.. include:: global.rst NACH OSTEN ========== :centerblock:`\*` :initial:`L`\ ohnt's noch, vom heutigen und gestrigen Alexanderplatz zu sprechen? Er ist wohl schon verschwunden, ehe diese Zeilen gedruckt werden. Schon wandern die Trambahnen, Autobusse und Menschenmassen um die Zäune breiter Baustellen und tiefaufgerissener Erdlöcher. Die gute dicke Stadtgöttin Berolina, die hier früher von hohem Postament den Verkehr regelte, ist abgewandert. Das benachbarte Scheunenviertel mit seinen schiefen und geraden, verrufenen und armselig ehrlichen Straßen und Gassen ist zum größten Teil bereits eingerissen. Düster ragen von Süden die Mauern des Polizeipräsidiums über die Trümmerstätte des Platzes. Von Nordosten überwächst Häuser und Zäune der hohe Turm der Georgenkirche. Polizei und Kirche werden so bleiben. Aber was sonst hier noch steht, wird fast alles eingerissen oder umgebaut werden. Die meisten Grundstücke und Parzellen sind bereits im Besitz der Hoch- und Untergrundbahn, die ihren Schacht gen Osten gräbt. Was sie davon abtreten wird, darf dann der neue Besitzer nicht nach Gutdünken bebauen, alle künftigen Bauten hier sind gebunden an die Entwürfe des Stadtbauamts. So besteht keine Gefahr, daß die Spekulation häßliche Mietskasernenblöcke mit düstern, luftarmen Quer- und Hintergebäuden türmt und kleistert. Um eine Mittelinsel, auf der Kreisverkehr eingerichtet werden wird, sollen in Hufeisenform Hochhäuser aufwachsen. Wo Altes verschwindet und Neues entsteht, siedelt sich in den Ruinen die Übergangswelt aus Zufall, Unrast und Not an. Wer hier die Schlupfwinkel kennt, kann in seltsame Wohnstätten finden und führen, schaurige Zwischendinge von Nest und Höhle. Da versteckt sich zum Beispiel in den Kellerräumen einer abgerissenen Mietskaserne, die einen der großen Obstläden enthielt, welche zur nahen Markthalle ihre Wagen und Körbe sandten, hinter Schutt und Mörtel der ‚Bananenkeller‘, eine traurige Schlafstelle für Obdachlose, die in den Nachtasylen nicht mehr unterkommen können oder wollen. Sie kriechen hier in ihren Winkel, wenn die Lokale rings am Platz und in den nahen Straßen geschlossen werden. Sie ziehen die Beine nur ein bißchen näher an den Bauch und zerren die Jacke über die Knie, wenn wir unbefugten Eindringlinge an ihnen vorüberstolpern. Andre Kellerräume enthalten kleine Basare, deren Inhalt an den Pariser Flohmarkt erinnert. Da sind zu verkaufen: Konservengläser und Karbidlampen, Vogelkäfige und Papierkörbe, alte Zylinderhüte und Lampenzylinder, Russenkittel, ‚kaum getragene‘ Schuhe, Schnürsenkel und Ölgemälde mit ‚Gold‘rahmen, Plumeaux und sogar Straußenfedern. Auch die Oberwelt ist voll fliegenden Handels. Am Zugang des Georgenkirchplatzes, wo im Regen frierende Dirnen um die Ecke schleichen und starr stehen, sah ich aus der Zaunlücke des Abbruchs eine graue Alte den armen Geschöpfen weißleinene feste Unterbeinkleider hinhalten. Das sollten sie gegen die Kälte über die durchbrochene ‚Reizwäsche‘ ziehen. An Ruinen entlang, die an die Trümmer zerschossener Städte erinnern, kommen wir in die Münzstraße und in dichtes Gedränge. Vor dem Ausschank liegt ein Weib auf dem Boden, über ihr, noch in Boxerstellung, einer der Gesellen in Mütze und Sweater, die hier vorherrschen. Interessiert sehen die Umstehenden zu. Einzugreifen wagt keiner. Es zeigt sich auch kein ‚Grüner‘. Die Justiz, die hier vollzogen wird, erfreut sich allgemeiner Anerkennung. Wir werden weitergedrängt. ‚Ihr seid wohl übrig jeblieben von jestern‘, ruft einer unsrer kleinen Gruppe nach. In der nächsten Straße, ich weiß nicht, ob wir näher oder weiter vom Platz sind, drängen sich die Leute um einige Straßenhändler. Da ist der mit den Krawatten überm Arm: ‚Alles für eine Mark. Die janze Filmwelt trägt meine Binder.