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DER LANDWEHRKANAL
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:initial:`E`\ r beginnt und endet zwar bei Fabriksschlöten
und hat die geschäftigsten Teile der Ober- und Unterspree zu
verbinden, aber unterwegs wandert er durch soviel
Stadtidyll, daß sein Name in unserm Ohr einen sanften Klang
hat, als wäre er noch der alte Schafgraben, der einst an den
südlichen Stadttoren entlang floß, oder der ‚grüne Strand‘,
wie man ihn bis in die achtziger Jahre nannte, ehe seine
Ufer mit Quadern bekleidet wurden, wodurch er zu seinen vier
Schiffsbreiten kam.

Langsam gleiten durch sein Wasser die schwerbeladenen Kähne.
An Bordrand stakt einer mit langer Stange das Fahrzeug vom
Fleck, ein Hündchen hockt, ein Feuerchen raucht. Das dampft
aus der kleinen Küche wie im Zigeunerwagen. Andre Kähne
lagern an einigen Uferstellen und bieten Äpfel feil, rot wie
die Backen der Schifferkinder.

Bald nachdem der Kanal die chemischen Werke und technischen
Institute von Charlottenburg verlassen hat, beginnen
Baumalleen ihn zu säumen, und sein Strand heißt eine Strecke
lang Gartenufer. Und Brücken überschreiten ihn, die wie
Gartenstege über Gartenbächen sind. Da ist die
Lichtensteinbrücke, die vom Hintereingang des Zoologischen
Gartens zum Tiergarten führt, gar nicht weit von der
Schleuse, in deren glatt angleitende Flut und schäumend
abstürzende Wellen die Kinder so gerne schauen. Daß die
Stille dieser Brücke einmal entweiht worden ist von
Schurken, die ein paar Schritt weiter den sterbenden Leib
einer edlen Kämpferin, welche ihre Güte und Tapferkeit mit
dem Tod büßen mußte, ins Wasser geworfen haben —, man kann
es sich kaum vorstellen, wenn man hier die spiegelnden
Wipfel im Wasser ansieht. Begreiflicher schon ist es, daß
mancher Verzweifelte, manche Verlassene in den lockenden
Wassern des Kanals den Tod gesucht haben.

An der Corneliusbrücke geht die Parklandschaft des
Gartenufers mit grüner Brandung in die Stadtlandschaft über.
Und die Atmosphäre, die in dieser Gegend den Atem von Park,
Stadt und Wasser vereint, ist von zartem Farbenreichtum, wie
man ihn in dem hellgrau umrissenen Berlin sonst selten
findet. Kein Sonnenaufgang über den Bergen, kein
Sonnenuntergang an der See läßt den, der in Berlin Kind war,
die süßen Morgen- und Abendröten überm Frühling- und
Herbstlaub des Kanals vergessen.

Dann führt von der Herkulesbrücke bis zu dem wie auf einem
chinesischen Bilde geschwungenen Fußgängersteg, der
merkwürdigerweise Lützowbrücke heißt (aber nur nach dem
Dorf, nicht nach dem Kriegshelden), ein Stück Sandweg bis zu
der winzigen Parkanlage neben dem Klubhaus der Von der
Heydtstraße. Auf diesen Uferpfad gehen zum größten Teil
Hinterhäuser. Und die paar Zugänge der Häuser, die dieser
verwunschenen Gegend den Namen einer numerierten Straße
verschafft haben, scheinen Türen zum Glück zu sein.
Kastanien beschatten den immer dämmerigen Pfad und weiterhin
das Ufer, Kastanienbäume, die das Kind des Berliner Westens
in allen Jahreszeiten kennen lernt; an den feuchtstrotzenden
Knospen, den Blütenkerzen und den braunen Früchten, die sich
aus stachliger Hülle lösen, hat es im Spazierengehn seinen
ersten und angenehmsten Unterricht in der Botanik. Vor der
kleinen Parkanlage, bei der sich der Kanal zu einer Art
Ententeich verbreitert, neigen sich Bäumchen übers Wasser,
nach deren Namen das Kind fragt, um dann zum ersten Male das
Wort Trauerweiden zu hören. Von dem Nordufer des Kanals, der
Königin Augustastraße, führen nun alle Seitenstraßen in den
Tiergarten. Was hier an Häusern in Gärten steht, hat mit
Säulchen und Friesen, glatter und spalierbespannter Wand die
gute alte Zeit bewahrt. Zwischendurch gibts ein paar
Wagnisse und sanfte Entgleisungen ins Gotische oder
Nordisch-Üppige, aber das wirkt nur putzig wie Pagode und
künstliche Ruine in einem guten Garten. Je schmaler diese
Straßen sind oder werden, um so liebenswürdiger wirken sie,
wie etwa die Hildebrandt- oder die Regentenstraße.

