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  <title>Ratcliff.</title>
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<body>
<h4>Ratcliff.</h4>

<p>
Der Traumgott brachte mich in eine Landschaft,<br />
Wo Trauerweiden mir »Willkommen«; winkten,<br />
Mit ihren langen, grünen Armen, wo die Blumen<br />
Mit klugen Schwesteraugen still mich ansah'n,<br />
Wo mir vertraulich klang der Vögel Zwitschern,<br />
Wo gar der Hunde Bellen mir bekannt schien,<br />
Und Stimmen und Gestalten mich begrüßten,<br />
Wie einen alten Freund, und wo doch Alles<br />
So fremd mir schien, so wunderseltsam fremd.<br />
Vor einem ländlich schmucken Hause stand ich,<br />
In meiner Brust bewegte sich's, im Kopfe<br />
War's ruhig, ruhig schüttelte ich ab<br />
Den Staub von meinen Reisekleidern,<br />
Dumpf klang die Klingel, und die Thür ging auf.
</p>
<p>
Da waren Männer, Frauen, viel bekannte<br />
Gesichter. Stiller Kummer lag auf allen<br />
Und heimlich scheue Angst. Seltsam verstört,<br />
Mit Beileidsmienen fast, sah'n sie mich an,<br />
Daß es mir selber durch die Seele schauert',<br />
Wie Ahnung eines unbekannten Unheils.
</p>
<p>
Die alte Marg'reth hab' ich gleich erkannt;<br />
Ich sah sie forschend an, jedoch sie sprach nicht.<br />
»Wo ist Maria?«; fragt' ich, doch sie sprach nicht,<br />
Griff leise meine Hand, und führte mich<br />
Durch viele lange, leuchtende Gemächer,<br />
Wo Prunk und Pracht und Todtenstille herrschte,<br />
Und führt' mich endlich in ein dämmernd Zimmer,<br />
Und zeigt' mit abgewandtem Angesicht',<br />
Nach der Gestalt, die auf dem Sopha saß.<br />
»Sind Sie Maria?«; fragt' ich. Innerlich<br />
Erstaunt' ich selber ob der Festigkeit,<br />
Womit ich sprach. Und steinern und metalllos<br />
Scholl eine Stimm': »So nennen mich die Leute.«;<br />
Ein schneidend Weh durchfröstelte mich da,<br />
Denn jener hohle, kalte Ton war doch&nbsp;&ndash;<br />
Die einst so süße Stimme von Maria!<br />
Und jenes Weib im fahlen Lillakleid,<br />
Nachlässig angezogen, Busen schlotternd,<br />
Die Augen gläsern starr, die Wangenmuskeln<br />
Des weißen Angesichtes lederschlaff&nbsp;&ndash;<br />
Ach, jenes Weib war doch die einst so schöne,<br />
Die blühend holde, liebliche Maria!<br />
»Sie waren lang auf Reisen!«; sprach sie laut,<br />
Mit kalt unheimlicher Vertraulichkeit,<br />
»Sie schaun nicht mehr so schmachtend, liebster Freund,<br />
Sie sind gesund, und pralle Lend' und Wade<br />
Bezeugt Solidität.«; Ein süßlich Lächeln
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<p>
Umzitterte den gelblich blassen Mund.<br />
In der Verwirrung sprach's aus mir hervor:<br />
»Man sagte mir, Sie haben sich vermählt?«;<br />
»Ach ja!«; sprach sie gleichgültig laut und lachend,<br />
»Hab' einen Stock von Holz, der überzogen<br />
Mit Leder ist, Gemahl sich nennt; doch Holz<br />
Ist Holz!«; Und klanglos widrig lachte sie,<br />
Daß kalte Angst durch meine Seele rann,<br />
Und Zweifel mich ergriff:&nbsp;&ndash; sind das die keuschen,<br />
Die blumenzarten Lippen von Maria?<br />
Sie aber hob sich in die Höh', nahm rasch<br />
Vom Stuhl den Türken-Shwal, warf ihn<br />
Um ihren Hals, hing sich an meinen Arm,<br />
Zog mich von hinnen, durch die offne Hausthür,<br />
Und zog mich fort durch Feld und Busch und Au'.
</p>
<p>
Die glühend rothe Sonnenscheibe schwebte<br />
Schon niedrig, und ihr Purpur überstrahlte<br />
Die Bäume und die Blumen und den Strom,<br />
Der in der Ferne majestätisch floß.<br />
»Sehn Sie das große, goldne Auge schwimmen<br />
Im blauen Wasser?«; rief Maria hastig.<br />
»Still, armes Wesen!«; sprach ich, und ich schaute<br />
Im Dämmerlicht' ein mährchenhaftes Weben.<br />
Es stiegen Nebelbilder aus den Feldern,<br />
Umschlangen sich mit weißen, weichen Armen;<br />
Die Veilchen sahn sich zärtlich an, sehnsüchtig
</p>
<p>
Zusammenbeugten sich die Lilienkelche;<br />
Aus allen Rosen glühten Wollustgluthen!<br />
Die Nelken wollten sich im Hauch entzünden;<br />
In sel'gen Düften schwelgten alle Blumen,<br />
Und alle weinten stille Wonnethränen,<br />
Und alle jauchzten: Liebe! Liebe! Liebe!<br />
Die Schmetterlinge flatterten, die hellen<br />
Goldkäfer summten Lieblingsliedchen,<br />
Die Abendwinde flüsterten, es rauschten<br />
Die Eichen, schmelzend sang die Nachtigall&nbsp;&ndash;<br />
Und zwischen all dem Flüstern, Rauschen, Singen,<br />
Schwatzte mit blechern klanglos kalter Stimme<br />
Das welke Weib, das mir am Arme hing.<br />
»Ich kenn' Ihr nächtlich Treiben auf dem Schloß;<br />
Der lange Schatten ist ein guter Tropf,<br />
Er nickt und winkt zu allem was man will;<br />
Der Blaurock ist ein Engel; doch der Rothe,<br />
Mit blankem Schwert, ist Ihnen spinnefeind.«;<br />
Und noch viel bunt're, wunderliche Reden<br />
Schwatzt sie in einem fort, und setzte sich,<br />
Ermüdet, mit mir nieder auf die Moosbank,<br />
Die unterm alten Eichenbaume steht.
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<p>
Da saßen wir beisammen, still und traurig,<br />
Und sahn uns an, und wurden immer traur'ger.<br />
Die Eiche säuselte wie Sterbeseufzer,<br />
Tiefschmerzlich sang die Nachtigall herab.
</p>
<p>
Doch rothe Lichter drangen durch die Blätter,<br />
Umflimmerten Maria's weißes Antlitz,<br />
Und lockten Gluth aus ihren starren Augen,<br />
Und mit der alten, süßen Stimme sprach sie:<br />
»Wie wußtest Du, daß ich so elend bin,<br />
Ich las es jüngst in deinen wilden Liedern?«;
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<p>
Eiskalt durchzog's mir da die Brust, mir grauste<br />
Ob meinem eig'nen Wahnsinn, der die Zukunft<br />
Geschaut, es zuckte dunkel durch mein Hirn,<br />
Und vor Entsetzen bin ich aufgewacht.
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</html>