‘ Der drüben mit den Schnürsenkeln scheint große Beredsamkeit zu entwickeln, aber durch seine zahlreiche Zuhörerschaft können wir nicht hindurch. ‚Zauberhölzchen‘, schreit’s von rechts her neben dem Stand mit den Visitenkarten, die gleich mitzunehmen sind, frisch von der Prägemaschine. Dampf steigt warm auf um den Schild ‚Bouletten von Roßfleisch, Stück 5 ch.‘. Jetzt sind wir, glaube ich, in der neuen Königstraße. Hier interessieren mich am meisten die Anschläge und Aufschriften über und an den Läden: ‚Hundeklinik und -Bad, Hunde- und Pferdescheranstalt‘ und kleiner darunter ‚Kupieren, kastrieren, schmerzl. Töten‘. ‚Der neue Hut, aber ein Cityhut muß es sein‘, ‚Künstlergardinen‘ (was für Vorhänge mögen das sein?). Und vor einer tiefen Tür ‚Achtung! Hier im Keller ist Rattengift gelegt.‘ Ein Laden umfaßt zweierlei Gewerbe: Übersetzungsbüro und Kunststopferei. Zurück in die Gegend des Platzes und nach Osten. War hier die Ecke oder auf einer andern Wanderschaft oder — nur geträumt, wo ich oben am Erkerfenster die Inschrift Hotel verkehrt, auf den Kopf gestellt, bemerkte? Ein seltsam grausiger Anblick, der das ganze Haus gespenstisch machte, dies ⅂Ǝ⊥OH¡ Noch eine ganze Strecke weiter kann ich nicht auf die Straße und die Menschen sehen, sondern bleibe mit den Augen an der Riesenliteratur anpreisender Worte auf Bretterzäunen und Schaufenstern der kleinen Läden und großen Ausverkäufe haften. In der Auslage des Tabaksladens kniet eine Nymphe im Lendenschurz unter einem Baum mit stilisierten Blättern, neben ihr wartet, wie sonst ein Krug, ein Aschbecher mit einer Steingutzigarette. Das ist ‚Flora Privat, leicht, süß, duftig, die Siegerin der 2 Pfennig-Zigaretten‘. Im Papier- und Galanteriewarengeschäft finden sich zwischen Rhein- und Weinliedern und der kuriosen Witzkiste die ‚neuen Tanzschellenbänder, eine reizende Spende‘. Überraschend sind manche Wortbildungen. Die ‚Naturange‘ erschreckt ja auch in andern Stadtteilen, aber ‚Stilla Sana‘, den stärkenden Wermutwein, habe ich nur hier bemerkt. Er stand neben anerkannt vorzüglichen und preiswerten Fruchtweinen ‚zur Einsegnung und Jugendweihe mit 5% Rabatt‘. Erstaunlich ist auch das ‚Darmgleitmittel Rodolax‘. Leibharnische finden in dieser Gegend die umfangreichsten Damen, Passendes für die stärksten Figuren, zum Beispiel den neuen Hüftformer mit Magenbinde. Der ‚Kavalier‘ kann den eleganten Tanzschuh kaufen, der vorn recht spitz ist. Über die käferbraune Mitte des Promenadenschuhs schließt sich die schwarze Kappe wie mit einem Bändchen. Es gibt auch treuherzig Kleinbürgerliches: ‚Borgen Pech / Ware los / Gäste weg‘, schreibt ein Wirt an seine Destillentür, und in der ‚Grünen Quelle‘ hängt überm elektrischen Piano das Bild eines Löwen und darunter steht geschrieben: ‚Brülle, wie ein Löwe brüllt, wenn das Glas nicht vollgefüllt.‘ Neben greller Werbewoche im ‚Küchenhimmel‘ und ‚Möbelcohn‘ wirkt rührend volksliedhaft die etwas blasse Inschrift an einer Handelsgärtnerei ‚Blumen für Freud und Leid‘. Bei solcher Lektüre sind wir in die Große Frankfurterstraße geraten. Betäubendes Sägen und Rasseln dringt über den Bretterzaun, der die Mitte des Dammes absperrt. Auf die Männer, die den Hammer niederprasseln lassen und Stricke ziehen, welche über Winden laufen, lächelt aus der Maskengarderobe für Ernte- und Kinderfeste, Volks- und Ländertrachten ein Wachsmädchen in Brünnemieder und weißer Haube herab. Das Eisengerüst der Dampframme ragt vier Stockwerk hoch. Und dort, wo