Bogenhallen, zu deren ‚geschmackvoller‘
+Herstellung in bestem Material und jeder Preislage
+allmählich eine große Industrie sich entwickelte.
+
+Auf diesen schönen kleinen Friedhof war ich geraten, statt
+mich, wie beabsichtigt, ans andre Ende der Invalidenstraße
+zum Kriminalgericht zu begeben, um zu meiner Belehrung einer
+Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Das hatte ich einmal getan
+vor Jahren, als ein Gotteslästerungsprozeß vorgeführt wurde,
+bei dem Zeugen, Richter und Angeklagter zum Teil
+ausgezeichnet spielten, nur der, welcher den Staatsanwalt
+gab, chargierte zu sehr und war von unwahrscheinlicher
+Witzblattkomik. Ich komme vielleicht doch noch zurecht,
+suchte ich mir einzureden. Die Trambahn brachte mich rasch
+vorbei an dem ehemaligen Hamburger Bahnhof, der so hübsch
+ungebraucht aussieht (es ist aber ein Verkehrsmuseum darin),
+am Humboldtshafen, Lehrter Bahnhof und Ausstellungspark. Ein
+Blick auf den festungsartigen Komplex des Zellengefängnisses
+mit dem mächtigen Turm, dann stieg ich aus vor dem Löwen,
+der vor dem Gerichtsgebäude die Schlange des Verbrechertums
+bekämpft. Am Sockel dieses Löwen steht derselbe Künstlername
+wie an dem seines Vetters, der in der nach ihm benannten
+Allee des Tiergartens sich über seiner verwundeten Löwin
+drohend aufrichtet. Er hat aber gar nichts Furchtbares,
+dieser gute Gatte, besonders für unsereinen, der von
+Kindheit an so oft an ihm vorbeispaziert ist, daß er wie
+Spielzeug auf dem Bord der Erinnerung steht. An diesen
+lieben Löwen dachte ich und hatte nun gar keine Lust mehr,
+in das große rote Haus zu gehn, das der Schlangentöter
+bewacht. Ich schlich, wie hinter die Schule, an einer Seite
+des mächtigen Fünfecks entlang, kam in die freundlichen
+Anlagen des kleinen Tiergartens und sah auf das eifrige
+Treiben vor der Meierei Bolle, vor der gerade eine Menge der
+jedem Berliner Kind wohlvertrauten Milchwagen ankamen und
+hielten und in ihren blauen Schürzenkleidern die Mädchen und
+Burschen sich von den Rücksitzen schwangen. Unter die hätte
+man sich mischen sollen, um Heimatkunde zu treiben. Statt
+dessen trieb es mich nordwärts durch die Anlagen in eine
+Querstraße der langen Turmstraße.
+
+Und da bin ich ganz zufällig in etwas recht Berlinisches
+hineingeraten. Da standen an dem Eingang zu einem der
+Etablissements, die Vor- oder Familiennamen der Hohenzollern
+mit Schultheiß- und Patzenhoferausschank verbinden, einige
+Leute, denen es festlich unterm Mantel vorschaute. Und so
+mutlos ich vor den Löwen der Gerechtigkeit und den
+Bollemädchen gewesen war, hier faßte ich gleich bürgerliches
+Vertrauen und ging mit hinein in die Feier des sechsten
+Stiftungsfestes eines Musikvereins, der eine
+Liebhaberaufführung veranstaltete. Eine Operette sollte
+gegeben werden von einem der Mitglieder. Man saß an Tischen
+und bekam Kaffee und Kuchen, es war ein Sonnabend
+nachmittag. Die Vorstellung begann mit einem tiefen Knix,
+einem Hofknix aus alter Zeit, wie man ihn heutzutage selten
+zu sehen bekommt. Den führte die Dame aus, welche den
+Begrüßungsmonolog aufsagte. Und dann wandte sich der Herr
+Kapellmeister und Komponist an das hochverehrte Publikum und
+wies auf die unvermeidlichen Schwierigkeiten hin, die es
+‚Dilettanten, die doch nur in den Mußestunden ihrer
+Berufstätigkeit sich der Kunst widmen können‘, bereitet,
+eine ganze Operette einzustudieren und mit unzureichenden
+Mitteln aufzuführen. Die Operette spielte in dem
+spezifischen Operettenlande zwischen Wien und dem
+Türkenreich, wo soviel Gräfinnen, Lebemänner, Zigeuner,
+bunte Bäuerinnen, Schmuggler und schicke Leutnants wohnen.
+Und die vollschlanken Damen des Chores bewährten sich sowohl
+als Landmädchen wie als vornehme Gäste der Schloßsoiree. Die
+Hauptdarsteller wurden nach jedem Solo und Duett heftig
+beklatscht und mußten das meiste wiederholen, nicht nur
+Scherzhaftes, sondern auch Gefühlvolles wie ‚Mädel sag mir
+ein Wort / Mädel, ich muß gleich fort!‘ Und das hatten sie
+ebensogut verdient wie unsre berühmten Kammersänger, die als
+berühmte Personnagen aus dem 18. Jahrhundert ihre
+Partnerinnen wie Blasebälge an die mächtige tonbildende
+Brust pressen und immer wiederholen, wie sehr sie sie
+lieben.
+
+Dabei befanden sich diese Ausnahmskünstler ziemlich
+kritischen Zuhörern gegenüber, die zum großen Teil die
+Proben des Musikvereins miterlebt hatten und sich auf
+Nuancen verstanden. Mir sind sehr subtile Äußerungen aus dem
+Publikum zu Ohren gekommen. So meinte zum Beispiel eine
+Tischnachbarin von der einen jugendlichen Liebhaberin, sie
+hätte nicht das Schwarze anziehn sollen, das sie zu alt
+macht, sie hat doch ein Lila . . . Wie es bei den großen
+Premieren üblich ist, müßte man eine Modeschau schreiben,
+nicht nur von den Künstlerinnen, auch vom Zuschauerkreise:
+Wo sie Rosen sitzen hatten, die würdigen Damen mit den
+Häkelschals überm Ausschnitt, wie diskret die dunklen
+Seidenkleider der kräftigen Mütter, wie zartfarben die
+Toiletten der schmalen Töchter waren. Zu loben wäre die
+äußerst korrekte Festkleidung der Herren, die manchen
+Theaterabend im Westen Berlins beschämte. Wilhelm II., der
+als Admiral auf der Kommandobrücke aus einem Wandbild auf
+seine weiland Untertanen niederschaute, konnte mit seinen
+Moabitern zufrieden sein.
+
+Behufs Czardas hatte der Komponist und Regisseur seinen
+Getreuen die nötige Menge Feuer ins Blut gezaubert. Mit
+Fingerschnalzen und Hüftenstemmen wurde er getanzt. Doch
+auch der mondäne taillentastende, herüber und hinüber
+nickende Schieber gelang, vor allem aber der Walzer, von dem
+wir aus einem Liede erfuhren, daß er doch der schönste aller
+Tänze sei.
+
+Und nach der Vorführung hat dann Publikum und Künstlerschaft
+in dem andern Saale weitergetanzt, da, wo die Bilder
+Wilhelms I. und Friedrichs III. hängen. In diese Lust wagte
+ich aber nicht mich zu mischen.
+
+Auf Umwegen unter Ringbahnbögen über Kanalbrücken geriet ich
+in die Gegend, wo die Chausseestraße in die Müllerstraße
+übergeht, und ein Stück dieser endlosen Stadt- und
+Vorstadtstraße hinauf. Da war an jeder Ecke und auch
+zwischendurch auf dem Trottoir Straßenhandel mit den
+verschiedensten Gegenständen. Ein kragenloser junger Bursche
+mit langen scharfen Falten auf fahlen Backen bot
+illustrierte Hefte feil mit Aktphotos. Er rief dazu: ‚Was
+das is? — Sexualetät is das. Und was is Sexualetät? Ganz was
+Natürliches. Wie sieht der Mensch aus? So und nich anders.
+Einer geniert sich immer nur vor dem andern. Sonst würd’s
+jeder kaufen, der kein Sittlichkeitsapostel is . . . Du jeh
+man lieber nach Haus‘, wandte er sich zwischendurch an einen
+Minderjährigen. ‚Für dich is es noch nichts. Mutter sucht
+dir schon mits Motorrad.‘
+
+Ein Stück weiter gleich hinter den Manschettenbuketts und
+den bunten Kinderwindmühlen hatte Einer Stock und Hut auf
+der Erde liegen und stand nachdenklich davor, was allgemeine
+Aufmerksamkeit erregte. Dann zeigte er auf seine Stirn, als
+fiele ihm was ein. Er hob den Stock auf, den ihm ein Junge
+hielt. Er schraubte da was hinein, hing daran Hut, Rock und
+Mantel auf und rief ‚Zehn Fennije der Kleiderschrank‘. Und
+dann hielt er der Versammlung eine Rede, die so schön war,
+daß ich versucht habe, seine Worte in Verse zu bringen:
+
+ | ‚ZEHN FENNIJE DER KLEIDERSCHRANK!‘
+
+ | Ick spüre Ihre stumme Frage:
+ | Wat soll mit dieses Zeug jeschehn?
+ | Sie kommen alle in die Lage,
+ | Wodrin Se mir hier stehen sehn.
+
+ | Im Walde jibt et keene Bänke,
+ | Det Jras macht Rock und Hose jrien,
+ | Im Freibad jibt et keene Schränke,
+ | Wo sollen de Klamotten hin?
+
+ | Da muß der Mensch sich wat ersinnen.
+ | Det hab ick Ihnen mitjebracht,
+ | Sie könn’t an jeden Baum anpinnen,
+ | Sehn Se ma her, wie man et macht.
+
+ | Du Kleener, halt mer ma de Stange.
+ | Sie sehn, da is keen Schwindel mang.
+ | Een Jriff — keen Hammer, keene Zange —
+ | Und fertig is der Kleiderschrank.
+
+ | Se haben weiters keene Spesen,
+ | Die Sachen hängen tadellos.
+ | Und woll’n Se wieder heimwärts peesen,
+ | Een Ruck — schon is de Nadel los.
+
+ | Und daß se Sie nich in de Beene
+ | Und durch den Hosenboden sticht,
+ | Davor is diese liebe Kleene
+ | Ooch noch zum Klappen einjericht’t.
+
+ | Hier, bitte selber zu probieren.
+ | Det rostet nie, bleibt immer blank,
+ | Se können’t mit Papier polieren.
+ | :letterspace:`Zehn Fennije der Kleiderschrank!`
+
+
+Dann stand da Einer in weißem Mantel wie ein Assistent der
+Klinik angetan. War es der, welcher echte Glaserdiamanten
+hatte, oder der mit dem Universalfleckreiniger oder dem
+Continentalkitt? Er hatte Mikrophon und Lautsprecher neben
+sich, weil ihm die eigene Stimme nicht ausreichte. Es
+dröhnte von seinem Tisch her wie der Lärm eines wütenden
+Bauchredners. Auch den alten Wäscheschoner habe ich hier
+wiedergesehen, von dem Hans Ostwald so schön das ‚Boniment‘
+festgehalten hat: »Sämtliche Kapazitäten haben diesen
+Wäscheschoner untersucht und mir Gutachten ausgestellt . . .
+In dieser Zeit, wo doch jeder sauber aussehn muß, ist der
+Wäscheschoner ein Rettungsengel . . . Sie nehmen den weichen
+Stehumlegekragen, schlagen ihn auf, legen den steifen
+Wäscheschoner hinein, schlagen ihn zu. So . . . Wie sitzt
+er? Straff und elegant. Und wenn sonst der Kragen nach
+wenigen Stunden unsauber ist, jetzt können Sie ihn acht Tage
+tragen. Wer solchen Wäscheschoner trägt, wird stets alle
+Mitbewerber aus dem Felde schlagen.« Auch der neueste
+Krawattenhalter tauchte auf. »Ein Griff — und weder die
+genähte Krawatte noch der Selbstbinder kann aus dem Kragen
+rutschen. Der vollendete Krawattenhalter. Wir schonen unsere
+Schlipse!« Und drüben steht der Bücherwagen. Der hat hier
+weniger Käufer als in großbürgerlichen Gegenden. Dafür aber
+doch viel Zuspruch. Einige lesen im Stehen eine ganze
+Zeitlang in den Schmökern und Heften. Und der gute
+Wagenhüter läßt sie ruhig gewähren. Manche kommen alle Tage
+vorbei und lesen immer ein Stückchen weiter. Eine rollende
+Leihbibliothek!
+
+Dort wo das Pflaster aufgerissen ist, haben die Kinder aus
+dem aufgeschütteten Sand Berge mit Tunnels gebaut. Aus den
+Häusern schauen ihnen auf ihre Fensterkissen gelehnt die
+Mütter zu.
