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Unter den Linden nahe der Friedrichstraße halten hüben und drüben Riesenautos, vor denen livrierte Männer mit Goldbuchstaben auf ihren Mützen stehen und zur Rundfahrt einladen; drüben heißt ein Unternehmen ‚Elite‘, hüben ‚Käse‘. Bequemlichkeit oder natürliches Kleinbürgertum? — Ich wähle ‚Käse‘.
Da sitze ich nun auf Lederpolster, umgeben von echten Fremden. Die andern sehen alle so sicher aus, sie werden die Sache schon von 11 bis 1 erledigen; die Familie von Bindestrich-Amerikanern rechts von mir spricht sogar schon von der Weiterfahrt heut abend nach Dresden. Mehrsprachig fragt der Führer neu hereingelockte Gäste, ob sie Deutsch verstehn und ob sie schwerhörig sind; das ist aber keine Beleidigung, sondern betrifft nur die Platzverteilung. Vorn hat man mehr Luft, hinten versteht man besser.
Auf weißer Fahne vor mir steht in roter Schrift: Sight seeing. Welch eindringlicher Pleonasmus! — Mit einmal erhebt sich die ganze rechte Hälfte meiner Fahrtgenossen, und ich nebst allen andern Linken werde aufgefordert, sitzen zu bleiben und mein Gesicht dem Photographen preiszugeben, der dort auf dem Fahrdamm die Kappe vor der Linse lüftet und mich auf seinem Sammelbild nun endgültig zu einem Stückchen Fremdenverkehr macht. Fern aus der Tiefe streckt mir eine eingeborene Hand farbige Ansichtskarten herauf. Wie hoch wir thronen, wir Rundfahrer, wir Fremden! Der Jüngling vor mir, der wie ein Dentist aussieht, ersteht ein ganzes Album, erst zur Erinnerung, später vermutlich fürs Wartezimmer. Er vergleicht den Alten Fritz auf Glanzpapier mit dem ehernen wirklichen, an dem wir nun langsam entlang fahren. Er sitzt recht hoch zu Roß in unvergeßlicher Haltung, die Hand unterm weiten Mantel in die Seite gestemmt mit dem Krückstock, den berühmten Dreispitz etwas schief auf dem Kopf. Er schaut weit über uns weg auf Pilaster und Fenster der Universität, einst seines Bruders Schloß. Wohlwollend sieht er gerade nicht aus, soweit wir das von unten herauf beurteilen können. Wir sind fast in Augenhöhe mit der gedrängten Helden- und Zeitgenossenschar seines Sockels. Die hat’s etwas eng zwischen Reliefwand und Steinabhang. Zusammengehalten wird sie von den vier Reitersleuten an den Sockelecken, die keinen mehr herauflassen würden. Nun gleiten wir an der langen Front der Bibliothek entlang auf der Sonnenseite. Hinter Markisen eleganter Läden lockt Seidenes, Ledernes, Metallenes. Die Spitzengardinen vor Hiller erwecken ferne Erinnerungen an gute Stunden, an fast vergessenen Duft von Hummer und Chablis, an den alten Portier, der so diskret zu den Cabinets particuliers zu leiten wußte. Ich reiße mich los, — bin doch Fremder — um gleich wieder eingefangen zu sein. Reisebüros, Schaufensterrausch aus Weltkarten und Globen, Zauber der grünen Heftchen mit den roten Zetteln, verführerische Namen fremder Städte. Ach, all die seligen Abfahrten von Berlin! Wie herzlos hat man doch immer wieder die geliebte Stadt verlassen.
Aber nun aufgepaßt. Wir biegen in die Wilhelmstraße ein. Unser Führer verkündet in seltsam amerikanisch klingendem Deutsch: Hier kommen wir in die Regierungsstraße Deutschlands. Still ist es hier, fast wie in einer Privatstraße. Und altertümlich einladend stehen vor der diskreten gelbgetünchten Fassade, hinter der Deutschlands Außenpolitik gemacht wird, zwei großscheibige Laternen. Was für ein sanftes Öllicht mag darin gebrannt haben zur Zeit, als sie zeitgenössisch waren? Eines dieser braunen Eingangstore, die mit geschnitztem Laubwerk geziert sind, führte einstmals in die Wohnung der gefeierten Tänzerin Barberina zu einer Zeit, als sie nicht mehr tanzte und eine Freiin Barbara von Cocceji geworden war. Und über ein Jahrhundert später von 1862 bis 1878 hat Bismarck hier gewohnt. Da war das kleine Arbeitszimmer mit den dunkelgrünen Fenstervorhängen und dem geblümten Teppich und daneben der Speisesaal, in dem die Emser Depesche verfaßt worden ist. Später zog er dann ins Palais Radziwill, wo auch heute noch der Reichskanzler wohnt, friedlich hinter einem Gartenhof wie ein paar Häuser vorher der Reichspräsident. Aber unser Führer erlaubt nicht in diesen Frieden zu versinken, er reißt den Blick zu dem mächtigen Gebäudekomplex gegenüber hin und ruft selbst verwundert: ‚Alles Justiz!‘ — ‚Und hier,‘ fährt er fort, ‚vom Keller bis zum Dach mit Gold gefüllt, das Finanzministerium.‘ Das ist ein Witz, über den nur die richtigen Fremden lachen können. Ich tröste mich an der schönen Weite des Wilhelmplatzes, an des Kaiserhofs flatternden Fahnen, an dem grünen Gerank um die Pergolasparren des Untergrundbahneingangs und an General Zietens gebeugtem Husarenrücken.
Ein Gewirr von Türmen, Buckeln, Zinnen und Drähten: ‚Leipziger Straße, die größte Geschäftsstraße der Metropole!‘ Aber die durchkreuzen wir einstweilen nur. Wir fahren die Wilhelmstraße weiter vorbei an vielen Antiquitätenläden (Erinnerung taucht auf an die verbrecherisch schöne Inflationszeit. Weißt du noch, Wendelin, Herrn Krotoschiner damals in seinem Laden zwischen dem Pommerschen Schrank und dem Trentiner Tisch auf den Wappenstuhl starrend!), vorbei am Architektenhaus (ältere Erinnerung an strebsame Jugendzeit, da man nichts zu tun brauchte als zu lernen, und hier gab’s viel lehrreiche Vorträge in dem Saal, wo die Fresken von Prell auf uns herabschauten; besonders jener Pfahlbautenmensch ist mir unvergeßlich, der sich dort auf dem Wandbild den aus Vischers ‚Auch Einer‘ berühmten weltgeschichtlichen Schnupfen holte).
Das Palais des Prinzen Heinrich, vor dem wir einen Augenblick halten, um durch die schöne Säulenhalle auf den alten Hof und die alten Fenster zu sehn, und seine schlichten mit dienender Tugend sich anschließenden Gebäude haben die hellbräunliche Farbe, die dem Dichter Laforgue an vielen Berliner Palais auffiel, als er in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als Vorleser der Kaiserin in Berlin war, er nennt sie couleur café au lait und sie erscheint ihm als der vorherrschende Farbton der Kapitale. Für die Welt der Wilhelmstraße und viele Teile der älteren Stadt gilt das noch heut.
An den altvertrauten Museen der Prinz Albrechtstraße hält unser eiliger Wagen nicht. Die meisten Insassen schauen hinüber in den großen Garten hinter dem Landtagsgebäude. Ich sehe in die Fenster, hinter denen die schönen Kostümbildermappen der herrlichen Lipperheideschen Sammlung in der Staatlichen Kunstbibliothek auf ruhevolle Betrachter warten. Am liebsten möchte ich aussteigen und zu den befreundeten Bildern gehen, aber heute habe ich Fremdenpflichten, darf auch in Gedanken nicht zu lange bei dieser Stätte des alten Kunstgewerbemuseums verweilen, die soviel Auswanderung erlebt hat. Der größte Teil der Sammlungen ist jetzt im Schloß. Und die Karnevalsfeste der Kunstgewerbeschüler, einst die schönsten von Berlin, finden jetzt, da die Kunstschulen nach Charlottenburg verlegt sind, im dortigen Hause statt, und als richtiger Laudator temporis acti finde ich natürlich, daß sie dort nicht so schön sein können, wie sie hier waren. Ach, selbst die kleinen Feste, die nach Verlegung der Kunstschule hier noch im Dachgeschoß sich abspielten, sind unvergeßlich. Wir gleiten an der bauchigen Hochrenaissance des Völkerkundemuseums vorbei. Auch dies wird nur beim Namen genannt und nichts gesagt von Turfan und Gandhara, von Inka und Maori. Vielmehr verkündet unser Sprecher schon von weitem: ‚Vaterland, Café Vaterland, das größte Café der Hauptstadt!‘ Die Fremden stieren auf die große Prunkkuppel des Baues, und die, welche bereits abendliche Berliner Erfahrungen haben, raten den andern, dieses Monsteretablissement mit all seinen Abteilungen, dies kulinarische Völkermuseum von Kempinski und seine Panoramen in nächtlicher Bestrahlung zu besichtigen.
Ja, das sollen sie. Was helfen ihnen unsre alten Paläste und Museen? Sie wollen doch das Monsterdeutschland. Also nur da hinein heute abend, meine Herrschaften, in das alte Piccadilly, jetzt Haus Vaterland! Da wird euch Vaterländisches und Ausländisches vorgesetzt. Hat Sie der Fahrstuhl aus dem prächtigen Vestibül hinaufgetragen, so können Sie bei dem üblichen Rebensaft von der Rheinterrasse bequem ins Panorama blicken, wo Ihnen über Rebenhügeln, Strom und Ruine ein Gewittersturm erster Klasse vorgeführt wird. Heitert sich der Himmel wieder auf, so tanzen Ihnen rheinische Girls unter Rebenreifen eins vor und samtjackige Scholaren singen dazu. Das müssen Sie gesehen haben. Von da taumeln Sie, bitte, in die Bodega, wo Ihnen merkwürdige Mannsleute mit bunten Binden um Kopf und Bauch was Feuriges bringen, um Sie in eine spanische Taverne zu versetzen. Die beiden schüchternen Spanierinnen aus der Ackerstraße dort in der Ecke werden durch Tanzvorführungen Ihre Stimmung erhöhen. Beim Betreten der Wildwestbar werden Sie laut Programm die ganze Romantik der amerikanischen Prärie empfinden. Kaufen Sie sich auf alle Fälle ein Programm! Da wissen Sie gleich, wie Ihnen zumute zu sein hat. Was tut im Grinzinger Heurigen das liebliche Wien? Es liegt in der Abenddämmerung vor den Augen des Beschauers. Wozu laden vor der sonnendurchglühten Puszta ungarische Weine ein? Zum Verweilen. Was empfängt uns im Türkischen Café? Märchenzauber aus Tausendundeiner Nacht. Versäumen Sie nicht, dort auf den Taburetts zu sitzen an Tischen mit echt arabischen Schriftzeichen darauf, und den stärksten aller berlinisch-türkischen Mocca double zu trinken. In der Glaswand, die das Bosporuspanorama abtrennt, können Sie Ihren Nachbarn, den Herrn mit der papiernen Zigarrenspitze, so gespiegelt sehn, als säße er an dem Tisch mit der Wasserpfeife, der schon zum Vordergrund des Bildes gehört.
Aber nun bekommen Sie Bierdurst und finden in das Münchner Löwenbräu, das laut Programm ‚lebensfreudig eingerichtet‘ ist. Die aufwartenden Madeln, die Ihnen zuliebe noch bayrischer als bayrisch reden, tragen Strohhüte mit Federn, blaue Jacken, geraffte, gestreifte Röcke und jodeln bisweilen ermunternd mit, wenn die Musik es nahelegt. Die wird von den Herren Buam in Hosenträgern gemacht. Auf ihre Hosenbeine ist bauchabwärts bayrisches Kunstgewerbe tätowiert. Da ist ja auch das künstlerisch ausgeführte Glasfenster mit Ausblick auf die ‚wildromantische Szenerie des Eibsees‘. Und schon geht’s los mit der Attraktion. Der Saal verdunkelt sich. Am Eibseehotel gehn die Lichter an. Auch Alpenglühn wird von der Direktion, die keine Kosten scheut, geboten. Sobald der Saal hell wird, beginnt ein Trio, Bua, Madl und Depp, ganz wie auf der weiland Oktoberwiesenausstellung am Kaiserdamm. Dabei zerschlagen die beiden Nebenbuhler, einer auf des andern Kopf, richtige Tonnen. Ja, ja, die Direktion scheut keine Kosten. Wollen Sie noch in den großen Ballsaal, der sich ‚dem Glanz der schönsten Säle der Welt würdig an die Seite stellen‘ kann, wollen Sie ‚Tanzgelegenheit auf schwingendem Parkett‘, so müssen Sie drei Mark extra zahlen, die werden Ihnen aber auf Speisen und Getränke angerechnet. Dafür sehen Sie in einen buntgeschliffnen Spiegelhimmel; Palmenschäfte tragen als Säulen den Saal. Und ‚deutsche Girls‘ streifen, wenn sie zum Auftreten eilen, mit ihren Gazeschleiern dicht an Ihnen vorüber. Es tanzt für Sie ein badehosiger starker Jüngling mit einer Dame, die außer der Badehose nur noch eine Art Büstenhalter trägt, tanzt mit ihr, wirbelt sie, während sie nur mit Knöchelschleife um seinen Hals hängt, hantelt mit ihr. Die deutschen Girls aber rutschen als Ruderballett auf dem Boden hin und singen von unserer Zeit, der Zeit des Sports.
Nun haben Sie wohl ein bißchen Linderung von soviel Darbietungen. Da, wo überlebensgroß am Fenster der Teddybär steht, den die vorüberstreifenden Mädchen umarmen, gehn Sie auf den offnen Balkon und sehn in heller Nacht schön altberlinisch, gelblichbraun, mild nüchtern den Potsdamer Bahnhof, denselben, auf den jetzt am Tage unser Sprecher zeigt.
Über die Freitreppe zur Station gehen Ausflügler in hellen Röcken und Waschkleidern. Die Glücklichen, es ist ein so schöner Herbsttag. Manche gehn auch den schmalen Durchgang hinüber zu dem kleinen Wannseebahnhof. Ich möchte ihnen am liebsten nachlaufen. Ein Segelboot oder auch nur ein Paddelboot. Oder nichts als ein Gang durch einen der Potsdamer Parke. Potsdam und die Havelseen, die heimliche Seele, das irdische Jenseits von Berlin! Noch dazu heut, an einem Wochentag. Aber nun kommen wir auf den Potsdamer Platz. Von dem ist vor allem zu sagen, daß er kein Platz ist, sondern das, was man in Paris einen Carrefour nennt, eine Wegkreuzung, ein Straßenkreuz, wir haben kein rechtes Wort dafür. Daß hier einmal ein Stadttor und Berlin zu Ende war und die Landstraßen abzweigten, man müßte schon einen topographisch sehr geschulten Blick haben, um das an der Form des Straßenkreuzes zu erkennen. Der Verkehr ist hier offiziell so gewaltig auf ziemlich beengtem Raum, daß man sich häufig wundert, wie sanft und bequem es zugeht. Beruhigend wirken auch die vielen bunten Blütenkörbe der Blumenfrauen. Und in der Mitte steht der berühmte Verkehrsturm und wacht über dem Spiel der Straßen wie ein Schiedsrichterstuhl beim Tennis. Seltsam verschlafen und leer sehn jetzt am hellen Mittag die riesigen Buchstaben und Bilder der Reklamen an Hauswänden und Dächern aus, sie warten auf die Nacht, um zu erwachen. Scharf und glatt, jüngstes Berlin, zieht das umgebaute Haus, das die altberühmte Konditorei Telschow birgt, seine gläsernen Linien. Das Josty-Eck bleibt noch eine Weile alte Zeit. Aber an der andern Seite der Bellevuestraße wächst — einstweilen noch hinter hoher plakatbedeckter Wand — etwas ganz Neues herauf, ein Warenhaus mit einem Pariser Namen. Ob es so schön werden wird, wie da drüben hinterm Laub des Leipziger Platzes Messels Meisterwerk, das Haus Wertheim? Die Bellevuestraße, in die wir schnell einen Blick werfen dürfen, wird immer mehr eine ‚Rue de la Boëtie‘ von Berlin. Kunstladen gesellt sich zu Kunstladen. Und davon werden auch die Schaufenster der Modegeschäfte immer erlesener, immer mehr Stilleben. Und das kommt sogar den großen und kleinen Privatautos zugute, die in der Bucht der Auffahrt vor dem Hotel Esplanade warten. Ihre Karosserien, immer besser werdende Kombinationen von Hülle und Hütte, haben wunderbare Mantelfarben.
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Grünes Licht am Verkehrsturm. Wir umkreisen den Potsdamer und fahren an den weißen Säulen der beiden Tortempelchen vorbei den Leipziger Platz entlang. Rechts und links von dem erzenen General Brandenburg, der, wie der Berliner Volkswitz behauptet, mit seinem Visavis, dem General Wrangel, über das Wetter spricht (‚Was für Wetter ist heut‘, fragt Wrangel und streckt die Hand mit dem Feldmarschallstab etwas vor. ‚So hoher Dreck‘, erwidert Brandenburg mit flachgehaltener Rechten), neben diesem Kriegsmann stehn wieder in langer Reihe die Blumenfrauen. Vor uns der Seiteneingang und die stolzsteigenden schmalen Pfeiler und Metallzierate des Warenhauses Wertheim. Von den neuen strahlenden Stoffen seiner hohen Schaufenster wandert der Blick hinüber zu den zartbunten und weißen Schüsseln, Tellern und Schalen aus Altberliner Porzellan drüben im Hause der staatlichen, einst königlichen Manufaktur.
Recht leer und wie zu vermieten sieht das lange Herrenhaus aus, es soll zurzeit in Ermangelung von Herren ein bißchen Staatsrat und Volkswohlfahrt darin untergebracht sein. Auch das benachbarte Kriegsministerium ist ziemlich ehemalig. Selbst die meisten Reichswehrangelegenheiten werden anderswo erledigt. Wie Spielzeug von weiland Fürstenkindern, in deren Schlössern und Gärten man ja auch die kleinen Spielkanonen sehen kann, stehn überm Portal ein paar steinern winzige Soldaten in altertümlicher Uniform. Überm Postministerium, das uns der Cicerone an der nächsten Ecke zeigt, schleppen sich einige Giganten oder Atlanten mit einer mächtigen steinernen Weltkugel, die ihnen hoffentlich nicht verkehrstörend auf die Straße fallen wird. Solcher Weltkugeln gibt es mehrere in Berlin, sie gehören mit zu den Schrecken der letzten Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die jetzt an vielen Privatgebäuden in großartiger Aufräumearbeit weggeputzt werden. Ich kenne persönlich eine in der größten Geschäftsstraße von Schöneberg, die auf hohem Eckhause über buckelndem Zwiebelgetürm schräg als Glasveranda liegt. Diese und eine nicht minder stattliche im bayrischen Viertel sind aus Glas. Und da sie nicht einmal von zuverlässigen Giganten gestützt werden, wie hier die über dem Postministerium, fürchte ich immer, daß sie noch einmal herunterkugeln, und hoffe, sie werden beim nächsten Großreinemachen beseitigt. Man könnte sie ja dann in ein zu gründendes Museum der neowilhelminischen Architektur und Plastik unterbringen, wohin sich vieles, was jetzt an öffentlichem und Privatprunk störend herumsteht, entfernen ließe. Das beste an diesem gewaltigen Eckhaus ist drinnen eine Sammlung alter Verkehrsmittel; da gibt es Postkutschen und erste Eisenbahnen en miniature, vor allem aber eine Menge alter Briefmarken und Stempel, ein Erinnerungsfest für jeden, der als Kind Thurn und Taxis und Alte Preußen, den Kolibri von Guatemala und den Schwan von Australien ‚getauscht‘ hat,
Zur Rechten und zur Linken rundet sich an dieser Ecke die Mauerstraße, angenehme Unterbrechung in dieser Welt der rechten Winkel. Ihre Kreislinie bezeichnet die Strecke einer alten Stadtmauer, und der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., der die ganze Friedrichstadt mit hübsch in Reih und Glied stehenden Häusern hat bebauen lassen, soll seinen Verdruß an den unvermeidlichen Rundungen der alten Straße gehabt haben. Eh wir noch eine der beiden gleichfalls rundlichen Kuppelkirchen deutlicher gesehen haben, zur Rechten die Bethlehemskirche, zur Linken Schleiermachers Wirkensstätte, die Dreifaltigkeitskirche, fährt unser Wagen schon weiter. Und statt auf alte Kirchmauern haben wir auf Pelz, Leinen, Seide und Stahl der prächtigen Auslagen zu schauen. Bevor aber die gewaltigen nackten Steinmädchen über dem Portal uns in das riesige Warenhaus Tietz locken können, biegen wir in der Richtung auf den Gendarmenmarkt ein. Schon von weitem haben die beiden patinierten Kirchenkuppeln und das grüne Flügelpferdchen auf dem Dach des Schauspielhauses gegen den lichten staubblauen Himmel geleuchtet. Nun halten wir. Ich starre auf ‚Bühneneingang‘. Ihr andern, ihr richtigen Fremden, habt hier nie als Schüler gewartet, um die hehre Darstellerin der Jungfrau von Orleans herauskommen zu sehn. Ihr bekommt die beiden Kirchen mit den berühmten Gontardschen Kuppeltürmen, die Friedrich der Große anbauen ließ, gezeigt und eingeprägt, daß die eine der deutsche, die andre der französische Dom ist. Die beiden Türme sind erheblich stattlicher als die zugehörigen älteren Kirchen, die sich schüchtern neben ihnen ducken. Dafür ist das Schauspielhaus, das Schinkel auf den stehengebliebenen Mauern nach dem großen Brande, welcher das frühere Nationaltheater der Ifflandzeit zerstörte, errichtet hat, eine wunderbare Einheit. Die schöne Freitreppe zu der stolzen Vorhalle mit den schlanken ionischen Säulen! Hinaufgegangen ist man sie zwar nie. Für die einfachen Besucher gab’s da unten unterm Durchgang den Zuweg. Die Freitreppe war am Ende für den Hofstaat reserviert, zur Zeit, als dies noch ein königliches Theater war. Der Begas-Schiller steht etwas unglücklich vor dem Ganzen. Er wäre hier wohl lieber ein braver moosansetzender Brunnentriton geworden als so in der Toga und mit mehreren prätentiösen Damen am Sockel, welche Lyrik, Drama, Geschichte und Philosophie vertreten, immer geradeaus repräsentieren zu müssen.
