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.. include:: global.rst
NORDWESTEN
==========
:centerblock:`\*`
:initial:`W`\ o sich heute die Museen an der Invalidenstraße
erheben (zwischen dem der Landwirtschaftlichen Hochschule
und dem geologischen das für Naturkunde, darin man den
berühmten Urvogel bewundern kann und allerhand saurische
Zeitgenossen von ihm in Skelett oder Abguß), da ließ einst
der Alte Fritz Maulbeerplantagen anpflanzen, damit seine
Invaliden Seidenraupenzucht trieben. Ein Stückchen weiter
nach Norden steht noch heute das Invalidenhaus, das er
*‚laeso et invicto militi‘* errichtete. Es lag damals in
ödem Gebiet, das einst Sandscholle hieß. Dort soll sich der
Sand bisweilen so hoch an der Stadtmauer gehäuft haben, daß
man über sie weg in die Stadt reiten konnte. Schön ist der
Eingang zu dem Invalidenhaus mit der rundgewölbten Holztür
und dem Oeil de bœuf darüber. Im Hof sieht man Kanonenrohre
liegen, verrostende Kriegsvergangenheiten. Und viele
berühmte Kriegsmänner ruhen auf dem Invalidenfriedhof
daneben. Das ist einer der Altberliner Kirchhöfe, wo man
noch eine ganze Reihe schöner Grabmonumente zu sehen
bekommt. Antikische Helme auf Schilden oder eine Steinvase
von wunderbar einfacher Größe auf Grabsteinen der Obersten
und Kommandanten des Invalidenhauses, Friesens schwarzes
Kreuz, Scharnhorsts hohen Marmor mit dem sterbenden Löwen,
Trophäen über Winterfeldts Grab und die Zinkplatte über dem
Grabe Tauentziens. Auch einen der preußisch neugotischen
Turmbaldachine, die nach Schinkels Entwürfen in der
königlichen Eisengießerei geschaffen wurden.
Es ist schön, hier von Stein zu Stein zu wandern; so dicht
wie hier sind nur noch selten die Monumente der älteren
Berliner Friedhofkunst beisammen, Denkmäler der Zeit
Schadows und Schinkels und der spätfriderizianischen Zeit,
die Grazie und Strenge so einzig vereinte. In der
Chausseestraße, am Prenzlauer Tor und südlich vom Halleschen
Tore und in einigen andern in der Altstadt verbliebenen
Kirchhöfen kann man ähnliche efeuumgebene Wege in die alte
Grabkunst wandern zu den Malen Berühmter und Vergessener.
Leider muß man dabei oft vorbeifinden an den Kuppeln,
Baldachinen und Bogenhallen, zu deren ‚geschmackvoller‘
Herstellung in bestem Material und jeder Preislage
allmählich eine große Industrie sich entwickelte.
Auf diesen schönen kleinen Friedhof war ich geraten, statt
mich, wie beabsichtigt, ans andre Ende der Invalidenstraße
zum Kriminalgericht zu begeben, um zu meiner Belehrung einer
Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Das hatte ich einmal getan
vor Jahren, als ein Gotteslästerungsprozeß vorgeführt wurde,
bei dem Zeugen, Richter und Angeklagter zum Teil
ausgezeichnet spielten, nur der, welcher den Staatsanwalt
gab, chargierte zu sehr und war von unwahrscheinlicher
Witzblattkomik. Ich komme vielleicht doch noch zurecht,
suchte ich mir einzureden. Die Trambahn brachte mich rasch
vorbei an dem ehemaligen Hamburger Bahnhof, der so hübsch
ungebraucht aussieht (es ist aber ein Verkehrsmuseum darin),
am Humboldtshafen, Lehrter Bahnhof und Ausstellungspark. Ein
Blick auf den festungsartigen Komplex des Zellengefängnisses
mit dem mächtigen Turm, dann stieg ich aus vor dem Löwen,
der vor dem Gerichtsgebäude die Schlange des Verbrechertums
bekämpft. Am Sockel dieses Löwen steht derselbe Künstlername
wie an dem seines Vetters, der in der nach ihm benannten
Allee des Tiergartens sich über seiner verwundeten Löwin
drohend aufrichtet. Er hat aber gar nichts Furchtbares,
dieser gute Gatte, besonders für unsereinen, der von
Kindheit an so oft an ihm vorbeispaziert ist, daß er wie
Spielzeug auf dem Bord der Erinnerung steht. An diesen
lieben Löwen dachte ich und hatte nun gar keine Lust mehr,
in das große rote Haus zu gehn, das der Schlangentöter
bewacht. Ich schlich, wie hinter die Schule, an einer Seite
des mächtigen Fünfecks entlang, kam in die freundlichen
Anlagen des kleinen Tiergartens und sah auf das eifrige
Treiben vor der Meierei Bolle, vor der gerade eine Menge der
jedem Berliner Kind wohlvertrauten Milchwagen ankamen und
hielten und in ihren blauen Schürzenkleidern die Mädchen und
Burschen sich von den Rücksitzen schwangen. Unter die hätte
man sich mischen sollen, um Heimatkunde zu treiben. Statt
dessen trieb es mich nordwärts durch die Anlagen in eine
Querstraße der langen Turmstraße.