+
+Nach Tegel führen schöne Wald- und Wasserwege von Spandau
+her. Aber zur Erkenntnis der merkwürdigen Zwischenwelt, die
+man Weichbild, Bannmeile, ‚wartendes Land‘ nennt, empfiehlt
+sich die Strecke, welche die Trambahn zurücklegt, und ihre
+nähere und weitere Umgebung. In dieser problematischen Zone
+ergibt sich ja selten der sanfte Übergang, der bei Dorf oder
+Kleinstadt Wohn- und Wanderwelt verbindet. Meist schneidet
+plötzlich die Häuserreihe mit blinder Mauer ab. Und was dann
+im Felde umherliegt oder aufragt, macht die Leere nur noch
+leerer: die Schuppen, die Zäune aus Stacheldraht, die
+gestapelten Tonrohre, die Schlöte einzelner Fabriken, Lager
+und Schienenstränge für Warentransport. Aber das Volk von
+Berlin fürchtet und bekämpft instinktiv alles Chaotische,
+Unbestimmte, es versucht, so gut es geht, überall
+aufzuräumen und zu ordnen. Es arbeitet eifrig, alle Leere zu
+füllen. Wo Bauland längere Zeit freisteht, hat es seine
+Schrebergärten, seine Laubenkolonien angelegt, diese rührend
+gepflegten Stätten mit ein bißchen Haus und Acker,
+Gemüsebeet und Blumengarten für jede Familie, woraus dann
+eine blühende Gesamtheit, ein Riesenbeet, ein
+Tausendblumengarten geworden ist. Und obwohl — oder
+vielleicht weil — diese Welt ein nur flüchtiges Dasein hat
+(denn immer wieder bedroht sie die Neuausdehnung der Stadt
+und die Baulust der Unternehmer), so haben doch diese
+Laubhütten und Gärten nichts Provisorisches oder
+Nomadisches, sie sehen wie dauernde Paradiese aus, sind
+proletarische oder kleinbürgerliche Gefilde der Seligen. Die
+hemdsärmeligen Mannsleute, die da säen, Mütter, die gießen,
+Töchter, die Schoten pahlen, scheinen nie etwas andres getan
+zu haben. Ihr Dasein in den Gärten wirkt nicht wie eine
+abendliche oder sonntägliche Erholungsfrist von Leuten, die
+tagsüber das Pedal der Nähmaschine treten, Drähte ziehen und
+Stäbe hämmern, Krane und Turbinen bedienen, Leichtes
+verpacken und Schweres verladen. Sie scheinen lebenslänglich
+unter Kletterrosen und Sonnenblumen nur mit Petersilie,
+Mohrrübe und Bohne zu tun zu haben. Und ihre idyllische
+Arbeit wird nur abgelöst, sollte man denken, von
+Festlichkeiten, zu denen die Nachbarn sich vereinen.
+Anschläge des Pflanzervereins ‚Erholung‘ laden ein zur
+italienischen Nacht, den Kindern wird verheißen ‚Onkel Pelle
+ist zur Stelle‘, die Kolonie Waldesgrün verspricht
+musikalische Abendunterhaltung. Wie hier südlich der
+Müllerstraße gibt es um Berlin unzählige solcher
+Kleingärten, die zusammen einen grünen Streifen rund um die
+Stadt bilden, der einzelne Abzweigungen im Innern behalten
+hat, sich nach außen gürtelhaft zu schließen strebt, immer
+wieder etwas verschoben und stellenweise durchbrochen wird.
+Teile dieses Glückstreifens bleiben manchmal eine Zeitlang
+mitten im Häusermeer zurück und bilden mit den Parks und
+Gartenplätzen das grüne Glück des Großstädters. Von diesen
+Parks sind einige, hier im Nordwesten wie im Norden und
+Süden, an die Peripherie gelegt und helfen die Schrecken des
+Weichbildes verdrängen. Wo einst die kahlen Rehberge waren,
+eine Sandwüste, nur von Schießständen und Schuttablagerungen
+unterbrochen, sind jetzt bis an den Rand des Kiefernwaldes
+weite Rasenflächen, Abhänge voll Mohn und Wildrosengebüsche,
+schneeige Felder von Margueriten. Auf braunem Sand laufen
+Kinder in Badehosen herum, die größeren tummeln sich auf dem
+Sportplatz, die ganz kleinen werden von den Müttern über
+blanken Kies spazieren gefahren, und auf hoher Bank, von der
+man 'weit über Kirchhof und Wasser bis zu den Schornsteinen
+der Siemensstadt und denen hinter Plötzensee sieht, sitzen
+an bienenumsummten Blumenbeeten alte Männer auf ihre Stöcke
+gestützt.
+
+Auch nördlich der Müllerstraße gibts eine hübsche
+Gartenwelt, den Schillerpark. Und wäre ich, statt hier an
+der Trambahnstrecke zu bleiben, südlich tiefer in das weite
+Gebiet der Jungfernheide gedrungen, so hätte ich hinterm
+Spandauer Schiffahrtskanal nach Westend zu wieder einen
+großen Volkspark gefunden. Aber nun fahr ich Tram durch das
+Dorf Wittenau, wo vor Fabriken und Schuppen die
+kleinstädtischen Straßen zurückweichen und sozusagen wieder
+der ‚Ernst des Lebens‘ beginnt. Und auch Tegel fängt, wenn
+man von dieser Seite kommt, recht städtisch an.
+Strafgefängnis, Gaswerk und die große Maschinenfabrik und
+Eisengießerei von Borsig. Das Tor und die Teile des
+Komplexes, an denen wir nahe vorbeifahren, sind schon etwas
+altertümlich. Aber dahinter ragt das neue zwölfstöckige
+Turmhaus, ein schmucklos stolzer, scharfkantiger Belfried
+der Arbeit. Dann endlich kommen wir in Busch- und
+Gartenland. Ich steige aus und gehe in den Park der
+Humboldts. Das Schloß hat ihnen Schinkel aus einem Jagdhaus
+des Großen Kurfürsten umgebaut. Versonnen und vornehm die
+Fensterreihe. In den Nischen Götterstatuen. Und oben
+griechische Inschriften. In einem Zimmer ist Licht. Jetzt
+wird auch ein Fenster der großen Saalreihe hell. Es ist also
+nicht verlorene Vergangenheit, dies edle Gebäude. Menschen
+wohnen darin, für die Statuen und Bilder und vielleicht auch
+noch Möbel des Schlosses Familienbesitz, ‚Überlieferung und
+Gnade‘ sind. Begleitet von der Wärme dieses Lichtes geh ich
+einen Parkweg bis zu der Grabstätte der Humboldts und ihrer
+Nachkommen. Über den efeubedeckten Grabplatten erhebt sich
+eine hohe Säule mit der Marmorstatue der Hoffnung.
+
+Danach mochte ich nicht gleich in die Stadt zurück, ich
+wanderte lange durch tiefe Sandwege zwischen mageren Kiefern
+und Föhren in der Gegend von Saatwinkel. Märkische Mischung
+von Wüste und krüppeligem Urwald. Bis schließlich ein Zaun
+auftauchte und dahinter ein leerstehendes Gartenlokal. Auf
+Mauerwerk verblaßte Inschriften: Allheil, Eingang zum
+Waldschlößchen. Und deutlicher auf einem Lattenschild:
+Continental Bau-A. G. Die Straße führte über den Spandauer
+Kanal und schließlich zu Gebäuden und Trambahnschienen.
+
+Und dann fuhr ich durch Siemensstadt heim, vorbei an den
+Türmen: Blockwerk, Schaltwerkhochhaus und dem Wernerwerk mit
+dem Uhrturm, dessen Zifferblatt weithin die Stunde strahlte.
diff --git a/20-friedrichstadt.rst b/20-friedrichstadt.rst
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+++ b/20-friedrichstadt.rst
@@ -0,0 +1,408 @@
+.. include:: global.rst
+
+FRIEDRICHSTADT
+==============
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`N`\ ovembernachmittag. Silbergraues Licht über dem
+Schiffbauerdamm. Vom gegenüberliegenden Reichstagsufer seh
+ich die Häuserreihe und als Abschluß ein Stück von der Halle
+des Friedrichstraßenbahnhofs, hinter der ferner und näher
+Kuppeln mit rauchdünnen Konturen in die Luft eingehn. Von
+dieser Gegend habe ich in Ebertys Erinnerungen eines alten
+Berliners gelesen, wie sie vor hundert Jahren aussah, als
+der Knabe mit seinem Hauslehrer sich hier erging und auf das
+jenseitige Ufer blickte, das damals ganz mit Gärten bedeckt
+war. Da sah man Laubengänge und Lusthäuschen, teils im
+chinesischen, teils im griechischen Geschmack. Sie
+schimmerten durch die Lücken im Laub und schienen dem
+kleinen Eberty der Inbegriff alles Wunderbaren. Er fragte
+den Lehrer nach den Bewohnern der lieblichen kleinen
+Paläste, und der lehrte in ernstem Ton, da drüben sei der
+Himmel, wo die guten Kinder hinkommen, die auf Erden recht
+artig gewesen sind und ihren Eltern Freude gemacht haben.
+Reizende Engel mit goldenen Flügeln warteten dort auf sie,
+um die schönsten Spiele mit ihnen zu spielen. Ja, damals muß
+da drüben ein schönes Jenseits der Spree gewesen sein. Es
+war die Zeit, als die nahe Dorotheenstraße noch die Letzte
+Straße hieß, in der die Rahel so gern spazierte. Geblieben
+sind aus dieser Zeit wohl nur Schloß und Garten Monbijou und
+ein paar Nachbarhäuser und noch Einzelnes nahe dem
+Hackeschen Markt. Sonst ist die Gegend jetzt alles andre als
+märchenhaft. Aber dort in der Vertiefung geht es noch heute
+zu einem Märchenpalast. Er heißt Großes Schauspielhaus, war
+früher ein Zirkus und ehedem eine Markthalle. Sein Innres,
+einst Stätte steiler Kunstreiter und taumelnder Clowns, dann
+des Thebanerchors, den Reinhardt gegen die Stufen des
+Palastes zum König Ödipus stürmen ließ, faßt jetzt die
+Tausendundeine Nacht und tausendundein Bein der großen
+Revuen. Die Meister dieser herrlichen Kindervorstellungen
+für Erwachsene (und das ist das höchste Lob, das ich
+auszusprechen vermag, denn diese Schöpfungen befriedigen
+sowohl unsre reiferen Lüste als auch unsre Kinderlust an
+Märchenwelten über Traumrampen) haben einen neuen Genre
+geschaffen zwischen Revue und Operette, getanztes zertanztes
+Bild, getanzte zertanzte Musik, bald für den Riesenraum
+hier, bald für die verwandten kleineren Bühnen. Und die
+Besten unsrer darstellenden Künstler haben ihnen geholfen.
+Ich meine nicht die Kammersänger, die mit gepflegtem
+Stimmvibrieren das erfreuliche Tanz- und Ausstattungswesen
+unterbrechen, ich meine Max Pallenberg und Fritzi Massary.
+Wir haben mit schweifenden Balken und Trichtertürmchen
+Titipu, die Märchenstadt des ‚Mikado‘ aufsteigen sehn,
+wallende Lampions, porzellanene Bäume und zwischen Drachen
+und bunten Garden, zwischen Pfauen und Zwergen die Tanzchöre
+in Wachstuch und Seide. Und Pallenberg als Koko
+schlimmheilig und verschmitzt auf Treppen trippelnd,
+porzellanen vor Porzellanbäumen hockend, Reime malmend und
+wegspuckend. Und in den Rahmen der auferstandenen
+Jahrhundertwende, der Schleppen, Korsettaillen und
+Riesenhüte, der Samtvorhänge und Blattpflanzen, des
+wiegenden Walzers und der Maxixe hat die wunderbare Frau ihr
+Chanson eingefügt mit schneidender Strenge und schimmerndem
+Übermut, mit sparsamer Kunst und zitternder Lust, in jeder
+Gebärde gehalten und gelöst.
+
+Ein paar Straßenecken vom Großen Schauspielhaus bekamen wir
+in neuen Reimen das alte Singspiel vom trotzigen Elend, die
+Lumpenballade, genannt ‚Dreigroschenoper‘, gepfiffen und
+gesungen.
+
+Drüben hinter der Weidendammerbrücke probt man jetzt wohl
+für den Abend Musik und Tanz in der Komischen Oper und im
+Admiralspalast. Ebertys Zaubergärten sind in die Kulissen
+gewandert, und am Tage ist hier im Freien keine sehr heitre
+Gegend. Hinterm Schiffbauerdamm beginnt mit großen und
+kleinen Kliniken, wissenschaftlichen Buchhandlungen,
+chirurgischen und orthopädischen Schaufenstern das Quartier
+der Medizin. Aber mittendrin in behütetem Abseits weiß ich
+unser Deutsches Theater und die Kammerspiele. Als ich vor
+einiger Zeit wieder einmal dort war, auf einem
+vortrefflichen Parkettplatz den Bühnengesichtern schminkenah
+saß und berühmte Glanzleistungen in einem amerikanischen
+Artistendrama vor mir hatte, mußte ich in den Pausen, ja
+auch während gespielt wurde, bisweilen verstohlen
+hinaufschauen nach den Mittelplätzen des zweiten Ranges.
+Ach, ihr Gleichaltrigen, wißt ihr noch? Es waren die Plätze
+19 bis 26. Man lief ein paar Tage vor der ersehnten
+Vorstellung früh an die Kasse, um noch die besten Plätze zu
+bekommen. Man saß dicht unter den Medaillons der Devrient
+und Döring an der Decke. Man sah Josef Kainz! — Ungeheuer
+wichtig und zentral war damals in unserm Leben das Theater.
+Warum ist es das nicht mehr? Ist es eine Frage des
+Lebensalters oder hat sich in der Zeit etwas geändert?
+Eigentlich waren die Berliner doch immer große
+Theaterenthusiasten. Wie mögen sie in alter Zeit für die
+Schmeling, die marmorn auf dem Schreibtisch des Königs stand
+und als billige Lithographie in der Stube des Handwerkers
+hing, wie für die Henriette Sontag geschwärmt haben! Nun, im
+Leben der Stadt spielt das Theater auch heut eine große
+Rolle. In der Trambahn und in der Gesellschaft wird viel von
+der Bühne gesprochen. Aber bei allem Anteil an neuen
+Problemen der Regie, der Erneuerung des Alten, der
+revolutionären Tendenzen, ein richtiges Theatervolk wie etwa
+die Wiener sind die Berliner doch nicht. Das hängt nicht nur
+mit dem jetzigen Stande des Schauspielwesens, sondern auch
+mit dem Volkscharakter zusammen.
+
+Die Berliner, und besonders die besseren, womit ich keine
+Stufe der Bildung, sondern einen Grad der Echtheit
+bezeichnen möchte, sind etwas mißtrauisch gegen das, was
+ihnen unmittelbar gefällt. Und so haben sie als Publikum
+nicht die Naivität des schlechthin Genußsüchtigen. Obendrein
+kommen sie auch nicht wie die Pariser behaglich nach dem
+Essen ins Theater mit der Aussicht auf eine angenehme
+Fortsetzung der Konversation bei Tische, sondern hungrig und
+kritisch. Es wird ihnen dann wohl so ziemlich das Beste
+geboten, was es heute an Regie und Schauspielkunst gibt. Der
+Namen sind so viel, daß ich keinen nennen will. Aber schau
+dir das Publikum an! Eine Mischung von Verdrossenheit und
+höflicher Andacht ist in den Gesichtern. Wenn sie dann
+ablehnen, sind sie entrüstet, sie lachen das Verfehlte nicht
+aus, sondern sind ungehalten, daß es ihnen zugemutet wird.