Die Fremden werden auf die Preußische Staatsbank, die alte ‚Königliche Seehandlung‘, aufmerksam gemacht, indessen schiele ich hinüber nach der berühmten Weinstube, in der Ludwig Devrient mit E. Th. A. Hoffmann gezecht hat. Der wohnte hier an diesem Platze zur Zeit, als noch lauter Immediatbauten den Gendarmenmarkt umgaben. Und ‚Des Vetters Eckfenster‘ muß man sich auch hierhin denken und ihn dazu, wie er in seinem Warschauer Schlafrock und die große Pfeife in der Hand den munteren berlinischen Markt übersah.
Wir biegen um eine Ecke und sind wieder auf einem dieser merkwürdig schrägeckigen Plätze, die in alter Zeit Bastionen der Stadtmauer waren. Er heißt Hausvogteiplatz und früher war in der Nähe ein garstiges Haus, das in den vierziger und fünfziger Jahren politische Gefangene vergitterte. Jetzt ist ein fleißiges Geschäftsviertel rings umher. Altertümlich ist hier nur noch der Grundriß, hier beginnt die Gegend der verschiedenen Wallstraßen und das Gelände des alten Friedrichwerders, dieses dritten Berlin neben dem, das jenseits beider Flußarme liegt, und dem näheren Cölln an der Spree. Hier könnten wir rechtshin fahren, erst an den Engelchen vorbei, die in den Fensterkreuzen des Hospitals der Grauen Schwestern von der heiligen Elisabeth beten, und weiter in die Alte Leipzigerstraße und die wunderlichen Winkel bei Raules Hof. Statt dessen lenkt unser Gefährt auf breiterem Damme gen Norden, vorbei an dem rötlichen Mauerwerk der Reichsbank, einem Werke Hitzigs, des Erbauers der Börse, der für das reicher werdende Berlin der sechziger und siebziger Jahre eine Art gediegener Renaissance für Handel und Industrie schuf, die den bescheidenen Klassizismus der letzten Schinkel-Schüler ablöste, immer noch besser war als das, was hinterdrein kam, aber doch den Weg ins Wilhelminische Spiel mit alten Stilen vorbereitet hat. Noch recht unschuldig ist dagegen die sogenannte ‚modifizierte Gotik‘, in welcher Schinkel Ende der zwanziger Jahre die Friedrich Werdersche Kirche am Werderschen Markt, unserm nächsten Ziel, erbaut hat. Das ist ein brav altpreußisches Werk, hat den braunen Backsteinton, wie ihn in unserer guten Stadt eine ganze Reihe Kirchen und Bahnhöfe haben, mehr pflichtgetreu als fromm aussehend, mehr an ‚Treu und Redlichkeit‘ als an Mystik gemahnend. Ein strenger Erzengel tötet überm Portal einen unbefugten Drachen und schaut dabei nicht träumerisch ins Weite wie seine älteren Vettern aus Holz, Stein und Farbe, sondern zielend auf sein Opfer. Ob ihm dabei wohl manchmal die eleganten Verkäuferinnen und Besucherinnen des großen Modehauses gegenüber zuschauen? Ob sie es sympathisch finden, daß er so beschäftigt ist mit seiner Mission oder es lieber hätten, er träumte ein wenig ins Ungewisse, und herüber?
Über die Schleusenbrücke und den Schloßplatz. Denen, die die Hälse nach dem stolzen Bau recken, verspricht der Führer, daß wir nachher wieder hierher kommen, doch jetzt erst eine kleine Tour durch Alt-Berlin machen wollen. Die muß leider etwas eilig ausfallen, denn wir haben noch so viel zu absolvieren. Ich aber rate dir, lieber Fremdling und Rundfahrtnachbar, wenn du noch einmal in diese Gegend kommst und Zeit hast, dich hier ein wenig zu verirren. Hier gibt es noch richtige Gassen, noch Häuserchen, die sich aneinanderdrängen und mit ihren Giebeln vorlugen, gar nicht weiter berühmt außer bei ein paar Kennern und auch nicht so leer oder nur so am Rande besiedelt, wie es die richtig sehenswürdigen Häuser sind. Nein, sie sind dicht bewohnt von ahnungslosen Leuten, die durch die weit offne Haustür eine steile Treppe mit breitem Holzgeländer herunter kommen oder hinter Blumenkästen und Vogelbauern aus schöngerahmten Fenstern schauen. Sieh, da zur Rechten zweigt so ein Gäßchen ab, Spreegasse heißt es und ist Raabes Sperlingsgasse, und da steht auch das Haus, in dem der Dichter gewohnt hat, und gleich daneben weiß ich eins mit reizenden Steingirlanden über den Fenstern und wunderbar altgrünem Holz an Tür und Torfassung. Die Brüderstraße, durch die wir fahren, hat noch Schwung, und ihre Häuser, ob alt, ob neu, stehn in bewegter Kurve. Dort in das unscheinbare mußt du gehn. Das ist eine wichtige Berliner Stätte. Dem berühmten und berüchtigten Friedrich Nicolai hat es gehört. Die schöne Barocktreppe, die du innen sehn wirst, hat ein früherer Bewohner, ein Kriegskommissär, bauen lassen. Eine Zeitlang hat es der ‚patriotische Kaufmann‘ Gotzkowsky besessen, der, als er noch reich war, Berlin im Siebenjährigen Krieg vor Plünderung durch die Russen rettete und später die Porzellanmanufaktur an Friedrich den Großen verkaufte. Dies Haus hier kam dann, als er ruiniert war, mit all seinem Besitz unter den Hammer und ist noch von mehreren andern bewohnt worden, bis es der Buchhändler Nicolai erwarb. Da wurde es zum gesellschaftlichen Mittelpunkt von Berlin. Davon spürst du vielleicht etwas, wenn du in den großen Saal mit den Wandspiegeln und Paneelen kommst. In den kleineren Räumen aber, die jetzt ein Lessing-Museum bergen, haben ein paar entzückende Kinder gespielt und gelernt, worüber zu lesen in den unvergleichlichen Tagebüchern der Lily Partey, die des alten Nicolai Enkelin war. Viele bedeutende und manche kuriose Berliner der geistig-geselligen Zeit im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gingen in diesen Räumen ein und aus und waren zur Sommerszeit in der Gartenwohnung der Parteys zu Besuch, die in der Blumenstraße lag, draußen bei der Contrescarpe, dem späteren Alexanderplatz.
Petrus ist der Patron der Fischer und nach ihm heißt die Kirche, um die wir jetzt herumfahren. Sie steht an der Stelle des Heiligtums der Fischer von Alt-Cölln. Einem andern heiligen Wesen, an dem das Herz der Cöllner und Berliner hing, ist dort auf der Brücke, über die der Weg zum Spittelmarkt führt, ein Denkmal, allerdings erst in neuerer Zeit, errichtet. Das ist Sankt Gertraudt, die Äbtissin, die Spitäler und Herbergen für Reisende gegründet hat. Der Spittelmarkt hat seinen Namen von dem Gertraudtenhospital, als dessen letzter Rest noch bis in die achtziger Jahre die kleine Spittelkirche stand, mitten auf einem idyllischen Marktplatz, aus dem mit der Zeit einer der verkehrsreichsten, von hohen Geschäftshäusern umgebenen Plätze der Stadt geworden ist. Vor der Heiligen auf der Brücke kniet ein fahrender Schüler, dem sie einen Trunk reicht. Sieht sie nicht, daß er eine gestohlene Gans an einer Leine mit sich führt, oder übersieht sie es gnädig? Als Freundin der Wanderer ist sie auch den Seelen der Verstorbenen auf ihrer Wanderschaft hold. Die verwandeln sich nach einer Volkssage in Mäuse und kommen in der ersten Nacht nach dem Tode zu Sankt Gertraudt, in der zweiten zum heiligen Michael und erst in der dritten in ihr Dauerjenseits. Daher die Mäuseschar am Sockel des Denkmals. Sankt Getraudt hat in der Hand einen Spinnrocken. Sie ist der Frau Holle und der heidnischen Gottheit, aus der die Frau Holle wurde, verwandt und beschützt den Flachsbau und die Spinnerinnen. Die Frühlingsblumen aber, die als Spende zu ihren Füßen liegen, bedeuten Dankgaben der Landleute, deren Flur und Feld die Gebieterin der Mäuse vor den Tieren, die unter ihrem Zauber stehen, schützt. Es ist gerade kein großes Meisterwerk, das Denkmal, das hier so ausführlich beschrieben wird, aber es passiert soviel darauf, daß man davon berichten kann wie Pausanias von dem heiligen Steinwerk Griechenlands.
Die Gertraudtenstraße führt uns zum Cöllnischen Fischmarkt, der einstmals der Hauptplatz von Cölln an der Spree war. Hier stand bis vor dreißig Jahren das Cöllner Ratshaus. Aber ein putzigeres Gebäude aus älterer Zeit ist schon seit Jahrhunderten verschwunden. Das Narrenhäuslein meine ich, in das man in alten Tagen die Betrunkenen brachte, damit sie ihren Rausch ausschlafen konnten. Wenn das Narrenhäuslein nicht mehr steht, so gibt es doch nicht weit von hier ein uraltes Haus, in dem es auch recht närrisch zugehen kann. Das ist am Ende der Fischerstraße, die an alten Gassen vorbei vom Fischmarkt zu der Friedrichsgracht führt, das Gasthaus zum Nußbaum. Man behauptet, es sei Berlins ältestes Haus und es sollen hier schon die Landsknechte mit berlinisch-cöllnischen Dirnen gezecht haben. Es hat einen hohen mittelalterlichen Giebel. Wer es richtig kennen lernen will, der muß spät abends hingehen. Da ist eine seltsam gemischte Gästeschar versammelt. Seidenbluse und Schürze sieht man nebeneinander am selben Tisch und Fischer- und Fuhrmannskittel neben Bratenröcken. An der Wand hängen unter alten Gastwirtsdiplomen echte Zille-Bilder, vom Meister selbst geschenkt. Hier habe ich zum ersten Male die neuerdings veränderte Loreley singen hören mit den schmetternden Strophenanhängseln:
‚Sie kämmt sich mit dem Kamme,Sie wäscht sich mit dem Schwamme‘
und die Bekanntschaft von Ludeken gemacht, die sich selbst ‚eine Alte von Zille‘ nennt, zu allem, was sie sagt, den Finger geheimnisvoll an den Mund legt und, wenn sie munter wird, abwechselnd ihre Papiere und ihre weiße Unterwäsche zeigt. Sie bekommt von aller Welt zu trinken, gießt aber doch noch heimlich in ihrer Ecke die Neigen einiger Gläser zusammen. Tanzen tut sie auch manchmal mit Kavalieren oder allein, und das ist ein erbaulicher Anblick. Nur wenn ihr ‚Chef‘ kommt, hockt sie sich brav in ihre Ecke. Der Chef ist einer, dessen Pferde Ludeken in aller Morgenfrühe betreuen und füttern muß; und dazu nüchtern zu sein, ist nicht leicht.
Unser Wagen rollt über den Mühlendamm, das ist die Brücke, die Cölln und Berlin verband, als es noch ihrer zwei waren, verband und trennte. Denn auf dieser Stelle haben sich die Bürger der Nachbarstädte des öftern die Köpfe blutig geschlagen. Am Brückenrand stehen zwei bronzene Markgrafen: Albrecht der Bär und Waldemar. Sie sind einem nicht gerade im Wege, aber sie brauchten nicht unbedingt hier zu stehen, sie haben ja schon ihren Standort in unserer kompletten Siegesallee. Hübsch muß, nach den alten Bildern zu schließen, dieser Mühlendamm gewesen sein, als noch Bogenhallen und Trödlerläden hier waren. Und die Mühlen selbst waren gewiß auch erfreulicher anzusehen, als es das städtische Dammühlengebäude ist, diese falsche Burg aus den neunziger Jahren, in der jetzt eine städtische Sparkasse untergebracht ist. Wenn sich das große Bauprojekt für das Berliner Wasserstraßennetz verwirklichen und die Mühlendammschleuse umgebaut werden wird, um den Ansprüchen größerer Schiffe zu genügen, wird unter anderm auch dies Gebäude fallen, und dann gibt es schöne Aufgaben für unsere Stadtbaumeister und Architekten.
Wir halten auf dem Molkenmarkt. Da fällt uns ein schönes Haus aus friderizianischer Zeit auf, das Palais Ephraim, das des großen Königs berüchtigter ‚Münzjude‘ erbauen ließ, der Verfertiger der minderwertigen Friedrichdors, der sogenannten ‚Grünjacken‘, von denen man reimte:
Von außen schön, von innen schlimm,Von außen Friederich, von innen Ephraim.
Innen kann man das schöne Haus nicht besehen, da sitzen Behörden. Außen bildet es als Eckhaus mit seinen auf toskanischen Säulen ruhenden Balkonen, den korinthischen Wandpfeilern, den zierlichen Putten überm Gitterwerk ein wunderbares Halbrund. Um den Molkenmarkt herum lag die älteste Ansiedlung auf der berlinischen Seite der Spree, und hier finden wir auch die einzige ganz erhaltene mittelalterliche Gasse, den oft beschriebenen und oft abgebildeten Krögel, der so berühmt ist, daß unser Wagen vor seiner Einfahrt hält und die Insassen aussteigen und den schmalen Gassengang nach dem Wasser zu gehn. Ursprünglich soll hier ein schon in alter Zeit zugeschütteter Kanal oder Spreearm gewesen sein, der dem Verkehr vom Markte und Packhof zum Flusse diente. Ein Torweg führt in den inneren Hof der Gasse. Hier war im Mittelalter das einzige Badehaus von Berlin. Da bedienten den Badenden die Töchter der Stadt, von denen man sagte, daß sie ‚an der Unehre saßen‘. Sie hatten eine Art Berufstracht, kurze Mäntel, und mußten ihr Haar kurzgeschoren tragen. Es war also wohl sehr beleidigend, als anno 1364 der Geheimschreiber des Erzbischofs von Magdeburg, ein leichtfertiger Lebemann, eine ehrsame Bürgerstochter aufforderte, ihn nach dem Krögel zu begleiten, und die Wut der Bürger ist zu verstehn, die zum Hohen Haus zogen, wo des Bischofs Gefolge zu Gaste war, den Frevler von der Tafel wegrissen und auf dem Markte zu Tode prügelten. Zu besondern Gelegenheiten sind aber auch ehrsame Frauen in den Krögel gekommen. Es war Sitte, daß man die Brautfeierlichkeiten mit einem Bad und Frühstück beim Bader begann. Dann kam ein bunter, munterer Zug die alte Gasse herauf, voran die Musiker und der Spaßmacher. Sehr zartfühlend werden die Scherze nicht gewesen sein, die sich die Braut gefallen lassen mußte. An eine spätere Zeit erinnert die alte Sonnenuhr, die noch heute an einer Mauer zu sehn ist. Sie zeigte die Stunde den Hofleuten fremder Fürstlichkeiten, die hier einquartiert wurden, wenn ihre Gebieter beim Kurfürsten zu Gaste waren. Heut sind in den überhängenden Stockwerken und hinter den kleinen Fenstern der Erdgeschosse Werkstätten und kleine Wohnungen. Und einer der Anwohner dieses Restes Mittelalter besitzt ein Museum mit Waffen, Stichen und altem Hausrat. Zur Sommerzeit hallt manchmal der lustige Lärm vom neuesten Freibad herüber, das nach der Waisenbrücke zu und Neucölln am Wasser gegenüber liegt. Da hat sich aus dem Schutt der Umbauten für die Untergrundbahn, deren Tunnel hier aus der Spree taucht, eine Art Strand gebildet. Den hat sich junges Volk zunutze gemacht und das Freibad Paddensprung eröffnet. Sonst aber ist es recht still im Krögel, und wenn abends auch noch die Arbeitsgeräusche der Werkstätten verstummen, kann im späten Licht mit Fachwerk und Giebel hier ganz altes Berlin erstehn.
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Vom lebhaften Molkenmarkt führt rund eine Gasse auf den stillen Platz, auf dem die älteste Kirche der Stadt steht, sie ist dem Schutzpatron der Reisenden und Kaufleute, Sankt Nikolaus, geweiht gewesen. Von ihrer älteren Mauer ist noch ein massiver Turmunterbau aus Granitquadern erhalten, alles andre verbrannte bei einem der vielen Brände, die Berlin verheert haben, im Jahre 1380. Die späteren Teile, Chor und Langschiff, sind viel umgebaut worden. Hier mußt du einmal wochentags mittags eintreten an Tagen, an denen die Orgel zu stiller Andacht spielt. Unter ihrer Masse erkennt man im Dämmerlicht die Umrisse eines Erbbegräbnisses, das von Schlüters Meißel stammt. Je länger man hinschaut, um so deutlicher tritt die Rundung der Vasen und barocker Faltenwurf hervor. Die gotische Halle hat viel große und kleine Kapellen mit Denkmälern aller großen Kunstepochen und heiligt das Gedächtnis mancher Männer, die weit über den Stadtbereich hinaus berühmt geworden sind. Da gibt es Porträts von Militärs, Pröpsten, Gelehrten, Ratsherren und ihren Ehegattinen. Viel bärtige Häupter in Fältelkragen und Allongeperücke, gekrönt von allegorischen Frauenhänden mit Lorbeer oder von Putten mit Sternenkronen. Auf Urnen rahmt Akanthus alte Wappen. Ein kleiner Amor weint über Stundenglas und sinkender Fackel. Unter geflügelten Totenköpfen erscheint auf dunklem Grund ein Bildnis, umringelt von der Schlange der Ewigkeit.
Die Nikolaikirche ist wie die Marien- und die Klosterkirche protestantisch geworden, aber sie hat wie jene noch etwas von der alten Pracht behalten. Schade, daß es nicht mehr nach Weihrauch riecht in ihren Hallen. Interessant zu wissen, daß hier der Ablaßkrämer Tetzel gepredigt hat, umlagert von dem damaligen Tout-Berlin, das ihn mit Würdenträgern, Zünften, schwarzen und weißen Mönchen vom Stadttore abgeholt hatte.