Und da bin ich ganz zufällig in etwas recht Berlinisches
hineingeraten. Da standen an dem Eingang zu einem der
Etablissements, die Vor- oder Familiennamen der Hohenzollern
mit Schultheiß- und Patzenhoferausschank verbinden, einige
Leute, denen es festlich unterm Mantel vorschaute. Und so
mutlos ich vor den Löwen der Gerechtigkeit und den
Bollemädchen gewesen war, hier faßte ich gleich bürgerliches
Vertrauen und ging mit hinein in die Feier des sechsten
Stiftungsfestes eines Musikvereins, der eine
Liebhaberaufführung veranstaltete. Eine Operette sollte
gegeben werden von einem der Mitglieder. Man saß an Tischen
und bekam Kaffee und Kuchen, es war ein Sonnabend
nachmittag. Die Vorstellung begann mit einem tiefen Knix,
einem Hofknix aus alter Zeit, wie man ihn heutzutage selten
zu sehen bekommt. Den führte die Dame aus, welche den
Begrüßungsmonolog aufsagte. Und dann wandte sich der Herr
Kapellmeister und Komponist an das hochverehrte Publikum und
wies auf die unvermeidlichen Schwierigkeiten hin, die es
‚Dilettanten, die doch nur in den Mußestunden ihrer
Berufstätigkeit sich der Kunst widmen können‘, bereitet,
eine ganze Operette einzustudieren und mit unzureichenden
Mitteln aufzuführen. Die Operette spielte in dem
spezifischen Operettenlande zwischen Wien und dem
Türkenreich, wo soviel Gräfinnen, Lebemänner, Zigeuner,
bunte Bäuerinnen, Schmuggler und schicke Leutnants wohnen.
Und die vollschlanken Damen des Chores bewährten sich sowohl
als Landmädchen wie als vornehme Gäste der Schloßsoiree. Die
Hauptdarsteller wurden nach jedem Solo und Duett heftig
beklatscht und mußten das meiste wiederholen, nicht nur
Scherzhaftes, sondern auch Gefühlvolles wie ‚Mädel sag mir
ein Wort / Mädel, ich muß gleich fort!‘ Und das hatten sie
ebensogut verdient wie unsre berühmten Kammersänger, die als
berühmte Personnagen aus dem 18. Jahrhundert ihre
Partnerinnen wie Blasebälge an die mächtige tonbildende
Brust pressen und immer wiederholen, wie sehr sie sie
lieben.
Dabei befanden sich diese Ausnahmskünstler ziemlich
kritischen Zuhörern gegenüber, die zum großen Teil die
Proben des Musikvereins miterlebt hatten und sich auf
Nuancen verstanden. Mir sind sehr subtile Äußerungen aus dem
Publikum zu Ohren gekommen. So meinte zum Beispiel eine
Tischnachbarin von der einen jugendlichen Liebhaberin, sie
hätte nicht das Schwarze anziehn sollen, das sie zu alt
macht, sie hat doch ein Lila . . . Wie es bei den großen
Premieren üblich ist, müßte man eine Modeschau schreiben,
nicht nur von den Künstlerinnen, auch vom Zuschauerkreise:
Wo sie Rosen sitzen hatten, die würdigen Damen mit den
Häkelschals überm Ausschnitt, wie diskret die dunklen
Seidenkleider der kräftigen Mütter, wie zartfarben die
Toiletten der schmalen Töchter waren. Zu loben wäre die
äußerst korrekte Festkleidung der Herren, die manchen
Theaterabend im Westen Berlins beschämte. Wilhelm II., der
als Admiral auf der Kommandobrücke aus einem Wandbild auf
seine weiland Untertanen niederschaute, konnte mit seinen
Moabitern zufrieden sein.
