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ICH LERNE
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:initial:`J`\ a, er hat recht, ich muß etwas für meine
Bildung tun. Mit dem Herumlaufen allein ist es nicht getan.
Ich muß eine Art Heimatskunde treiben, mich um die
Vergangenheit und Zukunft dieser Stadt kümmern, dieser
Stadt, die immer unterwegs, immer im Begriff, anders zu
werden, ist. Deshalb ist sie wohl auch so schwer zu
entdecken, besonders für einen, der hier zu Hause ist |ellipsis| Ich
will mit der Zukunft anfangen.

Der Architekt nimmt mich in sein weites, lichtes Atelier,
führt von Tisch zu Tisch, zeigt Pläne und plastische Modelle
für Geländebebauung, Werkstätten und Bürogebäude,
Laboratorien einer Akkumulatorenfabrik, Entwürfe für eine
Flugzeugausstellungshalle, Zeichnungen für eine der neuen
Siedlungen, die Hunderte und Tausende aus Wohnungsnot und
Mietskasernenelend in Luft und Licht retten sollen. Dazu
erzählt er, was heute die Baumeister von Berlin alles planen
und zum Teil im Begriff sind, auszuführen. Nicht nur
Weichbild und Vorstadt will man durch planmäßige
Großsiedlung umgestalten, auch in den alten Stadtkörper soll
neuformend eingegriffen werden. Der künftige Potsdamerplatz
wird von zwölfgeschossigen Hochhäusern umgeben sein. Das
Scheunenviertel verschwindet; um den Bülowplatz, um den
Alexanderplatz entsteht in gewaltigen Baublöcken eine neue
Welt. Immer neue Projekte werden entworfen, um die Probleme
der Grundstückwirtschaft und des Verkehrs in Einklang zu
bringen. Künftig darf nicht mehr der Bauspekulant und der
Maurermeister durch seine Einzelbauten den Stil der Stadt
verderben. Das läßt unsere Bauordnung nicht zu.

Der Architekt berichtet von den Ideen seiner Kollegen: Da
die Stadt allmählich auf dem einen Havelufer Potsdam
erreichen wird, stellt einer einen Plan mit Bahnen und
Verkehrslinien auf, dem er die schönen Waldbestände und
einzelnen Seen einfügt, um schließlich die Havel zwischen
Pichelsdorf und Potsdam zu einer Art Außenalster zu machen.
Ein anderer will zwischen Brandenburger Tor und Tiergarten
einen großen repräsentativen Platz schaffen, so daß erst die
Siegesallee die Parkgrenze bilden soll. Auf dem Messegelände
soll die Ausstellungsstadt die Form eines riesigen Eis
bekommen, mit einem Innen- und Außenring von Hallen, einem
neuen Sportsforum und einem Kanal, an dessen Endpunkt
zwischen Gartenterrassen ein Wasserrestaurant liegt.
Potsdamer und Anhalter Bahnhof sollen auf das Rangiergeleise
des nächsten Vorortsbahnhofs verlegt werden, um Platz zu
schaffen für eine breite Avenue mit Kaufhäusern, Hotels und
Großgaragen. Im Zusammenhang mit der Vollendung des
Mittellandkanals ändert sich Berlins Wasserstraßennetz, und
die entsprechende Umgestaltung alter und Erbauung neuer
Ufer, Brücken, Anlagen stellt wichtige Aufgaben. Und dann
das neue Baumaterial: Glas und Beton, Glas an Stelle von
Ziegel und Marmor. Schon gibt es eine Reihe Häuser, deren
Fußböden und Treppen aus Schwarzglas, deren Wände aus
Opakglas oder Alabaster bestehn. Dann die Eisenhäuser, ihre
Verkleidung mit Keramik, ihre Rahmung mit glänzender Bronze
usw.

Der Architekt bemerkt meine Verwirrung, er lächelt. Also
schnell ein bißchen Anschauungsunterricht. Hinunter auf die
Straße und in sein wartendes Auto. Wir sausen den
Kurfürstendamm entlang an alten architektonischen Schrecken
und neuen ‚Lösungen‘ und Erlösungen. Wir halten vor den
Gebäuden des Kabaretts und des Filmpalastes, die eine gerade
durch ihre leisen Verschiedenheiten so eindringliche Einheit
bilden, beide beschwingt im Raume kreisend, immer wieder die
mitreißende Einfachheit ihrer großen Linien ziehend, wobei
das eine sich mehr in die Breite lagert, das andre mehr
aufragt. Der Meister neben mir erklärt eines Meisters Werk.
Und um, was seine Worte umfassen, aus der Mitte des Bauwerks
zu verdeutlichen, verläßt er mit mir den Wagen, führt mich
durch den breiten Wandelgang, der in dunklem Rot dämmert,
ins Innere des einen Theaterraums und zeigt mir, wie die
ganze Schauburg aus der Form des Kreises entwickelt ist und
wie die hellen Wände ohne vereinzelten und abwegigen Schmuck
durch flächige Muster gegliedert sind.