Der stille Platz, der die Kirche umgibt — diese Trauminsel mitten im Lärm der Großstadt — war und hieß früher Nikolaikirchhof und das paßte zu den vielen Grabmälern im Innern der Kirche und außen an der Kirchenwand. An diesem Platz stehen noch ein paar sehr alte Häuschen, und wenn man in eines geht, sieht man auf winzig kleine Höfe. In die Wohnungen führen steile Stiegen, manche der Häuser haben keine selbständige Giebelmauer, sondern sind ans Nachbarhaus ‚angebacken‘; und eins, das sich rühmt, Berlins kleinstes Haus zu sein, hat zwar einen Privatmittagstisch, aber keine Hausnummer, und man kann es nur vom Nachbarhaus her betreten. Von solchen Häusern können wir bei einer Wanderung durch die Altstadt noch hie und da einige sehn. Sie sind oft nur drei Fenster breit. Die Haustür hat zwei Flügel, der eine öffnet sich direkt vor der Wohnung im Erdgeschoß, der andre stößt auf die schmale Treppe, die an der Türschwelle beginnt und ins obere Stockwerk steigt.
Wir fahren zurück zum Mühlendamm, dann die Straße ‚An der Fischerbrücke‘ entlang und kommen über die Inselbrücke nach Neukölln am Wasser. Hier und gegenüber auf der Friedrichsgracht gibt es wieder einige alte Häuser, teils mit spitzen Satteldächern, teils mit den hübschen Mansardendächern der Barockzeit, mit Girlanden unter den Fenstern und Pilastern, die die Hausfront schön gliedern. Unser Wagen fährt zu eilig, um das alles anzusehn, wir müssen es auf eine Fußwanderung durch die Straßen und die nahen Gassen am Fluß verschieben. Da werden sich neben dem Malerischen auch einige Kuriosa finden, wie die Riesenrippe an einem Eckhaus des Molkenmarkts oder an einem Hause in der Wallstraße das Relief eines Mannes, der eine Tür auf dem Rücken trägt. Er wird nach der biblischen Sage vom Tore zu Gaza der Simson genannt. Nach einer Überlieferung soll diese Gestalt an die Zeit erinnern, da hier das Köpenicker Tor stand, dessen Haspen seinerzeit in diesem Hause aufbewahrt worden seien. Witziger aber ist die Deutung, die von einem armen Schuster zu erzählen weiß, der hier mit seiner kinderreichen Familie kümmerlich lebte. Als nun Friedrich der Große mit seinem Lotteriedirektor Casalbigi, den wir aus Casanovas Memoiren kennen, eine große Lotterie aufmachte, die ihm viel Geld eintrug und seine Bürger viel Geld kostete, soll dieser Schuster ein Los gekauft und, da er fürchtete, seine Kinder könnten es in der engen Schusterstube beim Spielen verbringen, mit Pech an die Stubentür geklebt haben. Gerade dieser Arme hatte Glück und zog das große Los. Um nun seinen Schein vorzuweisen, blieb ihm nichts übrig, als die Tür aus den Angeln zu heben und auf den Rücken zu laden. So wanderte er zur Verwunderung seiner Mitbürger zum Lotteriegebäude. Und nachdem er sein Geld bekommen, ließ er aus Dankbarkeit das Bildnis an seinem Hause anbringen. Solcher an Altertümer anknüpfender Geschichten gibt es auch in unserer nicht gerade sagenreichen Stadt einige. Die bekannteste ist die oft erzählte vom Neidkopf in der Poststraße, den der Soldatenkönig und gute Hausvater Friedrich Wilhelm I. anbringen ließ, eines fleißigen Goldschmieds neidisches Gegenüber zu bestrafen.
Jetzt wollen wir im Vorbeifahren wenigstens auf die Brücken einen Blick werfen, Waisenbrücke, Inselbrücke und die schöne Roßstraßenbrücke, welche der Stadtbaurat Ludwig Hoffmann, dem Berlin so viel verdankt, gebaut hat. Nirgends ist die Spree so sehr wie in dieser Gegend ein Teil der Stadtlandschaft geworden und geblieben. Hoffmann und seine Mitarbeiter haben es verstanden, was neu zu bauen war, dem alten anzupassen ohne in Historismus und Abhängigkeit zu verfallen wie die ‚romanischen‘ Baumeister Wilhelms II. An einem der Meisterwerke dieses Künstlerkreises kommen wir jetzt vorbei, dem Märkischen Museum. Cöllnischer Park heißt der Garten, an dem dies stolze Bauwerk sich erhebt, und im Grünen lagern Säulenstücke und stehen brüchige Engel, zwischen denen man umherspazieren, spielenden Kindern zusehen oder die eine Front der Museumsburg anschauen kann. Um den dicken eckigen Turm sind in Backstein allerlei märkische Stilperioden, wie sie in reicher bedachten Städten, Tangermünde, Brandenburg usw., vertreten sind, vereinigt. Und diese Vielgliedrigkeit paßt gut zu dem Museumscharakter des Ganzen. Im Innern läßt sich reichlich Heimatskunde treiben, von ältester Zeit bis in Theodor Fontanes Tage. Hier kann man Hosemanns Kleinbürgerstadt kennen lernen, Berliner Zimmer aus der Biedermeierzeit sehn, eine Putzstube wie die, von der Felix Eberty erzählt; man könnte allerdings aus Berliner Privatbesitz noch viel mehr Biedermeier sammeln, all den rührenden Kleinkram an Etuis und Bestecks, Spieldosenhäuschen aus Zitronenholz, Stammbuchbildern, das viele herbstliche Goldgelb der Möbel aus flammender Birke und das Mahagoni der Schränke. Ja, ich könnte mir ein ganzes Museum Berliner Inneneinrichtung denken, wo als Kuriosum auch das späte neunzehnte Jahrhundert mit Plüsch und Nippes, verdunkelnden Butzenscheiben, Gipsengeln und Reisealben zu sehen wäre. Eine sehr reizvolle Abteilung des Märkischen Museums ist auch die Flora- und Faunasammlung: schöne Schachtelhalm- und Weidenarten, Rohr, Farren und Getreide und die Schnecken und die wunderbaren Ornamente der Wespennester.
Vor dem Museum steht ein Roland, der dem Roland von Brandenburg nachgebildet ist. Seinen eignen Roland hat Berlin schon früh verloren. Er soll als Sinnbild der städtischen Selbständigkeit auf dem Molkenmarkt oder da in der Nähe gestanden haben. Und Friedrich II. der Kurfürst, der der Stadt ihre Macht raubte und den Bären ihres Wappens unter den Adler des seinen zwang, soll ihn haben fortnehmen und in seine Zwingburg bringen lassen. Da man aber nie ein Stück von diesem Roland auffand, entstand die Sage, der Kurfürst habe ihn in die Spree geworfen. Nun neuerdings hat Berlin wieder Rolande, den am Kemperplatz, welcher den träumerisch grünen sogenannten Wrangelbrunnen unserer Kindheit und seine freundlichen Meergötter verdrängt hat. Und den, der als eine Art Brunnenbübchen vor dem einen der unglücklichen romanischen Häuser an der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche steht. Der wird aber, wie wir hören, demnächst dem überhandnehmenden Verkehr aus dem Wege geschafft werden.
Wir fahren über die Waisenbrücke zurück und sehen zur Rechten, da, wo die alte Jannowitzbrücke abgebrochen wird, ein wunderbares Schauspiel aus Ruinen und Neubauwelt. Zwischen Kranen und Kähnen, Schuttbergen und Baggermaschinen schwimmt der Trümmerrest der alten Brücke, ein ‚Ponte rotto‘ mitten in der Spree. Auch an dem Stadtbahnbogen da oben wird gearbeitet und sein aufgebrochenes Mauerwerk ist ein von Erinnerungen angeräuchertes Stück Tempel des Dampfes, dieser schon altertümlich gewordenen Lokomotion.
Die Stralauerstraße führt uns an dem mächtigen Stadthaus entlang, das Ludwig Hoffmann gebaut hat. Wir blicken hinauf zu dem hohen Turm mit seinen zwei Säulengeschossen und der ‚welschen Haube‘, die ihn deckt. Wir biegen in die Jüdenstraße ein und sehen an dem Eingang zur Festhalle des Stadthauses den bronzenen Bären von Wrba, der hier als wackeres Totemtier des Berliner Volkes Wache steht. Der gute Bär von Berlin, er muß durch irgend eine immerhin begreifliche Volksetymologie zu seiner Stadttierwürde gekommen sein. Denn das Wort Berlin hat nichts mit Bär zu tun, sagen die Gelehrten, vielmehr bedeutet es hier wie an mehreren andern Orten, wo Plätze so heißen, auf wendisch das Wehr. Und solch ein Wehr oder Wasserrechen verband in der wendischen Vorzeit das rechte und das linke Spreeufer, so daß schon vor den Zeiten des Mühlendamms eine Gemeinschaft zwischen den späteren Orten Berlin und Cölln bestand. Aber nun ist der Bär einmal unser Stadttier geworden und der von Wrba ist besonders sympathisch. Jetzt schaut der spitze grüne Turm der Parochialkirche auf uns nieder, in dem ein schönes Glockenspiel Sonntag und Mittwoch mittags erklingt.
In der benachbarten Parochialstraße stehn ein paar uralte Häuschen, die bald abgerissen werden sollen. Sie sind so baufällig, daß die Baupolizei den Aufenthalt von Menschen darin nicht länger dulden kann. Man weiß aber oft gar nicht recht, wer da wohnt, und so werden denn die unbekannten Einwohner durch Anschläge aufgefordert, die Stätte zu räumen. Eins heißt bei den Nachbarn das Spukhaus, dessen ‚Schwarzmieter‘ lassen sich tags überhaupt nicht sehn. Da sind die Fenster und Türen zum Teil schon herausgenommen. Ein andres ist die provisorische Stätte einer sehr merkwürdigen Ausstellung. Da hat ein Friedensfreund sein ‚Antikriegsmuseum‘ aufgemacht. Als Blumentöpfe hat er vor dem Laden Helme aufgehängt, wie man sie im Schützengraben trug. In der Auslage gibt es vielversprechende Sprüche und Bilder. Stufen führen hinunter in einen kellerähnlichen Raum, der hinterwärts an ein schon im Abbruch begriffenes Stück Haus stößt. Ein Todesgrinsen liegt auf den Photographien gräßlich Verwundeter, den Waffenteilen, Geschoßstücken, den Mobilmachungsbefehlen und Aufforderungen zu goldnes Zeitalter verheißenden Kriegsanleihen. Helmchen und Säbelchen für die lieben Kinder zu Weihnachten, Kissen, auf denen gestickt zu lesen ist ‚Unserm tapfern Krieger‘, Erkennungsmarken, Auslandskarikaturen auf die Großen der großen Zeit, Seifenkarten, Brennholzscheine, ‚deutscher‘ Tee neben Bleisoldaten und Tassen mit der Inschrift ‚Gott strafe England‘. Eine lehrreiche Sammlung, die hoffentlich eine würdige Stätte finden wird, wenn hier alles abgerissen ist.
Ein paar Schritte weiter die Jüdenstraße hinauf öffnet sich zwischen den Häusern ein Durchgang zum sogenannten Großen Jüdenhof — wie schon das Beiwort andeutet, hat es außer ihm ehedem noch einen kleinen nicht weit von hier gegeben, der inzwischen einer Straßenverbreiterung zum Opfer gefallen ist. Der große aber ist noch ganz vorhanden und umgibt mit einem Dutzend Häuser einen stillen hofartigen Platz. Vor dem stattlichsten der Häuser, in das eine Freitreppe mit Eisengitter führt, steht ein alter Akazienbaum. Unter diesem Baum ‚vor dem Haus mit der Treppe‘ sollen die Juden, als sie wieder einmal vertrieben wurden, ihr Gold vergraben haben — sie wußten gewiß, der Markgraf oder Kurfürst, der sie fortjagte, werde bald wieder seine ‚Kammerknechte‘, so nannte man sie, nicht entbehren können. Das war in der Zeit, als sie hier hinter Eisentoren hausten, die des Nachts verschlossen und bewacht wurden. Auf der Straße durften sie sich nur in ihrer Zwangsuniform, Kaftanen von bestimmten Farben und spitzen Hüten, zeigen. Festen Wohnsitz durften sie nicht erwerben, auch nicht während der Märkte und Messen Handel treiben, und sie mußten hohe Schutzgelder zahlen. Offenbar wird es ihnen hier doch gefallen haben, denn aus jeder Verbannung sind sie, sobald sie konnten, wieder hierher zurückgekehrt, haben Reichtümer erworben, sich verdächtigen und foltern lassen. In ausführlichen Darstellungen und Bildern ist die Geschichte jenes Lippold erhalten, der an des Kurfürsten Hof in hohem Ansehen stand, aber von dem Sohn und Nachfolger seines Gönners schwer beschuldigt und zu qualvollem Sterben verurteilt wurde. Der Henker im hellgrauen Hut mit der roten Binde mußte ihn auf dem Armesünderkarren von Stätte zu Stätte führen, wo der Karren an einer Ecke hielt, gräßlich martern und endlich auf dem Markte vierteilen. Die Gassenbuben liefen hinterdrein von Ecke zu Ecke, es war ein Fest für sie zuzusehen, wie der Henker dem Verurteilten den Staupbesen gab. Als dann humanere Zeiten kamen, bezogen die Juden Quartiere außerhalb des alten Ghettos, das nun ganz zum Idyll mitten in der lärmenden Stadt geworden ist.
Etwas Ghettoähnliches gibt es noch heut an andrer Stelle, übrigens auch nur noch für kurze Zeit, denn das Scheunenviertel mit seinen vielen Gassen zwischen Alexanderplatz und Bülowplatz, das dieses Wahlghetto birgt, ist im Begriff, vom Erdboden zu verschwinden. Man muß sich beeilen, wenn man das Leben in den Straßen mit den merkwürdig militärischen, garnicht ans Alttestamentarische erinnernden Namen wie Dragoner- und Grenadierstraße, noch kennen lernen will. Schon erheben sich die neuen Häuserblöcke und überragen die Reste, die langsam Ruine werden. Aber eine Zeitlang gehen noch die Männer mit den altertümlichen Bärten und Schläfenlocken in langsamen, die schwarzhaarigen Fleischertöchter in munteren Gruppen den Damm ihrer Straße auf und nieder und reden Jiddisch. An Läden und Stehbierhallen sind hebräische Inschriften. Noch sind diese Straßen eine Welt für sich und den ewigen Fremden eine Art Heimat, bis sie, die vor noch nicht langer Zeit von einem Schub aus dem Osten hergetragen worden sind, sich soweit in Berlin akklimatisiert haben, daß es sie verlockt, tiefer in den Westen vorzudringen und die allzu deutlichen Zeichen ihrer Eigenart abzutun. Es ist oft schade darum, sie sind eigentlich so, wie sie im Scheunenviertel herumgehen, schöner als nachher in der Konfektion und an der Börse.
Böse Zungen haben die schmale Privatstraße, die von der Potsdamer an alten Gärten entlang führt und zur Lützowstraße umbiegt, das neue Ghetto genannt. Dieses Scherzes sind die, welche hinter dem Gitter des Durchgangs wohnen, wohl kaum würdig, man wird da keinen Kaftan und keine Schläfenlocke finden.
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Rasch fährt unser Wagen durch die Klosterstraße. Er hält nicht vor den Wandelgängen des alten Gymnasiums zum Grauen Kloster, dem ältesten Berlins. Es ist aus dem Kloster der Franziskaner oder Grauen Brüder hervorgegangen und enthält in seinen Mauern noch Konvent- und Kapitelsaal. Im Hofraum erhebt sich die Klosterkirche. Sie ist von dem großen Brande des Jahres 1380 bis auf den Turm unversehrt geblieben, und ihre Mauern bergen das meiste Mittelalter von allen Berliner Kirchen. Im dämmerigen Chor wird der Besucher die fünfzig Gestühle der Mönche bewundern, sie sind aus Eichenholz, mit reichem gewundenen Schnitzwerk geziert. Über ihnen sind in der Wandbekleidung geschnitzte Sinnbilder, merkwürdige Allegorien der Passionsgeschichte, ein Zählbrett mit Silberlingen, das den Verrat des Judas, zwei aneinandergeschmiegte Köpfe, die seinen Kuß bedeuten, Fackel und Laterne gemahnen an die nächtliche Verhaftung im Garten Gethsemane, Ketten an Jesu Fesseln, Schwert und Ohr an Petri Hieb nach dem Knecht der Hohenpriester.
Als das Gymnasium gegründet wurde, bekam es nur die Hälfte der Klostergebäude, die andre, und zwar die nach dem sogenannten Lagerhause zu, bekam Leonhard Thurneysser, der Tausendkünstler aus Basel. Er hatte hier und in dem Lagerhause selbst seine Buchdruckerei, Schriftgießerei, Werkstätten für Holzschnitt und Kupferstich, er machte Goldtinkturen und Perlenelixiere, Amethyst- und Bernsteinessenzen, ja auch Schönheitswässer für die Damen der hohen Gesellschaft, die ihn jede einzeln in Dankbriefen baten, er solle doch ja keiner andern den gleichen Zaubersaft zukommen lassen. Man erzählte sich von ihm, daß er Satan in Gestalt eines Skorpions in einem Glase gefangen halte und daß täglich drei schwarze Mönche mit ihm speisten, die gewiß Abgesandte der Hölle seien.
Das Lagerhaus war hervorgegangen aus dem Hohen Hause, der alten Markgrafenresidenz, die der erste Zollernkurfürst bezog und seine Nachfolger erst verließen, als ihre Zwingburg zu Cölln an der Spree vollendet war. Da wurde dann das Lagerhaus wie alles in dieser Gegend Burglehen. Was in diesen Burglehen hauste, war abgabenfrei, aber zum Schloßschutz verpflichtet. Aus den Burglehen sind die späteren Freyhäuser geworden, deren noch eine Reihe an den Inschriften überm Hauseingang kenntlich sind. Die Geschichte des Hohen und späteren Lagerhauses ist interessant: hier wurde von Friedrich II. der Schwanenorden gestiftet. Bei der Aufteilung kam es an einen Ritter von Wardenfels und nach ihm an eine Reihe Adliger und Geistlicher. Im siebzehnten Jahrhundert wurde es eine Zeitlang Privatbesitz, im achtzehnten Ritterakademie. Dann gab es Friedrich Wilhelm I. dem Staatsminister Johannes Andreas Kraut als Lagerhaus für Wollwaren. Der König, der für sein Militär kein ausländisches Tuch kaufen wollte, begünstigte sehr die Fabrik seines Getreuen. Sie ist erst im Anfang des 19. Jahrhunderts eingegangen. Die Räume wurden staatliche Dienstlokale. Eine Zeitlang war das Geheime Königliche Staatsarchiv darin. Jetzt steht an den Erdgeschoßfenstern des immer noch stattlichen Hauses ‚Zu vermieten‘.
An dem mächtigen Gebäude des Land- und Amtgerichts entlang kommen wir zu den Stadtbahnbögen und dem Alexanderplatz, auf dem es zurzeit recht unordentlich aussieht, weil hier ein ganzes Stadtviertel eingerissen und umgebaut wird. Die Heimlichkeiten der Umgebung dieses Platzes zu erforschen, ist hier vom Fremdenwagen aus keine Zeit. Das muß einem Spaziergang nach dem Osten vorbehalten bleiben. Ein Stück Neue Friedrich- und ein Stück Kaiser Wilhelmstraße fahren wir bis zum Neuen Markt. Zu Fuß wären wir dahin die schmale Kalandsgasse gegangen und hätten uns der etwas rätselhaften Kalandsbrüder erinnert, von denen sie ihren Namen hat und deren Kalandshof hier im Schatten von Sankt Marien stand. Die alte Elendsgilde dieser Gesellen, deren Name rätselhaft bleibt (die Deutung nach calendae wird angezweifelt), verwandelte sich mit der Zeit aus einer nach gestrengen, in manchem an Templersitten gemahnenden Gesetzen lebenden Bruderschaft der ‚elenden Priester der Propstei‘ in eine recht wüste Rotte, deren Lebensweise bewirkte, daß man hierzulande unter ‚Kalandern‘ eine besonders wüste Art Müßiggang verstand.
Auf dem Neuen Markt steht vor der Marienkirche ein großes Lutherdenkmal. Da ist der Reformator mit obligater Bibel nebst seinem ganzen Stabe zu sehen. Die Mitstreiter bewohnen sitzend und stehend den breiten Sockel des großen Steinwerks, und zwei sitzen sogar noch auf den Treppenwangen.