das Pflaster aufgerissen ist, schimmern frühlingsgrün in der herbstlichen Straße Zementsäcke, die übereinandergeschichtet liegen. Einer der Arbeiter, die sie einen nach dem andern leeren, trägt eine ebenso grüne Joppe, die angeleuchtet wird von der Gasflamme neben der Maschine wie Parklaub von den Kandelabern vornehmer Avenuen. Er schüttet den Zement auf eine Stelle, auf die von andern eine braune Masse geschippt wird. Und die Mischung dringt in den Behälter, der sich wie eine Baggermaschine im Kreise bewegt und seinen Inhalt in einen Schlund gießt, aus dem die Masse feucht in die wartende Lore fällt. Die karrt die Beute fort bis dahin, wo die vorangewanderte Schicht austrocknet, und das Feuchte wird an das Trocknende gepappt. Kleine Jungen bestaunen mauloffen das Schauspiel der Arbeit. Und auch die Großen bleiben stehn. Zuschauen können die Berliner noch immer wie in alter Zeit, als sie es noch nicht so eilig hatten wie heute. Nur scheinen inzwischen ihre Sachkenntnisse gewachsen zu sein. Es sind nicht mehr die Naiven, die Hosemann gezeichnet hat, wie sie auf die großen Röhren der englischen Gasgesellschaft starren und sagen: ‚Wenn ick nur wüßte, wie sie das Öl durch die Kanone da ruff kriegen.‘ Am Straßenrande erwarten uns neue Versprechungen. Der Hackebär hat eigne Wurstfabrik. Seine neue Bauernkapelle ist da. Es wird wieder den alten Betrieb geben, Stimmung, Humor. Viel Volk wartet schon unter wehenden Wimpeln. In einen Salon im Hinterhaus locken von der Wand des Durchgangs Friseur und Friseuse aus weißer Pappe. Gewaltige Filmreklame verkündet Amerikas berühmtesten Cowboy und den Grafen von Cagliostro. Der hohnlächelt über ihren Fächer weg auf eine schmerzlich stirnrunzelnde Brünette. Dunkle Nebenstraßen mit altertümlich sanften Namen unterbrechen unsern grellen Pfad. Ach, der alte Weinkeller mit den einladenden Strophen an schräger Wand über den tiefen Stufen! Und jetzt stehn wir am Torweg zum Rosetheater. Gegeben wird ‚Der Verschwender, Romantisches Volksstück von Ferdinand Raimund‘. Es fängt erst in zehn Minuten an. Wir können noch den Durchgang zu Ende gehn bis zu den herbstlichen Skeletten der Laubengänge, die hier ein Sommerzelt bilden. Da steht gegen himmelhohe Brandmauer — wie eine Kulisse vor Theaternacht — mit grünen Pilastern und Fensterrahmen licht ein altertümliches Häuschen. Hier wohnten vielleicht früher die, denen das Theater gehörte, und damals war gewiß der Eingang von der Gartenseite; denn hier führen breite Stufen einer alten Terrasse in das Schauspielhaus. Wir haben unsre Plätze im Saal eingenommen und schauen ein wenig umher. Die vielen Mädchen in rosa und hellblauen Blusen! Mit nackten Armen, aber nicht ganz nackten, wie sie unsere ausgeschnittnen westlichen Damen haben, sondern mit breiter Atlaspasse über der Schulter. Seht dort im Proszenium die Reihe Gesichter, die noch ihres Berliner Daumier harren, den alten Angestellten, der über dieser selben Krawatte und dem hohen Kragen um 1900 einen Verdruß gehabt hat, wovon noch ein Schreck in seinen Gesichtsfalten geblieben ist, und neben ihm eine der gestrengen Gattinnen, deren energische Züge an ihren weiland Landesherrn, den Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, erinnern. Und der dicke Hauseigentümer. Und der magere lockige Friseur. Schaut hinunter ins Orchester, wie tief es wohnt in einem Kasten rot wie Ochsenblut. Schaut hinauf zu den silbrigen Schwänen, die ihre Hälse unter die Brüstung des Ranges schmiegen. Der Vorhang geht auf vor dem prächtigen Saal des Verschwenders, der soviel Freunde und Lakaien hat. Wand und Gewänder sind koloriert wie