+Und wenn sie sich begeistern, geschieht es auch mit einer
+Art Entrüstung gegen einen imaginären Gegner, der sich nicht
+genug begeistert. Ob sie wohl jemals von Herzen glücklich
+sind im großen Theater? So glücklich wie das Publikum der
+Vorstadtbühnen? So zu Hause im Genuß?
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Dorotheenstraße. Ein Glücksfall öffnet mir die
+Dorotheenstädtische Kirche. Endlich einmal kann ich das
+Grabmal des Königskindes, des neunjährig verstorbenen Grafen
+von der Mark, sehn, Schadows berühmtes Erstlingswerk, den
+schlafenden Jüngling mit Schwert und Kranzgewinden und im
+Halbrund über ihm heidnische Parzen, denen der Tod die
+Christenkirche aufgetan hat. Der Kirche gegenüber steht
+inmitten höherer städtischer Nachbarn Schlüters letzte
+Schöpfung, ein Landhaus, das erst das Buen Retiro eines
+Staatsministers war, seit über hundertfünfzig Jahren aber
+merkwürdigerweise einer Freimaurerloge, der Royal York,
+gehört. Der vorspringende Mittelteil ist wie in sanfter
+Bewegung, die in den Gesten der Figuren auf dem Dach — zwei
+von diesen Statuen regen sich fast wie Tänzerinnen — sich
+leidenschaftlicher fortsetzt. Eine wunderliche Spielerei
+findet sich an einigen Seitenfenstern, nämlich
+steingemeißelte Fenstervorhänge. Zeitgenossen fanden, es sei
+‚ein überaus nettes, nach der neuesten Baukunst errichtetes
+Lusthaus‘. Ein Kunsthistoriker der siebziger Jahre des vorigen
+Jahrhunderts hat den Eindruck, daß die Willkürlichkeiten und
+Spielereien, die ursprünglich der malerischen Wirkung
+dienten, als die halb ländliche Umgebung noch bestand, jetzt
+in der städtischen Straße sich fremdartig ausnähmen. Aber
+ein Kunstrichter unserer Tage, Max Deri, nennt es das
+einzige ‚wirklich »europäisch« schöne historische Gebäude‘,
+das Berlin besitze. Es ist sehr verlockend, in dies
+verwunschene Gartenhaus einzutreten, aber es steht nur den
+Mitgliedern der Loge offen. Und so muß ich mich, was den
+Gartensaal, der sich innen befinden soll, betrifft, mit der
+Beschreibung von Friedrich Nicolai begnügen. Der lobt die
+eleganten Proportionen des Saales und seine schönen
+Deckenstücke: »Über den vier Türen sind die vier Weltteile
+von Schlüter in Gyps vorgestellt. An der Wand stellen vier
+kleine Basreliefs die Wachsamkeit, Weisheit, Vorsicht,
+Verschwiegenheit als die vier Haupttugenden eines Ministers
+vor«. Zu Nicolais Zeit ging der Garten bis an die Spree und
+in ihm war »ein großer Salon von hohen Kastanien und Ulmen
+und ein artig angelegter buschiger Hügel merkwürdig und die
+Aussicht auf die gegenüberliegenden mit Bäumen umpflanzten
+Wiesen ländlich reizend«.
+
+Im entgegengesetzten Teil der Dorotheenstraße hinter
+Bibliothek und Universität weiß ich nah dem kleinen Platz
+mit Hegels Kolossalbüste — diesem sanft dröhnenden Gesicht,
+das unentwegt behauptet, alles Seiende sei vernünftig —
+einige alte Häuser; besonders vertraut ist mir von
+Studententagen her das Seminargebäude, dessen lichte
+altfarbene Wand ein zarter Fries und Reliefs zieren. Aber so
+weit will ich heute nicht, ich lasse auch neben dem Museum
+für Meereskunde die beiden Büstenmänner in der Wand ruhig
+immer wieder den Rübenzucker entdecken und seine Industrie
+begründen. Ich biege an der Wintergartenecke in die
+Friedrichstraße ein. Einen Blick in das Café des
+Zentralhotels, wo um diese Nachmittagszeit oft recht
+merkwürdige Leute sitzen: ausländische Geschäftsmänner,
+einzeln reisende Damen, Familiengruppen aus der Levante,
+Artisten, zweifelhafte Lebemänner, eine rätselaufgebende
+Dämmerversammlung. Da der Wintergarten, Berlins altberühmtes
+Varieté, vor kurzem umgestaltet und festlich neu eröffnet
+worden ist, geziemt es sich seiner Geschichte zu gedenken.
+Zunächst war er, wie sein Name andeutet, nur bestimmt, eine
+Ruhe- und Erholungsstätte der Hotelgäste zu sein. Die Logen
+waren so angelegt, daß man sie bequem aus den Zimmern des
+Hotels erreichen konnte. Von dort sahen die Gäste hinunter
+in die Fülle der Schlinggewächse, Lorbeerbäume, Palmen, in
+Tropfsteinhöhlen und Aquarien, und zwischen alldem erschien
+im Gaslicht der ‚Sonnenbrenner‘ und Kandelaber eine kleine
+Bühne, auf der gelegentlich ein bißchen Singspiel stattfand.
+Dann aber kam die Zeit der beiden Direktoren, deren Namen
+schon sich zu einem so eindringlichen Firmenwort paaren,
+Dorn & Baron. Die Zeit der Loie Fuller, der Barrisons, der
+Otéro, der Cléo de Merode und aller europäischen
+Berühmtheiten des Trapezes und hohen Seils. Der
+Sternenhimmel an der blauen Decke strahlte als nahes Weltall
+der Sensationen über den Berlinern. Es war ‚kolossal‘, was
+hier geboten wurde. Und heute ist es, dem aktuellen
+Superlativ entsprechend, ‚zauberhaft‘.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Friedrichstraße. Das war einmal das Zentrum der berlinischen
+Sündhaftigkeit. Das schmale Trottoir war mit einem Teppich
+aus Licht belegt, auf dem sich die gefährlichen Mädchen wie
+auf Seide bewegten. Der Mode gemäß hatte ihr aufrechter Gang
+etwas Feierliches, das grausam persifliert wurde, wenn sie
+den Mund aufmachten, um sich im städtischen Idiom zu äußern.
+Ihre kastenhafte Abgetrenntheit von der Gesellschaft, der
+sündhafte Glanz ihres falschen Schmucks und echten Elends,
+all die naheliegenden Kontraste, mit denen damals junge
+Phantasie arbeiten konnte beim Anblick dieser schlimmen Feen
+im Federhut der Fürstin, die sie im hohen Rat ihrer
+bornierten Seelsorger aus den heimlichen Häusern auf die
+Straße verbannt hatte, — Bild und Begriff von all dem ist
+nun längst historisch geworden. Und in der heutigen
+Friedrichstraße gespenstert wenig von dieser Vergangenheit.
+Ihr Nachtleben ist ja längst von dem westlichen Boulevard
+überboten. Und was davon noch vorhanden ist, reizt mehr den
+Provinzler als den Berliner Bummler. In einigen Nachtlokalen
+kann die heutige Jugend vielleicht noch ironisch studieren,
+was früheren Generationen Spaß machte. Am Nachmittag aber,
+wenn erst einige der Vergnügungsfassaden erleuchtet sind wie
+jetzt, werden manche Tore und Fenster reizvoll wie
+Theaterkulissen, die hinter der Szene angelehnt stehn. Eine
+besondre Art Reklameliteratur treibt hier ihre Blüten. Von
+Torhütern und Patrouillen werden einem Zettel zugesteckt mit
+Empfehlungen interessanter Lokale, Brennpunkte des
+Nachtlebens werden verheißen, mondän und doch dezent,
+internationale Tanzaufführungen, ja sogar Nacktplastiken zum
+Pilsatorausschank im Originalkünstlerkeller, »Musik des
+Körpers, ästhetische Silhouetten, historische Visionen,
+indische Opfertänze wie auch Frühlingsstimmen und Humoresken
+des ganzen Ensembles, Nacht in Sevilla und das Dumme Herz«.
+Neuerdings haben einige dieser Lokale belehrende Vorträge
+von ‚Sexualethikern‘ in ihren Rahmen aufgenommen, die in
+merkwürdigem Wettbewerb mit den neuesten
+Aufklärungsschriften verschiedne erotische Bemühungen und
+Möglichkeiten rechtfertigen und unsern armen
+eingeschüchterten und verdrängten Instinkten ‚Neuland‘
+erobern. Aber das gibts erst abends. Indessen könnte man
+schon jetzt in dem großen 5-Uhr-Programm ‚die acht
+Pikanterien des bekannten Komikers Sascha Soundso‘ erleben.
+Es empfiehlt sich wohl eher, in eine der kleinen
+Konditoreien einzutreten, wo die, welche abends ihren Anteil
+am Nachtleben zu liefern haben, nachmittäglich verschlafen
+beisammen sitzen und unter ihresgleichen Meinungen über die
+Geschäftslage und das Leben überhaupt austauschen. Da wäre
+viel zu lernen über die Welt und über Berlin. Die Tanztees
+der Friedrichstadt haben auch ihre lehrreichste Stunde,
+bevor der Betrieb losgeht, wenn im Dämmer nah bei den noch
+eingehüllten Instrumenten die Ballettdame einen Imbiß
+einnimmt und sich dabei mit der Garderobefrau oder dem
+Kellner unterhält. Als tapferer Forscher sollte man
+eigentlich vormittags hier in gewisse Lokale der
+Nebenstraßen gehn, wenn die Nixengrotte aufgewaschen wird!
+Erstaunlich müßten um diese Zeit auch die Museen der
+Bauernschänken sein, falls sie noch bestehn, der Totenkopf
+Gottfrieds von Bouillon als dreijähriger Knabe und
+dergleichen . . . ‚Weißes Meer‘ leuchtet eine Inschrift auf
+dem Schürzenbauch eines dicken Pförtners mit einer Kochmütze
+auf dem Kopf. Er lädt in ein bekanntes Lokal ein, wo
+Weißbier ausgeschänkt wird. Das ist jetzt wohl schon eine
+Spezialität. Früher beherrschte die Weiße mit oder ohne
+Schuß (Himbeersaft) den Berliner Durst. In stilleren Straßen
+der Altstadt findet man noch einige der echten alten
+Weißbierstuben. Da sitzt man an blanken Holztischen vor der
+breiten Trinkschale und unter den Bildern des alten Kaisers
+und des Kronprinzen von dazumal und Bismarcks, Roons und
+Moltkes. Aber hier in der Friedrichstadt sind diese Stuben
+und Keller seit einem halben Jahrhundert verdrängt durch die
+Bierpaläste und -kathedralen, die jetzt ihrerseits
+historische Ehrwürdigkeit bekommen. Als neue
+Sehenswürdigkeiten beschreibt sie Laforgue. Türme und
+Türmchen dieser *curiosités architecturales* fallen ihm auf
+und er weiß von einer Magistratsverfügung, die verbieten
+mußte, daß noch höher getürmt wurde, sonst wären am Ende die
+Berliner Biertürme babylonisch in den Himmel gewachsen. Er
+ergötzt sich an den alfresco-Bemalungen außen und innen.
+»Der Stil dieser Etablissements, schreibt er, ist, was man
+deutsche Renaissance nennt. Sie haben Holzverkleidung an
+Decke und Wand, auch die Pfeiler sind bemalt und rings um
+den Saal läuft eine Etagere, wo aller Art Bierbehälter
+aufgereiht stehn, aus Porzellan, Steingut, Metall und Glas
+aller Epochen«. Wie lang sich dieses Kolossal-Nürnberg noch
+halten wird gegen das eilig laufende Band der
+Lichtreklameflächen, das jetzt die Fassaden von Berlin glatt
+und gleichmachend erobert, das weiß ich nicht. Historisch
+ist es jedenfalls schon jetzt wie seine Zeitgenossin, die
+nach dem Vorbild der Pariser Passagen erbaute Kaisergalerie.
+In die kann ich nicht ohne einen leisen Moderschauer
+eintreten, nicht ohne die Traumangst, keinen Ausgang zu
+finden.
+
+Kaum bin ich an dem Schuhputzer und dem Zeitungsstand unterm
+hohen Eingangsbogen vorüber, so beginnt eine gelinde
+Verwirrung. Täglichen Tanz verspricht mir ein Glasfenster
+und jenen Meyer, ohne den keine Feier ist. Aber wo soll der
+Eingang sein? Da kommt neben dem Damenfriseur wieder nur
+eine Auslage: Briefmarken und die seltsam benannten
+Utensilien der Sammler: Klebefälze mit garantiert
+säurefreiem Gummi und Zähnungsschlüssel aus Zelluloid.
+‚Aufgepaßt! Wolljacken!‘ herrscht eine Aufschrift aus dem
+nächsten Glaskasten mich an, aber das zugehörige Geschäft
+liegt ganz wo anders. Ich habe mich umgedreht und dabei fast
+an den Bilderautomaten gestoßen, vor dem ein armer einzelner
+Schuljunge, die Mappe unterm Arm, steht und sich kümmerlich
+in die ‚Szene im Schlafzimmer‘ vertieft.