In alter Zeit hat hier ein Galgen gestanden für Soldaten, die zu einem schimpflichen Tode verurteilt waren. Als er errichtet wurde, war gerade Peter der Große von Rußland bei König Friedrich Wilhelm I. zu Besuch. Der Zar interessierte sich sehr für das neue Hinrichtungsinstrument und bat den König, an einem seiner langen Kerle den Apparat auszuprobieren. Als der König sich entrüstet weigerte, sagte Peter: ‚Nun, dann können wir’s mit einem aus meinem Gefolge versuchen.‘ Hoffentlich haben die Monarchen von diesem Versuch Abstand genommen. Es ist immerhin besser, daß jetzt da kein Galgen, sondern nur ein Denkmal steht. Am besten aber stünde gar nichts oder nur die bunten Buden eines Marktes wie in früheren Zeiten. Die Marienkirche hat breite Steinquadern, Granit der Findlingsblöcke, aus der Zeit, bevor man in der Mark mit Backstein baute.
Diese Kirche, mein lieber Fremder, mußt du dir innen anschauen, wenn du irgend Zeit hast. Da ist eine wunderbare Kanzel von Schlüter. Und das Ergreifendste an dieser Kanzel sind zwei große Engel, welche die Ekstase von den tastenden Zehen bis zu den emporgedrehten Hälsen bewegt. Im Flaum ihrer mächtigen Marmorflügel zittert Verzückung. In den Kapellen schöne Grabmonumente: hinter schmiedeeisernem Gitter das reichverzierte Grabmal eines Patrizierehepaars. Zwischen derben Engeln ein wackrer Reitersmann mit dem würdigen Vorbauch der Wallensteinzeit, halbleibs über einem Totenkopf betend. Eine süß lagernde Barockputte zeigt auf das Reliefbildnis einer Verstorbenen. Im Chor das große Grabmal des Grafen Sparr, der ein Wohltäter der Kirche war; ein Antwerpner Künstler soll das geschaffen haben. Der Feldmarschall kniet mit den bepanzerten Beinen in säulenumgebener Kapelle vor seinem Betpult auf einem Marmorkissen. Unterm Pult aber legt ein Hündchen die Pfote über die Leiste und schaut zu seinem Herrn hinauf. Das hat ihm einmal, als er auf Feldwacht war, des Feindes Ankunft durch Bellen verraten, darum ist es hier zu Füßen seines Herrn begraben. Hinter dem Grafen steht ein schöner Page und hält den federngeschmückten Helm seines Herrn. An Sparrs Türkensiege erinnern die Gestalten von Mars und Minerva, die da oben von rechts und links her sein Wappen halten. Zu ihren Füßen hocken je zwei mit Fesseln an Kanonenrohre geschmiedete Sarazenen. Hier wie in Sankt Nikolai und in der Klosterkirche sah sich der Adel und die Patrizierschaft von den Grabmälern der Ahnen umgeben, und sie sind eine Welt für sich: die aufrecht stehenden Grabsteine an den Wänden, die abgetretenen Sandsteinplatten, auf denen die Wappen mit den reichen Helmen dem Hinschauenden langsam deutlicher werden, die Holztafeln mit Bildern der Stifter, umgeben von steinern rankender Allegorie. Zu all diesem Grabgestein in der Kirche und an ihren Außenmauern muß man nun noch die Gräber des Volkes hinzudenken, die vor der Kirche auf Plätzen waren, über welche Herden weideten und die auch zur Bleiche oder als Seilerbahn dienten. Mehr und mehr sind diese Friedhöfe von den Kirchen abgewandert. Nur ganz wenige sind noch bei ihrem Gotteshaus wie der alte Parochialfriedhof. Schon unter Friedrich Wilhelm I. fing man an, die Begräbnisplätze der Gemeinden vor die Tore der Stadt zu verlegen.
In der Marienkirche findet sich noch etwas, wovon ich sprechen muß, und zwar in der Turmhalle. Da läuft ein über zwanzig Meter langes Fresko die Kirchenwand hin, das man erst vor einem halben Jahrhundert unter der Tünche entdeckt hat, mit der es bilderfeindliche Zeiten verbargen. Vor blauem Himmel und grünem Anger bewegen sich zwischen den tanzführenden Toden geistliche und weltliche Gestalten. Neben der Kanzel des braunbekutteten Franziskaners, zu dessen Füßen teuflische Fratzenungeheuer den Tanz lauernd und musizierend verfolgen, beginnt den Reigen der Küster im Chorhemd, von einem Tode angefaßt, der seine Linke dem nächsten Geistlichen reicht, den verbindet der grausige Nachbar mit dem grauen Augustiner, den wieder einer mit dem Kirchherrn in rotem Gewand, und so geht es weiter über den Kartäuser, den Doktor — den zählte das Mittelalter auch zu der Geistlichkeit und ließ ihn mit frommem Schauer die Flüssigkeit in seinem Glase beschauen —, den zierlichen Domherrn, den feisten Abt, den prunkenden Bischof, den roten Hut des Kardinals bis zu des Papstes dreifacher Tiara. Hinter dem Papste bildet die Wand eine Ecke, und da ist der Tanz durch das Bildnis des Gekreuzigten unterbrochen, zu dem die Mutter und der Lieblingsjünger betende Hände erheben. Dann kommen die Weltlichen. Zunächst wird hier der Kaiser mit Zepter und Krone und blau-golden gekleidet vom Tode zur Kaiserin hingetanzt, die ihr Schleppgewand rafft. Sehr jung in seinen hellen Tuchschuhen ist der König. Im Harnisch muß der Ritter, in pelzverbrämter Schaube der Bürgermeister sich zum Tanze bequemen und sich’s gefallen lassen, daß, nur eine Todesbreite von ihm entfernt, der Wucherer, nicht minder vornehm und verbrämt angetan, denselben Reigen tritt. Der Junker in Joppe und prallem Beinkleid, der Handwerksmann im Kittel und ein armer stolpernder Bauer folgen. Den Abschluß aber macht im Schellenkleid der Narr. Der immer selbe und immer verschiedene Tod, der bald schreitend, schleifend, bald mit erhobenem Fuße hüpfend die Menschenkinder zum Reigen vereint, ist nicht eigentlich als Gerippe dargestellt wie auf den meisten Totentänzen, sein magerer Leib ist nur umrissen, nicht Skelett, auf den spitzigen Knochen seines Gesichtes wechseln in reicher Variation die Grimassen starren und belebteren Hohnes. Um die Schultern hängt ihm als Mantel, der seinen Leib frei läßt, das weiße Grabtuch. Und einmal in der Gestalt, die nach dem Heiligen Vater greift, ist er ganz nackt.
Es ist das älteste Stück Berliner Malerei, was wir hier im Kirchendämmer wandentlang wandern sehen. Und in altem Niederdeutsch stehen, zum Teil erloschen, bittere Reime darunter, die von der Unabwendbarkeit des Reigens reden. Der ist ja nicht so berühmt wie die Totentänze von Lübeck, Straßburg, Basel usw., aber er hat ergreifende Realität und berlinische Helle und Kühle. Die Menschen, für die dieses Bild gemalt wurde, haben übrigens das große Sterben und die Lebenslust mit einem wirklich getanzten Reigen gefeiert, der Totentanz hieß. Der kam nach einem der großen Pestjahre auf, in einer Zeit, in der, wie immer nach der furchtbaren Seuche (und oft schon, während sie wütete, ihr zum Trotz), die Freude am Dasein besonders stark war. Bei diesem Tanze traten jung und alt unter Jubel und Gelächter zu einem Reigen zusammen. Plötzlich hörte die muntere Musik mit einer schrillen Dissonanz auf, eine leise düstere Melodie hob langsam an und ging in einen Trauermarsch über, wie er bei Begräbnissen gespielt wurde. Währenddessen legte sich ein junger Mann auf den Boden und blieb dort regungslos ausgestreckt wie ein Toter. Die Frauen und Mädchen tanzten um ihn herum gaben ihrer Trauer in komischer, höhnischer Weise Ausdruck und sangen lustig ein Trauerlied dazu, dem allgemeines Lachen Echo machte. Dann traten sie eine nach der andern an den Toten heran und suchten ihn durch Küsse ins Leben zu rufen. Eine Ronde der ganzen Gesellschaft beschloß den ersten Teil der grotesken Zeremonie. Beim zweiten Teil tanzten Männer und Jünglinge um eine, die die Tote spielte. Ging es dann ans Küssen, war des Jubels kein Ende.
Wir kreuzen die Spandauerstraße. Eh wir südlich wenden, ein Blick auf die Heiligegeistkapelle. Sie ist erhalten geblieben, indem man ein neues Haus, die Handelshochschule, ihr anbaute und sie diesem Hause so einfügte, daß sich in ihrem tief herabreichenden Ziegeldach mit den Mansardenfenstern das Dach der Hochschule fortsetzt. Innen ist sie jetzt Vortragssaal. Zu dem gotischen Sterngewölbe steigen Belehrungen über Bilanz, Buchführung und Bankwesen empor. Im Mittelalter lag sie am Armenhospital zum Heiligen Geist. Viel Efeu rankt um die spitzbogigen Fenster.
Wir kommen an der Hauptpost vorbei und zum Ratshaus, dem ‚Roten Hause‘ aus Ziegelstein und Terrakotta. Den hohen Turm mit den schmalen Säulen an den durchbrochenen Eckvorsprüngen haben wir auf unserer Fahrt schon ein paarmal über alle Dächer ragen sehn und er wird uns noch ein ganzes Stück nachschauen. Von dem alten Ratshause, an dessen Stelle dies Gebäude in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts errichtet worden ist, gibt es in dem Park des Schlosses Babelsberg bei Potsdam noch einen Rest zu sehn, die Gerichtslaube mit ihrem allegorischen Zierat, dem Affen der Wollust, dem Adler des Raubes und Mordes, dem Wildschwein der Verkommenheit und einem seltsamen Vogel mit Menschengesicht und Eselsohren, dem blutsaugenden Vampir der Habsucht und des Wuchers.
Nun fahren wir die Königstraße bis zur Spree und erreichen die ‚Lange Brücke,‘ die jetzt Kurfürstenbrücke heißt. Da läßt unser Führer halten, um uns das berühmte Denkmal des Großen Kurfürsten zu erklären. Während unten am Sockel die Sklaven grollend sich ducken, einer die gefesselten Hände zu dem stolzen Überwinder hebt, der Führer von Schlüters Entwurf und von Johann Jacobis Erzguß berichtet, denke ich an die Volkssage, nach welcher der da oben in seinem Imperatorenmantel auf seinem ehern schreitenden Roß in der Neujahrsnacht Schlag zwölf mit einem Geistersprung das hohe Postament verläßt und durch seine gute Stadt reitet, zu sehen, was aus ihr geworden ist. Vor ihm auf dem Sattel sitzt dann das Kind von Fehrbellin, welches er selbst aus dem brennenden Hause gerettet hat, in dem die Schweden alle andern Lebendigen erschlagen hatten, und das sein schützender Engel wurde. Schlag ein Uhr kehrt er auf seinen Sockel zurück. Unter diesem Sockel aber ruht ein reicher Schatz. Diesen Hort darf nur der Preußenfürst heben und der auch nur, wenn er in großer Not ist.
Der Führer zeigt uns von hier teils rekapitulierend, teils ankündigend Ausblicke auf das Dammühlengebäude, das Rathaus und die ältesten Teile des Schlosses, den grünen Hut und die Schloßapotheke, erzählt uns dabei von der kleinen Zwingburg des zweiten Zollernkurfürsten und dem Renaissanceschloß, das Kaspar Theyss für Joachim II. erbaute. Das hören ein paar Straßenjungen mit an. Denen kommen wir armen Fremden recht lächerlich vor. Sie machen des Führers erklärende Gebärden nach und rufen ‚Det da drüben is Wasser und die ins Auto sind Zoologscher Jarten‘.
Wir dulden still, bis der Wagen weiterfährt, um vor dem Neptunsbrunnen und den herrlichen Säulen und Pilastern an der Südfassade des schönen Schlüterbaues wieder zu halten.
Etwas zu lange verweilt unser Führer bei dem Brunnen, an dessen Rand es immerhin eine gut lagernde Nixe mit einem Fischnetz im Schoße gibt, und dem ehemaligen königlichen Marstall drüben, von dem nur zu sagen ist, daß er stattliche Breiten- und Höhenmaße aufweist und jetzt eine städtische Bibliothek mit vielen interessanten Büchern über Berlin enthält. Ich bleibe während seiner Erläuterungen mit den Augen auf Schlüters Pilastern, Fensterfassungen und den Statuen über dem Gitter des Balkons. Auf diesem Balkon mußte am 19. März 1848 König Friedrich Wilhelm IV. erscheinen, um die Bürgerleichen zu sehen, die von der Breiten Straße nach dem Schloß angefahren wurden. Die Volksmenge sang und schrie und alles hatte den Kopf entblößt, nur der König hatte die Mütze auf, da hieß es gebieterisch ‚Die Mütze herunter!‘ und er nahm sie ab. Die Leichen wurden durchs Schloß nach dem Dom gefahren. Auf dem innern Schloßhof machte der Zug halt und dort mußte wiederum der König auf der Galerie erscheinen, vieles anhören und das Haupt entblößen.
Wir fahren um die Ecke und halten vor dem Eosanderportal. Hier zwingt der Erklärer unsere Blicke, statt sie auf diesem barock gesteigerten Severusbogen von Berlin zu lassen, hinüber zu den Steinfalten, Allegorien, trophäenraffenden Löwen und Umbauten des Begasschen Nationaldenkmals für Kaiser Wilhelm I., dem da oben eine Balletteuse sein Zirkuspferd gängelt, und er behauptet, das Portal und darüber die Kuppel der Kapelle komme erst recht zur Geltung, seit das Nationaldenkmal die alten Gebäude der Schloßfreiheit verdrängt habe.
Da kann man andrer Meinung sein und sich nach dem bescheiden gedrängten Holz- und Mauerwerk zurücksehnen, wie man es auf alten Stichen sieht. Es hat gewiß das Königsschloß gesteigert wie in alten Städten Marktbude und angelehnte Häuschenschar die Kathedrale, von der sie überschattet und gehegt wurden in den Tagen, als echte Pracht gut inmitten echter Armut wohnte.
Unter dem Portal ist der Eingang in das Schloßmuseum. Im Erdgeschoß und einem Teil des ersten Obergeschosses ist seit einigen Jahren Kunstgewerbe untergebracht. Es ist ja noch nicht lange her, da wohnten hier die Letzten von der Familie, der man dies Schloß gebaut hat. Wir haben sie noch herausfahren sehn aus den Portalen und auf dem Balkon stehen, von dem aus sie zu dem Volk sprechen konnten. Nun sind alle Räume des Riesenbaus Museum geworden. Außer den richtig zu Museenzwecken eingerichteten Räumen kann man nun auch die andern, die Königskammern und Repräsentationsräume und sogar die historischen Wohnräume jederzeit besichtigen. Meistens ist leider ein Führer dabei. Es wird einem nicht leicht gemacht, Schlösser anzusehn. In manchen, wie dem reizenden Gartenschlößchen Monbijou, welches das Hohenzollernmuseum birgt, kann man ungestört herumgehn und Krückstöcke, Uhren, Porzellan und Prunktabaksdosen des alten Fritzen, die Zimmer seiner Mutter, das chinesische Kabinett, die kuriosen Wachsbilder der Fürsten und Fürstinnen usw. in aller Ruhe betrachten. Aber so gut hat man es sonst in Berlin, Charlottenburg und Potsdam selten. Meist wird man geführt, und was der Führer erzählt, steht besser, prägnanter und wissender im Baedeker. Und was das Schlimmste ist, das Tempo der Betrachtung hängt ganz von ihm und seiner Herde ab. Wenn man nicht Gelegenheit zu einer Sonderführung bekommt, bleibt einem also nichts übrig, als auf gut Glück vor einem schönen Möbel oder Bilde zu verweilen, während der Fremdenwärter sein Sprüchlein über den ganzen Saal aufsagt. Manchmal empfiehlt sich’s auch, statt der Altertümer die drollige Gegenwart des Kunst- und Fürstenportiers und seiner filzpantoffelschlurfenden Herde, welche die Anwesenheit von Sehenswürdigkeiten mit merkwürdigen Ausrufen und Aussprüchen begutachtet, zu genießen. Während wir uns freuen, die Räume, die im Berliner Schloß der letzte Kaiser bewohnt hat, in den Zustand zurückversetzt zu finden, in dem seine Vorfahren sie ihm hinterließen, meint der Kundige, der uns nun herumführt und der die letzte Pracht noch gekannt hat, die Räume seien jetzt etwas kalt, und beschreibt ausführlich, was hier vor zehn Jahren an Perserteppichen gelegen, an Schlachtenbildern und Porträts gehangen habe. Er zeigt uns sogar die Stelle, wo die hochmodernen elektrischen Zigarrenanzünder von damals waren. Wenn er in die Zimmer der Kaiserin kommt, muß der Kunstfreund die ganze Zeit, die jener über ihre Gewohnheiten und Lieblingsgegenstände spricht, nutzen, um mit einiger Gründlichkeit die herrlichen Watteaus zu betrachten, die sich als verwunderte Fremdlinge in den Zimmern dieser watteau-fernsten aller denkbaren Damen befinden. Und wenn im Charlottenburger Schloß der Wanderwart die gräßliche Trompetenuhr aufzieht und blasen läßt, von der er behauptet, sie habe Napoleon, als er hier übernachtete, aus dem Schlafe geschreckt, halte man sich die Ohren zu und sehe so lange die süße Seide um den Schlaf der hübschen munteren Königin Luise an, ihre kleinen Öfchen oder ihr apartes Bild in Totenhusarentracht. In solchen Räumen müßte man lange allein oder unter seinesgleichen sich aufhalten dürfen, um mit den Geistern derer zu verkehren, für die einst die Schlüter und Schinkel und ihre Schüler und Helfer gearbeitet haben, und die großen Zeiten des älteren Berlin, das preußische Barock und Rokoko und den preußischen Klassizismus zu erleben.
Einiges wird einem vielleicht auch auf den ersten Blick zuteil, die strotzend blühende Pracht im Rittersaal, den Schlüters Gruppen der vier Erdteile schmücken, die reinen Formen und angenehmen Farben des Parolesaals mit Schadows Marmorgruppe der jugendlichen Kronprinzessin Luise und ihrer Schwester, das Gold und Grün des runden Kuppelkabinetts, das Friedrichs des Großen Schreibzimmer war. Und nach Herzenslust verweilen kann man in dem innern Schloßhof vor Schlüters Bogenhallen. Die Höfe nämlich versperrt uns kein König mehr und kein Führer zwingt hier zur Eile.
Wir halten an der Lustgartenseite des Schlosses vor den beiden Rossebändigern, die der russische Kaiser dem Preußenkönige in den vierziger Jahren geschenkt hat. Der Berliner Volkswitz nannte sie den gehemmten Fortschritt und den beförderten Rückschritt.
Aus dieser Zeit stammen auch die einzelstehenden Säulen aus geschliffenem Granit an den Ecken der Terrasse, auf denen goldne Adler horsten. Varnhagen, der als kritischer Zeitgenosse beobachtete, fand diese Verzierung zu elegant für das mächtige, schwerfällige, düstre Gebäude und diese Sucht, zu schmücken, sehr geschmacklos. »Die Leute«, schreibt er, »stehen davor und machen ihre Bemerkungen darüber, sie finden die Sache unnötig, man vergleicht sie mit den Achselklappen der königlichen Lakaien, die waren dem König auch zu einfach, es mußte eine Krone hinein.« Den einen goldnen Adler an der Ecke nannten die bösmäuligen Berliner den ‚größten Eckensteher‘ — anspielend auf die vielbewitzelten, etwas faulen und versoffenen Vorläufer des Berliner Dienstmanns. Und sie meinten: Nun weiß man doch, wie das Hotel heißt, das Schild sagt’s: ‚Zum goldenen Adler.‘ Zu dieser Zeit kurz nach den Revolutionstagen 1848 waren immer noch viel Aufläufe von Arbeitergruppen und Studenten und Lehrburschen unter den Linden und vorm Schloß, da ließ ein Hofmarschall Eisengitter an die Schloßportale befestigen. Die Bürgerwehr konnte nicht verhindern, daß ein großes Gitter von den Arbeitern ausgerissen und an der Kurfürstenbrücke in die Spree geworfen wurde, ein andres, kleineres schleppten die Studenten auf die Universität. Später ließ man alles ruhig geschehen und sah die Gitter als Denkmal des 18. März an, das Schloß, sagte man, sei dadurch zum Käfig geworden, der König bemitleidenswert, und es sei ein Schildbürgerstreich von ihm, Gitter nach der Gefahr zu machen. Die Adler gibt es noch, die Gitter sind gefallen. Das Schloß ist von der Lustgartenseite gesehen schöner, ehrwürdiger und historischer denn je.