Dann fahren wir eine Querstraße hinauf durch ein
kleinbürgerliches Stück Charlottenburg und am Lietzensee
vorbei zum Funkturm und den Ausstellungshallen, die er mit
ein paar Worten zur größeren Messestadt ausbaut. Ehe er
damit fertig ist, haben wir den Reichskanzlerplatz erreicht
und er stellt mir das Unterhaltungsviertel dar, das hier
entstehen soll, die beiden Baublöcke mit Kinos, Restaurants,
Tanzsälen, einem großen Hotel und dem Lichtturm, der das
Ganze überragen wird. Wir wenden in eine Parallelstraße des
Kaiserdamms und halten vor einem weiten Neubaugelände. Hier
ist mein Führer selbst Bauherr. Werkmeister kommen uns
entgegen und erstatten ihm Bericht. Indes seh ich in das
weitläufige Chaos, aus dem sich mir zunächst die beiden
Pylonen am Eingang, schon im Rohbauskelett deutlich
gestaltet, entgegenrecken. Dann geh ich mit dem Meister über
Schutt und Geröll bis an den Rand, hinter dem der Abgrund
der Mitte beginnt. Der Grundriß, wie man ihn sonst auf dem
Zeichentisch vom Blatt ablesen muß, dem Notenblatt dieser
‚gefrorenen Musik‘, liegt nun vor mir ausgebreitet. Dort
werden die beiden großen Depothallen sich erheben, die
Schlafstellen der Wagen. Hier werden Geleise entlangführen.
Am Rande rings werden Gärten entstehen, in denen unter den
Fenstern vieler lichter Wohnungen die Kinder der Beamten,
Fahrer, Schaffner spielen sollen. Wir fahren außen die eine
Seite des großen Vierecks entlang. An einer Stelle ist die
Straße erst im Entstehen begriffen, und wir müssen ein Stück
über wuchernde Wege gehn. Und um uns her wächst aus des
Baumeisters Worten eine ganze Stadt.

Was er mir so am Werdenden sichtbar gemacht hat, kann er mir
nun auch noch am Vollendeten zeigen. Über die Spreebrücke
beim Schloß Charlottenburg eilt unser Wagen den Kanal
entlang und zum weiten Westhafen. Ein Blick auf die düsteren
Gefängnismauern von Plötzensee. Wir kommen durch die endlose
Seestraße an Kirchhofsmauer und Mietskasernen hin bis zur
Müllerstraße. Die mächtige Siedlung der Wagen und Menschen
taucht auf. Breiter Zugang eröffnet uns den Blick auf drei
eisengestützte Hallen. Wir durchschreiten das Tor und sehn
von innen die dreistöckigen Seitenflügel der Wohnstätten,
die vier Stockwerke der Frontseite und die mächtigen Pylonen
der Ecken. Dann treten wir überall ein, erst in die Glas-
und Eisenhalle, in der die Wagen wohnen, sehn dort hinauf
zum Bahnhofshimmel und hinab in die seltsame Welt der Gänge
unter den Schienensträngen. Dann in die Verwaltungsräume,
Reparaturwerkstätten und endlich über einladend ansteigende
Treppen in einige der hübschen Wohnungen.

Beim Umschreiten des Komplexes begreife ich, ohne es
bautechnisch ausdrücken zu können, wie der Künstler durch
Wiederholung bestimmter Motive, Betonung bestimmter Linien,
durch das Vorziehen scharfer Kanten an den steigenden
Flächen und ähnliches diesem Riesending aus Backstein,
welches Bahnhof, Büro und Menschenhaus zugleich sein muß,
einen unvergeßlich einheitlichen Gesamtcharakter gegeben
hat.

An der Nordostseite schauen wir weit über Feld, und ganz nah
bekomme ich des Riesen winzigen Nachbar gezeigt, ein
Häuschen, ‚so windebang‘, das da tief im Felde steht. Das
‚schmale Handtuch‘ nennen es die Leute. Das Nebeneinander
der ragenden Hallen und dieser Hütte ist wie ein Wahrzeichen
des Weichbildes von Berlin.