in unsern liebsten Kinderbüchern, und zwischen den vornehm Bewegten und Redenden stehn kleine Sophas wie in den Puppensalons unserer Schwestern. Ganz Märchenwelt ist Fels und Himmel hinter der Fee Genistane, die starr und hold steht wie aus Zuckerkand. Wie auf unsern Glückwunschkarten damals die dickere Blume sich öffnete über der zarteren, so gehn große Pappblumen auf vor ihrem dienstbaren Geist Azur. Nah ihren betenden Händen ist ein kleiner Steinaltar streng klassizistisch und makellos wie ein Altberliner Grabmonument. Eine Kinderstimme hat diese Fee, die Stimme eines eifrigen Kindes, das aufsagt. Aufsagend steht sie zum Publikum, nicht zu dem geliebten Schützling gewandt, als sie von ihm Abschied nimmt. Und sowohl seine trauernden Gebärden als ihre Verse kommen jedes für sich zu uns. Das ist ergreifender als manches berühmte Zusammenspiel. Gestalten, von denen sie sagt, daß sie ihr erscheinen, streifen hinten über die Himmelswand. Und nun sinkt sie in den Spalt, wo es vielleicht noch tiefer hinuntergeht als hier vor uns in das Orchester. Als sie verschwunden ist, nahen dem Verlassenen tröstliche Schleierbreiterinnen. Es sind dieselben Mädchen, die im Schloß vor den lächelnden Gästen Ballett tanzen. Langsames Ballett mit deutlichen Pausen zwischen den einzelnen Figuren. Die Tänzerinnen nicken zu den Zäsuren der Musik. Mit Würde tragen sie ihre weißen Gewänder. Und auch im andern bunteren Kostüm, einer Art spanischer Dirndltracht, bleiben sie unter dem rasselnden Jubel ihrer Tamburine feiertäglich. Im Schlosse des reichen Julius von Flottwell (muß man mit solchem Namen nicht verschwenderisch leben?) könnt ihr noch lernen, was Reverenzen waren, wenn Julius den Präsidenten, der ihm nicht wohl will, Amalie, die Geliebte, und seinen Nebenbuhler, den Baron Flitterstein, begrüßt. Mißtrauen, Leidenschaft und Haß muß er zurückhalten hinter der weltmännischen Verbeugung und uns doch sehen lassen. Schönes altes Theater, wo die Bettler wunderbare Mönchskutten haben und wankende Stäbe. Wo überm schwankenden Schiff Blitze durch den Seesturm zucken und die jagenden Wolken anstrahlen, viel zauberischer als die Berliner Lichtwoche ihre Monumente. So verlockend ist keins eurer Schaufenster beleuchtet wie in der kleinen Felsschlucht der Schatz, den Genistanes Bote zuletzt, zu guter Letzt ihrem verarmten Julius schenkt. Geht schnell gen Osten, solang es noch hinter den Kinos und Varietés solch altes rotgoldnes Theater gibt! Darüber haben wir nun aber die vielen Kinos und Varietés der Gegend versäumt. Man könnte noch in den Tanzpalast zur Möwe eintreten, wo altdeutscher Ball für die ältere Jugend stattfindet. Aber der Schub der heimkehrenden Sonnabendtheatergäste drängt uns in entgegengesetzter Richtung ein Stück in die Frankfurter Allee hinein. Eine Erinnerung taucht auf. Die Januartage 1919: da flogen hier Granaten entlang. Der Kampf um Lichtenberg! Und wenn man zurückgedrängt wurde, in engen Gassen die Schleichhändler mit Brillanten, Seife und englischem Tabak, Feldgraue mit Rauchwaren und mit Schokolade aus dem besetzten Gebiet, Leierkasten mit der Marseillaise, Gitarrengezupf. . . Eine Wackeldroschke poltert uns zurück zum Alexanderplatz und ein paar Straßen nach Norden und hält vor einem lärmend vollen Lokal. Über Bechern und Mollen, wendischen Backenknochen der Mädchen und zartfrechen Knabengesichtern ragt die Trompete des backenaufblasenden Krauskopfs, den eine Dame mit Broderien am Kragen auf dem Klavier begleitet. Der fettnackige Wirt erzwingt uns unter seinen alltäglichen Gästen etwas schonungslos Platz. ‚Ich küsse Ihre Hand, Madame‘, das wird