+
+So viel Schaufenster ringsum und so wenig Menschen. Man
+fühlt die Bierhausrenaissance dieser hohen Wölbungen mit den
+bräunlichen Konturen immer mehr veralten; die Gläser dieser
+Galerie verdüstert Staub der Zeiten, der nicht wegzuwischen
+ist. Die Auslagen sind noch ziemlich dieselben wie vor
+zwanzig Jahren. Nippes, Reiseandenken, Perlen, Täschchen,
+Thermometer, Gummiwaren, Marken, Stempel. Neu hinzugekommen
+ist nur das Telefunkenhaus mit der überzeugenden Aufschrift:
+‚Ein Griff — und Europa spielt für Sie.‘ Beim Optiker kann
+man den ganzen Fabrikations-Werdegang einer Brille wie den
+von der Raupe zum Schmetterling in Etappen auf belehrendem
+Blatt studieren. ‚Des Menschen Entwicklung‘ winkt herüber
+aus dem anatomischen Museum. Aber vor dem graut mir noch zu
+sehr. Ich verweile bei ‚Mignon, dem Entzücken aller Welt‘,
+einer Taschenlampe, in deren Licht ein junges Paar sein
+Glück spiegelt, bei den Manschettenknöpfen Knipp-Knapp, die
+sicher die besten sind, bei den Dianaluftflinten, die gewiß
+der Jagdgöttin Ehre machen. Ich erschrecke vor Totenköpfen,
+die als grimmige Likörgläser eines weißbeinernen Services
+grinsen. Auf der Toilettenrolle ‚mit Musik‘ ruht das
+clownige Jockeigesicht des handgemachten Holznußknackers.
+Milchflaschen warten auf die Mitglieder des ‚Vereins
+ehemaliger Säuglinge‘ voll Likör! Wenn diese schon rauchen
+sollten, finden sie ‚Gesundheitsspitzen‘ in verwirrender
+Nähe der Gummipuppen, die neben hygienischen Schlupfern über
+der Inschrift: ‚Bedienung diskret und ungeniert‘ thronen.
+Ich will noch bei den tröstlich gelben Bernsteinspitzen des
+*‚first and oldest amber-store in Germany‘* verweilen, aber
+immer wieder schielt die anatomische Schöne des Museums
+herüber. Unter ihrem nackten Fleisch scheint das Skelett
+durch wie ein Marterkorsett. Im Leeren schwimmend umgeben
+sie ihre gemalten Organe, Herz, Leber, Lunge . . . Von ihr
+wende ich mich zu dem weißbekutteten Arzt, der sich über die
+Bauchhöhle einer schlummernden oder schon ausgenommenen
+Blondine beugt. Schnell fort, ehe ich den Ersatz der Nase
+aus der Armhaut erleben muß. Dann schon lieber den Buch- und
+Papierladen mit den Heften über Sinnlichkeit und Seele und
+die Liebesrechte des Weibes, dem kleinen Salonmagier und dem
+vollendeten Kartenkünstler, von dem Dinge zu lernen sind,
+mit denen man sich in jeder Gesellschaft beliebt macht.
+
+Die Galerie biegt in weitem Winkel, Stühle, Tische und
+Palmenkübel eines Restaurants erscheinen, das sich als
+*strictly kosher* bezeichnet. Im Gegensatz dazu scheint
+*strictly treife* das Kabinett des Porträtmalers su sein, zu
+dem ein teppichbelegter Eingang führt. Und hinten kann man
+ihn selbst sehn, ihn selbst im Vollbart, wie er den
+Reichspräsidenten abmalt. Hindenburg sitzt im Salon, ihm zu
+Füßen liegt sein Hund, und zwischen ihm und dem Maler ist
+das Bild, auf dem er noch einmal abgemalt ist, allerdings
+ohne Hund; und wie er sitzt und wie der Maler steht, sind
+sie — es ist verwirrend — auch nur gemalt, nicht anders als
+die Vergrößerungen nach Photographien rings umher. Hier kann
+man nämlich aus jeder Photographie ein Bild machen lassen.
+Von hundert Mark an, in Lebensgröße! Verstorbene werden nach
+den verblichensten Photographien porträtiert. Keine
+zeitraubenden Sitzungen. Viele Atteste hochstehender
+Persönlichkeiten. In einem gedruckten Schreiben wendet sich
+der Hofmaler an uns Passanten und erklärt, er habe sich im
+Gegensatz zu den modernen Porträtmalern, die eine solche
+Verwirrung des Geschmacks gefördert haben, Goethes (!)
+Auffassung ‚Kunst und Natur sei eines nur‘ zur Richtschnur
+gemacht. Ein junges Mädchen und eine Matrone aus der Provinz
+bleiben vor seinen vielen Schönen mit Hund und Wintergarten,
+seinen Ordensbrüsten und Würdenbärten stehn. Um ihre
+Bewunderung nicht zu stören, wende ich mich ein paar Fenster
+weiter zur Konkurrenz, den ‚Originalgemälden akademisch
+gebildeter Künstler zu konkurrenzlosen Preisen‘. Von
+Originalherbsten und -frühlingen wandert das Auge über
+Rothenburgs Mauern zu der bekannten Blinden im Kornfeld und
+der beliebten verkauften Sklavin. Dabei hat man mich aber
+beobachtet. ‚Das könn’ Se bei uns direkt haben‘, sagts neben
+mir und ich sehe in das Gesicht eines kleinen Alten mit
+schütterem Bart. Er zwinkert ins Nebenfenster, wo sich
+originalradierte unvollständig bekleidete Mädchen mit ihren
+Strumpf- und Achselbändern beschäftigen. Meine Kenntnisse zu
+erweitern, hätte ich mich mit ihm in ein Gespräch einlassen
+sollen. Aber mir grauts zu sehr hier unter falsch
+spiegelnden Lichtern und streifenden Schatten. Ich lasse ihn
+hinüberschleichen zu den verdächtigen Burschen mit den süßen
+Schlipsen, denen er Tricks mit einem Taschenspiegel zeigt.
+
+Leer ist die ganze Mitte der Galerie. Rasch eile ich dem
+Ausgang zu und spüre gespenstisch gedrängte Menschenmassen
+vergangener Tage, die alle Wände entlang mit lüsternen
+Blicken an Similischmuck, Wäsche, Photos und lockender
+Lektüre früherer Basare hängen. Bei den Fenstern des großen
+Reisebüros am Ausgang atme ich auf: Straße, Freiheit,
+Gegenwart!
diff --git a/21-doenhoffplatz.rst b/21-doenhoffplatz.rst
new file mode 100644
index 0000000..25c30df
--- /dev/null
+++ b/21-doenhoffplatz.rst
@@ -0,0 +1,204 @@
+.. include:: global.rst
+
+DÖNHOFFPLATZ
+============
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`I`\ ch stand zu Füßen einer der Riesendamen aus
+Stein, die den Eingang zum Warenhause Tietz in der
+Leipzigerstraße bewachen. In der Hand hatte ich ein neu
+erbeutetes Büchlein, Gustav Langenscheidt, Naturgeschichte
+des Berliners, Berlin 1878. Wie ein Kleinstädter, der sich
+in der stillsten Straße seiner Heimatstadt ergeht, blätterte
+ich mitten im Weltstadtverkehr, häufig gestoßen und
+angefahren, in diesem lehrreichen Buch, kam gleich an ein
+herrliches Zitat aus ‚Schattenriß von Berlin, 1788‘ und las
+angesichts des spiegelglatten Asphalts und in strahlender
+Beleuchtung:
+
+»So breit und schön die Straßen auch dem ersten Anblick nach
+sind, so weiß doch der Fußgänger zuweilen nicht, wie er sich
+für schnell fahrenden Wagen, für Koth und Gossen hüten soll.
+Der eigentliche Gang für Fußgänger sollte, so wie in allen
+übrigen polizierten Städten längs den Häusern hingehen,
+allein dieses hat man durch die hohen Auffarthen vor den
+Häusern fast unmöglich gemacht. Der Fußgänger wird alle
+Augenblick aufgehalten und ist gezwungen, über die Gossen
+weg auf den sogenannten Damm zu schreiten. Nirgends ist
+diese Unbequemlichkeit sichtbarer als in der Leipziger
+Straße, einer der schönsten von ganz Berlin (hier ist
+vermutlich die Alte Leipziger Straße gemeint hinterm
+Hausvogteiplatz bei Raules Hof, aber ich will diesen Text
+angesichts der neuen Leipzigerstraße genießen). Außerdem
+sind vor den Häusern auch hohe steinerne Treppen angebracht.
+In der Mitten der Straßen oder auf dem Damme ist es bei
+schlechter Witterung außerordentlich kothig und im
+Steinpflaster selbst gibt es unzählige Löcher, welche theils
+von dem sandigen Boden, theils von der unverantwortlichen
+Nachlässigkeit der Steinsetzer und ihrer Aufpasser herrührt.
+Die übermäßig großen Steine, die zwischen eine Menge kleiner
+und spitzer Kieselsteine gelegt sind, verursachen, daß man
+alle Augenblick Gefahr läuft anzustoßen und zu Boden zu
+stürzen. Die Gossen sind zwar, wie es sich gehört, an beiden
+Seiten des Dammes angelegt, jedoch so, daß sie dem Fußgänger
+eine neue und gefährliche Fallbrücke werden. Ein Theil
+dieser tiefen Gossen ist nur eben vor den Hausthüren mit
+Brettern überlegt. Sobald man also des Abends längs der
+Häuser weggehet, stößt man alle zehn bis fünfzehn Schritte
+an eine steinerne Treppe oder Auffarth, die noch wohl zu
+größerer Gefahr mit einer kleinen Rönne umgeben ist; gehet
+man auf den Brettern, womit die Gossen bedeckt sind,
+herzhaft fort, so stürzt man, ehe man es sich versiehet, mit
+einem Male drei bis vier Fuß tief in die Gosse hinunter;
+gehet man aber in der Mitte des Dammes, so weiß man bei der
+geschwinden Annäherung eines oder gar mehrerer Wagen nicht,
+wo man sich hinwenden soll, denn an den Gossen liegen hohe
+und schlammigte Dreckhaufen; über sie hinüberzuspringen, ist
+gefährlich, weil sie abschüssig und tief sind; dennoch muß
+man auf das gerathewohl einen Entschluß fassen, um nicht von
+den Wagen überfahren zu werden. Die eingebohrenen Berliner
+sind an diese Unbequemlichkeiten gewöhnt, kennen auch die
+Seitenwege besser als der Fremde, der dergleichen
+Fallbrücken garnicht vermuthet. Es steckt selbst etwas
+menschenfeindliches in einer solchen Anlage der Straßen,
+weil man dabei bloß auf die Reichen, die in Kutschen fahren,
+gedacht zu haben scheint. Man spreche ja nicht von der
+nächtlichen Erleuchtung, denn die ist bis hierher herzlich
+elend gewesen, ohnerachtet Laternen genug brennen. Letztere
+sind so beschaffen und gesezt, daß sie nur eine Art von
+hellem Schatten verbreiten, der zu nichts hilft.«
+
+Ich finde es sehr amüsant, sich vorzustellen, wie dieser
+kritische Beobachter unserer guten Stadt verdrossen von
+Stein zu Stein hüpfte und scheele Seitenblicke auf die
+‚Eingebohrenen‘ warf, die kennerisch Seitenwege fanden . . .
+Wie es noch in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit
+der Beleuchtung bestellt war, lesen wir bei Eberty. Da
+»wiegten sich in weiten Zwischenräumen vereinzelte Öllampen
+in der Mitte von eisernen Ketten, die über die Straßen
+gespannt waren und im Winde ein melancholisches Gequieke
+hören ließen und so spärliches Licht verbreiteten, daß die
+meisten Leute abends mit der Laterne in der Hand gingen oder
+sich solche vorantragen ließen . . . Männer, deren Kleidung
+von Fett triefte, reinigten die Lampen . . .« Und an das
+Pflaster der vierziger Jahre erinnert sich der alte Ludwig
+Pietsch und berichtet, wie sehr man, um vorwärts zu kommen,
+auf das damals einzige öffentliche Verkehrsmittel angewiesen
+war, »die heute noch in ihrer altehrwürdigen Gestalt
+unverändert gebliebene Droschke zweiter Klasse«. An die
+letzten Vertreter dieser Gattung Fuhrwerke mit ihren roten
+und gelben Rädern, den windschiefen bunten Kasten, des
+Kutschers struppigen Bart und blauen Pelerinenmantel können
+die älteren von uns sich noch gut erinnern.
+
+Da zu meiner Rechten liegt der weite Dönhoffplatz überflutet
+von Trambahnen, Autos und Menschenmassen und nun, da ich in
+die alten Zeiten geraten bin, stell ich ihn mir vor, als er
+noch eine Esplanade vor dem alten Leipziger Tor war, und
+dann als Exerzier- und Paradeplatz des Regiments, das der
+General Dönhoff befehligte. Wo jetzt die schönen
+Gontardschen Kolonnaden den Platz nach dem Spittelmarkt zu
+abschließen, war der Festungsgraben mit der Spitalbrücke.
+Friedrich der Große ließ sie errichten und die vielen Buden
+und Scharren wegräumen, die oft Verbrechern Unterschlupf
+gewährten. Er ließ auch den Dönhoffplatz mit stattlichen
+Gebäuden umgeben. Von diesen stand noch bis zur letzten
+Jahrhundertwende das Palais, in dem einst der Staatskanzler
+von Hardenberg wohnte und das später preußisches
+Abgeordnetenhaus wurde. 1904 hat es einem modernen
+Geschäftshaus Platz gemacht. An des Kanzlers Zeit erinnert
+nur noch sein Denkmal, das an der Südseite des Platzes dem
+Standbild des Freiherrn vom Stein feindlich den Rücken
+kehrt, der trotzig auf die Trambahnen der Leipzigerstraße
+schaut. Auch Jahrmarkt ist der Dönhoffplatz gewesen und
+stand voller Buden. Und ehe das Steindenkmal errichtet
+wurde, erhob sich in der Mitte ein Obelisk, der als
+Meilenzeiger den Weg nach Potsdam maß. Vor dem war ein
+großes Brunnenbecken mit einem wasserspeienden Löwen, den
+die Berliner die Wasserkatze nannten. Sie reimten:
+
+ | Wenn die wilde Katze
+ | Auf dem Dönhoffplatze
+ | Wasser speit,
+ | Ist der Frühling
+ | Von Berlin nicht weit.
+
+Um die Wasserkatze und das Becken spielten die
+Straßenjungen, und die Mägde saßen mit den kleinen Kindern
+auf den Stufen und dem Beckenrand, strickten und schwatzten,
+wie man es auf alten Zeichnungen sehen kann.