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Am Abend dieses übervollen Tages bin ich bei einer alten
Dame zu Gaste gewesen, die aus Sekretär und Truhe
Erinnerungsstücke hervorholte, Dinge, die ihrer Ahnin im
alten Haus an der Stralauerstraße gehört haben, die große
englische Puppe im ergrauten Musselinempirekleid mit den
kreuzweis gebundenen, immer noch rosenfarbenen
Seidenschuhen; Tellerchen und Leuchterchen, sorglich aus
Holz geschnitten, mit denen diese Ahnin als Kind im Garten
spielte ganz nah an der Spree und der hölzernen
Waisenbrücke, von der Menzel auf seinem berühmten Stich
Chodowiecki ins Wasser schauen läßt. Aus einer Blechkapsel
nimmt sie die Hauspapiere mit den Wachssiegeln. Zierliche
Stammbücher der Urgroßtanten darf ich aufschlagen, in denen
die haarscharfen Schnörkelbuchstaben poetischer Widmungen
den kolorierten Buketts und hauchzarten Landschaften
befreundeter Maler gegenüberstehn. In den Landschaften
findet sich als Staffage bisweilen ein Reitersmann in gelbem
Frack und Stulpstiefeln oder eine Reiterin in violettem
Kleid. Die Buketts sind in Form und Farbe verwandt dem, was
mit spitzem Pinsel die Porzellanmaler auf Teller und Vasen
und Schalen ‚Königlich Berlin‘ setzten.

Ich bekomme sogar eine Brautkrone von anno 1765 in die Hand,
mit grüner Seide umsponnenen, blütenbildenden Draht. Eine
Tabakdose aus Achat darf ich betasten. Die gütige Besitzerin
all dieser Schätze langt kleine Familienporträts von den
Wänden, Frauenköpfe in gelocktem, leichtgepudertem Haar und
zartfarbigem Schleiertuch, Herren in Perücke und
dunkelblauem Frack. Und dann erzählt sie von der Berliner
Putzstube, der schöneren Vorgängerin all der ‚guten Stuben‘
mit Mahagonimöbeln und der blauen und roten Salons, die wir
bei unseren Großeltern gekannt haben, von der Putzstube,
die ein verschlossenes Heiligtum war, das die Kinder nur zu
besondern Gelegenheiten betreten durften. Wir schlagen eines
ihrer Lieblingsbücher, die Jugenderinnerungen eines alten
Berliners von Felix Eberty, auf und lesen: »Die Wände waren
hellgrau gestrichen, Tapeten kamen nur bei den reichsten
Leuten vor. Auf die Wand hatte Wilhelm Schadow, der
nachherige Direktor der Düsseldorfer Akademie und meines
Vaters Jugendfreund, demselben als Hochzeitsgeschenk die
vier Jahreszeiten grau in grau und mit weißen Lichtern
gehöht schön und plastisch gemalt, so daß es ein Relief zu
sein schien. Ein herrlicher Teppich, Erdbeerblätter, Blüten
und Früchte zeigend, bedeckte den Fußboden, die Möbel waren
sehr zierlich aus weißem Birkenmaserholz gefertigt. Ein
kleiner Kronleuchter zu vier Lichtern, an Glasketten
hängend, schien uns überaus prächtig und ein unnahbares
Kunstwerk zu sein, das wir gar zu gern mit den Händen
berührt hätten, wenn es nicht aufs strengste verboten
gewesen wäre; denn die Möglichkeit, diese Begierde zu
befriedigen, war vorhanden, weil die Zimmerhöhe gestattet
hätte, mittels eines Stuhls die glänzenden Glasstückchen zu
erreichen.«

Wir sprechen von noch älteren Berliner Interieurs. Sie hat
Bilder von Zimmern, in denen die mit Tapisseriearbeit
überzogenen L’Hombre-Tische standen, die ausgenähten
Fauteuils, die Servanten mit den schönbemalten
Porzellantassen, auf der Kommode englische Repetieruhren, in
der Ecke ‚wohlkonditionierte‘ lackierte Flügel der
friderizianischen Zeit. Sie weiß von den hohen Betten, zu
denen mehrstufige Tritte führten, von Himmelbetten *à la
duchesse* und denen *à tombeau*, vom Bettzopf, Nachthabit
und Nachthandschuhen, von Tapeten *en hautelisse* mit
Personnagen nach französischen Dessins. Immer mehr Besitz
kramt sie heraus, Daguerreotypien, ausgetuschte
Kupferstiche, ausgeschnittene, aufgeklebte und mit
Lackfirnis überzogene Figuren |ellipsis|

Über uns hängt eine Ampel, ein bronzenes Blumenkörbchen, aus
dem Blätter von grünem Glas und hellfarbige gläserne Winden
hangen und sich heben. Das Stück ist aus den dreißiger,
vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als eine neue
Vorliebe für das Rokoko aufkam. Das Licht flackert im
Nachtwind, als wäre es nicht elektrisch, sondern Öllicht
einer Astraganlampe. Es ist spät geworden für alte Damen.
Und ich merke, wie müde ich bin von soviel Berlin.