hier ebenso gern gehört wie im schicksten Westen, aber dann abgelöst von einer Art Militärmarsch, den alles Volk mit preußischem Eifer mitsingt. Wir brauchen aber nicht zu glauben, etwa in ein nationalistisches Lokal geraten zu sein. Gerade kommt ein Bursche an unsern Tisch, der eine Unterstützungskollekte für die Streikenden im Westen zum Unterschreiben vorlegt. Ein sentimentales Rheinlied steigt hinauf zu dem Transparent ‚Riesendampfwurst 50 ch‘. Ein paar Jungen setzen sich an eine Seite unseres Tisches und rücken langsam, noch mißtrauisch und schon zutulich, näher. Aus dem, was sie übertreibend und abschwächend vorbringen, ist zu entnehmen, daß sie keine ‚Bleibe‘ haben. Mit den Zufallskameraden von gestern wollen sie nicht übernachten. Sie werden vielleicht auf ‚Bodenfahrt‘ gehn, wenn nichts andres sich bietet. In manchen Häusern findet sich ein gutmütiger Bewohner, der denen, die auf dem Boden kampieren, morgens warmen Kaffee bringt, er hat vielleicht selbst in seiner Jugend unterm Stadtbahnbogen geschlafen. Er weiß, wie’s tut, kein Quartier zu haben. Einer von den Jungen führt uns weiter durch ein Gewirr von grellen und düstern Ecken. Er weiß hier ein ‚schnaftes‘ Tanzlokal. ‚Polarstern‘ heißt es oder so ähnlich. Ein tiefes Berliner Zimmer. Über dem Zugang zum Nebenraum ein Lambrequin starr und staubig. Aus dem Hintergrund kommen Mädchen- und Jungenpaare zum Tanz, zu dem zwei zusammengeschrumpfte Musiker Klavier und Geige spielen. Es wird hingebungsvoll getanzt, wie wir das aus ähnlichen Stuben und ‚Dielen‘ kennen, nur verzweifelter, so scheint es uns wenigstens, und noch genußsüchtiger — als lauere Elend oder Gefahr. Es ist nach ein Uhr. Unser Führer (darin sind die eleganten und die kragenlosen Bummler von Berlin einander ähnlich) muß noch weiter, in die Gegend der Kommandantenstraße und hinter das Hallesche Tor. Unterwegs will er uns nahe bei der Markthalle etwas zeigen. Wir stehn wieder dem Polizeipräsidium gegenüber. Er schiebt uns durch ein niedriges Tor in die Wärmehalle. Er belehrt uns über die geduckten und aufrechten Gestalten. Er unterscheidet Einheimische und solche, die ‚auf der Walz‘ sind. Hier darf nicht geraucht, gesungen, Karten gespielt oder gehandelt werden. Aber ein bißchen gehandelt wird doch, meist eine Art Tauschhandel, wie es scheint. Geschenkte oder ‚gefundene‘ Kleidungsstücke, die einem andern besser passen. Einer nah am Ofen tauscht Schmöker gegen Brot ein. Sind es Fußlappen oder Zeitungen, was der da auf der Holzbank aus dem abgezogenen Stiefel holt? Beim Hinausgehn seh ich, daß wir unterm Stadtbahnbogen sind. Wir kommen in eine Straße, wo es nach Obst riecht, aber die Speicher der Früchte sehen aus wie Kontore. Hier wird auch am Tage nicht an den einzelnen verkauft. Der Markt von Berlin breitet sich nicht auf die Straße aus wie der an den Hallen in Paris. Wunderliche Auslagen in den nächsten Fenstern, in einem lauter Pappe und Einschlagepapier, ‚Schlächter- und Butterbrotpapiere‘, ‚Würstchenteller in allen Größen und Preislagen‘, Wiegeschalen, Kisten und Einsätze, eine ganze Negerhütte aus Bast, von einer nächtlichen Katze bewacht. Um die Ecke: ein koscheres Restaurant und ein Hotel mit geheimnisvollen Gardinen. An einer fensterlosen Mauer ein Zettel wie ein Wahlanschlag: ‚Deutsche Frühkarpfen für die Herbstsaison‘. Wir kommen unter die Eisensäulen des Viadukts. Diese Stadtbahnarchitektur sieht heute so altertümlich aus. Nur ein Blick in den Wartesaal. Bündel und Säcke als Kopfkissen der sitzend Schlafenden. Leeres Glas und mattes Blech des verlassenen Büfetts. Draußen vor wartenden Wagen halbschlafende Pferde