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ALTER WESTEN
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:initial:`D`\ er alte Westen — vom Tiergartenviertel
abgesehen, das zwar auch viel gelitten, aber doch
durchgehalten hat — der alte Westen hat verloren, wie man
von Schönheiten sagt, die aus der Mode gekommen sind. ‚Man‘
wohnt nicht mehr im alten Westen. Schon um die
Jahrhundertwende zogen die wohlhabenden Familien fort in die
Gegend des Kurfürstendamms und später noch weiter bis nach
Westend oder Dahlem, wenn sie es nicht gar bis zu einer
Grunewaldvilla brachten. Aber manche von uns, die im alten
Westen Kinder waren, haben eine Anhänglichkeit an seine
Straßen und Häuser, denen eigentlich nicht viel Besondres
anzusehn ist, behalten. Uns ist es ein Erlebnis, eine der
Treppen hinaufzusteigen, die ehedem zu Freunden und
Verwandten führten. Es haftet soviel Erinnerung sowohl an
den nüchtern gediegenen Aufgängen mit braunem Holzgeländer,
farbloser Wand und den graugeritzten Gestalten im
Fensterglas als auch an gewissen Palasttreppen mit steil zu
ersteigendem Hochparterre, falscher Marmorwand und pompöser
Glasmalerei. Führt uns ein Anlaß oder Vorwand — zum
Beispiel, ein möbliertes Zimmer zu besichtigen — in eine der
altvertrauten Wohnungen, so finden wir unter neuer Schicht
die frühere Welt wieder: hinter verbarrikadierenden
Schränken die Glasschiebetür, die einst Salon und Berliner
Zimmer trennte, im sichtbaren schrägen Diwan den Schemen des
Flügels, der damals hier stand mit seiner Samtdecke und den
Familienphotographien. Nahe dem Fenster ist in dem ärmlichen
Topfblumengestell noch etwas von der Tropenwelt der
Zimmerpalmen geblieben. Von dem Haut-pas am Hoffenster des
Berliner Zimmers sehen wir auf den Hof mit dem blassen Gras,
das zwischen Steinen sprießt wie einst. Nur der Pferdestall
und die Wagenremise des alten Generals aus der Beletage sind
verdrängt durch eine Autoreparaturwerkstatt.
Ein paar Häuser der alten Zeit sind noch unverändert in
Nebenstraßen der Maaßen-, Derfflinger- und Kurfürstenstraße,
die führen in Gärten ein wunderbares Inseldasein. Andre sind
trotz ihrer Gärten verkommen, im Karlsbad zum Beispiel nahe
der Potsdamer Brücke. Die eine Brunnenfigur dort im Grünen
zerfällt so sehr, daß bald ihre Trümmer fortgeschafft werden
müssen. Die ähnliche im Vorgarten des alten Familienhauses
mitten im lebhaftesten Geschäftsviertel, Potsdamerstraße
nahe der Linkstraße, ist noch ganz wohlerhalten, obgleich
schon eine Zeitung mit ihrem Riesenplakat oben den
antikisierenden Fries des Hauses verdeckt und im ersten
Stockwerk sich der Vorderräume bemächtigt hat.
Alter Westen — selbst in den rauchgeschwärzten Straßen nahe
den Bahnhöfen bewahrt er noch hie und da einen Traubenfries,
eine weibliche Maske zwischen nackten Jünglingen, die, den
Thyrsusstab an der Schulter, auf Ranken hocken, eine
Türfassung wie Tempeltür, all das erbaut, modelliert in
schlechtem oder mäßigem Material von den allerletzten
Schinkelschülern, letzte Reste des preußischen
Griechenwesens.
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Ehe wir in Museen und in fremden Ländern die echte Antike zu
sehen bekommen, gesellt sich beiläufig dem Großstadtkind ein
wenig Mythos aus zweiter Hand, im Elternhause etwa ein
bronzener Apoll, der von des Vaters Schreibtisch zur Tür
hinzeigt, oder im Salon eine Venusbüste, die den Marmor
ihrer Armstümpfe in düsterm Glase spiegelt: seltsame nackte
Wesen, man weiß nicht, ob sie zuschauen oder wegschauen.