Eine von ihnen verbreitert sich zu einem kleinen Platz rings
um die Matthäikirche; dies schmale Gotteshaus mit dem
spitzen Turm und spitzigen Nebentürmchen in dem gelben und
rötlichen Backstein erbaut, der so vielen Kirchen von Berlin
eine gewisse Ähnlichkeit mit Berliner Bahnhöfen gibt, erhebt
sich aus Efeuranken und über Fliederbuschwerk. Es bewahrt
noch eine kärgliche Vornehmheit von der Zeit her, da es das
Rendezvous der frommen Lebewelt war, der Leutnants und
Geheimratstöchter, die zusammen beteten und tanzten, und im
Volksmunde die Polkakirche hieß.

Der angenehm private Charakter der Königin Augustastraße
wird an ein paar Stellen gestört durch prätentiöse
öffentliche Gebäude, Reichswehrministerien und
Reichsversicherungsämter und dergleichen, aber sie ist immer
noch eine freundliche Uferpromenade. Ebenso das
gegenüberliegende Schöneberger Ufer, an welchem sich die
Neubauten und Umbauten dem stillen Wesen der alten Häuser im
allgemeinen gut anpassen. Knapp vor der Ecke der
Potsdamerstraße gab es bis vor kurzem eine ganz kleine
Synagoge, eine winzige Orientmauer, die wir liebten. Sie ist
nun weggebrochen mit ihren Nachbarn, um einem großen Eckhaus
Platz zu machen, ähnlich denen, die sich an den andern Ecken
der Doppelbrücke erheben. Bei dieser Potsdamer Doppelbrücke
streift unser stilles Wasser einen Augenblick dichteste
Großstadt. Da wird es abends bestrahlt von Lichtreklamen und
tags erschüttert von drängendem und stockendem Verkehr.
Dieser Großstadtlärm bekümmert wenig vier Herren, die dort
auf Postamenten an den äußeren Ecken der beiden Brücken in
Bronze bei ihren Apparaten sitzen. Jeder hat ein nacktes
Bübchen zu seinen Füßen, das mit den subtil ausgeführten
Instrumenten spielen darf. Gauß und Siemens arbeiten eifrig
und ohne aufzublicken an ihren Erfindungen und Experimenten,
während Röntgen in veritablen Schnürschuhen seinem Kleinen
zeigt, was er fertig hat, und Helmholtz, der Theoretiker,
müßig vor sich hinträumt. Leute von Geschmack und mit ihnen
der Baedeker behaupten, die Denkmäler seien nicht besonders
glücklich aufgestellt. Ich rechne sie zu den harmlosen. Ihre
Anwesenheit hat etwas Tröstliches, so oft man über den Damm
zu ihnen in sichern Port gelangt ist. Auch ist es
erfreulich, daß die Unbilden der Witterung den mit sehr
ähnlichen Röcken leichtbekleideten Herren und den nackten
Bübchen gar nichts ausmachen.