+
+Aber genug von der alten Zeit. Ich gehe über den Damm, komme
+vor den Eingang des Theaters und will sehn, was es heute
+gibt. Die Stettiner Sänger! Wieder etwas Altehrwürdiges.
+Aber weil es noch besteht, gehe ich hinein.
+
+Die Blüten auf der Wand des Treppenaufgangs, wann mögen die
+wohl gemalt sein? Sie haben so etwas wie gedämpften
+Jugendstil. Die hohen roten Pfeiler, die den Saal tragen,
+und der verblichne Prunk der Decke deuten auf eine noch
+weiter zurückliegende Glanzzeit. Nach der Form einiger
+Ampeln und Kandelaber zu schließen, müssen es die Tage des
+Gaslichts gewesen sein. Ja, damals war hier das Varieté par
+excellence und es kamen sogar Mitglieder der höchsten
+Hofgesellschaft zu Besuch. Ein großer Glaskasten nah dem
+Büfett hütet eine zweite Vergangenheit. Darin sind wächsern
+die beiden Ur-Komiker aufgehoben, der lange dürre und der
+kleine dicke, beide in bunter Uniform, weißen Gardehosen,
+den hohen Tschako auf dem Kopf. Von den Zeiten dieser Sänger
+ist bis auf den heutigen Tag eine geheiligte Gewohnheit
+bestehn geblieben: die ausschließliche Männlichkeit der
+auftretenden Künstler. Selbst zuletzt in dem Theaterstück
+werden die weiblichen Rollen, sowohl die Frau
+Amtsgerichtsrat als auch das Dienstmädchen, von Mannsleuten
+gespielt, genau wie auf dem altgriechischen und
+altenglischen Theater.
+
+Wichtig ist diese Stätte aber vor allem als späte Blüte des
+deutschen Männergesangs. Das Quartett würdiger Herren im
+Frack bildet den Grundstock der Vorstellung, und was an
+humoristischen Couplets und einzelnen Charakterszenen
+zwischendurch laut wird, ist nur Intermezzo. Sie können
+übrigens auch heiter sein, diese Würdigen. Dann necken sie
+einander und uns mit Potpourriüberraschungen, bei denen nur
+der verständige Mann am Bechsteinflügel ernst bleibt. Aber
+ganz andächtig wird das Publikum, Familienväter und -mütter
+und all unsre Ernas und Almas, die beim Abwaschen selbst so
+schön über den Hof singen, wenn die Vier a cappella anheben
+von der Liebe, die nur im Herzen wohnt und still wie die
+Nacht und tief wie das Meer ist oder sein sollte. Regungslos
+stehn die Sänger, die Notenhefte vor der Brust. Nur die
+Köpfe drehen sich manchmal ein wenig zueinander, wenn Tenor
+dem Baß und Baß dem Bariton den Einsatz von Augen und Lippen
+abliest.
+
+Nach solchen rein musikalischen Genüssen möchte man nun auch
+etwas Augenweide haben. Dafür sorgen ‚auf allgemeines
+Verlangen‘ die Traumbilder. Das sind lebende Volkslieder,
+gesungen und dargestellt vor einem äußerst felsig gerahmten
+Bühnenbild. Da verbergen und enthüllen wolkige Gazeschleier
+allerlei altdeutsche Landschaft und Situation, darinnen ein
+Kostümierter wandelt und, teils allein, teils von seinen
+Gefährten beechot, ‚In einem kühlen Grunde‘ und ‚Im Wald und
+auf der Heide‘ singt. Von Strophe zu Strophe, ja manchmal
+von einer Zeile zur andern, wechseln die Bilder: Muß am
+Brunnen vor dem Tore dem Liebenden der Hut vom Kopfe
+fliegen, so erhebt sich im Handumdrehn der dazugehörige
+Sturm und verdüstert die Landschaft. Eben noch samtröckiger
+Scholar mit Wanderbauch, wird in dem nächsten Verse der
+fahrende Gesell grasgrüner Jägersmann oder Großmütterchen im
+Winterstübchen. Hier habe ich endlich erlebt, wie der Müller
+aussieht, dessen Lust das Wandern ist. Das ist kein weißer
+Mehlknappe, sondern ein eilfertiger junger Mann in einer Art
+grauem Sweater mit einem Barchentbündel unterm Arm. Im
+Schlußbild aber werden nach all dem Rebensaft und
+Waldesrauschen unser aller Gefühle zusammengefaßt in einer
+von wehenden Flammen umspülten Riesenleier, über die sich
+ein Zettel herabsenkt mit der Aufschrift: ‚Gott erhalte das
+deutsche Lied!‘
+
+Und während wir klatschen, greifen die Künstler zu
+plötzlichen Posaunen und Trompeten und blasen uns einen
+Abschiedsmarsch!
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+.. include:: global.rst
+
+ZEITUNGSVIERTEL
+===============
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`I`\ n der südlicheren Friedrichstadt stehen ein
+paar großmächtige Häuser, alte Festungen des Geistes,
+umgebaut und ausgebaut, einladend mit breiten
+Fensterflächen, drohend mit Steinbalustraden, verlockend und
+abwehrend, schöne gefährliche Häuser. Sie gehören
+sagenhaften Königen und Königsfamilien, die Ullstein, Mosse
+und Scherl heißen. Als unsre letzte kleine Revolution
+ausbrach, wurden mit den andern Königen eine Zeitlang auch
+die Zeitungskönige aus ihren Schlössern vertrieben. Da
+standen in den Schloßhöfen auf Biwakfeuern Kochtöpfe mit
+Speckerbsen, auf den Dächern wurde geschossen und durch die
+Redaktionsräume polterten genagelte Kriegerstiefel. Aber
+viel schneller als andre Monarchen sind die Zeitungskönige
+zurückgekehrt. In ihren Höfen stehn wieder ihre Streitwagen
+mit Papiermunition, und durch die Redaktionsräume schlupfen
+ihre Hofdamen, leichtfüßige Sekretärinnen und
+Schreibmaschinenfräulein.
+
+Die Schloßtore sind gastlich offen. Wir mit unsern Anliegen
+und Manuskripten werden freundlich hereingelassen von
+stattlichen Pförtnern. Flinke Lifts fahren uns hinauf in die
+oberen Etagen. Und da ist dann der Anmelderaum mit vielen
+kleinen Boys. Die kennen schon so manchen von uns, obwohl
+wir nicht zum Hause gehören. Ach, wir wollen ja nicht in die
+ernsthaften Bereiche, wo Politik, Handel und das Lokale
+gemacht wird. Wir gehören unter den Strich und in die
+Unterhaltungsbeilagen. Auf einen Zettel schreiben wir, wen
+von den Gewaltigen im Schlosse wir zu sehen begehren. Mit
+dem Zettel entschwebt ein Ephebe. Und dann sitzen wir am
+langen Tisch oder auf der Wandbank. Wir sehen einander in
+Gesichter, die wir schon kennen, oft ohne zu wissen, wem sie
+gehören. Viele Frauen sind darunter, manche etwas schüchtern
+und bekümmert, das sind die, welche die kecken mondänen
+Plaudereien schreiben. Wir sehn auf das Fangnetz neben der
+Tür, in das aus langer Röhre runde Kapseln fallen. Sie sehen
+aus, wie ich mir päpstliche Bullen denke. Da sind gewiß
+wichtige Telegramme drin oder sonst Geheimnisse, wichtiger
+als unsre ‚reizenden kleinen Sachen‘. Haben wir eine Weile
+geduldig gesessen, so kommt der Knabe und bringt Botschaft:
+der Gewaltige ist nicht im Hause oder er ist in einer
+Konferenz. Man soll doch morgen früh anrufen. (‚Rufe mich an
+in der Not‘.) Zu besonders Hilfsbedürftigen kommt eine
+freundliche Hofdame hergeschwebt aus dem unnahbaren Bereich,
+die versteht, Hoffnung zu nähren und Begierden
+hintanzuhalten. Oft nimmt sie auch aus den zittrigen
+Autorenfingern das Manuskript, zu dem man doch gar zu gern
+dem Gewaltigen etwas gesagt hätte: Man könnte mehr
+dergleichen machen, wenn es das Rechte sei; er würde einem
+vielleicht sagen, was etwa anders sein müsse. Man wollte
+ihn, wenn er ein paar Minuten Zeit hätte, unterhalten über
+eine Serie, die man im Sinn habe . . . Ach, nun ist man
+schon froh, daß der Engel einem das Papier abnimmt und
+verheißt, es möglichst nahezulegen. Manchmal aber wirst du
+wahrhaftig in das Zimmer des Gewaltigen geholt. Lange Gänge
+läufst du hinter dem wegsicheren Knaben her, der unterwegs
+mit Vorüberkommenden seinesgleichen Späße und Neuigkeiten
+austauscht und sich von Zeit zu Zeit umsieht, ob du
+Nachtaumelnder noch lebst. Glücklich angelangt, findest du
+den Ersehnten meist von andern Großen des Reichs umgeben. In
+leichtem und sicherem Ton reden sie miteinander. Da sitzest
+du nun und fassest kaum Mut, in Gegenwart dieser
+Geistverteiler deine kleine Sache vorzubringen. Man ist sehr
+freundlich zu dir. Man wird schnell dein Geschriebenes
+prüfen. So bald wird es allerdings wohl kaum unterzubringen
+sein. Es liegt so viel vor. Und das Aktuelle muß natürlich
+vorgehn. Daß sie unaktuell sind, das ist ja gerade der Reiz
+deiner kleinen Schöpfungen. Aber, nicht wahr? für das
+Ewig-Menschliche, das fraglos das Wertvollere ist, bleibt
+immer Zeit, das veraltet nicht. Nun fassest du dir ein Herz
+und bringst vor, du würdest dich gern einmal ins Gebiet des
+Aktuellen wagen, wenn dir von seiten der Zeitung ein
+Hinweis, eine Anregung käme. Ja, mit Anregungen ist das so
+eine Sache, Zeitungen bekommen selber gern Anregungen. Man
+hofft, du wirst vielleicht ein andres Mal einige geben . . .
+Und dann gehn wir wieder fort aus dem Schloß, Männlein und
+Weiblein; und wenn wir Glück haben, finden wir in vier
+Wochen unser wackres Erzeugnis in gehörige Kürze geschrumpft
+im Blatte. Verwandte lesen es ausführlich und sagen uns ihre
+Meinung. Und sogar einigen Leuten vom Fach fällt Name und
+Überschrift als Tatsache auf.
+
+Ist man erst selbst einmal wieder gedruckt, so nimmt man
+auch mehr Anteil an anderm Gedruckten und bleibt bei den
+Buchauslagen und bei den Bücherwagen stehn. An solch einem
+Karren traf ich jüngst in eifrigem Gespräch mit dem Besitzer
+meinen Buchhändler, den kleinen schwarzen Doctor medicinae,
+der in dem merkwürdigen Bücherheim an der Brücke waltet.
+Meinen Buchhändler nenn ich ihn, weil er mir meinen geringen
+Bedarf an Literatur auf Kredit überläßt, mir obendrein
+erzählt, was alles in den Büchern steht, die ich nicht
+kaufe, und gern zusieht, wenn ich in den schönen Bänden
+blättere, die ich bestimmt nicht erwerben werde. Nehmen ihn
+nicht zuviel ernsthafte Kunden in Anspruch, setzt er sich
+manchmal mit mir in das Hinterstübchen seines Ladens und
+erzählt mir von Bücherschicksalen und vom Buchhandel. Das
+ist nicht gerade zeitgemäß. Aus Buchläden oder ihren
+Nebenräumen Stätten der Konversation und Geselligkeit zu
+machen, war wohl früher einigen vom Metier möglich und lieb,
+zuletzt noch dem verstorbenen Edmund Meyer, an dessen
+Gespräche und Getränke mancher Büchermacher und Bücherfreund
+sich erinnert. Im heutigen hastigen Berlin gibt es so etwas
+kaum noch. Wohl ist in vielen Läden die Schranke gefallen,
+die Käufer und Verkäufer trennte, und man kann
+herumspazieren, stehn und sitzen wie im Bücherzimmer eines
+Freundes, wohl nennen sich nach dem bekannten Münchner
+Vorbild auch bei uns viele Buchhandlungen Bücherstube,
+Bücherkabinett und dergleichen (es hat sogar einmal eine
+Bücherbar gegeben, in der zwei wohlbekannte Prominente die
+Mixer spielten), aber das rechte beschauliche Verweilen läßt
+in diesen hübschen Räumen die ‚neue Sachlichkeit‘ nicht zu.
+Sehr zum Bedauern derjenigen Buchhändler, die selbst
+Bücherfreunde sind. Sie hätten gern Gäste in ihrem Laden,
+die nicht bloß abgefertigt werden wollen. Sie beneiden ihre
+Pariser Kollegen, die in meist schlechter ausgestatteten
+Räumen sich einer geselligen Atmosphäre erfreuen, ohne daß
+ihr Geschäft darunter leidet: es soll sogar in Amerika, dem
+wir doch sonst die bewußte Sachlichkeit gern nachmachen,
+eine Art Buchladengeselligkeit geben. Nun, wenn der Berliner
+noch mehr Großstädter und dementsprechend gelassener
+geworden sein wird, wenn er sich nicht mehr etwas darauf
+zugute tun wird, daß er ‚zu nichts kommt‘, dann wird man
+auch wieder im Zimmer des Buchhändlers richtig zu Gaste
+sein. Die vielgerühmte Tüchtigkeit des Berliner Sortiments
+wird darunter nicht leiden, die Tüchtigkeit, in der ihm
+weder Paris noch sonst eine Weltstadt den Rang abläuft. Der
+Berliner Buchhändler ist sehr unterrichtet und verschafft
+einem jedes nur irgend erreichbare Buch. Darin tun es die
+Jungen den Alten gleich, sie sind ja aufgewachsen in der
+Tradition und studieren jeden Morgen eifrig das
+vaterländische Börsenblatt. Die Tradition knüpft sich an die
+Namen der großen Firmen aus dem achtzehnten Jahrhundert,
+Nicolai und Gsellius, denen in der ersten Hälfte des
+neunzehnten Asher und Spaeth folgen.