* * *
Der große weite Platz dem Schloß gegenüber, der Lustgarten, geht bis an die Stufen des Alten Museums und die führen in ein wunderbares Eiland mitten in der Stadt. Es ist nicht nur topographisch richtig, daß dieser von schützenden Wassern umflossene Stadtteil die Museumsinsel genannt wird. Die Welt, die hier mit Schinkels jonischer Säulenhalle beginnt, ist des jungen Berliners Akademoshain — oder war es wenigstens für meine Generation — und was er auch später im Louvre und Vatikan, in den Museen von Florenz, Neapel, Athen wird zu sehen bekommen, er kann darüber die Säle des Alten und Neuen Museums und unserer großen Bildergalerien nicht vergessen, ja selbst die Wandelgänge hinter den Säulen hier nach dem Platz zu und innen am Neuen Museum entlang und rings um die Nationalgalerie sind ihm dauernder Besitz und Stätte unvergeßlicher Stunden.
Doch wir wollen in der Stadt und auf der Straße bleiben. Für einen kurzen Besuch der Museen unterrichtet der Baedeker ausgezeichnet, seine einfachen und Doppelsternchen orientieren über das, was eine Art consensus gentium letzthin für besonders schön und wertvoll hält, und das hindert niemanden, seine eignen Entdeckungen zu machen.
Aus der Vorhalle des Alten Museums gelangt man unter die Kuppelwölbung der Rotunde, die mit meist römischen Nachbildungen griechischer Statuen ins Eigentliche einlädt. Es ist schön, in dem Kreis dieser Marmorwesen zu sein, ohne sie genauer anzusehen, und seine Kräfte zu sammeln für all das Wunderbare, was uns im archaischen Saal und in den Sälen des 5. und 4. Jahrhunderts, der Spätzeit und bei den Römern erwartet. Im Oberstock versammelt das Antiquarium die Kleinkunst in Bronze, Gold und Silber, Schmucksachen und die grotesken und reizenden Terrakotten der Meister von Tanagra und ihrer Schüler. In Stülers Neuem Museum wirst du, wenn ich dir raten darf, Fremder, dich nicht allzu lange in dem großen Treppenhaus mit den riesigen Fresken von Kaulbach aufhalten, die sich bekanntlich mit den Hauptmomenten der Weltgeschichte befassen und als Anschauungsunterricht für Volksschulen vielleicht nicht allzuviel Schaden anrichten. Du wirst in der ägyptischen Abteilung gewaltige Statuen und Sarkophage und die holden kleinen Köpfe der Königinnen Teje und Nefretete finden, und bei schwarz- und rotfigurigen Vasen in den Dämmerzustand versinken, in dem man nicht weiß: fließt draußen die Seine oder der Tiber? Werden wir auf dem Posilipp oder im Savoy frühstücken? Gibts bestimmt eine Gegenwart? Fürs Kupferstichkabinett laß dir etwas Zeit, sieh nicht nur an, was an den Wänden hängt oder in den Glaskästen ausliegt. Man gibt dir gern eine der vielen schönen Mappen, einen guten Platz, und du kannst dich ein Stündchen gebärden wie ein Kunstgelehrter. Es lohnt. Bis diese Zeilen in deine Hand kommen, ist vielleicht auch schon der Museumsneubau endlich vollendet, den Alfred Messel begonnen hat. Dann wirst du den herrlichen Altar von Pergamon aufgebaut sehn mit seinen Göttern und Giganten. Was die Nationalgalerie anbetrifft, so muß ich als dein Führer durch Berlin dich besonders auf die Bilder hinweisen, in denen Berlinisches verewigt ist. Menzels wunderbares Balkonzimmer und sein Schlafzimmer, das höfische Ballsouper, den Palaisgarten des Prinzen Albrecht, die alte Berlin-Potsdamer Bahn, ferner die Maler des alten Stadtbildes und Volkslebens, vor allen Theodor Hosemann, und Franz Krügers Porträts und seine großen Paradebilder. Berliner Romantik wirst du in den Landschaftsbildern des großen Schinkel, der ja eigentlich kein Maler, sondern ein Baumeister war, finden. Er hat sie für eines der alten Patrizierhäuser in der Brüderstraße gemalt und wenn du Muße dafür hast, so lies, was Hans Mackowsky in seinen ‚Häusern und Menschen im alten Berlin‘ darüber schreibt, und lies weiter, was er von diesem Haus und andern berichtet, das wird dir eine vergangene Stadt mitten in der gegenwärtigen aufbauen. Über das Kaiser Friedrich-Museum, das nach dem Manne, der es zu einer Weltberühmtheit gemacht hat, besser Wilhelm von Bode-Museum hieße — statt sich auf den recht kunstfreundlichen Herrn zu beziehen, dessen garstiges Reiterdenkmal leider vor der Tür dieser Schatzkammer steht — über diese Welt von Bildern und Bildwerken habe ich hier nichts aufzuschreiben, denn wenn sie auch höchster Ruhm von Berlin ist, so hat sie doch mit unserer guten Stadt selbst nichts zu tun. Man ist hier von ihr noch weiter fort als in den Sälen der griechischen Bildwerke, nach denen doch in den Versuchen des preußischen Klassizismus eine Sehnsucht — nüchtern abgeblaßt, verhalten, prunkfeindlich und redlich bemüht — hindrängt.
Aber zurück aus dieser schönen Ferne zum Lustgarten und unseren Rundfahrtwagen. Die weite Fläche dieses Platzes hat auch schon etwas inselhaft Ruhevolles. Von der langen Schloßfront mit den breiten Portalen ist — hoffentlich auf recht lange Zeit — keinerlei Gegenwart vorauszusehen. Die einzige Unruhe an dieser gelassenen Stätte ist der Dom mit seinen vielen Hochrenaissanceeinzelheiten, Nischen, Hallen, Kuppelaufsätzen. Er macht sich da breit, wo noch bis in die neunziger Jahre ein kleinerer aus Friedrichs Tagen stand. Er bedeckt eine Fläche von 6270 qm, während der Kölner Dom es nur bis zu 6160 qm gebracht hat. Es ist höchst überflüssig, hineinzugehen, denn auch innen verletzt dieses Riesengefüge aus eitel Quantität, Material und schlecht angewandter Gelehrsamkeit jedes religiöse und menschliche Gefühl. Die Akustik soll übrigens ausgezeichnet sein, und um sie zu verstärken, hängen eigens noch Bindfäden von der Innenkuppel des Mittelbaues. Mit Recht verkündet ein marmorner Engel ‚Er ist nicht hier, Er ist auferstanden‘. Wahrhaftig, hier ist Er sicher nicht. Schade um ein paar schöne Sarkophage, mit denen die Namen Peter Vischers und Schlüters verbunden sind. Vielleicht kommt noch einmal eine Zeit, in der man dieses Gebäude und manches andre so kurz entschlossen abreißt, wie man es jetzt mit häßlich gewordenen störenden Privathäusern tut. Dann wird diese Stätte ganz der Vergangenheit und Ruhe gewidmet sein.
Belebt wird sie auch jetzt immer wieder nur, wenn Volksversammlungen sich ihrer bemächtigen, und dafür ist sie sehr geeignet, seit der Lustgarten nichts als ein großer Sandplatz ist. Sein Name erinnert noch an eine ganz andre Zeit, die der Parkkunst, der Grotten und Grottierer. In des Großen Kurfürsten und seines Sohnes Tagen waren hier ein Kolossalneptun mit Grotten und Wasserstürzen zu sehen, Vexierspringbrunnen und die Riesenmuscheln an Meinhards Lusthaus. Da hatten die ‚Grottenmeister, Sprützenmacher und Stukkateure‘ reichlich Arbeit wie später wieder unterm Großen Friedrich, dem sie in Sanssouci eine Neptunsgrotte, im Neuen Palais einen Muschelsaal bauten. Auf der Remusinsel zu Rheinsberg schufen sie das chinesische Haus. Und später hat dann noch der Erbauer des schlichten Landschlößchens zu Paretz in einem Parkwinkel als eine Art Relikt aus der Rokokozeit ein muschelbuntes japanisches Tempelchen errichtet. Die letzten Nachklänge dieser Grottenkunst aber sind mitten in der Großstadt die schaurigen Tropfsteingebilde an den Aufgängen zu veralteten Nachtlokalen und an den Bühnenrahmen verstaubter Tingeltangel. Den nüchtern verständigen Friedrich Wilhelm I. verdrossen die Blumenparterres und Lusthäuser dieses Paradieses seiner Vorfahren. ‚Alfanzereien‘ nannte er das und machte aus dem Pomeranzenhaus eine Tapetenfabrik mit einer Art Börse im oberen Stockwerk und aus den Blumenparterres einen Exerzierplatz für seine Grenadiere. Seit hier nun nicht mehr exerziert wird, kann das freie Volk seine Versammlungen abhalten. Da kann man mit Fahnen und Fähnchen zum Beispiel die Kommunisten demonstrieren und lagern sehen. Rote Pfingsten: Sie sind weither gekommen aus allen Teilen Deutschlands, Textilproleten aus dem Erzgebirge, Kumpel aus den Zechen in Hamm und in der Kanonenstadt Essen, die eine Hochburg der Rotfront geworden ist, dazu rote Marine von der Waterkant. Aber auch das fernere Europa und die weite Welt senden ihre Vertreter; die Schutzwehr der Schweizer Arbeiterschaft, die tschechische Arbeiterwehr rückt an mit Fahnen und Plakaten, und ehrfürchtig wird die Sowjetstandarte begrüßt. In langen Zügen sind sie hermarschiert von den Enden der Stadt, seltsame Musikinstrumente wandern ihnen voran, Trompeten mit mehreren Schlünden, Jazztuben, Negertrommeln. Diese Kämpfer sind uniformiert, wie auch die es waren, die sie kämpfend ablösen wollen. Kriegerisch gegürtet sind die grauen Blusen und braunen Kittel. Und wie einst von den Tressen der Chargierten wird jetzt das Wanderbild des Zuges skandiert von den roten Armbinden der festleitenden Flügelmänner. Sogar die Kinder haben ihre Uniform. In weißen Hemdblusen mit rot flatternden Krawatten haben sie ihr Lastauto erklommen, dessen Aufschrift die Abschaffung der entwürdigenden Prügel verlangt. So einen Zug hab ich begleitet von der Bülowpromenade im Südwesten her, die Yorkstraße hin unter den Bahnübergängen, deren Eisenbrücken das ‚Rot Front!‘ und das ‚Seid bereit!‘ mächtig widerhallten. Von den bürgerlichen Klebebalkons der langen Avenuen schauten etwas verdrossen alte Männer und Frauen auf das muntre Volk, das waren vielleicht pensionierte Beamte, die sich noch nicht ‚umgestellt‘ haben. Aus den Seitenstraßen aber wehten rote Fahnen von den Häusern, und ein paar Jungen auf Rädern, deren Reifen rot umwickelt waren, schlossen sich an. So ging es weiter das Planufer hin und über die Kanalbrücke in die Altstadt. In der Alten Jakobstraße stand auf einem Altan, das Haar im Wind, ein graues Weib wie eine Parze des Weltgeschicks oder Furie der neuen Begeisterung. Jüngere lagen sonntäglich träge mit nackten Armen auf ihren Fensterkissen und freuten sich an dieser Musik und Menge wie ehedem am Aufmarsch der Soldatenkompagnien. Die Geschäftshäuser der Markgrafenstraße waren ganz menschenleer. Nur auf einem hohen Dach bewegte sich ein Wesen und winkte mit einem winzigen Fähnchen. In der Oberwallstraße wehte dem Zug eine tiefe Stille entgegen von dem Torbogen, der die verträumte Auffahrt und die alten Balkone und Mansardenfenster des Prinzessinnenpalais abschließend schützt vor aller Gegenwart. Durch dies Tor drang der Zug, um auf dem Platz vor dem Zeughaus mit den Zügen aus andern Vorstädten zusammenzutreffen. Eine unabsehbare Menge erfüllte in Einzelgruppen und Zügen von der Schloßbrücke bis zur Kaiser Wilhelmsbrücke den ganzen Lustgarten und die Schloßfreiheit. Die Schloßfront entlang liefen an den Gittern rote Plakatbänder, hinter denen sowohl die Bronzestandbilder der niederländischen Fürsten und des Admirals Coligny wie auch die der beiden liberalen Rossebändiger fast verschwanden, abgetan von den flammenden Buchstabenbändern. Auf der obersten Stufe der Domtreppe stand ein Redner, dessen verkündigende Schlußworte die Menge unten wiederholte wie die Gläubigen in der Litanei des Priesters Worte. Rings auf dem Anstieg zum Denkmal Friedrich Wilhelms des Gerechten, der seinen Luftritt beklommen fortsetzte, und um die Granitschale herum und auf der Museumstreppe unter der Amazone, die den Tiger abwehrt, und unter dem Löwenkämpfer lagerten die Massen und sahen hinunter auf die vielen hin und her wandernden Züge mit ihren Fahnen, Plakaten und Karikaturpuppen, die den Genfer Völkerbund verhöhnten, und hinüber zu der Meetingsbevölkerung des Kaiser Wilhelms- und Nationaldenkmals an der Schloßfreiheit.
Den Dom, von dem ich wegschaue, so gut es geht, erspart uns der Rundfahrtführer nicht, er läßt eine schrecklich lange halbe Minute vor ihm halten und nennt ihn ‚sehr hübsch, besonders innen‘. Aber mir zum Trost ist hier dicht vor uns an der Bordschwelle ein holdes kleines Gefährt gelandet. Auf roten Kinderwagenrädern bauen sich zwei Etagen auf mit Glasscheiben, darinnen stehen blinkende Nickelmaschinen mit Tellerchen und Löffelchen. Ein Eisverkauf: eine niedliche Zwergenwirtschaft, durchschimmernd wie Schneewittchens Sarg.
Ein Blick übers Wasser auf die Börse in der Burgstraße. Von ihren ‚Renaissanceformen‘ gilt, was schon über die Reichsbank gesagt wurde. Sie ist der erste Bau aus echtem Sandstein im neueren Berlin. Für uns ist das Innere des Gebäudes erheblich interessanter als seine Architektur und Skulptur. Mir ist einmal gestattet worden, von der Galerie auf die drei großen Säle hinunterzusehn, in denen sich die Berliner Kaufmannschaft zur Mittagszeit versammelt. Ich sah die vereidigten Makler hinter ihren Schranken, die wilde Menge, welche sich um ihre beweglicheren Kollegen schart, die Gebärden des Kaufs und Verkaufs, erhobene Hände, die ‚Brief‘ winkten, gespitzte Finger, die ‚Geld‘ bedeuteten, sah die Nischen der Großbanken, die Tische der kleineren, viel Lebhaftes im Saal der Industriepapiere, Gelinderes im Saal der Banken und in dem des Getreides die Tüten und blauen Kästchen mit Roggen- und Weizenproben in den Händen der Händler. Man könnte stundenlang niedersehen auf dies Meer von Glatzen, unruhigen Schultern, winkenden Händen, auf die Schicksalszahlen, welche auf den Tafeln sinkend und fallend wechseln, auf die gelben und blauen Lichter, die, besondre Winke bedeutend, in den Ecken aufflammen. Vor dem Ausgang zur Burgstraße warten allerlei Händler und Bettler; und aus der Art, wie ihre Gegenwart von den heraustretenden Handelsherren berücksichtigt wird, könnte man Schlüsse auf die guten oder schlechten Geschäfte machen, von denen sie kommen.
Wir fahren über die Schloßbrücke, deren schöner Schwung und gußeiserne Brüstung auf Schinkel zurückgeht. Die berühmten acht Marmorgruppen: Kriegs-und Siegesgöttinnen, junge Krieger lehrend, erwachsene geleitend, habe ich leider nie mit ernsten Blicken ansehen können, da in meiner Schuljungenzeit so unvergeßliche, nicht zu wiederholende Witze über ihre besondre Art von Nacktheit gemacht wurden. Nun lese ich in Varnhagens Tagebüchern, der Kultusminister Raumer habe an den König Friedrich Wilhelm IV. den Antrag gestellt, die nackten Bildsäulen von der Schloßbrücke wieder abnehmen zu lassen und sie im Zeughaus zu verwahren. Erfreulicher ist, daß um dieselbe Zeit Bettina von Arnim zu Varnhagen sagte, auch sie verdamme die Schloßbrückengruppen, aber nicht aus Nacktheitsgründen. Er selbst notiert, daß sie wohl schön gearbeitet seien. ‚Aber das Antike ist nicht antik genug, ist wider Willen modern, ohne zu den andern Bildsäulen, denen der Generale, zu passen. Sie stehen auch zu hoch.‘ Brummig fügte er hinzu: ‚Ein Unstern waltet über unserm Kunstwesen, nie etwas Rechtes, Ganzes, Übereinstimmendes.‘ Nun, wir wollen das nicht weiter erörtern, sondern lieber einen raschen Blick werfen auf eine Berliner Sehenswürdigkeit, die kein Reisebuch verzeichnet.
Ich meine da rechts unten im Wasser, dessen Ufer am Zeughaus entlang geht, den angeketteten Spreekahn. Den habe ich vor kurzem zum erstenmal besichtigt. Ich kam zufällig vorüber und sah auf dem Brettersteg, der zu dem Kahn hinüberführt, ein paar Straßenjungen stehen, die wollten sich gerne den großen Walfisch ansehn, der seit vielen Jahren in dem Kahn hausen soll. Ich war, als ich im Alter dieser Jungen stand, auch immer sehr neugierig gewesen, ob da ein wirklicher Walfisch liege, und nie hatte man diese Neugier befriedigt. So ist es wohl zu begreifen, daß ich mit den kleinen Burschen an die Kasse gegangen bin. Es war sehr billig, ein Programm bekam ich gratis dazu und das ist ganz besonders schön und jedem Besucher, ja auch Liebhabern älterer Druckschriften zu empfehlen. Sein Titelblatt lautet: ‚Das größte Säugetier der Welt und sein Fang. 22m 56cm lang, vollständig geruchlos präpariert. Herausgegeben von der Direktion der Walfischausstellung.‘ Ist das nicht ein schöner Anfang? Und dann lernen wir, daß dieser Koloß wie wir rotes warmes Blut hat und lebendige Junge zur Welt bringt, ‚welche von der Mutter gesäugt und mit Aufopferung eigner Lebensgefahr verteidigt werden.‘ Da liegt er, präpariert nach einer damals ganz neuen Methode, und sieht aus, als wäre er aus Papiermache, riecht gar nicht nach Tran, nur nach Kahn. Man möchte sich durch Anfassen überzeugen, ob das da auch wirklich keine Pappe ist. Aber es steht angeschrieben: Nicht berühren! Giftig! Eine Zeitlang schauen wir ihm in den Schlund und auf die berühmten Barten, aus denen, wie wir lernen, das Fischbein gewonnen wird. Dann wenden wir uns der Sonderausstellung zu, wo des Riesen Bestandteile ausgeweideterweise im Einzelnen uns breiteren Volksschichten zum Studium zugänglich gemacht sind. Da ist zum Beispiel der sogenannte Heringssack, worin das Tier zwei bis drei Tonnen Heringe aufnehmen kann. ‚Denn — so lehrt das Programm — die Nahrung spielt bei solch einem Riesentier die Hauptrolle.‘ Wir bekommen im Extrakasten die Schwanzflosse zu sehn, von der — immer laut Programm — die Erfindung der Dampfschraube angeregt worden sein soll. Und außer den Knorpelschichten, Rückenfinnen, Ohren und Augen des Wals gibt es noch andre Tiefseetiere seiner Umgebung zu sehen, und darunter finden sich einige Namen, die nach Christian Morgensterns Verskunst verlangen, wie zum Beispiel die Kammeidechse und der Seestier oder Kofferfisch.
Daß ich mich so ausführlich über diese bemerkenswerte Walfischausstellung auslasse, hat seinen Grund: ich getraue mich nicht recht, über das benachbarte Zeughaus etwas zu sagen. Es ist zu vollkommen, um gepriesen zu werden. Preußisch ist es und barock, berlinisch und dabei phantastisch, übersichtlich gegliederte Maße und schön verschwendeter Schmuck, breite Phalanx des Sieges und schlanke Trophäe. Herrlich sind Schlüters Panoplien auf der Balustrade und Schlußsteine der Fensterbögen. Da hat er auf den vier Außenseiten Helme angebracht, die lebendige Antike sind, und innen im Lichthof die Köpfe sterbender Krieger, deren grausige Todesgrimasse schürzender Steinknoten der Fensterwölbungen, Agraffe des Gewandes, Zierat ist.