Behufs Czardas hatte der Komponist und Regisseur seinen
Getreuen die nötige Menge Feuer ins Blut gezaubert. Mit
Fingerschnalzen und Hüftenstemmen wurde er getanzt. Doch
auch der mondäne taillentastende, herüber und hinüber
nickende Schieber gelang, vor allem aber der Walzer, von dem
wir aus einem Liede erfuhren, daß er doch der schönste aller
Tänze sei.
Und nach der Vorführung hat dann Publikum und Künstlerschaft
in dem andern Saale weitergetanzt, da, wo die Bilder
Wilhelms I. und Friedrichs III. hängen. In diese Lust wagte
ich aber nicht mich zu mischen.
Auf Umwegen unter Ringbahnbögen über Kanalbrücken geriet ich
in die Gegend, wo die Chausseestraße in die Müllerstraße
übergeht, und ein Stück dieser endlosen Stadt- und
Vorstadtstraße hinauf. Da war an jeder Ecke und auch
zwischendurch auf dem Trottoir Straßenhandel mit den
verschiedensten Gegenständen. Ein kragenloser junger Bursche
mit langen scharfen Falten auf fahlen Backen bot
illustrierte Hefte feil mit Aktphotos. Er rief dazu: ‚Was
das is? — Sexualetät is das. Und was is Sexualetät? Ganz was
Natürliches. Wie sieht der Mensch aus? So und nich anders.
Einer geniert sich immer nur vor dem andern. Sonst würd’s
jeder kaufen, der kein Sittlichkeitsapostel is . . . Du jeh
man lieber nach Haus‘, wandte er sich zwischendurch an einen
Minderjährigen. ‚Für dich is es noch nichts. Mutter sucht
dir schon mits Motorrad.‘
Ein Stück weiter gleich hinter den Manschettenbuketts und
den bunten Kinderwindmühlen hatte Einer Stock und Hut auf
der Erde liegen und stand nachdenklich davor, was allgemeine
Aufmerksamkeit erregte. Dann zeigte er auf seine Stirn, als
fiele ihm was ein. Er hob den Stock auf, den ihm ein Junge
hielt. Er schraubte da was hinein, hing daran Hut, Rock und
Mantel auf und rief ‚Zehn Fennije der Kleiderschrank‘. Und
dann hielt er der Versammlung eine Rede, die so schön war,
daß ich versucht habe, seine Worte in Verse zu bringen:
| ‚ZEHN FENNIJE DER KLEIDERSCHRANK!‘
| Ick spüre Ihre stumme Frage:
| Wat soll mit dieses Zeug jeschehn?
| Sie kommen alle in die Lage,
| Wodrin Se mir hier stehen sehn.
| Im Walde jibt et keene Bänke,
| Det Jras macht Rock und Hose jrien,
| Im Freibad jibt et keene Schränke,
| Wo sollen de Klamotten hin?
| Da muß der Mensch sich wat ersinnen.
| Det hab ick Ihnen mitjebracht,
| Sie könn’t an jeden Baum anpinnen,
| Sehn Se ma her, wie man et macht.
| Du Kleener, halt mer ma de Stange.
| Sie sehn, da is keen Schwindel mang.
| Een Jriff — keen Hammer, keene Zange —
| Und fertig is der Kleiderschrank.
| Se haben weiters keene Spesen,
| Die Sachen hängen tadellos.
| Und woll’n Se wieder heimwärts peesen,
| Een Ruck — schon is de Nadel los.
| Und daß se Sie nich in de Beene
| Und durch den Hosenboden sticht,
| Davor is diese liebe Kleene
| Ooch noch zum Klappen einjericht’t.
| Hier, bitte selber zu probieren.
| Det rostet nie, bleibt immer blank,
| Se können’t mit Papier polieren.
| :letterspace:`Zehn Fennije der Kleiderschrank!`
Dann stand da Einer in weißem Mantel wie ein Assistent der
Klinik angetan. War es der, welcher echte Glaserdiamanten
hatte, oder der mit dem Universalfleckreiniger oder dem
Continentalkitt? Er hatte Mikrophon und Lautsprecher neben
sich, weil ihm die eigene Stimme nicht ausreichte. Es
dröhnte von seinem Tisch her wie der Lärm eines wütenden
Bauchredners. Auch den alten Wäscheschoner habe ich hier
wiedergesehen, von dem Hans Ostwald so schön das ‚Boniment‘
festgehalten hat: »Sämtliche Kapazitäten haben diesen
Wäscheschoner untersucht und mir Gutachten ausgestellt . . .