spreizbeinig starr. Eine Kneipe, wo Markthelfer auf ihre Arbeit und Arbeitslose auf eine Gelegenheit warten. Ein paar Chauffeure rühren in der Löffelbrühe. Marktfahrer zeigen einander Stücke aus ihren Körben und besprechen kaufmännisch die ‚Lage‘. Der in Hemdsärmeln, der zwischen den Tischen entlang geht und Bekannte und Unbekannte beobachtet, ist nach der Meinung unseres Führers der ‚Rausschmeißer‘. Heute bekommt er nichts zu tun. Zwischen dem Alten, der in seinen Bart brabbelt, und der dicken Marktfrau, die über ihrem Korb eingenickt ist, erscheint an der Banklehne ein wunderbar gemeißelter Jünglingskopf in offnem Hemd. Er schläft tief und selig auf dem harten Holz wie in paradiesischen Gefilden. Über ihm ein handgeschriebener Anschlag: ‚Laden für Gänseausnehmen zur Saison abzugeben (Laufgegend)‘. In eine gegenüberliegende auch schon oder noch offne Bierstube werden wir nicht eingelassen. Die soll nur für reisende Händler sein. Das sind die Makler zwischen den Kleinbauern und den Berliner Gemüsehandlungen. Nun wird es Zeit, die Halle selbst zu betreten. Dort werden wir als Müßiggänger geduldet, aber nicht so wohlwollend ironisch empfangen wie der Noceur von Paris in den Ständen vor und in den Hallen. Kartoffelschälerinnen schauen etwas verdrossen zu unserer Gruppe auf. Neben seinem Wagen der Bursche in samtener Mütze und mit schönen Stulpstiefeln und auf dem andern Wagen der in leuchtend grüner Jacke, die durch grauen Dämmer strahlt, drehen finster die Köpfe nach uns. Nur der kleine Graukopf, der, aus dunklem Seitengang kommend, uns unter ‚Resi noch besser als Rahma‘ begegnet, nickt freundlich und flüstert uns auf sächsisch unflätig anspielende Verse auf die verschiedenen Margarinesorten zu. Wir stolpern hinaus zwischen Porree, Lauch und Rübe. :centerblock:`\* \* \*` Heim. Ein paar Stunden Schlaf. Um sechs habe ich Rendezvous zum Besuch der andern Zentralhalle, der des Blumenmarktes. Frühmond über blau-leerem Asphalt. Wechsellichter von Tag und Nacht auf den Panzern des Hochbahnhofs. Nachtglanz in der Station. Ich nehme Platz zwischen Barhäuptigen und Mützen, Schürzen und Kitteln, Kiepen und Körben. Über die Eisennetze des Gleisdreiecks und den Kanalabgrund unter der Möckernbrücke zum Halleschen Tor. Eine Zeitlang steh ich bei den frierenden Statuen der Brücke, die einen Gewerbe- oder Ackerbauzweig zu allegorisieren versuchen. Aus Gelesenem und alten Stichen taucht das Bild des wirklichen Halleschen Tores auf, die niedrige Stadtmauer, mehr Gartenmauer als Wehr (sie sollte wohl auch weniger verteidigen als Fremden- und Steuerkontrolle ermöglichen und die Desertion erschweren), die beiden Mauerpfeiler des Tores, oben durch eine Eisenstange verbunden. Steinerne Schmuckvasen. Solang es hell ist, stehen die Torflügel offen. Die Zolleinnehmer und die Dragoner der Torwache sitzen beim Kartenspiel, bis wieder eine Hammelherde kommt. Dann hat der Einnehmer der Schlachtsteuer Arbeit. Jede Herde, die in die Stadt soll, muß gezählt werden. Die Torflügel werden beide geschlossen, es bleibt nur eine Klappe offen. Und während sich draußen Volk und Vieh staut, wird zunächst der Leithammel hereingelassen. Nach ihm die andern, Stück für Stück, am vorgehaltenen Fuß des zählenden Zöllners vorbei. Ich sehe, wie sie sich klemmen und drängen, während ich in die Leere von Brücke und Platz starre. Da aber kommt vom Hochbahnbogen her mit einem Schub Umschlagetücher und Mützen, Bastkörbe und Rucksäcke mein Bekannter, der junge Blumenhändler, der mich mitnehmen will. Wir gehn über das Rondell des Bellealliance-Platzes und die Friedrichstraße hinauf bis an den