FRIEDRICHSTADT

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Novembernachmittag. Silbergraues Licht über dem Schiffbauerdamm. Vom gegenüberliegenden Reichstagsufer seh ich die Häuserreihe und als Abschluß ein Stück von der Halle des Friedrichstraßenbahnhofs, hinter der ferner und näher Kuppeln mit rauchdünnen Konturen in die Luft eingehn. Von dieser Gegend habe ich in Ebertys Erinnerungen eines alten Berliners gelesen, wie sie vor hundert Jahren aussah, als der Knabe mit seinem Hauslehrer sich hier erging und auf das jenseitige Ufer blickte, das damals ganz mit Gärten bedeckt war. Da sah man Laubengänge und Lusthäuschen, teils im chinesischen, teils im griechischen Geschmack. Sie schimmerten durch die Lücken im Laub und schienen dem kleinen Eberty der Inbegriff alles Wunderbaren. Er fragte den Lehrer nach den Bewohnern der lieblichen kleinen Paläste, und der lehrte in ernstem Ton, da drüben sei der Himmel, wo die guten Kinder hinkommen, die auf Erden recht artig gewesen sind und ihren Eltern Freude gemacht haben. Reizende Engel mit goldenen Flügeln warteten dort auf sie, um die schönsten Spiele mit ihnen zu spielen. Ja, damals muß da drüben ein schönes Jenseits der Spree gewesen sein. Es war die Zeit, als die nahe Dorotheenstraße noch die Letzte Straße hieß, in der die Rahel so gern spazierte. Geblieben sind aus dieser Zeit wohl nur Schloß und Garten Monbijou und ein paar Nachbarhäuser und noch Einzelnes nahe dem Hackeschen Markt. Sonst ist die Gegend jetzt alles andre als märchenhaft. Aber dort in der Vertiefung geht es noch heute zu einem Märchenpalast. Er heißt Großes Schauspielhaus, war früher ein Zirkus und ehedem eine Markthalle. Sein Innres, einst Stätte steiler Kunstreiter und taumelnder Clowns, dann des Thebanerchors, den Reinhardt gegen die Stufen des Palastes zum König Ödipus stürmen ließ, faßt jetzt die Tausendundeine Nacht und tausendundein Bein der großen Revuen. Die Meister dieser herrlichen Kindervorstellungen für Erwachsene (und das ist das höchste Lob, das ich auszusprechen vermag, denn diese Schöpfungen befriedigen sowohl unsre reiferen Lüste als auch unsre Kinderlust an Märchenwelten über Traumrampen) haben einen neuen Genre geschaffen zwischen Revue und Operette, getanztes zertanztes Bild, getanzte zertanzte Musik, bald für den Riesenraum hier, bald für die verwandten kleineren Bühnen. Und die Besten unsrer darstellenden Künstler haben ihnen geholfen. Ich meine nicht die Kammersänger, die mit gepflegtem Stimmvibrieren das erfreuliche Tanz- und Ausstattungswesen unterbrechen, ich meine Max Pallenberg und Fritzi Massary. Wir haben mit schweifenden Balken und Trichtertürmchen Titipu, die Märchenstadt des ‚Mikado‘ aufsteigen sehn, wallende Lampions, porzellanene Bäume und zwischen Drachen und bunten Garden, zwischen Pfauen und Zwergen die Tanzchöre in Wachstuch und Seide. Und Pallenberg als Koko schlimmheilig und verschmitzt auf Treppen trippelnd, porzellanen vor Porzellanbäumen hockend, Reime malmend und wegspuckend. Und in den Rahmen der auferstandenen Jahrhundertwende, der Schleppen, Korsettaillen und Riesenhüte, der Samtvorhänge und Blattpflanzen, des wiegenden Walzers und der Maxixe hat die wunderbare Frau ihr Chanson eingefügt mit schneidender Strenge und schimmerndem Übermut, mit sparsamer Kunst und zitternder Lust, in jeder Gebärde gehalten und gelöst.

Ein paar Straßenecken vom Großen Schauspielhaus bekamen wir in neuen Reimen das alte Singspiel vom trotzigen Elend, die Lumpenballade, genannt ‚Dreigroschenoper‘, gepfiffen und gesungen.