Wir verlassen eine kleine Weile das Schöneberger Ufer und
treten in das Eckhaus der Potsdamerstraße ein. Das ist außen
gelbgetüncht und zu modernster Bandstreifenarchitektur
vereinfacht. Innen aber erinnern im Treppenhaus und in den
Fluren der einzelnen Stockwerke Stuckornamente an die Zeit,
da es ein großbürgerliches Wohnhaus war. Jetzt ist es ganz
Bürohaus geworden. G. m. b. H.s hausen hier mit abgekürzten
Namen, Hibado und Raweci oder so ähnlich, Anwaltbüros und
Ärztesprechzimmer gibt es und einen großen Verlag, und da
wir mit diesem befreundet sind, dürfen wir in seine Räume
eintreten und aus dem Fenster sehen auf das
Pfefferkuchenpflaster des Karlsbades, dieser alten
Seitengasse, die mit verwilderten Vorgärten und brüchigen
Balkonen vergangener Vornehmheit nachhängt. Dort drüben,
schon fast an der Flottwellstraße, weiß ich den Torweg,
durch den Schienen zu einem Fabrikgebäude im Hofe führen,
und in demselben Hofe der modernen Fabrik gegenüber ein
Gartenpavillon, vielleicht Rest eines Landhauses an der
alten Potsdamer Chaussee, ein winziges bürgerliches Trianon
mit ein paar Stufen zum Glück, zu umranktem Vorplatz mit
Steinvasen über der Balustrade und zu der Glasveranda, aus
der man jetzt statt auf Gärten auf den Hühnerhof des
Hauspförtners und die grünüberwucherte Wand des Nachbarn
schaut. So ähnlich mag auch das Haus gewesen sein, in
welches im Jahre 48 in den Märztagen der Prinz von Preußen
flüchtete, als er in der Dämmerung durchs Potsdamer Tor
entkommen war. Hier konnte er sich verborgen halten im alten
Karlsbade. Wir hören Leierkastenmusik und eine Stimme und
gehen über den Flur an ein Hoffenster des Hauses. Einer der
schachttiefen Höfe liegt unter uns, wie ihn Tausende von
Berliner Bürohäusern haben. Lauter kahle Fenster, hinter
denen Umrisse von Schreibmaschinen, Regalen und Kartotheken
zu sehn sind. Aber ein paar der Fenster gehn auf, und die
Mädchen mit den schwarzen Schutzärmeln sehen ein bißchen
hinunter auf die Musik.

Ist der Kanal unter der Potsdamerbrücke hindurch, darf er
noch eine Weile an stillen Ufern hinfließen. Dann
überschatten ihn Viadukte, er streift Zugänge und Zufahrten
von Bahnhöfen, und wo er sich dann zum viereckigen Hafen
erweitert, ist er von Eisenbahnämtern gerandet. Am
Hafenplatze aber stehn von alters her eine Reihe schöner
Platanen. Wer aus dem Westen Berlins nach dem Süden Europas
reisen will, kommt auf dem Weg zum Anhalter Bahnhof an
diesen Bäumen vorbei und empfängt von ihren hellgefleckten
Stämmen und dem Flimmern ihres Laubes ein Vorgefühl von
Eukalyptusstämmen und Olivenlaub.

Von hier führt ein kurzes Stück Straße zu dem Hochbahnhof
Gleisdreieck, der über dem gewaltigen eisernen Spinnennetz
von Schienensträngen liegt, auf denen von Güter-, Fern- und
Untergrundbahnen Dampfgestoßenes und elektrisch Gleitendes
zusammenströmt. Das, was da oben zu erleben ist, gehört zu
der Rundfahrt mit Stadt-, Ring- und Hochbahn, die Baedeker
uns empfiehlt, zu der Fahrt, die eine Art neue Stadtmauer um
das ältere Berlin baut und zum Teil Spuren früherer Mauern
verfolgt.

Jetzt aber folgen wir dem Wasserweg des Kanals, der eine
Strecke lang neben dem Viadukt der Hochbahn eine sanft
gebogene Linie beschreibt, um sich am Halleschen Tor von ihm
zu entfernen. Nun steigen zinnenbewehrte Rundtürme auf:
Gasanstalten, die ältesten von Berlin, die in den zwanziger
Jahren von der englischen Imperial-Continental-Association
gegründet wurden. Und gegenüber erstreckt sich das Planufer,
in alter Zeit eine vorstädtische Wohngegend und immer noch
bequem und weit zu gehen. Es führt an Straßen und Plätzen
hin, deren Namen Vergangenheiten enthalten, Am
Johannestisch, Johanniter- und Tempelherrenstraße. Eine
jüngere putzige Vergangenheit wird überliefert: ein Saal der
Stadtmission, die hier, ein Werk des berühmten Hofpredigers
Stöcker, ihre Stätte hat und ihre ‚Schrippenkirche‘ abhält,
in der Bettler und Obdachlose zwei Schrippen, einen Becher
Kaffee und ein Wort für die Seele bekommen; ein Saal dieser
Mission war früher einmal Theaterraum einer Possenbühne, in
der der sogenannte Meerschweinchendirektor Carli Callenbach
regierte.