Für den Waffen- und Kriegskundigen finden sich innen unter Gewölbejochen in düstern Hallen die ältesten Kanonen, morgenländische Säbel, Prunkharnische für Mann und Roß, Standarten, Uniformen der Feldherren und Könige, Zietens Zobelmütze und Pantherfell und der letzte Soldatenrock des Großen Königs.
Das ehemalige Kronprinzenpalais dem Zeughaus gegenüber ist von außen kein sehr erfreulicher Anblick. Hohe Säulen tragen einen breiten Balkon, hinter welchem das aufgesetzte Stockwerk niedrig erscheint. Besonders wenn man von einem so wohlproportionierten Gebilde, wie es das Zeughaus ist, herüberschaut. Und es hilft nichts zu wissen, daß dies Palais früher einmal besser beschaffen war und seine jetzige Gestalt erst in den fünfziger Jahren bekam, als es für den damaligen Kronprinzen, spätern Kaiser Friedrich III. umgebaut wurde. Im Innern aber erfüllt es, seit es keine Fürsten mehr beherbergt, eine würdige Aufgabe. Die moderne Abteilung der Nationalgalerie ist hier untergebracht. Um auch hier als Fremdenführer nur auf das speziell Berlinische hinzuweisen, man findet manches wertvolle Stück Stadtlandschaft, berlinische Geschichte und märkische Landschaft in den unzähligen Blättern der Menzelmappen, in einigen Bildern Liebermanns, Lesser Urys und jüngerer Künstler, auch manches Porträt bedeutender Berliner Persönlichkeiten innerhalb der reichen Sammlung impressionistischer und zeitgenössischer Malerei. Eine Flanke des Palais stößt an den Schinkelplatz, an dessen Südseite im oberen Stockwerk eines schöneren Gebäudes wiederum ein Teil Nationalgalerie beherbergt ist, die große Bildnissammlung, die an Malern und Gemalten ein gut Teil Berliner Kunst- und Kulturgeschichte veranschaulicht. Das Haus, das diese Schätze birgt, ist die Bauakademie, die Schinkel in rotem Backstein mit schön eingefügter Terrakotta erbaut und in den letzten Jahren seines Lebens bewohnt hat. Der Platz vor der Akademie trägt den Namen des Meisters und außer seinem Standbild noch zwei andre erzene, einen ‚Begründer des wissenschaftlichen Landbaus‘ und einen um die industrielle Entwicklung verdienten Mann, Männer, deren Namen wir Halbgebildeten meist nur als Straßennamen kennen, weshalb ich sie erst gar nicht nennen will. Aber die Reliefs auf ihren Sockeln muß man ansehn. Da sind kuriose Musterbeispiele der echt berlinischen Mischung aus Klassizismus und Realismus, antikisierte Maschinen und Herren im togaähnlichen Bratenrock.
Daß diese Mischung bei Uniformen besser glückte als bei Zivil, beweisen Rauchs erzene Feldherren, zu denen wir nun, am Prinzessinnenpalais vorbei, den Lindentunnel überquerend, gelangen. Wie der alte Blücher in Wirklichkeit war, ist aus dem Allerlei von Berichten, Bildern, Urteilen schwer zu entnehmen, aber für uns ist sein Wesen dauernd verwirklicht in dieser Erzgestalt im Soldatenmantel, in der Faust den gezogenen Säbel, den Fuß auf das Kanonenrohr gestellt. Die nachdenklicheren und, wie die Kriegswissenschaft lehrt, bedeutenderen Strategen, Gneisenau und York, zu seiner Rechten und Linken umgeben neidlos sein munteres Kriegertum. Bülow und Scharnhorst, die den drei Erzenen gegenüber bei der Neuen Wache stehen, sind marmorn. Warum, das habe ich mich schon als Kind gefragt und gemeint, es bedeute einen andern Grad des Heldentums, eine höhere Milde. Aber es wird wohl, zumal die zwei früher aufgestellt worden sind als die drei, sinnfälligere und vernünftigere Gründe haben. Die Neue Wache, die nun außer ihnen beiden niemand mehr bewacht, Schinkels schönes ‚römisches Castrum‘ mit den mächtigen dorischen Säulen, jetzt innen leer — nur die klassischen Gewehrständer sind geblieben — ist ganz Denkmal und Altertum geworden. Es ist besser so, aber manche Berliner denken mit einer gewissen Wehmut zurück an die Stunden, als noch die Wache aufzog.
Unterhaltend zu lesen ist, was der Franzose Jules Laforgue aufgezeichnet hat, der als Vorleser der Kaiserin Augusta in dem gegenüberliegenden Prinzessinnenpalais seine Dienstwohnung und somit oft Gelegenheit hatte, diesen Vorgang zu beobachten. Er freute sich über die wartenden Straßenjungen am Gitter und die Spatzen oben am Relief des Giebels. Er beschreibt, wie sich vom Brandenburger Tor her die Truppe nähert. »Die Pfeifen spielen die herb monotonen Melodien, welche die Berliner Straßenjungen en flânant pfeifen. Kurz vor dem Palais (nämlich dem des alten Kaisers jenseits des Opernplatzes) gibt der Tamburmajor ein Zeichen, die Pfeifen schweigen und die Musik beginnt. Merkwürdig ist die Standarte, die der Musik vorangeht. Man stelle sich einen silbernen Stern vor, über dem mit ausgebreiteten Flügeln ein Adler schwebt, über dem Adler regen sich die Glöckchen eines chapeau chinois, der seinerseits einen Halbmond trägt, von dessen Spitzen zwei Roßschweife, ein roter und ein weißer, hängen. In der Höhe des Palais machen die Soldaten Stechschritt, wobei sie wütend mit den Sohlen aufprallen, und fixieren alle mit gestrecktem Hals des Kaisers Eckfenster. L’heure culminante, l’heure militaire …« Ausführlich beschreibt er auch, wie es zuging, wenn die Wache herausgerufen wurde. Erst den Ruhezustand. »Vorn sind zwischen Gitter und Portikus in zwei Reihen die vierzig Piquets, jede mit einer Gewehrstütze, aufgestellt. Diese Piquets bezeichnen den Platz eines jeden der Soldaten und erleichtern die genaue Reih- und Gliedstellung. Bemalt sind sie in Preußens Farben wie die Schilderhäuser. Am letzten hängt die Trommel, die kleine flache preußische Trommel, die so trocken klingt. Eine Schildwache, die nicht auf und ab geht, sondern stillsteht, gibt nach rechts und links acht. Sobald ein Hofwagen erscheint, schon von weitem erkennbar an Achselband und Hutbord des Kutschers, und der Kutscher deutet durch die Haltung seiner Peitsche an, daß der Wagen nicht leer ist, wendet sich die Schildwache zum Portikus, legt die Hand an den Mund und brüllt ‚Raus!‘ (Abkürzung von Heraus). Gleich steht alles in Reih und Glied. Der Trommler hat seine Trommel umgehängt, der Offizier hält sich bereit, mit dem Degen zu grüßen. Der Wagen fährt vorbei. Die Wache präsentiert, der Tambour schlägt seinen Wirbel. Und wer saß im Wagen? Zwei Gouvernanten mit Prinzenbabys auf dem Schoß. Trommel gerührt wird nur für die kaiserliche Familie. Für einen General kommt die Wache nur halb heraus.«
Laforgue beschreibt vortrefflich das militärische Aussehen und Wesen, das dieser Platz und die Straße Unter den Linden und ganz Berlin in den achtziger Jahren hatten. Einmal bleibt er in einem moment de torpeur involontaire wie im Traume Ecke Linden und Friedrichstraße stehen. Da hört er nur das beherrschende Geräusch der Straße: das eines nachschleppenden Säbels. Diese Zeiten, da sich unter den Linden die komischen kleinen Kadetten steif grüßten, da der militärische Gruß in allen Ständen gang und gäbe war, sind — bis auf einige Reste — ja nun vorüber.
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Solange wir an der Neuen Wache halten, wirf auch einen Blick auf das kleine Kunsttempelchen da hinten, halb von Laub verdeckt. Das ist die Singakademie, Zelters, des Goethefreundes Werkstatt, nachdem der Maurermeister ein Musikmeister geworden war. Die kleine Büste im Grünen vor dem Gebäude, das ist Zelters Lehrer und der Begründer des Vereins, aus dem die Singakademie hervorgegangen ist, lange bevor sie hier dieses mitten in der Stadt schön abseits liegende Haus bezog. Das Leben dieses Mannes, er hieß David Christian Fasch, hat Zelter selbst in seinem handfesten und dabei klassischen Deutsch beschrieben. Und aus seinem Büchlein erfahren wir, wie der Hofmusikant in der Privatkapelle Friedrichs des Großen und seines Nachfolgers eine junge vortreffliche Demoiselle Dieterich unterrichtete und accompagnierte. In dem Hause dieser edlen Musikliebhaberin fanden sich öfters noch zwei oder drei Musiklustige ein; daraus entstand sehr bald ein kleines Vokalkonzert, für das Fasch fünf- und sechsstimmige Stücke komponierte. Diese Gesellschaft, die sich erst nur ‚wie von ongefähr‘ zusammengefunden, bestimmte nun gewisse Tage zu ordentlichen Singübungen und wuchs durch Zutritt neuer Mitglieder, bis dann eine andre würdige Freundin des Schönen ihren größeren Saal hergab. Schließlich bekam die Gesellschaft von den Kuratorien der Kgl. Akademie einen der Säle des Akademiegebäudes. ‚Im Jahre 1796 ward es durch das ordnungsgemäße und eifrige Bestreben der Rendantur so weit gebracht, daß . . . die Frauenzimmer der Gesellschaft bei einem mäßigen Zuschuß zur Kasse in Wagen abgeholet und wieder zu Hause gefahren werden konnten.‘ Und bald hatte die Singakademie zu Mitgliedern und Zuhörern ‚die Blüte des schönen Berlin, die Jugend und das Alter, Adel und Mittelstand‘. An diesen Verein und seine Kunststätte hier hinter den Büschen knüpft sich ein gut Teil Berliner Musikgeschichte zu den Zeiten Zelters und Mendelssohns, und mehr als das, ein Stück Leben der besten Berliner Gesellschaft, die es bisher gegeben hat, jener meist ziemlich eingeschränkt lebenden bürgerlichen Menschen der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, in deren Stammbücher die besten Maler Landschaften tuschten, die besten Dichter mit der anmutig fließenden Schrift von damals Gedichte schrieben. In allen Künsten Liebhaber zu sein, in der guten alten Bedeutung des Wortes zu dilettieren, war eine gesellige, zwanglose und eifrige Gewohnheit, die bisweilen ans Rührend-Komische streifen mochte, aber doch an der erfreulichen Einheit des Empfindens, Gebahrens und somit auch des Stadtbildes mitschuf.
In dieser Zeit wurde aus dem nächstfolgenden Gebäude, dem ehemaligen Palais des Prinzen Heinrich, des Bruders Friedrichs des Großen, die Universität. Und die beiden Männer, die davor recht bequem auf ihren marmornen Lehnsesseln sitzen, die Brüder Humboldt, haben bald aus unmittelbarer Nähe, bald aus römischer und überseeischer Ferne die geistigen und wissenschaftlichen Bedürfnisse der Berliner Gesellschaft gesteigert.
Das Gebäude ist der nördliche Abschluß des jetzt Kaiser Franz Joseph-Platz, ehemals Platz am Opernhaus heißenden ‚Forum Fridericianum‘, dessen Südhälfte durch die Alte Bibliothek, jetzt Aulagebäude der Universität, und das Opernhaus flankiert werden. Friedrichs Baumeister, der große Knobelsdorff, hatte für dies Palais Schöneres geplant, als dann gebaut worden ist, er wollte seinem Opernhause gegenüber ein ähnliches Gebilde aus Tempel und Palast schaffen und der ganzen Nordhälfte des Platzes so monumentale Gestalt geben, wie er es am Opernhause unternahm. Wenn nun auch sein großer Plan nicht ausgeführt wurde, so kam doch auf Grund seiner Pläne unter der Bauleitung Boumanns des Älteren etwas recht Imposantes zustande. Aber dieser Palast stand meist öde, der Prinz liebte Berlin nicht und blieb gern in seiner Rheinsberger Solitude. 1810 wurde die Friedrich Wilhelms-Universität hier gegründet und ihr erster vom Senat erwählter Rektor war Fichte. Aus den 300 Studenten des ersten Jahres sind mit der Zeit 10.000 geworden. Ob die Wissenschaft sehr durch diesen Zuwachs gewonnen hat, darüber wollen wir uns lieber jeder Meinung enthalten und nur schüchtern äußern, daß es vor zwei, drei Jahrzehnten angenehmer war, sich in den Räumen der Alma Mater aufzuhalten. Es gab noch nicht so viel examensüchtige Gesichter. Auch war dazumal der Vorgarten noch nicht so überfüllt mit berühmten Männern aus Marmor und Bronze, die weder das würdige Behagen der beiden freundlichen Humboldts vor dem Garten, noch den steinernen Schwung der neuen Statuen Savignys und Fichtes vor dem Aulagebäude drüben haben. Dies Gebäude, einst Bibliothek, soll Friedrich der Große nach wienerischem Vorbild, und zwar nach einem Fassadenentwurf des großen Fischer von Erlach haben bauen lassen. Im Volksmund heißt es die ‚Alte Kommode‘ und eine anzuzweifelnde Anekdote läßt den König seinen Baumeistern ein geschweiftes Rokokomöbel als Vorbild hinstellen. Das paßt zu der Geschichte, die über den Bau der pantheonähnlichen runden Hedwigskirche im Hintergrunde des Platzes überliefert wird: es kamen einst die Katholiken Berlins zum Alten Fritzen und baten, er möge ihnen in Berlin eine schöne Kirche bauen. Der König saß gerade beim Frühstück, war gut gelaunt und ‚wohlaffektioniert‘. Als sie ihn dann fragten, wie die Kirche, deren Erbauung er ihnen versprach, aussehen werde, nahm Friedrich seine Kaffeetasse, stülpte sie um und sagte: ‚So soll sie aussehen.‘ So kam es, daß der Baumeister die Kirche ganz rund machte und eine runde Kuppel daraufsetzte. Laterne und Kreuz, die wir heute über der Kuppel erblicken, stammen erst aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Aus dieser Zeit ist auch der wunderbar grüne Kupferbelag der Kuppel, einer der wärmsten Farbflecken auf dem immer noch etwas zu grauen Bilde Berlin.
An unserer Oper, dem Meisterwerk Knobelsdorffs, haben Zeiten und Menschen allerlei verändert und nicht gerade zu ihrem Vorteil. Immerhin können wir uns freuen, daß beim letzten Umbau die scheußlichen Eisentreppen weggefallen sind, die der letzte kaiserliche Besitzer zum Schutz gegen Feuersgefahr außen anbringen ließ und die, wie Mackowsky sagt, ‚dem edlen Gebäude das Aussehen einer Bauattrappe für Feuerlöschübungen gaben‘.
Eingeweiht wurde das Opernhaus im Jahre 1742 mit ‚Cäsar und Cleopatra‘ von Graun, einem der Lieblingskünstler Friedrichs. Der König nahm den lebhaftesten Anteil an den Aufführungen, er stand oft hinter dem Kapellmeister, der die Partitur vor sich hatte, und sah fleißig mit hinein. ‚Er ist wirklich ein ebenso guter Generalmusikdirektor hier als Generalissimus im Felde‘, sagt ein Zeitgenosse. Er ließ seinem Geschmack entsprechend viel Französisches aufführen. Wir hören von Werken wie Le Mercure galant, Le Cadi dupé. Nun, in späteren Zeiten hat man hier bedeutendere Musikwerke zu hören bekommen, als jene Opern gewesen sein mögen. Aber die Könige und Kaiser haben dem Kapellmeister nicht mehr ins Notenblatt geguckt. Dafür haben oben im höchsten Rang Musikschüler und -schülerinnen mit aufgeschlagener Partitur gesessen und jeden Ton verfolgt, und wir haben als junge Studenten neben ihnen gesessen und durften mit hineinschauen. Das alte Opernhaus und dieser alte Platz sind uns Berliner Kindern lieb geblieben, trotz aller Veränderungen. Seitdem nun noch das Kaiserinnendenkmal mit seinen Anlagen entfernt worden ist, erweckt der Platz in seiner pflasternen Leere oft deutlich das Bild der alten Zeiten. Man kann ihn sich vorstellen, wie die Stiche um 1800 ihn zeigen, kann alte Herren in Dreispitz und Wadenstrumpf neben jüngeren im damals neumodischen Taillenfrack und in Stulpstiefeln als Begleiter von Damen mit hoher Empiretaille und breitem Umschlagetuch übers Pflaster promenieren lassen.
Wand an Wand mit der ‚Kommode‘ steht das Palais Kaiser Wilhelms I., ein bescheidenes Fürstenschloß. Wilhelm I. war schon in seiner Jugend ein sparsamer Haushalter, und der Baumeister, der in den dreißiger Jahren dem Prinzen von Preußen dies Haus aus einem alten Privatpalais umgestaltete, mußte von allem unnötigen Aufwand Abstand nehmen. Da man immer sagte, daß innen nichts Besondres zu sehen sei, bin ich früher nie hineingegangen, bis ich vor kurzem Laforgues Berliner Aufzeichnungen las. Der erzählt so hübsch von der Stille dieser Räume, in denen nur das Monarchenpaar mit einem halben Dutzend Kammerfrauen der Kaiserin hauste, während der sonstige Hofstaat im großen Schloß, im Prinzessinnenpalais und in dem benachbarten Niederländischen Palais untergebracht war. Wenn er, um sich zur Kaiserin zu begeben und ihr vorzulesen, morgens eintrat, hörte man nur das Ticktack der Uhren und den Fall der Wassertropfen im Wintergarten. Und den ganzen Tag dauerte die Stille, nur minutenweise unterbrochen vom Sporengeklirr einer Ordonnanz, die mit einer Meldung eintrat. Da las er denn der Fürstin das Wichtigste aus den Pariser Zeitungen Le Temps, Les Débats, Figaro und aus der Revue des deux Mondes, ferner Auszüge aus Romanen und Memoiren. Den Kaiser bekam er selten zu sehen. Das Fürstenpaar lebte ziemlich getrennt unterm gemeinsamen Dach. Von den Hofdamen hörte er, daß der alte Herr ‚goldig‘ sei, und die Gemahlin, die sehr empfindliche Nerven hatte, wie ein höheres Wesen schone und respektiere. Wenn es doch Gegensätze gab und Auguste heftig wurde, pflegte Wilhelm verständnisvoll zu sagen: ‚Es regt sich wieder einmal ihr russisches Blut‘. Sie war meist abgespannt, mit langer blasser Hand fuhr sie sich über die Stirn. Sehr soigniert war die alte Dame und gar nicht populär. Die Berliner sagten von ihr ‚Sie ist nicht von hier‘. Was Laforgue erzählt, machte mich neugierig auf das Interieur der beiden alten Leute, und so bin ich denn kürzlich mit einem Schub Besichtiger eingetreten. Wir bekamen Filzpantoffeln zum Schlittern, und die Sichersten sahen alles an, als ob sie hier mieten wollten; sie überzeugten sich diskret — mit Rücksicht auf die Führerin, die den Vormieter vertrat (er war vielleicht noch gar nicht ausgezogen, war vielleicht nebenan) — von der Lage der Zimmer und erwogen, welche Gegenstände man eventuell übernehmen könnte.
Ja, da war es nun wirklich, das Arbeitszimmer mit dem historischen Eckfenster, an dem der Kaiser sich zeigte, wenn draußen die Wache vorüberzog. Er soll jedesmal, wenn die Musik näher kam, mitten im Gespräch den Überrock über der weißen Weste zugeknöpft und den Orden pour le mérite zwischen den Aufschlägen der Uniform vorschriftsmäßig zurechtgerückt haben. Es ist derselbe Orden, den wir auf vielen Porträts seiner Zeitgenossen sehen, er nimmt sich gut aus am Halse all dieser würdigen Männer, die sich so gerade hielten, wie das heute kaum mehr möglich ist. Einer von ihnen, erzählt man, hat noch kurz vor seinem Tode es vermieden, sich in seinem Stuhl anzulehnen, und den Angehörigen erklärt, er wolle das nicht, es könne zu einer schlechten Angewohnheit werden. Gleich diesem Manne hielt sich sein alter König aufrecht zwischen all den unbequemen Möbeln, die hier sein Arbeitszimmer überfüllen. Es ist noch ganz in dem Zustande erhalten, in dem er es verlassen hat, um ein paar Türen weiter in einem bescheidenen Hofzimmer, welches das Nachbargebäude verdunkelt, sich sterben zu legen. Tische, Etageren, Vertikows, Stuhl und Sofa sind bedeckt mit Souvenirs, Mappen und Büchern. Der alte Herr behielt das alles eng um sich und fand sich mit peinlicher Genauigkeit darin zurecht.