Kommt das Kind ins Freie, so begegnet ihm auf Schulweg oder
Spaziergang bald ein und das andre Wesen dieser wartenden
Welt. Hinter einem Gartenzaun hebt eine Flora Kranz oder
Schale. In einer Türnische schänkt eine Hebe aus einem Kruge
Unsichtbares. Auf der Freitreppe vor der Kohlenhandlung
steht, das rechte Knie vorgeschoben, in schmiegendem
Faltenkleid eine der vielen Grazien, die etwas zu halten
oder anzubieten scheinen, das meist nicht vorhanden ist. Von
uns älteren Kindern des Berliner Westens erinnert sich
mancher vielleicht noch an die vier oder sechs Musen, die in
einem Vorgarten der Magdeburgerstraße standen. Sie sind
inzwischen verschwunden. Bruchsteinern standen sie da und
hielten artig, soweit sie noch Hände hatten, ihre Kugel oder
ihren Stift. Sie verfolgten mit ihren weißen Steinaugen
unsern Weg, und es ist ein Teil von uns geworden, daß diese
Heidenmädchen uns angesehen haben.
Ob es wohl noch irgendwo im Tiergarten den bärtigen Apoll
gibt, der damals auf einem Spielplatz, den ich jetzt nicht
mehr finde, stand? Wir haben gegen seine Hinterseite, da, wo
sie den stützenden Stumpf überragte, Prallball gespielt. Das
war nicht ehrerbietig, hat aber eine Beziehung hergestellt.
An unserm Wege geblieben sind mancherlei Sphinxe, die vier
zum Beispiel, die auf der Brücke sich wegwenden von den
beiden Taten des Herkules, welche auf mittlerer Brückenhöhe
geschehen. Sie tragen sanft jede ein Kind mit Füllhorn auf
dem Rücken und lassen die Autobusse vorübergehen. Die
Herkulesse der beiden Taten sind etwas beunruhigend. Sie
stehen so, daß man immer in Sorge ist, sie selbst oder ihre
Gegner, der Löwe und der Zentaur, könnten ins Wasser fallen,
wenn sie es weiter so treiben. Die Sphinxe hingegen sind
beruhigend. Rätsel geben sie nicht auf. Eine noch harmlosere
weiß ich über dem Portal eines Hauses, das der Mauer des
zoologischen Gartens gegenüber liegt. Die wartet wie eine
freundliche Hausmeistersfrau und hat doch Flügel und Tatzen.
Allein diese Katze gehört schon halb in die Gegend des
Kurfürstendamms und nicht mehr in die alte Welt, in der wir
bleiben wollen. Wir finden zurück in stillere Straßen, und
angesichts kleiner Kapitelle an den verschiedenen Etagen
einiger Häuser fällt uns der erste Unterricht über
Säulenarten ein, den uns bei einem Spaziergang der Vater
oder der ältere Bruder gab: er lehrte uns den dorischen
Fladen, die ionische Schnecke und den korinthischen Kelch
mit seinen vielerlei Blättern unterscheiden. Und fortgesetzt
wurde diese Vorschule vor ganzen Säulenhallen, wenn man bis
unter die Linden kam und vom Brandenburger Tor bis zum
Opernhaus und zur neuen Wache vordrang. Kam man aber nur bis
zu den Tortempelchen am Leipziger Platz, gab es in nächster
Nähe wieder etwas wenig Beachtetes zu entdecken. Ich meine,
im Rasen verteilt, die acht Sandsteingruppen, die — einst
Laternenträger auf einer längst abgerissenen Brücke — hier
im Grünen gelandet sind. Daß es Laternen sind, was sie
tragen, erkannten wir nicht, wir fanden sie nur
geheimnisvoll um undeutliche Gegenstände und um einander
bemüht. Sie haben mich immer viel mehr interessiert als die
beiden Generäle Graf Brandenburg und Graf Wrangel, welche
näher an der Straße das Interesse auf sich zu lenken suchen.