Eingang zu dem bahnhofbraunen Gehöft, über dessen Torstein ein städtisches Bärenwappen prangt. Im Hofgang werden hinter verblichenen Schaufenstern einige Arrangements künstlicher Blumen sichtbar, wie man sie von französischen Friedhöfen kennt. In der Halle wird mein Führer von aller Welt gegrüßt. Die gute Frau aus Zossen, die hinter ihrem Grünzeug hockt, nimmt ihm seinen Korb zum Aufheben ab. Ihre Nachbarin erzählt: ‚Bei uns sind heut nacht zwei Mädchen angekommen‘. ‚Fruchtbare Gegend Mariendorf‘, sagt mein Begleiter. ‚Na, nu mußt du dich auch ranhalten, Karle‘, meint die Zossnerin. Ein vorüberstreifender Kollege macht eine Art Terminhandel mit Karl und fragt ihn dann: ‚Hast du Affenflöten ?‘ Karl gibt ihm eine Zigarette. Das da, zeigt er mir, sind reiche Leute, denen gehört ganz Werder und denen daneben halb Teltow. Er geht eilig von Stand zu Stand, wählt, handelt, bestellt und nimmt Bestellungen mit. Zwischen den blaßbunten Haufen heimischer Herbstblumen lagern enggebunden Rosen, die mit Flugpost aus Holland gekommen sind. Es wird flink gehandelt und dabei fliegen Witzworte hin und her zwischen dem jungen Mannsvolk und den alten Weibern. Auch untereinander necken sich die Männer. Mit den jungen Frauen sind sie leiser und vorsichtiger. Aber alle hier sind morgendlich munter. Man ist gut aufgelegt trotz häufiger Wechselfälle. Es war doch schon Frost heut nacht. In Britz sind alle Dahlien erfroren, erzählt die Frau, die mit dem Kaffeetopf und den Pflaumenkuchen kommt und bei der im Stehen gefrühstückt wird. Das hört man sich mit einer Art ländlichem Fatalismus an. Mit einmal komme ich mir vor wie unter Stadtbauern alter Zeiten, als noch innerhalb der Tore viel Gemüsegarten und Acker war. Wir machen noch ein paar Schritte in die Topfhalle zu den Chrysanthemen. Die Topfhalle ist angebaut worden, weil es in der großen schon zu voll war. Aber bald wird das ganze Gehöft nicht mehr ausreichen. Die Halle wird in die Vorstadt verlegt werden. Der alte Kirchhofsgärtner aus Westend begrüßt meinen Begleiter, er sieht etwas verächtlich auf die Straßenhändler, die bei der Frau in der Türecke ‚Mist‘, das ist Ausschuß, kaufen. Er ist alteingesessen. Schon seinem Vater hat die Gärtnerei der Besitzer einer Tiergartenvilla geschenkt, bei dem er vor sechzig Jahren Gärtner war. An Armen voll papierumwickelter Veilchentöpfe und lose gebundner Chrysanthemen schieben wir uns vorbei. Der brave Kumpan, der meines Begleiters Einkäufe in seinem Lastauto mitnehmen will, geht mit uns über die Straße in eine Destille, wo eine Molle ‚gehoben‘ wird. Draußen sind zwischen Karren, Wagen und dicken Gäulen schon die Straßenreiniger an der Arbeit. Noch einmal zum Abholen in die Halle. Da wird auch schon aufgeräumt, während noch ein paar Alte aus schrumpflichen Portemonnaies und Junge aus Westen- und Hosentasche zahlen. Schmutz und Rest bleibt in Berlin nirgends lange liegen. Diese Stadt räumt gern auf. :centerblock:`\* \* \*` Gemüse und Blumen sind nun ‚erledigt‘. Bleibt das Fleisch. Also auf zum Zentral-Vieh- und -Schlachthof im Osten. Schon der alte Viehmarkt, der bis 1871 bestanden hat, war am Landsberger Tor. Ein Stück weiter östlich erstreckt sich jetzt über ein Gebiet von fast 190 Morgen der Riesenkomplex mit Ställen, Verkaufshallen, Schlachthäusern, Verwaltungsgebäuden, zweigeteilt von der Thaerstraße, durchzogen von Triebstraßen, begrenzt von den langen Rampen an der Ringbahn, deren Viehbahnhof 15 Kilometer Gleis und eine große Anzahl von Ausladebuchten umfaßt. Erst bekomm ich die Menschen zu sehn, Beamte, Tierärzte und im Börsengebäude Viehhändler in langen