+
+‚Gibt es eigentlich Originale unter den Buchhändlern?‘
+fragte ich einmal, als mir der Doktor zu gründlich und
+sachlich wurde. Er dachte nach, lächelte etwas verschmitzt,
+nannte aber keinen Namen. »Nein, was man so Originale
+nennt,« sagte er dann, »das gibt es allenfalls unter den
+Antiquaren. Wohl dem, dem es vergönnt ist, eine
+Plauderstunde, etwa von Musikgeschichte und Bibliographie
+ausgehend, mit Martin Breslauer zu erleben, dem letzten
+Gelehrten, der noch richtige Vatermörder trägt. Wir
+Sortimenter, wir können es uns nicht leisten, Originale zu
+sein. Wir haben zu harten Kampf ums Dasein, gerade wie unsre
+guten Freunde, die Verleger!«
+
+‚Konkurrenz untereinander?‘
+
+»Das weniger, aber zum Beispiel mit dem Warenhaus. Doch das
+ist ein langes Kapitel, da müßte ich Ihnen einen Vortrag
+halten über den Begriff Ramsch und seine Nuancen. Und über
+die Konflikte zwischen moderner objektiver Organisation und
+dem immer wieder Persönlichen, das die Behandlung geistiger
+Werte erfordert.«
+
+‚Nun und hier, diese Karren, die Bücherwagen, ist das nicht
+eine schlimme Konkurrenz?‘
+
+»Oh nein. Mit denen hat es eine besondre Bewandtnis.
+Zunächst sind es oft sehr merkwürdige Leute, die solche
+Karren schieben, schieben lassen oder auch von einem
+Pferdchen ziehen lassen. Das sind keine Krämer. Wunderliche
+Existenzen sind darunter. Alte Schauspieler, verarmte
+Gelehrte, dann Fanatiker bestimmter Gesinnungen, denen oft
+ihr Verkaufsinteresse hinter dem Anteil an ihrer ‚Sache‘
+zurücksteht. Sie sind vielartig und gemischt wie ihr
+Publikum. Sie sehn ja an solch einem Wagen den Chauffeur
+neben dem Bibliophilen, das neugierige Geschäftsmädchen
+neben dem eifrigen Werkstudenten stehn. Diese Karren dienen
+in einem bestimmten Sinn unserm Interesse. Sie bringen das
+Buch näher an den Menschen heran, als es ein Schaufenster
+vermag. Und da die Verkehrspolizei uns nicht erlaubt, unsere
+Ware, wie es in glücklicheren Ländern geschieht, auf die
+Straße zu legen, so müssen wir den Bücherwagen dankbar sein,
+daß sie auf Umwegen den Kunden in unsere Läden locken. Sie
+werben besser für uns, als es die rühmlichen Bemühungen für
+den ‚Tag des Buches‘ können.«
+
+‚Eigentlich sollten die Schriftsteller sich selbst mit ihrer
+Ware in redlicher Selbstreklame an den Straßenecken
+aufpflanzen und ausrufen: Hier noch zehn Stück
+Selbstgedichtetes, damit es alle wird!‘
+
+»Auch Derartiges hat man versucht«, sagte der Doktor, er
+fand es gar nicht komisch, und dann wandte er sich wieder
+seinem zigeunerischen Kollegen zu, um ernsthaft über Bücher
+zu reden.
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+.. include:: global.rst
+
+SÜDWESTEN
+=========
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`I`\ m Südwesten sind Wilmersdorf und Schöneberg
+mit Berlin und Charlottenburg völlig verwachsen‘, lehrt
+Baedeker. Darum wollen wir nicht die genauen Grenzen suchen,
+sondern hinterm Bülow-Bogen die Potsdamerstraße hinauf
+unversehens in die Vorstadt gelangen.
+
+Erste Station: Der Sportpalast.
+
+Wer das Volk von Berlin im Fieber sehn will, versäume nicht,
+einen Teil der 144 Stunden zu erleben, in denen auf schräger
+Holzbahn die Fahrer des Sechstagerennens ihre Runden durch
+die Riesenhalle machen. Im Mittelraum und in den Logen wird
+er Gesellschaft sehn, ‚Köpfe,‘ Prominente, schöne Schultern
+in Zobel und Fuchs, Will er aber unter den wahren Kennern
+sitzen, unter denen, deren Anteil am unmittelbarsten und
+berlinischsten ist, muß er sich unter die Sweater und
+Windjacken auf der Galerie mischen. Da wird keine wichtige
+Wertung oder Überrundung unbeachtet gelassen, da wird
+strengste Kritik geübt und am heftigsten geklatscht. Ist
+gerade ‚nichts los‘, wird Karten gespielt. Dann wieder
+hallen und zischen die Vornamen der anzufeuernden Lieblinge,
+welche man hier oben kennt, ohne sich an Zahl und
+Trikotfarbe des sausenden Rückens orientieren zu müssen,
+durch den Dunst. Hier findest du auch einen gutmütigen
+Nachbarn, der dich über die Phasen des Kampfes, Jagden,
+Ablösungen, Strafrunden, Spurt belehrt und dir die Bedeutung
+der Lampensignale: grün = Wertung, blau = Prämie, rot =
+Neutralisation, erklärt. Gern sagt der Berliner dir
+Bescheid, so wunderlich ihm auch einer vorkommt, der von
+diesen wichtigsten Dingen nichts weiß, die er selbst schon
+als kleiner Junge gelernt hat.
+
+Wenn dann aber eine bemerkenswerte Nuance oder neue wichtige
+Etappe der geregelten Raserei da unten deutlich wird, wendet
+er sich von dir weg, ist ganz Auge und Ohr, beschimpft und
+bejubelt den oder die, auf die er mit seinen Kumpanen oder
+im eignen Herzen mit dem Schicksal gewettet hat. Er vergißt
+dich, die Freunde, Beruf und Liebe, Lust und Verdruß. Von
+den beiden großen Bedürfnissen des römischen Volkes, panis
+et circenses, beherrschen ihn nur noch die circenses.
+Londoner und Pariser in Sweater und Halstuch sind gewiß auch
+große Sportkenner und -enthusiasten, aber sie haben ältere
+Erfahrungen teils im Sport, teils in Weltstadtfreude
+überhaupt. Hier aber sitzest du neben dem jüngsten
+Großstädter. Der ist noch unblasiert, wenn er sich auch
+gelassen stellt mit seinem ‚Selbstredend‘ und ‚Kommt nich in
+Frage‘ (der neuen Form für das ältere ‚Ausjeschlossen‘). Er
+fiebert im Massenrausch. Er fährt wie aus tiefem Traum, wenn
+der Gongschlag den Beginn einer neuen Stunde verkündet.
+Einen Augenblick verläßt sein Blick die Spur seines Fahrers
+und streift den Apparat, der die geleisteten Kilometer
+anzeigt. Im Paroxysmus kannst du ihn sehn bei plötzlichen
+Jagden oder in der letzten Nacht, wenn sein Feuer noch
+geschürt wird durch die Zählapparate am Ziel, welche die
+noch zu fahrenden Minuten angeben.
+
+Doch auch in seinen gelinderen Momenten ist er unterhaltend.
+Da spielt zum Beispiel die Kapelle statt seiner
+Lieblingsmelodien irgend ein mondänes Stück, das ihn
+langweilt. Gleich geht’s los: »Wo bleibt denn der
+Sportpalastwalzer? Ihr Fettjemachten, ihr Volljefressnen!
+Andre Kapelle! Halt’t Schnauze mit eurem ‚Ich küsse Ihren .
+. . Madame‘.« Und als dann die Kapelle den gewünschten
+Walzer spielt, pfeifen die da oben mit durch die Finger und
+machen noch besondre Fiorituren um die Melodie herum.
+Dazwischen stößt die heisere Stimme des Kellners: ‚Wer
+wünscht noch Bier, Brause?‘ Ein witziger Zeitungsausrufer
+reimt: ‚Die Mottenpost, die bloß’n Jroschen kost’t.‘ Späte
+Nachzügler werden begrüßt: »Jetz kommt det Kind von der Post
+. . . Na, du oller Hundertfünfunsiebziger, wo hast de denn
+so lange jesteckt? Mensch, hast wohl zu lange jefastet,
+siehst ja aus wie ’ne Spiritusleiche.«
+
+Ein Schreck zuckt durch die Fladen des Rauchs, die Büschel
+der Scheinwerfer: es ist ein Fahrer gestürzt. Ist der Sturz
+schwer? Man weiß noch nicht. Die andern kreisen weiter. Man
+schleppt den blutenden in seine Koje am Innenbord der Bahn.
+Vielleicht kann schon der Masseur ihm helfen, und er braucht
+nicht zur Arztstation. Die seidnen Damen am nächsten
+Sekttisch beugen sich einen Augenblick über die Brüstung zu
+ihm. Dann wird er vergessen.
+
+So ist der Sportpalast in einer der oft und fachmännischer
+erzählten großen Nächte. Eine eigene Schönheit hat er
+während des Sechstagerennens auch in manchen stilleren
+Nachmittagstunden, wenn milchig blaues Tageslicht in die
+Bretterbahn fällt, auf der die Räder leise surren, und gelbe
+und blaue Reklameplakate bestrahlt. Das gibt dem hölzernen
+Raum eine Wärme und Dichtigkeit, wie sie sonst unser Berlin
+nur selten hat.
+
+Sport ist international und kennt keine politischen
+Parteien. Aber sein Palast hier steht auch der politischen
+Leidenschaft offen. Große Kundgebung der Nationalsozialisten
+wird angekündigt. Die Hallen füllen sich. Vor den Toren
+patrouilliert die Polizei, denn man rechnet mit
+Gegendemonstrationen der ‚Roten‘ draußen. Und vom
+Aneinandervorbei bis zum Prügeln ist der Weg nicht weiter
+als bei den Montecchi und Capuletti der vom ‚Eselbohren‘ bis
+zum Blankziehen. Mit einmal heißt es, die Kommunisten
+versuchen den Palast zu stürmen. Die Polizei bekommt
+Verstärkung. Gummiknüppel werden geschwungen. Wer angefangen
+hat, ist schwer festzustellen. Wenn sie nicht ihre Abzeichen
+trügen, Orden der Reaktion oder Revolution, sie wären kaum
+zu unterscheiden, die kecken Berliner Jungen aus beiden
+Lagern. Mitunter lauern auch draußen die vom Stahlhelm,
+während drinnen die Roten tagen. Dann ist der Saal mit
+breiten roten Spruchbändern behangen. Ordner müssen die
+Treppengänge immer wieder frei machen. Stühle werden
+hergeschleppt und nachgerückt im überfüllten Saal. Von den
+Schwalbennestern oben bis an die Türen unten ist alles voll.
+Gefügig drückt sich die Menge beiseite, wenn mit Musik die
+Rotfront einzieht. Kriegerisch ist die Musik, welche die
+Genossen begeistert, wie einst die, bei der sie Kameraden
+waren. Ganz junge Burschen ziehn beckenschlagend voran,
+Pfeifer folgen ihnen im Gleichschritt. Die geballte Faust
+der Männer, die offne Hand der Knaben grüßt die Fahnen.
+
+All das nimmt der Sportpalast mit einer Art riesenhafter
+Gutmütigkeit in seine runden Weiten. Mit unparteiischem Echo
+dröhnen seine Wände ‚Hakenkreuz am Stahlhelm‘ und ‚Auf zum
+letzten Gefechte‘ wieder wie die Zurufe der Sportfreunde. Es
+ist ja alles Überschwang derselben ungebrochnen Lebenslust.
+
+Zweite Station: Der Heinrich von Kleist-Park.
+
+Der hat einen besonderen Schmuck bekommen durch Gontards
+Königskolonnaden, die ehedem in der Gegend des heutigen
+Bahnhofs Alexanderplatz standen. Hier sind sie noch nicht
+ganz zu Hause, nicht so ins Stadtgefüge eingetan wie die
+Kolonnaden desselben Meisters am Ende der Leipziger Straße,
+deren Rundung in eine platzartige Erweiterung mitten in
+lauteste Geschäftsgegend ruhevolle Vergangenheit bannt. (Es
+ist, als könne man durch die Tore und Türen, welche sich
+hinter den Säulen öffnen, geradewegs in die Zimmer
+vergangener Zeiten dringen.) Die nach dem Kleistpark
+versetzten Kolonnaden müßten in diesem Parkrahmen Ruine sein
+oder wenigstens stärker verwittern. Man sollte wenigstens
+für Vogelnester sorgen . . . Immerhin erfreuen wir uns an
+den gemeißelten Gewinden um die Schneckenkapitelle der
+Säulen und an den Reliefs darunter, die wie Buchvignetten
+wirken. Unter den Statuen ist ein rundliches Nymphenmädchen,
+das bei all seiner Rokoko-Antike im Ausdruck etwas von einer
+Berliner ‚Nutte‘ hat. Das muß also wohl älter sein als der
+Begriff. Parkeinwärts zielt eine Bogenschützin so stilvoll
+wie möglich über den Mummelteich auf die kleine Restflora
+vom ehemaligen Botanischen Garten, der hier war, bevor er
+hinter Steglitz verlegt wurde. Was zwischen Steinchen
+gepflegt blüht, dem dürfen die Kinder sich nicht nähern, sie
+müssen auf den Sandplätzen bleiben oder ihre Roller auf die
+breiteren Wege lenken. Am glücklichsten unter den Kleinen
+sind vielleicht die, denen die herrlichen Sandschutthaufen
+drüben am Plankenzaun bei den freigelegten
+Wasserleitungsröhren als Rutschbahn dienen. Von den
+Erwachsnen interessiert uns am meisten die Gruppe
+Kartenspieler auf der Bank unterm Busch. Ich glaube, es sind
+Arbeitslose, wie wir sie im Friedrichshain gesehen haben.
+Sie vergessen für ein paar Stunden ihren Jammer. Angespannt
+sehen sie auf die Karten in der Hand dessen, der mischt, wie
+Rembrandts Mediziner auf den Leichnam unterm Messer des
+lehrenden Arztes in der Anatomie. Ein Gelähmter hat seinen
+Wagen an die Partie auf der Bank hingerollt und kiebitzt
+hingebungsvoll.