Wenn ich eine Stimme im Rat der Stadt hätte, würde eine
ganze Reihe solcher Kriegshelden und sonstig berühmten
Männer, die auf Plätzen, an Brücken und Alleen sich
vordrängen mit ihren porträtähnlichen Steingesichtern oder
Bronzeröcken, durch unbestimmte Gartengötter ersetzt, die
nicht viel anhaben.
Nun, bis es dazu kommt, wollen wir zufrieden sein mit dem,
was wir haben, und sei es auch nur das Kleinwerk an alten
Häusern, Medaillons mit Mädchenköpfchen in reichem Haar oder
Jünglingsgesichtern unter phrygischer Mütze, kleinen Opfer-
oder Triumphzügen in Flachrelief über einer Beletage und
Putten, die zwischen Blattwerk und Arabesken über Türen oder
unter Fenstern hocken. Diese Putten waren immer besonders
vertrauenerweckend, da sie an den eigenen Knabenkörper
erinnerten. Ungewöhnlich verlockend aber wurden sie vor dem
Zeughaus, wo sie überlebensgroß zu Füßen der Riesinnen
stehen und, während die da oben nah bei ihren gewaltigen
Brüsten Belehrendes vornehmen, sich selig an die Fülle der
Gewandfalten schmiegen dürfen.
Bekommt man solche Putten und Göttinnen nur selten zu sehen,
so gibt es doch eine andere Art mythologischer Personen,
eine ganze *Plebs deorum*, die uns häufig Gesellschaft
leistet: die Karyatiden und Atlanten. Von so gelehrten Namen
weiß das Kind nichts, es sieht Mädchen, die, unter leichter
Last in die Hauswand eingelassen, ihr kleines Kapitell als
Kopfputz tragen. Schon vom Schoß ab werden sie Mauerwerk.
Andre müssen sich mühen und ducken, um vorragendes Gebälk zu
stützen. Da wechseln die Arme, bald wird der rechte, bald
der linke gebraucht und die freie Hand ruht auf dem Knie.
Bärtige Männer schleppen das Haus auf erhobenen Armen und
mit dem Nacken. Jünglinge stemmen die eine Schulter unter
den Torbogen und strecken den Arm dem Nachbarn hin über ein
Löwenhaupt. Manche haben wirklich schwer zu schleppen und
schlagen gewaltige Bauchfalten, andre scheinen die Mühe
etwas zu übertreiben und machen mehr Muskelspiel als
erforderlich.
Während diese Männer und Weiber im Freien ihr Wesen treiben,
erwarten uns bei seltenen festlichen Gelegenheiten einige
von ihnen in geschlossenen Räumen. Man wird mitgenommen, um
den Freischütz oder die Zauberflöte zu hören und sieh, da
tragen die weißen Freundinnen von der alltäglichen Straße
feierlich die Brüstungen des Zuschauerraums. Und in einem
andern Kunsthause stehen zwei, die ich immer besonders
geliebt habe, mühelos aufrecht unter ihrer Last wie ihre
Vorbilder im Tempel zu Athen. Das sind die beiden an der
großen Orgel der Philharmonie, die sich rechts und links von
dem filigranenen Gitterwerk des mächtigen Musikheizkörpers
erheben. Sie halten Leiern in den Händen, ohne
hineinzugreifen, und schauen leeren Gesichts geradeaus. Und
all unser Gefühl konnte in die Hülsen ihrer Gesichter
eingehen, wenn die Wasser der Musik uns zu ihnen
emportrugen. Wohl gibt es da näher als diese gestrengen
Göttinnen zwei christliche Engel, die mit belasteten Flügeln
unter der Saalwölbung sich ducken und viel entgegenkommender
auf uns heruntersehen, wir aber bleiben den fernen
Heidenfrauen treu.
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