Mänteln, Agenten, Großschlächtermeister. Mein Führer erzählt mir die Arbeit der Kommission, welche die Preise bestimmt, Auftrieb, Untersuchung und Unterbringung der Tiere, den Handel durch Handschlag. Er zeigt mir die hintereinanderlagernden Hallen, die der Rinder, die der Hämmel und die riesenhafte Schweinehalle, die in ihren Buchten ungefähr 15.000 Tiere faßt. Sie reicht im Norden bis an die Rampen der Geleise, auf denen das Vieh aus den Provinzen angerollt wird. Und längs der Rampen erstreckt sich die lange schmale Kälberhalle. Da nach Osten, das sind die Stallungen, die Dungverladung, der Seuchenhof, die Häutesalzerei usw. An den Markttagen öffnen sich die Hallen, und durch drei Tore werden Rinder, Kälber und Schafe hinübergetrieben zum Schlachthof. Die Schweine wandern ihren besonderen Weg längs der Schienenstränge. Wir gehn in den Schlachthof hinüber und dort einer Schweineherde nach, die zum neuen Schlachthaus, einem mächtigen roten Gebäude, trottet. Wir sehen, wie unterm Stock des Treibers die bunt gezeichneten rosagrauen Rücken und die Ringelschwänzchen in der Luke verschwinden Nun stehn wir drinnen in der weiten Halle. Weißer Dampf steigt auf von den Brühkesseln. Da aus dem kleinen Holzverschlag kommt das erste Schweinchen herausgeschlüpft, lautlos und vertrauensvoll seinem Mörder entgegen. Das ist ein hübscher junger Bursche in Hemdsärmeln. Er holt gelassen aus mit dem Beil und schlägt dem Tier vor den Kopf. Es legt sich sanft auf die Seite. Und während ein andrer auch sehr sympathisch aussehender junger Mann ihm den Halsstich versetzt, zucken nur noch die Beinchen. Da wartet ja schon das nächste und ein drittes drängt sich hinterdrein. Ich wundre mich, daß sie gar nicht quieken, weder hinter dem Verschlag noch hier unterm Beil. Ich muß immer wieder das Gesicht dessen ansehn, der den Schlag tut. Merkwürdig: die Viehhändler vorhin, die Agenten und Schlächtermeister sahen eigentlich viel blutrünstiger drein als dieser Jüngling mit der zarten Gesichtsfarbe, der die Mordtat vollzieht . . . Wir kommen ins Rinderschlachthaus. Da gibt es eine rituelle Ecke. In der steht vor dem kopfunten hangenden Rind der Schächter, der ihm den Halsschnitt gemacht hat. Er hat einen schwarzgrau und scharf vorstehenden spitzen Bart. Auf welchem alten Bild hab ich solch einen Bart gesehen? Die Hämmel muß man besuchen, wenn sie abgezogen werden. Es ist erstaunlich, wie säuberlich und glatt das zugeht. Sind sie an einer Stelle aufgeschnitten, so greift ihnen einer, der es versteht, ganz sanft unter den Pelz, das Fell gleitet weich und spurlos ab, und darunter erscheint ein Wesen aus hellem Elfenbein. Es geht überhaupt sehr säuberlich zu auf diesem Massenmordhof. Blut und Entsetzen wird rasch fortgewaschen, Geschlinge, Kuttel und ‚Kram‘ werden beiseitegeschafft. Bald ist der Boden wieder blank wie spiegelndes Parkett. Von Halle zu Halle wandern wir bis zum Ausgang. Die Eisenstäbe, die dort wandentlang ziehen, das sind die Laufkatzen, daran die an Haken aufgehangenen Tiere transportiert werden. Noch ein Blick in das große Gehöft des Fleischmarktes. Den hätte man eigentlich zu früherer Morgenstunde besuchen müssen, wenn er von Wagen und Menschen wimmelt. Die Gebäude dieser Sonderstadt sind neueren Datums und imposante Schöpfungen. Im Kühl- und Gefrierhaus kann man die weiten Räume mit den tausend verzinkten Eisenblechkäfigen des Konservenfleisches besuchen. Soll ich heute noch weiter nach Nordosten vordringen? Heut ist in Weißensee Pferdemarkt. Da werden sowohl Reitpferde als auch alte Klepper verkauft. Auch dort wird der Handel durch Handschlag abgeschlossen. Ein andermal.