So viel Gerahmtes und Briefbeschwerendes, eine solche Menge von wert- und geschmacklosen Photographien, Vasen, Kissen und Statuetten hat wohl selten ein Sterblicher geschenkt bekommen wie dieser freundliche Greis, und alles hat er mit rührender Pietät aufgehoben. Was Tisch und Wand nicht mehr fassen konnten, hat er einfach auf den Boden gestapelt, und da steht es noch. Die ausführlich gemalten Ölbilder und Porzellanmalereien glaube ich alle zu kennen, das römische Landmädchen, das den Handrücken in die Hüfte stützt, die frommblickende Älplerin mit dem tressengeschmückten Mieder und dem süßen von Lockenschnecken gerahmten Ovalgesicht, das Prinzeßchen in Miniatur mit Höschen unterm Rock und Kranz in der Hand. Und dort die offenhaarige Dame, die über einer Blume sinnt, war gewiß in einer ‚guten Stube‘ bei Großeltern oder Großtanten. Und über den Polstern der guten Stube waren auch meistens Bezüge, wie wir sie hier finden. Nur daß hier Krönchen darauf gewebt sind, weil der bewohnende Bürgersmann König war. Aus dem nächsten Zimmer schaut leibhaftig das altvertraute Märchen von Thumann her. Im Samtrahmen lauscht’s herüber, mit dem blendenden Ellenbogen der Linken, die das Haupt stützt, ins Walddunkel vorstoßend. Auf dem Absatz des Bücherschranks stehen Photographien kostümierter Familienmitglieder zur Erinnerung an kleine Verkleidungsfeste, den intimen Maskenball guter Bürgerfamilien. Und auf demselben Absatz wurde dem Kaiser das zweite Frühstück serviert, das er stehend einnahm. Aus der Bibliothek führt eine schmale Wendeltreppe hinauf in die oberen Räume. Diese beschwerlichen Stufen stieg Wilhelm I. noch in hohem Alter empor, um in die Gemächer seiner Gattin zu gelangen. Wir nahmen dahin den weiteren, bequemeren Weg, kamen durch das Vortragszimmer, wo auf einem der steifen Stühle, mit dem eingepreßten Preußenadler auf der Rückseite, Bismarck etwas unbequem sitzen mußte, wenn er seinem lieben Herrn als treuer Diener seine Politik zu insinuieren hatte. Wir traten ins marmorne Treppenhaus, da heben Viktorien von Rauch ihre Kränze, friedlich anmutende Göttinnen lang vergangener Kriege. Oben die Räume der Kaiserin sind festlicher und prächtiger als die, welche wir verlassen haben. Schon als Prinzessin hat sich Augusta viel mit Inneneinrichtung beschäftigt und soll behauptet haben, an ihr sei ein Dekorateur verlorengegangen. Wir Fremde trieben etwas stumpfsinnig an Repräsentation und Behagen dieser lichten Zimmer, an Malachit und Alabaster der üblichen Russengeschenke vorbei, sahen viel aus dem Fenster und wurden erst wieder aufmerksam, als man uns im Tanzsaal ein Echo vorführte, das zufällig, sozusagen aus Versehen, hier miteingebaut worden ist. Einige aus unserer Herde machten schüchterne Versuche, es selbst zu wecken, was unsere Führerin lächelnd zuließ. Unser Rundfahrtführer hat dies immerhin denkwürdige Haus mit ein paar Worten abgetan und um so ausführlicher auf die schrecklich ‚maßvollen Barockformen‘ der gegenüberliegenden riesigen neuen Staatsbibliothek hingewiesen. Dort ist überm Tor zwischen seinem perückentragenden und seinem gezöpften Ahnherrn der letzte Zollernfürst als Büste mit marmorn gezwirbeltem Schnurrbart zu sehen. Im Innern gibt es unglaublich viel Bücher und eine große Handschriftensammlung, Musik- und Kartenabteilungen, Grammophonplatten von zweihundert Sprachen, allerlei Institute, die man alle besichtigen kann; am schönsten aber ist es, sich hinter einen Wall von Büchern in den kreisrunden Lesesaal zu setzen und die unterschiedlichen Männlein und Weiblein zu beobachten, die in konzentrischen Ringen um eine leere Mitte studieren, notieren, frühstücken und träumen.
Ach, frühstücken! Wir sind ja wieder bei dem Alten Fritz und unserm Ausgangspunkt angelangt. Wollen wir nicht hinübergehn in Habels altväterische Weinstube in dem schönen hundertjährigen Hause, uns an einen der blankgescheuerten Tische setzen und die große Weinkarte studieren? Leider fahren wir weiter, unser Pensum ist noch nicht beendet. Wir dürfen nur einen raschen Blick auf Vasen, Masken und Weinlaub des Reliefs überm Eingang werfen.
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Die Straße Unter den Linden, noch immer mit ihren vier Baumreihen, schönen Läden, Gesandtschaften, Ministerien und Bankhäusern Herz und Mitte der Hauptstadt — um sie ganz zu würdigen und im Gegenwärtigen das Vergangene zu erleben, müßte man all ihre Epochen heraufbeschwören, seit der Große Kurfürst sie als vorstädtische Allee zu seinem Jagdpark, dem Tiergarten, hin anlegte. Über die fritzische Zeit müßte man in der vortrefflichen Beschreibung der Haupt- und Residenzstädte Berlin und Potsdam von Friedrich Nicolai nachlesen, da steht jedes Haus der Straße verzeichnet, Gasthäuser wie die Stadt Rom, das spätere Hotel de Rome, Ecke der Stallgasse, jetzt Charlottenstraße, dessen stattlicher Neubau erst vor kurzem Bureau- und Geschäftshäusern Platz machen mußte, Palais, wie das des Markgrafen von Schwedt, mit Benennung all seiner Vorbesitzer, aus dem dann das Palais des Alten Kaisers geworden ist, oder das der Prinzessin Amalie von Preußen, Äbtissin von Quedlinburg, nahe der Wilhelmstraße, wo jetzt die russische Botschaft wohnt, und das eines von Rochow und das eines Grafen Podewils usw. Sodann müßte man den berühmten Lindenfries im Märkischen Museum betrachten, der alle Häuser Unter den Linden im Jahre 1820 festhält. Tust du nun noch das Bild der Gegenwart mit den Auffahrten der Hotels Bristol und Adlon (der Neubau des letzteren hat das herrliche Redernsche Palais verdrängt), dem stattlichen Kultusministerium und den vielen wohlerhaltenen älteren Gebäuden hinzu, die altberühmte Läden und Geschäftshäuser enthalten, so ergeht es dir vielleicht wie Varnhagen, der über einen Spaziergang die Linden bis zum Tor hinab und zurück notiert: ‚Der Anblick erweckte in mir eine großartige Bilderreihe der Vergangenheit und Zukunft, eine herrliche Geschichtsentwicklung, die gleich einem wogenden Meere das kleine Schiff des eigenen Daseins trug.‘
Auch als altbewährte Promenade der Lebensfreude empfehlen sich die Linden. Dafür gibt es neben Heinrich Heines berühmtem
Blamier’ mich nicht, mein schönes Kind,Und grüß mich nicht unter den Linden
Zeugnisse weniger bekannter Poeten, zum Beispiel die Berliniade oder Lindenlied eines F. H. Bothe, die der letzte der hübschen Berliner Kalender von Adolf Heilborn zitiert:
Unter den AkazienWandeln gern die GrazienUnd der Mädchen schönste findenKannst du immer untern LindenIn Berlin, in Berlin,Wenn die Bäume wieder blühn.Liebende gehn Arm in ArmEinsam durch den bunten Schwarm.Und es sagt ein HändedrückenUnd ein Streifkuß ihr EntzückenIn Berlin, in Berlin,Wenn die Bäume wieder blühn.Untern Linden auf und abWallen Herr’n in Schritt und Trab,Schöne Herr’n und hübsche Herrchen,Große Narren, kleine Närrchen,In Berlin, in Berlin,Wenn die Bäume wieder blühn.Freilich ist dann wohl Mama,Auch Papa wohl plötzlich da.Doch nicht oft wird sich’s begeben;Denn warum? Man weiß zu lebenIn Berlin, in Berlin,Wenn die Bäume wieder blühn.
Merkwürdige Varianten dieses Liedes enthält ein Stück der Scherzhaften Lieder eines gewissen Karl Müchler vom Jahre 1820:
Untern Linden, wie ihr wißt,Wandeln die da rufen: Pst.Mild gesinnte Herzen findenKannst du immer untern LindenIn Berlin, in Berlin,Wenn die Bäume wieder blühn.Für acht Groschen ist MamaHinten auf dem Hofe da,An den Herrn und an JeannettchenLeiht sie Kammer, Licht und BettchenIn Berlin, in Berlin,Wenn die Bäume wieder blühn.
Inwieweit seither der Charakter unserer ehrwürdigen Hauptpromenade sich gleich geblieben ist oder sich geändert hat, dies zu behandeln wollen wir erfahrenen Forschern der Sittengeschichte überlassen und beim bloßen Anblick der Gegenwart bleiben.
Der neugierige Fremde interessiert sich wohl vor allem für die berühmte Ecke Friedrichstraße und fragt nach Café Bauer und Kranzler. Nun, Bauer heißt nicht mehr Bauer, sondern schlechthin Café Unter den Linden, die wacker dionysischen und elysäischen Wandgemälde sind verschwunden und eigentlich ist im gegenüberliegenden Café König ‚mehr los‘ — womit ich nichts gegen die Annehmlichkeiten eines Aufenthalts im Café Unter den Linden gesagt haben will, im Gegenteil! Und Kranzler? Da sind zwar noch die merkwürdigen Eisenpfähle und Ketten, über die schon die eleganten Offiziere des alten Regiments Gensd’armes zur Zeit der Königin Luise ihre enghosigen Beine hängen gelassen haben, aber seit dem letzten Umbau hat es sein altes Cachet verloren, womit ich wiederum nichts gegen die Kuchen, die man dort verspeisen kann, sagen will.
Von der Friedrichstraße, auf die du Fremder in Eile einen heftigen Blick wirfst, will ich dir noch nichts sagen, sie muß mit ihren alten, veraltenden und lebendig gebliebenen Geheimnissen und Sichtbarkeiten einem Abendspaziergang vorbehalten bleiben.
Aber gern würde ich dich auf ein paar Minuten durch den Torweg dort in die kleine Mauerstraße entführen. Der Anblick der Torwölbungen von der Innenseite dieser alten Steinwelt, die mehr ein Durchgang als eine Straße ist, der anschließende Rundbau, die Balkongitter, der Glaserkergang, das Hellgrau und ‚cafe au lait‘ aller Nachbarhäuser ist rein erhaltene Vergangenheit. Der jenseitige Torbogen aber führt dich in die ‚Zentrale des deutschen Zahlungsverkehrs‘, die Mauerstraße und ihre Nachbarn. Vor allem findest du dort die mächtigen Gebäude der Deutschen Bank, die durch neuzeitliche Seufzerbrücken miteinander verbunden sind.
Vorbei an kleinen, vornehm aussehenden Häusern, die mit ihren klassizistischen Fensterrahmungen wohlerhalten zwischen den jüngeren größeren Nachbarn stehn, und den Reihen schöner Privatautos vor den Hotels und parkenden in der Mitte des Dammes sind wir an den Pariser Platz gekommen. Die Form dieses Platzes mit dem abschließenden Tor, den zurückweichenden Fassaden der einfachen Palais und dem erfrischenden Rasengrün zur Rechten und zur Linken bewahrt eine Stille und Geschlossenheit, die vorübertosender Lärm und Betrieb nicht stören kann. Wohltuend ist der einheitliche Stil der Gebäude, den nur das Palais Friedländer etwas unterbricht, während das Barock der französischen Botschaft gut eingeht. Und erfreulich ist es, zu wissen, daß hier neben Akademien, Botschaften, Reichtum und Adel ein Maler und ein Dichter hausen.
Das Brandenburger Tor mit den beiden Tempelhäuschen, die Schinkel dem stolzen Bau des älteren Langhans anfügte, ist zwar den athenischen Propyläen — etwas ungenau und, wie der Erbauer selbst berichtet, nur nach Beschreibungen der Ruinen — nachgebildet, aber in seiner stämmigen sandsteinernen Geradheit für unser Gefühl eigentlich mehr altpreußisch als antikisch. Es ist das Tor von Berlin. Und bei der Victoria, die oben ihre Quadriga lenkt, denken wir Kinder von hier nicht nur an die Entführung durch Napoleon und ihre siegreiche Wiederkehr, sondern auch an die Rolle, die sie in ‚Teufelchens Geburtstag‘ in den entzückenden Berliner Märchen von Walther Gottheil spielt, in denen auch der Große Kurfürst und der Goldfischteich und die Spree so unvergleichlich verewigt sind.
Wir umkreisen nun den Platz vor dem Tor. Sieh bitte nicht auf die marmornen Balustraden, Bänke, Springbrunnen und fürstlichen Herrschaften, die wir wilhelminischen Architekten und Baumeistern verdanken. Nimm dies grelle Weiß vor dem holden Grün des Tiergartens für Blendung und Augenweh! Wir wollen zusehn, daß das verunglückte Kaiserpaar, Friedrich III. und seine Gattin Viktoria, mit Gottes Hilfe entfernt ist, wenn du das nächste Mal nach Berlin kommst. Schau auf die schönen Bäume und Büsche an der Allee. Aber da schimmert schon wieder ärgerlich greller Marmor durchs Grün, und nun sind wir in der Siegesallee. Ja, da sind nun rechts und links 32 (in Worten: zweiunddreißig) brandenburgisch-preußische Herrscher und hinter jedem eine Marmorbank und auf jeder Bank sitzt — nein, sitzen kann da niemand, es ist zu kalt — aber auf jeder Lehne hocken zwei Hermen jeweiliger Zeitgenossen des betreffenden Herrschers. Es hilft nichts: unser Wagen fährt unerbittlich die ganze Reihe entlang und man nennt dir die Namen. Ob wir bis zu deinem nächsten Besuch das alles werden entfernt haben? Berlin ist ja jetzt sehr tüchtig, was Aufräumungsarbeiten betrifft, aber verarbeiteter Marmor soll keinen rechten Wert haben. Man müßte doch das Material verkaufen können. 32 Herrscher nebst Bänken und Zeitgenossen! Da weiß ich keinen Rat. Du machst dir aber vielleicht einen Begriff, wie schön diese Allee hinauf zur braven alten Siegessäule und hinunter zur Viktoriastraße früher war. So, jetzt haben wir die eine Seite bis zu Friedrich Eisenzahnen geschafft. Hier sind wir am Kemperplatz, und das da soll, weil wir keinen alten mehr haben, der neue Roland von Berlin sein. Hier um die Ecke könnten wir in das etwas prunkvolle Café Schottenhaml gehn (bei diesem Namen denkt man eigentlich an etwas behaglich Münchnerisches) und oben das Porzellankabinett bewundern, alte Muster der Berliner Manufaktur. Aber unser Wagen wendet und erledigt die zweiten 16 von den 32. Da wirf einen Blick auf Otto den Faulen, den einzigen von diesen Herren, der sich einer gewissen Popularität erfreut, er hat eine so nett verdrießliche Art, das Repräsentieren nachlässig mitzumachen. Und nun harre aus, bis wir zur Siegessäule kommen! Sie ist nicht gerade schön, das kann man nicht behaupten. Immerhin erinnert der hohe Säulenschaft mit den Geschützrohren an einen Schachtelhalm. Und Schachtelhalme sind schön. Und das Ganze gehört nun einmal zu unserer Spielzeugschachtel Berlin. Du mußt zugeben, daß die Säule trotz der Kanonen etwas Harmloses hat. Wenn du übrigens Rundsichten liebst, da oben ist eine mit Baedekerstern, da kannst du über den ganzen Tiergarten weg nach Süden und Westen und nördlich Moabit sehn und östlich über die Reichstagskuppel die ganze Altstadt und alle Kuppeln und Türme, die wir heute aus der Nähe gesehen haben, noch einmal überschauen.
Weniger harmlos, selbst noch in Begas’ eiliger Pathetik, ist dort der Riese auf dem roten Granitsockel. Der bronzene Kürassier mit der Faust auf der Urkunde der Reichsgründung schaut, seines eigenwilligen Werkes sicher, über alles Erreichte hinweg in die Fernen, welche die nicht mehr erreichten, die nach ihm kamen. Um das Volk an seinem Sockel, den Atlas mit der Weltkugel, den Opernsiegfried am Reichsschwert und die verschiedenen Damen, die Staatsweisheit und Staatsgewalt bedeuten, kümmert er sich nicht. Und das mächtige Reichstagsgebäude hinter ihm scheint sich zu ducken mit Kuppel und Türmen. Die Reichstagskuppel ist übrigens überhaupt nicht so hoch geworden, wie der Baumeister Wallot plante. Aber auch so wie es geworden ist, hat dies grollend lagernde Riesentier seine massive Schönheit und ist für die Zeit, in der es entstand, eine gewaltige Leistung.
Hast du Lust an Glasfenstern mit Reichsadlern, Wandgemälden von Städten und Landschaften, Kardinaltugenden, marmornen und bronzenen Kaisern, gepreßten Ledertapeten von der Vornehmheit internationaler Speisewagen, ‚reichem Renaissanceschmuck‘, allegorischen Damen, so laß dich durch die Wandelhallen, Lesesäle, den großen Sitzungssaal, Erfrischungsraum, Vorsäle und Ausschußsäle führen. Es dauert immerhin dreiviertel Stunden. Hast du unter Abgeordneten oder Leuten von der Presse einen Freund, laß dir von ihm eine Eintrittskarte zur Tribüne verschaffen und wohne einer Sitzung bei. Da mußt du dann vor allem achtgeben, daß du Rechts und Links nicht verwechselst. Es ist wie bei gewissen Bühnenvorschriften vom Schauspieler, nicht vom Zuschauer aus gemeint. Also orientiere dich gut, damit du die Kommunisten nicht für Völkische hältst und umgekehrt. Nach Zeitungsbildern, Kinowochenschau und Karikaturen wirst du unsere größeren und kleineren Politiker erkennen, und das macht ja immer Vergnügen. Im übrigen empfehle ich dir die Lektüre gewisser Seiten von Eugen Szatmaris Berlin-Buch. Das führt dich auf muntere Art in diese Welt ein, in der ich mich etwas fremd fühle.
Wo in Berlin ein Bismarck errichtet ist, pflegt Moltke nicht weit zu sein und auch auf Roon ist bisweilen zu rechnen. Unser Wagen bringt dich an beider Denkmälern vorüber und zwischendurch an der neuen vor einigen Jahren umgebauten Staatsoper, die einst als Krollsches Opernhaus in sommerlichem Garten stand.
Dies Etablissement hatte eine besondre Glanzzeit, als noch das Gaslicht vorherrschte. Da wurde der Garten ‚märchenhaft‘ illuminiert, wie wir blasierten Zeitgenossen der Berliner Lichtwoche, der A.E.G. und der Osramlampen es uns gar nicht mehr vorstellen können. Schon damals lockte Licht Leute hierher wie in den Pariser Jardin und Bal Mabille.
Am Reichsministerium des Innern, das früher Generalstabsgebäude und Moltkes Heim war — es gibt dort ein Moltkegedächtniszimmer — kommen wir vorbei und die Alsenstraße hinauf, ein Stück am Kronprinzenufer entlang und über die Brücke. Da zur Rechten rund und weiß das Lessingtheater. Und jetzt hinter der mächtigen Schwebebrücke der Humboldthafen, an dessen Becken sich nördlich der Anfang des Spandauer Schiffahrtskanals anschließt, der Wasserweg zur Oder. Einer der sympathischsten älteren Berliner Bahnhöfe taucht auf, der nach der kleinen Stadt Lehrte heißt, aber gar nicht dahin seine Züge sendet, sondern vor allem nach Hamburg. Das ist eine schöne rasche Fahrt durch die Elb-Ebene und große mecklenburgische und niedersächsische Wälder und Felder. Mit alten Glaskuppeln und allerlei etwas unordentlich herumliegenden Gebäuden, Panoramen und Gartenrestaurants, erscheint, von der Stadtbahn überquert, der Ausstellungspark, früher im Sommer und wenn die Große Bilderausstellung die Säle füllte, ein ‚Treffpunkt‘, jetzt ein bißchen veraltet, wie eingeregnet von lauter Vergangenheit, überholt von jüngeren Unternehmungen. Moabit mit Kriminalgericht, Zellengefängnis, der Meierei Bolle, den Kraftwerken, das ist ein Kapitel für sich. Wir fahren wieder über eine Spreebrücke und kommen zu den ‚Zelten‘.