In dieser Zeit, wo doch jeder sauber aussehn muß, ist der
Wäscheschoner ein Rettungsengel . . . Sie nehmen den weichen
Stehumlegekragen, schlagen ihn auf, legen den steifen
Wäscheschoner hinein, schlagen ihn zu. So . . . Wie sitzt
er? Straff und elegant. Und wenn sonst der Kragen nach
wenigen Stunden unsauber ist, jetzt können Sie ihn acht Tage
tragen. Wer solchen Wäscheschoner trägt, wird stets alle
Mitbewerber aus dem Felde schlagen.« Auch der neueste
Krawattenhalter tauchte auf. »Ein Griff — und weder die
genähte Krawatte noch der Selbstbinder kann aus dem Kragen
rutschen. Der vollendete Krawattenhalter. Wir schonen unsere
Schlipse!« Und drüben steht der Bücherwagen. Der hat hier
weniger Käufer als in großbürgerlichen Gegenden. Dafür aber
doch viel Zuspruch. Einige lesen im Stehen eine ganze
Zeitlang in den Schmökern und Heften. Und der gute
Wagenhüter läßt sie ruhig gewähren. Manche kommen alle Tage
vorbei und lesen immer ein Stückchen weiter. Eine rollende
Leihbibliothek!
Dort wo das Pflaster aufgerissen ist, haben die Kinder aus
dem aufgeschütteten Sand Berge mit Tunnels gebaut. Aus den
Häusern schauen ihnen auf ihre Fensterkissen gelehnt die
Mütter zu.
Nach Tegel führen schöne Wald- und Wasserwege von Spandau
her. Aber zur Erkenntnis der merkwürdigen Zwischenwelt, die
man Weichbild, Bannmeile, ‚wartendes Land‘ nennt, empfiehlt
sich die Strecke, welche die Trambahn zurücklegt, und ihre
nähere und weitere Umgebung. In dieser problematischen Zone
ergibt sich ja selten der sanfte Übergang, der bei Dorf oder
Kleinstadt Wohn- und Wanderwelt verbindet. Meist schneidet
plötzlich die Häuserreihe mit blinder Mauer ab. Und was dann
im Felde umherliegt oder aufragt, macht die Leere nur noch
leerer: die Schuppen, die Zäune aus Stacheldraht, die
gestapelten Tonrohre, die Schlöte einzelner Fabriken, Lager
und Schienenstränge für Warentransport. Aber das Volk von
Berlin fürchtet und bekämpft instinktiv alles Chaotische,
Unbestimmte, es versucht, so gut es geht, überall
aufzuräumen und zu ordnen. Es arbeitet eifrig, alle Leere zu
füllen. Wo Bauland längere Zeit freisteht, hat es seine
Schrebergärten, seine Laubenkolonien angelegt, diese rührend
gepflegten Stätten mit ein bißchen Haus und Acker,
Gemüsebeet und Blumengarten für jede Familie, woraus dann
eine blühende Gesamtheit, ein Riesenbeet, ein
Tausendblumengarten geworden ist. Und obwohl — oder
vielleicht weil — diese Welt ein nur flüchtiges Dasein hat
(denn immer wieder bedroht sie die Neuausdehnung der Stadt
und die Baulust der Unternehmer), so haben doch diese
Laubhütten und Gärten nichts Provisorisches oder
Nomadisches, sie sehen wie dauernde Paradiese aus, sind
proletarische oder kleinbürgerliche Gefilde der Seligen. Die
hemdsärmeligen Mannsleute, die da säen, Mütter, die gießen,
Töchter, die Schoten pahlen, scheinen nie etwas andres getan
zu haben. Ihr Dasein in den Gärten wirkt nicht wie eine
abendliche oder sonntägliche Erholungsfrist von Leuten, die
tagsüber das Pedal der Nähmaschine treten, Drähte ziehen und
Stäbe hämmern, Krane und Turbinen bedienen, Leichtes
verpacken und Schweres verladen. Sie scheinen lebenslänglich
unter Kletterrosen und Sonnenblumen nur mit Petersilie,
Mohrrübe und Bohne zu tun zu haben. Und ihre idyllische
Arbeit wird nur abgelöst, sollte man denken, von
Festlichkeiten, zu denen die Nachbarn sich vereinen.