Urbanhafen: ein Seitenkanal umfließt eine trapezförmige
Insel, auf der aus- und eingeladen wird, Hebebrücken und
Kräne sind am Werk. Gen Norden aber hinterm Wasser erstreckt
sich ein Schlachtfeld von Erdarbeiten, Abbruch und Aufbau,
Ruinenstadt und werdende Stadt. Das ganze Gebiet des
früheren Luisenufers vom ehemaligen Engelbecken bis zum
weiland Torbecken ist trockengelegt worden, um einer
großen Avenue Platz zu machen, die von Norden nach Süden
gebaut wird. Angelockt von dem Chaos aus Sand und Schutt,
gehen wir ein Stück in der Richtung nach dem Kottbuser Tor
zu. Da wird gerade an der Hochbahn umgebaut und wir geraten
unter ein grelles Netzwerk mennigroter Eisenträger. Die
Kottbuserstraße führt uns zurück an den Kanal, und wir
kommen in die Budenstadt eines Marktes, der das ganze
Maybacher Ufer bedeckt. Hier scheint von Süden her ganz
Neukölln herbeigekommen zu sein, um einzukaufen. Es gibt
alles: Pantoffeln und Rotkohl, Ziegenschmalz und
Schnürsenkel, Krawatten und Fettbücklinge. Neben der alten
Jüdin, die Pelzfetzen breitet und Seide auspackt, ißt eine
Nachbarin von ihrem Gemüsekarren eine rohe Karotte. Dem
wüstesten Fischgestank gegenüber verheißen die Flaschen mit
Maiglöckchenessenz billig süßen Duft. Und streifenweise
unterbricht die andern Auslagen immer wieder ein ‚Posten‘
Strümpfe aus Seidenflor oder aus unzerstörbarer
‚Panzerseide‘. Stellenweise münden die Läden der Straße in
den Marktverkauf. Das Emailgeschäft baut seine Ware den Damm
herüber. ‚Tulpenzwiebeln ausnahmsweise billig vor
Feierabend‘, ‚Gelegenheitskauf, junge Frau‘, ‚Echte
Beerblanche‘, ruft es. ‚Winterrote, alle mehlig‘, preist
einer seine Kartoffeln. Neben ihm gibt es wahrhaftig noch
etwas zu sehn, was uns schon Museumsgegenstand scheint,
richtige Haarnadeln wie in unserer Jugendzeit und runde
Kämme, wie damals Frauen sie ins Haar steckten.

Die Einmündung des Teltowkanals und der rechte Winkel, den
unser Kanal bildet, ist durch allerlei Schuppen und
Bretterwände verbaut und man muß wie so oft das Leben der
Stadt von den Inschriften ablesen: ‚Gerüstbau- und
Verleihanstalt‘, ‚Hunde werden geschoren und kupiert‘,
‚Rohre, Träger, Formeisen, Zaunstäbe, Nutzeisen aller Art‘,
‚Altes Studentenbad‘. Über dieser Inschrift flattern
schwarzweiße Fähnchen. Aber was sie verheißt, ist nicht mehr
zu finden.

Noch einmal teilt sich unser Kanal und geht mit zwei Armen
in die Spree. Wir gehen den Freiarchengraben an dem etwas
kümmerlichen Grün des Schlesischen Busches entlang und einen
Pfad bis an den Fluß, der hier den breiten Osthafen bildet.
Mit rotem Verdeck schwimmt ein stolzes Steinschiff, der
Neubau der ABOAG, von Süden her.

Das ist der Landwehrkanal. Man behauptet, er solle auch bald
einmal trockengelegt werden, er rentiere sich nicht mehr.
Dann würde uns wieder ein Stück Leben zu blasser Erinnerung
werden.