Die großen Gartenrestaurants erheben sich jetzt da, wo früher einmal wirkliche Zelte waren. Der Alte Fritz hatte französischen Kolonisten gestattet, hier Leinwandzelte aufzuschlagen und Erfrischungen an die Spaziergänger zu verkaufen. Später gab es hier Gerüste, auf denen musiziert wurde. In den Märztagen von 1848 scharte sich um die Gerüste das revolutionäre Volk, beriet Adressen an den König, Druck- und Redefreiheit, Volksvertretung usw. Eine Weile lang ließ man sie gewähren, umstellte sie aber mit Reiterschwadronen. Es ging hier noch alles mit Maß und Haltung zu. Varnhagen berichtet von den schweigsamen Massen, die in dunkler Nacht ruhig von den Zelten durch das Brandenburger Tor in die Stadt zurückkehrten. Auch in den Novembertagen 1918 zog an den Gärten der großen Restaurants die Menge schweigend entlang und wieder waren die Zelte eine Stätte verhalten maßvoller Revolution. Im allgemeinen aber ist hier friedlich kleinbürgerliche Erholung mit viel Musik, Vorstellungen, Tanz und den mächtigen Platten der ‚Zeltentöpfe‘ und ‚Stammessen‘ oder mitgebrachtem Abendbrot. Es geht beim Tanzen bieder zu; auch die Vorführungen sind ziemlich harmlos. So ist hier noch heute mitten in der Stadt eine Art Ausflugsrast für die unendlich vielen kleinbürgerlichen Familien, Gruppen, Vereine Berlins. Schönstes stilles Berlin ist die Straße, die sich im Anschluß an die Restaurants am Tiergartenrand hinzieht. Aber das kann man so im Vorbeifahren nicht sehn, das muß man mit Morgen und Abend erleben. Hier wohnt sich’s altertümlicher und heimlicher als in den bekannten schönen Straßen am südlichen Tiergartenrand.
Grausam schnell saust unser Wagen den Spreeweg entlang am Garten und Schloß Bellevue vorbei zum Großen Stern. Bellevue: früher spähte man durch den Zaun, um zu sehen, ob da die kleinen Prinzenkinder spazierten. Jetzt kann man in den Alleen des alten Gartens sich ergehn, in den runden Saal zu ebner Erde im Seitengebäude schauen und sich dazu königliche Sommerfeste denken, Gartengrabmäler entziffern, hinübersehn nach der Altberliner Straße, die Brückenallee heißt, wo in verwitternden Balkons Altfrauenblumen sich halten. Auf der Schloßterrasse nach der Gartenseite zu saß viel in seinen letzten Jahren der tafelfrohe und lebenstraurige Friedrich Wilhelm IV., zeichnete vielleicht seine romantischen Gartenprospekte, wie man deren im Hohenzollernmuseum sehen kann, empfing seine Minister, die über seinen seelischen Zustand ihre Bedenken bekamen, und träumte sein verlorenes Kaiserreich, in dem ‚kein Blatt Papier zwischen ihm und seinem Volke sein sollte‘, während die liberalen Berliner sich mit Parlament und Freiheit befaßten.
Zu Zeiten des Großen Friedrich hatte Knobelsdorff, der Meister von Sanssouci, hier Meierei und Landhaus, nach seinem Tode ging der Besitz durch verschiedene Hände, bis er endlich an Prinz Ferdinand, Friedrichs jüngeren Bruder, kam, dem Boumann der Jüngere das Schloß gebaut hat; der zierliche Pavillon aber mit den korinthischen Säulen ist Schinkels Werk.
Während wir am Großen Stern den Hubertusbrunnen und die Jagdgruppen passieren, brave Bronze, gegen die sich nichts einwenden läßt, versuche ich doch diesen Platz in alten Zeiten vorzustellen, als hier die echten Parkhüter des Jägerkreuzwegs standen, Gartengötter, die später noch auf den Korso der schönen Welt schauten. Oh, es hat schon viele Berliner Tiergarten und Große Sterne gegeben vor dem, den jetzt der Rundverkehr durchtost und in dem vor kurzem als Sinnbild des helleren Berlins ein Lichtturm grell aufleuchtete.
Bei der Fahrt die Charlottenburger Chaussee hinauf zeig ich dem Fremden schnell, wo im Grünen der Weg zu dem alten Gartenrestaurant Charlottenhof führt. Das war einmal ein schönes Privathaus und ist nun eines der wenigen Cafés im Tiergarten selbst, die zum Verweilen einladen. Noch hat der Berliner in seinem Park seine Art Luxus und Behagen nicht ins beleuchtete Laubwerk verpflanzt. Was würde Paris aus so schön gelegenen Plätzen, wie dies Charlottenhof oder das kleine Gasthaus bei der Bootanlegestelle am Neuen See es ist, gemacht haben!
An dem Stadt-Bahnhof Tiergarten findest du in einer kleinen Auslage die Schalen und Teller, die dort die Porzellanmanufaktur ausstellt; ich lege dir dringend ans Herz, ein paar freie Stunden dem Besuch der nahegelegenen Fabrik zu widmen. Das ist ein Stück bestes Altberlin. Längs eines stillen Wasserarms zweigt hier die nach dem Privatbegründer der Manufaktur, Wegely, benannte Straße ab und führt zu den Verwaltungsgebäuden und zu der Fabrik. Während die Verkaufs- und Ausstellungsräume in der Leipziger Straße allgemein bekannt sind, ist dieser abgelegne Komplex mit seinem Museum und all den Hallen und Zimmern, in denen das Porzellan gewonnen, gebrannt und bemalt wird, bei weitem nicht so berühmt und besucht, wie er es verdient. Durch den gartenhaften Hof gehen wir an den langen schmucklosen Gebäuden entlang und durch einen Torweg in die Fabrik, deren Bau auch schon historischen Reiz hat. Dort führt man uns den ganzen Weg, den das Porzellan von der Schwemmerde bis ins Atelier des Blumenmalers zurücklegt. In den niederen Schlämmereikellern setzen sich in der ruhig gleitenden Masse in einem weiten Kanalsystem von Rinnen die festen Teile ab; aus denen wandert die Flüssigkeit in Kästen, wo auch die feineren Bestandteile sich vom Wasser scheiden. Der ‚Hallischen Erde‘ wird Feldspat, der vor unsern Augen in mächtigen Kollergängen grob und in Trommelmühlen staubfein zerkleinert worden ist, beigegeben. Die Gesamtmasse wandert weiter, erlebt Filterpressen und Masseschlagmaschinen, die moderne Form der alten Knetbänke. Auf runden Tischen wird sie unter einen Walzengang gebracht. Wir dürfen die Gipsformer und die Arbeiter an der Töpferscheibe bei ihrem Werk beobachten. Wir besuchen die leichtgewärmten Trockenräume, wo die ausgeformten Gegenstände bleiben, bis sie reif zum ersten Brande sind, die Brennkammern der Gasringöfen, die Stockwerke des Rundofens, Gutbrandraum und Verglühraum und die Ateliers, wo die Tonnen zum Glasieren stehn. Eine seltsame Unterwelt, halb Backofen, halb Gang zum Eisenhammer. Zuletzt langen wir bei den Malern an, die auch heut noch treu-inniglich die alten Blümchen mit spitzen Pinseln in Metallfarbe aufsetzen, welche sich beim Einbrennen verwandelt. Man zeigt uns die Teller und Schüsseln in allen Zuständen, vor und nach dem Einbrennen, vor und nach ihrem Aufenthalt in den Muffelöfen, in denen in schwachem Feuer das Flußmittel von der Farbe abschmilzt.
Ein freundlicher Bibliothekar führt uns in den Büchersaal und gewährt uns Einblick in die Kabinettsorders des Alten Fritz, der sich als Fabriksherr um alle Einzelheiten seiner ‚Porcellainfabrique‘ kümmerte. Alle Berichte von Bedeutung mußten an ihn direkt gehen, er versah sie mit seinen gestrengen ‚Erinnerungen‘. Er war ein guter Kaufmann und wußte seine Ware anzubringen. Wollten zum Beispiel Juden sich niederlassen, ein Gewerbe eröffnen oder heiraten, so mußten sie königliches Porzellan kaufen. Dem Philosophen Moses Mendelssohn wurden zu einer Zeit, als er schon einen großen Namen hatte, zwanzig lebensgroße massive Affen zugemutet. Durch große Geschenke, die er gern mit Hilfe seiner Fabrik machte, vermehrte der König ihren Ruhm. Weltberühmt wurde der Tafelaufsatz, den er der Kaiserin Katharina II. von Rußland-überreichen ließ. Unter der Fürsorge des Königs gedieh das Unternehmen, immer neue Öfen wurden aufgestellt, und die technischen Errungenschaften des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts kamen der königlichen Fabrik zugute. Wohl hatte sie Preußens schwere wirtschaftliche Kämpfe mit durchzumachen, bewahrte aber durch alle Zeiten die künstlerische Qualität und Eigenart ihrer Erzeugnisse. Ein Gang durch die Ausstellungssäle hier, ergänzt durch einen Besuch der Geschäftsräume in der Leipziger Straße, die Bruno Paul ihre neue Inneneinrichtung und ihm und Künstlern wie E. R. Weiß, Renée Sintenis, Edwin Scharff, Georg Kolbe, ihren Schmuck verdanken, zeigt uns das Berliner Porzellan durch alle Stilperioden als getreues Spiegelbild des Zeitgeschmacks. Da sind die Putten und Parzen des Rokoko, die allegorischen Gruppen wie etwa das ‚Wasser‘ als Schäferin mit einem winzigen Krug, Cupido als Kavallerist. Nach den mehr malerischen Blumen aus der Zeit des Neuen Palais-Services und des Breslauer Stadtservices mit seinem leuchtenden Dunkelblau erscheinen die zeichnerisch schönen Buketts des Empire, die klassizistischen Grazien, Kaffeetassen, deren Zierformen griechische und etrurische Vorbilder haben, die zarten Biskuitgebilde nach Schadows Entwürfen, die Luisenbüsten, die schöngestalteten Henkelvasen nach Schinkelzeichnungen. Im Berliner Stadtschloß, in Schloß Monbijou, in Potsdam, aber auch in altem Familienbesitz begegnen uns immer wieder diese Formen und Gestalten.
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Wo die Charlottenburger Chaussee den Landwehrkanal überschreitet, erhebt sich ein etwas umständliches Torgebäude, das vermutlich hervorheben soll, daß hier eine neue Stadt beginnt. Es ist ziemlich neu, und man glaubt ihm nicht. Es gibt hier ebensowenig wie anderswo für das Gefühl eine Grenze zwischen Berlin und Charlottenburg. Schwesterlich hat Charlottenburg der Nachbarin auch etliche Wissenschaft und Kunst abgenommen, so zum Beispiel gleich hier zu unserer Linken die Technische Hochschule. Das mächtige Gebäude feiert noch einmal mit aller Pracht von Säulen, Gesimsen und Skulpturen eine Welt, die mit Säulen, Gesimsen und Skulpturen eigentlich nichts zu tun hat. In der Vorhalle hat der Dämon des Dampfes ein Bronzedenkmal bekommen wie ein Renaissanceheld. Ein Stückchen weiter macht die Berliner Straße einen Knick, den man das Knie nennt. Schon Fontane sagt von diesem Knie: ‚Seine Rundung ist heute völlig reizlos.‘ Reizvoller ist sie seither nicht geworden. Und ihre Form verschwindet ganz in dem Durcheinander von Autos und Bahnen, die hier die Kreuzung mehrerer Straßen überqueren. Die stillste dieser Straßen ist immer noch die Fortsetzung der Berliner Straße. An ihr liegen zwischen den neuen noch eine ganze Reihe älterer kleiner Häuser aus der Zeit, als der Weg von Berlin nach Charlottenburg ein Ausflug war, eine Kremserpartie. Man fuhr mit dem Wagen vom Brandenburger Tor aus richtig über Land hierher. Man bezog Sommerwohnung in den idyllischen Behausungen, die an der Straße lagen, welche die Hauptstadt mit der Sommerresidenz verbanden, die einst der erste Preußenkönig seiner Gemahlin im Dörfchen Lietzow geschaffen hatte und die nach ihr den Namen Charlottenburg trägt.
Die Ankunft vor dem schönen Schloß dieser Königin wird uns etwas verleidet durch ein großes Reiterdenkmal Kaiser Friedrichs mit Umbau und Göttern von 1905 auf den Pylonen. Fort damit! Die Anlagen des Platzes sind doch dem Schutz des Publikums empfohlen! Dem Schloß gegenüber die beiden erfreulichen Kuppelbauten, die — man glaubt es kaum — einmal Kasernen waren, erinnern an die etwas unbestimmten Gartenarchitekturen, die der romantische Friedrich Wilhelm IV. zeichnete, und blicken ehrfürchtig zu Eosanders grüner Kuppel mit dem schwebenden Tanzgott hinüber.
Im Schlosse sind schöne, etwas leere Empirezimmer der Königin Luise mit viel unbesessenen Sesseln und zierlichen Kachelöfen. Im östlichen Flügel, den Knobelsdorff für Friedrich den Großen anbaute, ist ein weitläufiger Tanzsaal, die goldne Galerie genannt. Und noch älteren Prunk findet man auf der Gartenseite in den Gemächern, in Kapelle und Porzellankammer des ersten Königs. Durch das Ganze wird man leider pantoffelschlurfend geführt. Ungestört aber darfst du Fremder in dem großen Park spazieren. Auf dem Weg dahin ist ein Durchgangsraum. Pilaster und reiche Kapitelle und Medaillons in Stuck, der so aussieht, als müßte er im nächsten Windstoß bröckeln, und hält doch schon zweihundert Jahre. Dieser wenig beachtete Raum ist ganz besonders voll Vergangenheit. Im Garten gehst du an schöner Schloßfront und den Büsten der römischen Kaiser entlang und stille Wege zum Mausoleum. Das ist auch in seiner in neuerer Zeit erweiterten Gestalt noch immer ein würdiges Gebäude, aber unvergeßlich ist für jeden, der es noch gekannt hat, das erste nach Schinkels Plänen erbaute Todestempelchen, das nur den Marmorschlaf der Königin Luise und ihres Friedrich Wilhelm hütete. Man hätte für ihren Sohn und ihre Schwiegertochter eine andre Ruhestätte bauen und Rauchs Meisterwerke allein lassen sollen. Es gibt in diesem Park noch ein merkwürdiges Gebäude weit hinterm Karpfenteich und nah dem Fluß, das Belvedere, in welchem in den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts Friedrich Wilhelm II. zu Füßen seiner ‚Gräfin Lichtenau‘ saß. Fontane hat das Innere des »seltsamen jalousienreichen Baus mit den vier angeklebten flachen Balkonhäusern und dem kupfernen Dachhelm« besucht (heut ist es eine Art Beamtenwohnung und unzugänglich). In den saalartigen Rundzimmern war er und in dem dämmerigen Kabinett, wo der König die Geister der Abgeschiedenen beschwor, die ihn mahnten, auf den Weg der Tugend zurückzukehren. Heut sind die Gespenster, die Fontane noch spürte, von ziemlich banaler Gegenwart vertrieben, und Vergangenheit wohnt eher in manchen Büschen und Wegen des Parks, der sich weit nach Norden und Westen hin erstreckt.
Unser Wagen aber lenkt südwärts ins neueste Charlottenburg auf den Kaiserdamm bis zum Reichskanzlerplatz. Auf die Reichsstraße werfen wir nur einen Blick und ahnen dahinten die werdende Kolonie Heerstraße. Südlich vom Kaiserdamm bekommen wir die Messehallen, die großen Ausstellungsbauten, Funkhalle und Funkturm zu sehen. Groß angelegt und mit Recht ein Stolz des neuen Berlin ist diese ganze Straße, die vom Brandenburger Tor hieher und weiter führt. Unser Rückweg passiert in der Hardenbergstraße die Hochschulen für Musik und bildende Kunst, einen einheitlich entworfenen Komplex von Gebäuden in hübschem Sandstein. Und dann geht es unterm Stadtbahnviadukt hindurch und zur Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche, vor der unser Wagen hält. Der Führer erklärt, dies Gebäude sei eine der schönsten Kirchen Deutschlands.
Nun ist leider noch heller Tag, da sieht man sie zu deutlich. Ach, wenn hier eine echte alte Kirche stünde — aus Zeiten stammend, die eine der andern den Torso ihrer Träume zu langsamem Weiterbauen übergab — und wenn nun heut an die altersgrauen Mauern und Zacken unter Engelleibern und Teufelsfratzen der wilde Rundverkehr der Trambahnen, Autos, Autobusse und Menschenmassen mit einem Echo aus Ruinenstein prallte — der ‚Broadway‘ von Berlin-Charlottenburg mit seinen Cafés, Kinos, Leuchtbuchstaben und Wanderschriften hätte ein Herz, eine Mitte, eine Resonanz. Statt dessen steht, seit dreißig Jahren immer noch wie neu, hier das Schulbeispiel einer sogenannten ‚spätromanischen Zentralanlage‘ mit Hauptturm und Nebentürmen als massives Verkehrshindernis mitten auf dem Platz, und gegenüber dem Hauptturm einerseits und dem Chor andrerseits sind von demselben Architekten — wir wollen seinen Namen vergessen — noch aus Stilgefühl zwei gleichfalls romanische Häuser errichtet. Es muß abends schon gewaltig von ‚Capitol‘ und ‚Gloriapalast‘ und der Ufa am Zoo Licht herüberdonnern, um die steingewordne Schulweisheit etwas aufzulösen. Wir Älteren denken manchmal an die Zeit, als hier einer der wunderbaren vom alten Tiergarten übriggebliebenen Bäume seine Zweige breitete (Zeitgenossen dieses herrlichen Baumes stehen noch heut, der eine in der Wichmann-, der andre in der Viktoriastraße), doch das ist belanglos, heut ist heut. Aber wenn diese Kathedrale mit dem langen Namen wenigstens ein bißchen altern und zerfallen wollte. Da steht sie mitten im Gerassel und Gedröhn preußisch unerschüttert und macht Augen rechts nach dem lieben Gott.
Und das Innere? Schon in dem Vorraum, der vermutlich an den Narthex der echten romanischen Kirchen erinnern soll, gehts marmorn los. Als Knabe bekommt Wilhelm vom Vater das marmorne Schwert gereicht, reitet als junger Kriegsprinz durchs Schlachtfeld von 1814 hinter lagernden Schützen, die marmorn nach dem Innenportal der Kirche zielen, ratschlagt mit Bismarck und Moltke zwischen stilisierten Blumen über einer Feldzugskarte und sitzt marmorn zwischen Sohn und Enkel, sich huldigen zu lassen. Von den vielen Kirchenfenstern ist zu sagen, daß fast unter jedem der Stifter leserlich verzeichnet steht. Viel Prinzen sind darunter, aber auch Städte und einzelne Mäzene. Deren Enkel können, bis diese Inschriften eines schönen Tages verlöschen oder verschwinden, noch ein kleines Jahrhundert lang sich ärgern, daß Großpapa und Urgroßmama etwa einen glasgemalten lächerlichen Satan, der in roten Flammen neben dem ruhevollen Heiland brennt, gestiftet haben. In der großen Fensterrose bemühen gebildete kleine Propheten sich mit ihren Spruchbändern um ein naiv mittelalterliches Benehmen und auf dem Goldgrund der Deckenmosaiken halten strebsame Leute mit Heiligenschein sich so katholisch, wie es ihre protestierenden Gliedmaßen irgend zulassen. Und das alles muß unter elektrischer Beleuchtung ein Heiland segnen. Er hat den vornehmen Bestand aufzunehmen. Außer den Statuen rings ein Taufbecken aus kostbarem Material, eine Ringkrone von 5’5 m Durchmesser, eine Orgel mit einem Prospekt in getriebenem Kupfer, 80 Registern und 4800 klingenden Stimmen. — So, hier will ich, ehe der Wagen weiterfährt, aussteigen, nicht um in die Kirche, sondern ins Romanische Café zu gehen. Es ist Spätnachmittag, da ist es noch nicht zu voll. Ich finde die alten Münchner und Pariser Freunde. Fahrt ohne mich weiter, ihr richtigen Fremden!