+
+Und nun hinein ins eigentliche Schöneberg. Da ist eine
+Hauptstraße, wo es alles gibt: zwiebelig getürmte Häuser mit
+Aufgängen nur für Herrschaften. Läden mit Duettbrennern und
+Proviantdosen mit verstellbarem Abteil und ähnlich praktisch
+heißendem Bedarf. Wir wollen nicht verweilen. Diese Gegend
+macht ungewöhnlich traurig. Dann lieber über den Kaiser
+Wilhelmsplatz — wie soll er auch sonst heißen? — ins
+sozusagen offiziell traurige Viertel von Schöneberg gehn,
+die ‚Insel‘, wie die Einwohner es nennen: Straßen, die den
+Schienensträngen der Ringbahn benachbart sind. Dort kann man
+morgens und abends zwischen den beiden Bahnhöfen Schöneberg
+und Großgörschenstraße, die nicht miteinander verbunden
+sind, eiliges armes Volk durch den ‚polnischen Korridor‘
+laufen sehen. Hinter den traurigen Fassaden ahnt man die
+sonnenlosen Hinterhöfe, die ‚Rasenanlage‘, in der die Kinder
+nicht graben dürfen, Müllkästen und das ungewollte Duett
+eines Radiolautsprechers im Fenster und einer Drehorgel
+unten, keifende Nachbarinnen und die dünne Stimme des
+Bettelsängers. Das rotverhangene Gestell dort an der Ecke
+der absteigenden Nebenstraße, welches ein Werbebüro der KPD
+birgt, kann hier auf guten Zuspruch rechnen . . . Von
+Tempelhof kommt einen bergigen Weg den Bahnübergang her die
+Tram zwischen Güterbahnhof und Müllabfuhrschuppen gefahren.
+Sie bringt uns schnell ans andere Ende von Schöneberg, an
+die tiefe Mulde des Stadtparks. In dem könnte man im Notfall
+das Lied vom verliebten ‚Schöneberg im Monat Mai‘
+lokalisieren, was in den übrigen Teilen dieses Orts mit dem
+verheißungsvollen Namen kaum möglich ist.
+
+Nördlich vom Stadtpark liegt das rühmlich bekannte
+‚Bayrische Viertel‘. Wieviel davon man zu Berlin, zu
+Schöneberg oder zu Wilmersdorf rechnen soll, weiß ich nicht.
+Es ist nicht so rechtwinkelig und geradlinig angelegt wie
+Berlin W. Und statt uns darüber zu freuen, fluchen wir
+Undankbaren, daß wir uns in all diesem Heilbronn,
+Regensburg, Landshut und Aschaffenburg immer wieder
+verirren. Uns kann man’s nie recht machen. Auch die allerlei
+Brunnen- und Baumanlagen nehmen wir, ohne sie recht zu
+beachten, hin. In einigen Winkeln stoßen wir auf Versuche,
+altdeutsche Stadt nachzumachen, die rührend scheitern. Man
+muß nicht allzu streng mit dem Bayrischen Viertel sein. Als
+es gebaut wurde, gab es noch nicht unser gleich- und
+alleinseligmachendes Laufband.
+
+Durch Wilmersdorf und Friedenau führt die lange Kaiserallee,
+umgeben von Wohnvierteln, die sich aus alten Dörfern und
+Villenkolonien gebildet haben. Von Friedenau wird behauptet,
+daß es, wie auch gewisse Teile von Steglitz und
+Lichterfelde, Zufluchtstätte vieler ehemaliger königlicher
+Beamter und rentenlos gewordener Rentner alten Schlages sei.
+Gestalten mit chronisch entrüstetem Gesichtsausdruck über
+Bärten, die etwas Pensioniertes, etwas von Restbestand
+haben, sollen Geheimräte und Kanzleisekretäre sein; es
+begleiten sie Gattinnen, die oft richtige Federn auf dem Hut
+haben, wie in entschwundenen Zeiten die Damen von Welt es
+hatten. Diese würdigen Matronen wohnen in freundlichen etwas
+unmodernen Gartenhäusern. Man sollte glauben, daß sie in
+ihrem traulichen Heim lieblicher werden müßten, als sie es
+sind. Nun, wir wollen für ihre Kinder hoffen . . .
+
+Wo die Kaiserallee in die Schloßstraße mündet, fängt
+Steglitz an. Es beginnt hochmodern mit einem stolz ragenden
+Filmpalast, an dessen Flanken in strahlenden Röhren das
+Licht flutet, in dessen Innerm strenge Linien und kühne
+Wölbungen Zuschauer- und Bühnenraum umschweifen. Aber
+weiterhin ist das gute Steglitz eine der älteren
+berlinischen Kleinstädte und viele Häuser der Seitenstraßen,
+die zum Stadtpark führen, sind geblieben wie zur Zeit der
+Jahrhundertwende, da man hier Schul- und Studienfreunde
+besuchte, die Sonderlinge waren und zur bessern Erkenntnis
+der Weltstadt die kontrastierende Stille des abgelegenen
+Vororts brauchten. Das älteste hier ist wohl das
+Schloßrestaurant mit dem Theater, ein Gebäude, das bald nach
+1800 von Gilly als Landhaus errichtet worden ist.
+
+Mit der Wannseebahn erreichen wir als nächste Station den
+Botanischen Garten, eine wunderbare Schöpfung von
+Wissenschaft und Geschmack. Da kann man durch die Flora der
+hohen Gebirge in winzigen Alpen und Kordilleren spazieren
+gehn. Die ganzen Karpathen sind in einer halben Minute
+durchstreift. Vom Mittelmeer ist es nicht weit zum Himalaya.
+Hinterm Palmenhaus aber steigt als heimischer Hügel der
+Dahlemer Fichtenberg an. Straßen und Plätze bei dem Garten
+haben hübsche Namen, einen Begonienplatz gibt es, einen
+Asternplatz und eine Malvenstraße.
+
+Schön gelegen wie die botanischen und
+pflanzenphysiologischen Museen am Gartenrand sind auch die
+wissenschaftlichen Institute im nahen Dahlem. Da hat die
+strenge Wissenschaft lauter licht und munter gebaute
+sommerliche Heime der Biologie, Entomologie, Völkerkunde,
+Chemie. Die landwirtschaftliche Hochschule wohnt breit und
+bequem in einer Art Gutshof. Sogar das Geheime Preußische
+Staatsarchiv, das hier haust, hat ländlich frische Farbe und
+ein lustig rotes Dach. Und selbst die Untergrundbahnhöfe in
+und bei Dahlem besitzen sommerliche Anmut. Dieser Vorort ist
+eine der Gegenden, wo die Berliner der kommenden Zeit
+wohnen, ein Menschenschlag, bei dem die Abgehetztheit der
+Väter, die ‚zu nichts kamen‘, weil sie zuviel zu tun hatten,
+in eine freie heitere Beweglichkeit sich umzuwandeln
+scheint. Nun, wir wollen mit Bestimmtheit nichts behaupten,
+aber immerhin hoffen.
+
+Vielleicht haben wir Glück und es begegnet uns eine der
+jungen Dahlemer Berlinerinnen. Sie läßt ihr Auto hier vor
+dem hübschen Café an der Station parken und geht mit uns zu
+Fuß waldeinwärts bis zur Krummen Lanke und dann
+wasserentlang nach Onkel Toms Hütte oder zum alten
+Jagdschloß Grunewald, das einst Kaspar Theyß für den
+Kurfürsten Joachim erbaut hat. Dort machen wir eine Weile
+vor dem kuriosen Steinrelief halt, das drei Personen um
+einen Tisch stehend versammelt, in der Mitte den Fürsten als
+Wirt oder Kellermeister mit aufgekrempelten Ärmeln und
+stattlichem Embonpoint, neben ihm den höfisch gekleideten
+Baumeister, dem sein Gebieter den Humpen kredenzt, während
+die dritte Gestalt einen Krug mit weiterem Trank bereit
+hält. Wir rätseln an den witzigen Versen, die in altem
+Deutsch darunterstehn. Bald aber haben wir genug von alter
+Zeit und sanftem Spazieren, und die gastliche Dahlemerin
+fährt uns im Eiltempo zur neuen Siedlung an der
+Riemeisterstraße, zu alten Lichterfelder Villenstraßen und
+nach Zehlendorf, wo wieder mitten im Neuen und Neueren die
+achteckige Dorfkirche mit dem spitzigen Dach für einen
+Augenblick fesselt, die aus den Zeiten des Großen Friedrich
+stammt. Dann geht es durch Schlachtensee und Nikolassee zum
+Wannsee. Unsern Tee nehmen wir in einem etwas abgelegenen
+Haus am See. Eine kleine Kapelle lockt zu ein wenig Tanz.
+Unsre Begleiterin kann uns an lebenden Beispielen über den
+Anteil des besten Berlin an den neuen Sommermoden belehren.
+Aber auch mit den Segelbooten weiß sie Bescheid. Sie kennt
+den Besitzer der hübschen Jacht, weiß, wem der eifrige Motor
+gehört. Vielleicht haben wir noch Zeit, an den Stölpchensee
+zu fahren und von der Terrasse auf die Paddelboote zu
+schauen, auf die jungen zartkräftigen Knie der Mädchen, die
+tief im Boot liegen, während der Gefährte oder die Gefährtin
+lenkt. Im Vorbeifahren sehn wir bei Schildhorn Volk vom
+Autobus hergebracht, das hier freibadet, Ball spielt und
+Hunde tummelt. Rührend ist das Stückchen dünenzarter Sand am
+Rande des Waldhangs, durch den Stolperwege zwischen
+Kaninchenlöchern führen.
+
+Vielleicht ist unsre Begleiterin Mitglied des Golfklubs und
+nimmt uns, wenn wir es verdienen, mit zu der schönsten
+Sportstätte. Sie zu beschreiben zitiere ich Worte des
+Dichters dieses lebendigsten, gegenwärtigsten Berlin, die
+Worte Wilhelm Speyers in seiner ‚Charlott etwas verrückt‘:
+»Unter den neuen Sportstätten im jungen Leben Berlins war
+keine schöner geworden als der zwischen Wannsee und Potsdam
+gelegene Golfplatz. Rasenflächen und Fichtenwälder mit
+vereinzelten seitwärts gelegenen Bungalos fielen in sanfter
+märkischer Schräge zu einem kleinen See oder zu neuen
+Wäldern und neuen Rasenflächen hinab. Stand man oben auf der
+Terrasse des Klubhauses, so wurden die über weite Räume
+verteilten Spieler und ihre buntbekleideten Caddies in der
+klaren, trockenen und reinen Luft der Mark vor dem Blickfeld
+des Betrachtenden eng zusammengezogen, als seien sie mit
+ihrem erhobenen oder gesenkten Spielgerät kostbar gebildete,
+in schwierigen Verkürzungen dargestellte Figuren eines
+japanischen Holzschnittes. Begleitet nur von den
+bags-tragenden Knaben, doch abgesondert von den andern
+Spielern, hatte der Spielende etwas in seiner Haltung von
+dem frommen, auf sich gestellten Eifer eines Eremiten der
+Thebais.« Von solchen Gestalten nennt uns unsre Protektorin
+einige bei Namen, während wir auf der schönen Gartenterrasse
+sitzen, und so lernen wir Berliner Gesellschaft kennen,
+dieses schwer darzustellende Gebilde, zu dessen Formung
+soviel verschiedene merkwürdige Ehrgeize beigetragen haben,
+daß die zugleich freieste und konventionellste Sozietät
+entstand. Man muß sich sehr zusammennehmen, um sich so gehen
+zu lassen, wie es den großen Berlinern gefällt. Durch unsre
+Athene (Athene ist Schutzgöttin der jungen Berlinerinnen
+mehr als Diana oder Venus, glaub' ich), durch diese unsre
+Athene werden wir auch den kennenlernen, der uns mitnimmt
+zum Polo in die Gartenstadt Frohnau, zum Trabrennen nach
+Mariendorf und auf die Rennbahn Grunewald usw.
+
+Nach alldem wird Athene uns, um ihre Güte vollzumachen, auch
+noch heimfahren, und zwar über die Avus, die berühmte
+Automobil-Verkehrs-und-Übungsstraße. Dort lernen wir, da wir
+in diesem Artikel noch nicht so erfahren sind wie hier jeder
+Junge von zehn Jahren, die verschiedenen berühmten
+Automobilmarken im Vorbeifahren unterscheiden, und von
+manchen wie jenem großen Hispano, diesem eleganten Buick,
+dem schlanken ganz roten, dem kleinen ganz weißen Wagen,
+nennt Athene den Besitzer oder die Dame am Steuer, während
+die kleinen Bäume hinter dem Zaun und die Reklameschilder am
+Straßenrand schräg in unsre rasche Fahrt sinken. Langsamer
+gleiten wir dann durchs nördliche Tor, und hinterm Funkturm
+geht es noch einmal mit achtzig oder mehr Kilometer die
+breite Straße auf den Tiergarten zu.