Anschläge des Pflanzervereins ‚Erholung‘ laden ein zur
italienischen Nacht, den Kindern wird verheißen ‚Onkel Pelle
ist zur Stelle‘, die Kolonie Waldesgrün verspricht
musikalische Abendunterhaltung. Wie hier südlich der
Müllerstraße gibt es um Berlin unzählige solcher
Kleingärten, die zusammen einen grünen Streifen rund um die
Stadt bilden, der einzelne Abzweigungen im Innern behalten
hat, sich nach außen gürtelhaft zu schließen strebt, immer
wieder etwas verschoben und stellenweise durchbrochen wird.
Teile dieses Glückstreifens bleiben manchmal eine Zeitlang
mitten im Häusermeer zurück und bilden mit den Parks und
Gartenplätzen das grüne Glück des Großstädters. Von diesen
Parks sind einige, hier im Nordwesten wie im Norden und
Süden, an die Peripherie gelegt und helfen die Schrecken des
Weichbildes verdrängen. Wo einst die kahlen Rehberge waren,
eine Sandwüste, nur von Schießständen und Schuttablagerungen
unterbrochen, sind jetzt bis an den Rand des Kiefernwaldes
weite Rasenflächen, Abhänge voll Mohn und Wildrosengebüsche,
schneeige Felder von Margueriten. Auf braunem Sand laufen
Kinder in Badehosen herum, die größeren tummeln sich auf dem
Sportplatz, die ganz kleinen werden von den Müttern über
blanken Kies spazieren gefahren, und auf hoher Bank, von der
man 'weit über Kirchhof und Wasser bis zu den Schornsteinen
der Siemensstadt und denen hinter Plötzensee sieht, sitzen
an bienenumsummten Blumenbeeten alte Männer auf ihre Stöcke
gestützt.
Auch nördlich der Müllerstraße gibts eine hübsche
Gartenwelt, den Schillerpark. Und wäre ich, statt hier an
der Trambahnstrecke zu bleiben, südlich tiefer in das weite
Gebiet der Jungfernheide gedrungen, so hätte ich hinterm
Spandauer Schiffahrtskanal nach Westend zu wieder einen
großen Volkspark gefunden. Aber nun fahr ich Tram durch das
Dorf Wittenau, wo vor Fabriken und Schuppen die
kleinstädtischen Straßen zurückweichen und sozusagen wieder
der ‚Ernst des Lebens‘ beginnt. Und auch Tegel fängt, wenn
man von dieser Seite kommt, recht städtisch an.
Strafgefängnis, Gaswerk und die große Maschinenfabrik und
Eisengießerei von Borsig. Das Tor und die Teile des
Komplexes, an denen wir nahe vorbeifahren, sind schon etwas
altertümlich. Aber dahinter ragt das neue zwölfstöckige
Turmhaus, ein schmucklos stolzer, scharfkantiger Belfried
der Arbeit. Dann endlich kommen wir in Busch- und
Gartenland. Ich steige aus und gehe in den Park der
Humboldts. Das Schloß hat ihnen Schinkel aus einem Jagdhaus
des Großen Kurfürsten umgebaut. Versonnen und vornehm die
Fensterreihe. In den Nischen Götterstatuen. Und oben
griechische Inschriften. In einem Zimmer ist Licht. Jetzt
wird auch ein Fenster der großen Saalreihe hell. Es ist also
nicht verlorene Vergangenheit, dies edle Gebäude. Menschen
wohnen darin, für die Statuen und Bilder und vielleicht auch
noch Möbel des Schlosses Familienbesitz, ‚Überlieferung und
Gnade‘ sind. Begleitet von der Wärme dieses Lichtes geh ich
einen Parkweg bis zu der Grabstätte der Humboldts und ihrer
Nachkommen. Über den efeubedeckten Grabplatten erhebt sich
eine hohe Säule mit der Marmorstatue der Hoffnung.
Danach mochte ich nicht gleich in die Stadt zurück, ich
wanderte lange durch tiefe Sandwege zwischen mageren Kiefern
und Föhren in der Gegend von Saatwinkel. Märkische Mischung
von Wüste und krüppeligem Urwald. Bis schließlich ein Zaun
auftauchte und dahinter ein leerstehendes Gartenlokal. Auf
Mauerwerk verblaßte Inschriften: Allheil, Eingang zum
Waldschlößchen. Und deutlicher auf einem Lattenschild:
Continental Bau-A. G. Die Straße führte über den Spandauer
Kanal und schließlich zu Gebäuden und Trambahnschienen.
Und dann fuhr ich durch Siemensstadt heim, vorbei an den
Türmen: Blockwerk, Schaltwerkhochhaus und dem Wernerwerk mit
dem Uhrturm, dessen Zifferblatt weithin die Stunde strahlte.
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