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new file mode 100644
index 0000000..ca0b198
--- /dev/null
+++ b/24-nachwort.rst
@@ -0,0 +1,114 @@
+.. include:: global.rst
+
+NACHWORT AN DIE BERLINER
+========================
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initialit:`D`\ *as waren ein paar schüchterne Versuche, in
+Berlin spazieren zu gehen, rund herum und mitten durch, und
+nun, liebe Mitbürger, haltet mir nicht vor, was ich alles
+Wichtiges und Bemerkenswertes übersehen habe, sondern geht
+selbst so wie ich ohne Ziel auf die kleinen
+Entdeckungsreisen des Zufalls. Ihr habt keine Zeit? Dahinter
+steckt ein falscher Ehrgeiz, ihr Fleißigen.*
+
+*Gebt der Stadt ein bißchen ab von eurer Liebe zur
+Landschaft! Von dieser Landschaft habe ich hier nichts
+gesagt, habe die Grenzen der Stadt nur flüchtig mit ein paar
+Worten überschritten. Sie ist ja schon viel beschrieben und
+gemalt, die merkwürdige Gegend, in der unsere Stadt wohnt,
+die märkische Landschaft, die bis auf den heutigen Tag etwas
+Vorgeschichtliches behalten hat. Sobald die Sonntagsgäste
+sie verlassen haben, sind Kiefernwald, Luch und Sand wie vor
+der Zeit der ersten Siedler, besonders im Osten. Im Westen
+aber haben wir ein Stück Landschaft, an der Menschenhand
+mitgeschaffen hat. Das ist die Gegend, die Georg Hermann in
+seinem ‚Spaziergang in Potsdam‘ eine Enklave des Südens
+nennt. Wie in dies Neuland des achtzehnten Jahrhunderts
+Stadt- und Parkbild sich einfügt, müßt ihr in dem kleinen
+Büchlein nachlesen. Und dann laßt euch von ihm auf den Platz
+beim Stadtschloß führen, den ‚losgelösten Architekturtraum‘,
+und zu Knobelsdorffs Kolonnaden im Schloßgarten, den
+Riesensäulen mit zart durchbrochener Balustrade, und in die
+Schlösser, Hecken und Teppichbeete von Sanssouci. Er lehrt
+das Persönliche der königlichen Schöpfung verstehn, die Art,
+wie Friedrich ‚die Stadt im Gesamtbild abstimmte, als hätte
+er sie innerlich stets als Ganzes vor Augen gehabt‘. An der
+Hand dieses Führers wandert ihr dann auch gut durch die
+Straßen der Stadt mit ihren glücklichen Durchblicken und
+Abschlüssen, lebt mit all den Vasen, Girlanden, Flöten und
+Leiern, Waffen und Sphinxen der Bauplastik, die ‚selbst im
+Kietz, wo die Fischer wohnen, Amoretten auf der Dachkrönung
+Netze flicken‘ läßt. Hermann unterscheidet die verschiedenen
+Typen von Häusern, Puttenhäuser, Vasenhäuser, Urnen-,
+Masken-, Medaillen-, Zopf- und Wedgwoodhäuser und ihre
+Mischformen, beschreibt uns eine alte Straße, die ‚eine
+zwitschernde Voliere all dieser Typen‘ ist, und treibt,
+wohin er uns führt, ganz gelinde im Weitergehen, was er
+selbst ‚peripatetische Stilkunde‘ nennt.*
+
+*Ins weitere und nähere Havelland leitet uns Fontane. Bei ihm
+lesen wir zum Beispiel die Geschichte der alten und den
+Anblick der späteren Pfaueninsel nach. Und was wir dort an
+Blumenmustern der Tapeten, Bettschirmen und Möbeln von der
+Welt der Königin Luise spüren, führt uns nach Paretz zu
+ähnlichen Mustern, zu hängenden und tropfenden Bäumen auf
+der Wandbespannung, zu Kommoden und Diwanen, in denen so
+viel von der Atmosphäre dieser Frau und ihrer Welt geblieben
+ist.*
+
+*Diese vollendeten Potsdamer Schönheiten zu lieben, fällt
+nicht schwer, wir aber müssen die Schönheit von Berlin
+lieben lernen. Zum Schluß müßte ich nun eigentlich auch
+einige ‚Bildungserlebnisse‘ beichten und gestehn, aus
+welchen Büchern ich lerne, was nicht einfach mit Augen zu
+sehen ist, und manches, was ich sah, besser zu sehen lerne.
+So eine saubere kleine Bibliographie am Ende, das gäbe
+meinem Buch ein wenig von der Würde, die ihm mangelt. Ach,
+aber auch in den Bibliotheken und Sammlungen bin ich mehr
+auf Abenteuer des Zufalls ausgegangen als auf rechtschaffne
+Wissenschaft, und zu solchem Kreuz und Quer durch die Welt
+der Bücher möchte ich auch die andern verführen.*
+
+*Einer der großen Kenner der Geschichte, Kultur- und
+Kunstgeschichte Berlins (ihre Namen finden sich im Baedeker
+unter dem Abschnitt Literatur) sollte einmal eine
+Beschreibung der Stadt aus lauter alten Beschreibungen
+zusammenstellen und alle Denkmäler von den näheren
+Zeitgenossen ihres Entstehens darstellen lassen: über das
+Grabdenkmal des Staatsministers Johann Andreas Kraut in der
+Nicolaikirche müßte der Rektor Küster vom Friedrich
+Werderschen Gymnasium zu Worte kommen, über das Opernhaus
+müßte aus Carl Burneys, der Musik Doctors, Tagebuch seiner
+Musikalischen Reisen zitiert werden, über Schinkel müßte
+einer von denen reden, die ihn den Königl. Geh. Oberbaurat
+titulieren usw. Das gäbe einen hübschen bibliographischen
+Spaziergang durch Berlin und würde uns immer neue
+Vergangenheiten der Stadt bildhaft nahebringen und im noch
+Sichtbaren Verschwundenes genießen lehren.*
+
+*Bisher wurde Berlin vielleicht wirklich nicht genug geliebt,
+wie ein großer Freund der Stadt, der Bürgermeister Reicke,
+einmal geklagt hat. Noch fühlt man in vielen Teilen Berlins,
+sie sind nicht genug angesehn worden, um wirklich sichtbar
+zu sein. Wir Berliner müssen unsere Stadt noch viel mehr —
+bewohnen. Es ist gar nicht so leicht, das Ansehen sowohl wie
+das Bewohnen bei einer Stadt, die immerzu unterwegs, immer
+im Begriff ist, anders zu werden und nie in ihrem Gestern
+ausruht. In seinem geistvollen, aber hoffentlich doch zu
+pessimistischen Buch ‚Berlin, ein Stadtschicksal‘, klagt
+Karl Scheffler, Berlin sei heute noch wie vor Jahrhunderten
+recht eigentlich eine Kolonistenstadt, vorgeschoben in leere
+Steppe. Darum keine Tradition, daher soviel Ungeduld und
+Unruhe. Der Zukunft zittert die Stadt entgegen. Wie sollte
+man da den Bewohnern zumuten, liebevoll in der Gegenwart zu
+verweilen und die freundliche Rolle der Staffage im Bilde
+der Stadt zu übernehmen?*
+
+*Wir wollen es uns zumuten, wir wollen ein wenig Müßiggang
+und Genuß lernen und das Ding Berlin in seinem Neben- und
+Durcheinander von Kostbarem und Garstigem, Solidem und
+Unechtem, Komischem und Respektablem so lange anschauen,
+liebgewinnen und schön finden, bis es schön ist.*
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new file mode 100644
index 0000000..df7d9ef
--- /dev/null
+++ b/README.md
@@ -0,0 +1,17 @@
+Franz Hessel - Spazieren in Berlin
+==================================
+
+Das git-Repository enthält die Quelldateien im Format reStructuredText. Sie bilden die Grundlage für die Ausgabe von [Spazieren in Berlin](https://in-transit.cc/buecher/franz-hessel-spazieren-in-berlin) als EPUB, HTML und PDF.
+
+Eine Kopie des Repositorys kann mittels git gezogen werden:
+````
+git clone git://in-transit.cc/franz-hessel-spazieren-in-berlin
+````
+
+Download Links für zip- oder tar-Archive stehen auf der [commit-Seite](https://in-transit.cc/cgit/franz-hessel-spazieren-in-berlin/commit/) zur Verfügung.
+
+Aus den Quellen des Repositorys können verschiedene Formate mittels [Docutils](https://docutils.sourceforge.io/) oder, wie hier, mit [Sphinx](https://www.sphinx-doc.org/) generiert werden.
+
+Grundlage des Textes sind Scans des Erstauflage von 1929, die von der [Universität Greifswald](http://digitale-bibliothek-mv.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:gbv:9-g-5263172) zur
+Verfügung gestellt werden. Auf dieser Basis wurde eine OCR-Fassung erstellt, die mit der Vorlage abgeglichen und in einer zweiten Korrektur-Schleife mit der parallel angebotenen [Textfassung der Universität](https://www.digitale-bibliothek-mv.de/viewer/api/v1/records/PPN181790468X/plaintext.zip) abgeglichen wurde.
+
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index 0000000..e05bc0c
--- /dev/null
+++ b/anhang.rst
@@ -0,0 +1,3 @@
+Anhang
+======
+
diff --git a/global.rst b/global.rst
new file mode 100644
index 0000000..5090f4f
--- /dev/null
+++ b/global.rst
@@ -0,0 +1,23 @@
+.. meta::
+ :description lang=de: Franz Hessels »Spazieren in Berlin« nach der Erstausgabe von 1929.
+ :keywords lang=de: Prosa, Berlin, Zwanziger Jahre, Weimarer Republik, flanieren
+ :description lang=en: The text of the first edition (1929) of Franz Hessel's »Spazieren in Berlin« (Strolling in Berlin)
+ :keywords lang=de: prose, Berlin, 1920s, Weimar Republic, dandering
+
+.. geschützte leerzeichen
+.. |nbsp| unicode:: 0xA0
+ :trim:
+
+.. die häufigen auslassungen
+.. |ellipsis| replace:: |nbsp| . |nbsp| . |nbsp| . |nbsp|
+
+.. role:: centerblock
+
+.. role:: initial
+
+.. role:: initialit
+
+.. role:: smallerfont
+
+.. role:: letterspace
+
diff --git a/index.rst b/index.rst
new file mode 100644
index 0000000..3b31510
--- /dev/null
+++ b/index.rst
@@ -0,0 +1,34 @@
+.. figure:: _static/images/titel.jpg
+
+
+.. toctree::
+ :maxdepth: 1
+ :caption: Inhalt:
+
+ Der Verdächtige <01-der-verdaechtige.rst>
+ Ich lerne <02-ich-lerne.rst>
+ Etwas von der Arbeit <03-etwas-von-der-arbeit.rst>
+ Von der Mode <04-von-der-mode.rst>
+ Von der Lebenslust <05-von-der-lebenslust.rst>
+ Rundfahrt <06-rundfahrt.rst>
+ Die Paläste der Tiere <07-die-palaeste-der-tiere.rst>
+ Berlins Boulevard <08-berlins-boulevard.rst>
+ Alter Westen <09-alter-westen.rst>
+ Tiergarten <10-tiergarten.rst>
+ Der Landwehrkanal <11-der-landwehrkanal.rst>
+ Der Kreuzberg <12-der-kreuzberg.rst>
+ Tempelhof <13-tempelhof.rst>
+ Hasenheide <14-hasenheide.rst>
+ Über Neukölln nach Britz <15-ueber-neukoelln-nach-britz.rst>
+ Dampfermusik <16-dampfermusik.rst>
+ Nach Osten <17-nach-osten.rst>
+ Norden <18-norden.rst>
+ Nordwesten <19-nordwesten.rst>
+ Friedrichstadt <20-friedrichstadt.rst>
+ Dönhoffplatz <21-doenhoffplatz.rst>
+ Zeitungsviertel <22-zeitungsviertel.rst>
+ Südwesten <23-suedwesten.rst>
+ Nachwort an die Berliner <24-nachwort.rst>
+ Anhang <anhang.rst>
+ Korrekturen <korrekturen.rst>
+ Text- und Bildnachweis <textnachweis.rst>
diff --git a/korrekturen.rst b/korrekturen.rst
new file mode 100644
index 0000000..2eb42a6
--- /dev/null
+++ b/korrekturen.rst
@@ -0,0 +1,11 @@
+Korrekturen
+===========
+
+- Kap. 6 »Rundfahrt«: Offenbar wird es ihnen hier doch
+ gefallen haben - gefallen statt gegefallen
+
+- Kap. 20 »Friedrichstadt«: Kabinett des Porträtmalers zu
+ sein - zu statt su
+
+- Inhaltsverzeichnis: In der Erstauflage fehlt das Kapitel
+ »Die Paläste der Tiere«, hier nachgetragen.
diff --git a/textnachweis.rst b/textnachweis.rst
new file mode 100644
index 0000000..8b03069
--- /dev/null
+++ b/textnachweis.rst
@@ -0,0 +1,58 @@
+Text- und Bildnachweis und Lizenz
+=================================
+
+Textnachweis
+------------
+
+Grundlage des Textes sind Scans des Erstausgabe von 1929,
+die von der Universität Greifswald `zur
+Verfügung gestellt werden
+<http://digitale-bibliothek-mv.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:gbv:9-g-5263172>`_.
+
+Auf dieser Basis wurde eine OCR-Fassung erstellt, die mit
+der Vorlage abgeglichen und in einer zweiten
+Korrektur-Schleife mit der Textfassung der `Universität
+Greifswald
+<https://www.digitale-bibliothek-mv.de/viewer/api/v1/records/PPN181790468X/plaintext.zip>`_
+abgeglichen wurde.
+
+
+Bildnachweis
+------------
+
+Für den Buchtitel dient der Ausschnitt einer Postkarte von
+1928, die den Verkehr an der Kreuzung Friedrichstraße und
+Leipziger zeigt. Das Foto steht über `Wikimedia Commons
+<https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Berlin_postcard_c_1928_Leipziger_Strasse_-_Blick_in_die_Friedrichstrasse_(50002700796).jpg>`_
+zur Verfügung und wird dem Autor `Sludge G
+<https://www.flickr.com/people/28179929@N08>`_
+zugeschrieben. Entsprechend der Lizenzvorgabe steht der
+Ausschnitt selbst auch wieder unter der Creative Commons
+Lizenz `Namensnennung - Weitergabe unter gleichen
+Bedingungen 2.0
+<https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/deed.de>`_.
+
+
+Lizenz
+------
+
+Für E-Book und HTML-Fassung gilt die Creative Commons Lizenz
+für öffentliches Eigentum (Public Domain) (s. ccpd_). Davon
+ausgenommen ist das Foto für den Buchtitel (s.o.
+Bildnachweis).
+
+.. _ccpd: https://creativecommons.org/publicdomain/mark/1.0/deed.de
+
+
+Rückmeldung
+-----------
+
+Sollten Sie Anmerkungen haben oder Ihnen Fehler aufgefallen
+sein - also Abweichungen von der Druckvorlage - schicken Sie
+bitte gerne eine Nachricht an buecher (at) in-transit.cc.
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+Version
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+v1.0