Drüben hinter der Weidendammerbrücke probt man jetzt wohl für den Abend Musik und Tanz in der Komischen Oper und im Admiralspalast. Ebertys Zaubergärten sind in die Kulissen gewandert, und am Tage ist hier im Freien keine sehr heitre Gegend. Hinterm Schiffbauerdamm beginnt mit großen und kleinen Kliniken, wissenschaftlichen Buchhandlungen, chirurgischen und orthopädischen Schaufenstern das Quartier der Medizin. Aber mittendrin in behütetem Abseits weiß ich unser Deutsches Theater und die Kammerspiele. Als ich vor einiger Zeit wieder einmal dort war, auf einem vortrefflichen Parkettplatz den Bühnengesichtern schminkenah saß und berühmte Glanzleistungen in einem amerikanischen Artistendrama vor mir hatte, mußte ich in den Pausen, ja auch während gespielt wurde, bisweilen verstohlen hinaufschauen nach den Mittelplätzen des zweiten Ranges. Ach, ihr Gleichaltrigen, wißt ihr noch? Es waren die Plätze 19 bis 26. Man lief ein paar Tage vor der ersehnten Vorstellung früh an die Kasse, um noch die besten Plätze zu bekommen. Man saß dicht unter den Medaillons der Devrient und Döring an der Decke. Man sah Josef Kainz! — Ungeheuer wichtig und zentral war damals in unserm Leben das Theater. Warum ist es das nicht mehr? Ist es eine Frage des Lebensalters oder hat sich in der Zeit etwas geändert? Eigentlich waren die Berliner doch immer große Theaterenthusiasten. Wie mögen sie in alter Zeit für die Schmeling, die marmorn auf dem Schreibtisch des Königs stand und als billige Lithographie in der Stube des Handwerkers hing, wie für die Henriette Sontag geschwärmt haben! Nun, im Leben der Stadt spielt das Theater auch heut eine große Rolle. In der Trambahn und in der Gesellschaft wird viel von der Bühne gesprochen. Aber bei allem Anteil an neuen Problemen der Regie, der Erneuerung des Alten, der revolutionären Tendenzen, ein richtiges Theatervolk wie etwa die Wiener sind die Berliner doch nicht. Das hängt nicht nur mit dem jetzigen Stande des Schauspielwesens, sondern auch mit dem Volkscharakter zusammen.

Die Berliner, und besonders die besseren, womit ich keine Stufe der Bildung, sondern einen Grad der Echtheit bezeichnen möchte, sind etwas mißtrauisch gegen das, was ihnen unmittelbar gefällt. Und so haben sie als Publikum nicht die Naivität des schlechthin Genußsüchtigen. Obendrein kommen sie auch nicht wie die Pariser behaglich nach dem Essen ins Theater mit der Aussicht auf eine angenehme Fortsetzung der Konversation bei Tische, sondern hungrig und kritisch. Es wird ihnen dann wohl so ziemlich das Beste geboten, was es heute an Regie und Schauspielkunst gibt. Der Namen sind so viel, daß ich keinen nennen will. Aber schau dir das Publikum an! Eine Mischung von Verdrossenheit und höflicher Andacht ist in den Gesichtern. Wenn sie dann ablehnen, sind sie entrüstet, sie lachen das Verfehlte nicht aus, sondern sind ungehalten, daß es ihnen zugemutet wird. Und wenn sie sich begeistern, geschieht es auch mit einer Art Entrüstung gegen einen imaginären Gegner, der sich nicht genug begeistert. Ob sie wohl jemals von Herzen glücklich sind im großen Theater? So glücklich wie das Publikum der Vorstadtbühnen? So zu Hause im Genuß?

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Dorotheenstraße. Ein Glücksfall öffnet mir die Dorotheenstädtische Kirche. Endlich einmal kann ich das Grabmal des Königskindes, des neunjährig verstorbenen Grafen von der Mark, sehn, Schadows berühmtes Erstlingswerk, den schlafenden Jüngling mit Schwert und Kranzgewinden und im Halbrund über ihm heidnische Parzen, denen der Tod die Christenkirche aufgetan hat. Der Kirche gegenüber steht inmitten höherer städtischer Nachbarn Schlüters letzte Schöpfung, ein Landhaus, das erst das Buen Retiro eines Staatsministers war, seit über hundertfünfzig Jahren aber merkwürdigerweise einer Freimaurerloge, der Royal York, gehört. Der vorspringende Mittelteil ist wie in sanfter Bewegung, die in den Gesten der Figuren auf dem Dach — zwei von diesen Statuen regen sich fast wie Tänzerinnen — sich leidenschaftlicher fortsetzt. Eine wunderliche Spielerei findet sich an einigen Seitenfenstern, nämlich steingemeißelte Fenstervorhänge. Zeitgenossen fanden, es sei ‚ein überaus nettes, nach der neuesten Baukunst errichtetes Lusthaus‘. Ein Kunsthistoriker der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hat den Eindruck, daß die Willkürlichkeiten und Spielereien, die ursprünglich der malerischen Wirkung dienten, als die halb ländliche Umgebung noch bestand, jetzt in der städtischen Straße sich fremdartig ausnähmen. Aber ein Kunstrichter unserer Tage, Max Deri, nennt es das einzige ‚wirklich »europäisch« schöne historische Gebäude‘, das Berlin besitze. Es ist sehr verlockend, in dies verwunschene Gartenhaus einzutreten, aber es steht nur den Mitgliedern der Loge offen. Und so muß ich mich, was den Gartensaal, der sich innen befinden soll, betrifft, mit der Beschreibung von Friedrich Nicolai begnügen. Der lobt die eleganten Proportionen des Saales und seine schönen Deckenstücke: »Über den vier Türen sind die vier Weltteile von Schlüter in Gyps vorgestellt. An der Wand stellen vier kleine Basreliefs die Wachsamkeit, Weisheit, Vorsicht, Verschwiegenheit als die vier Haupttugenden eines Ministers vor«. Zu Nicolais Zeit ging der Garten bis an die Spree und in ihm war »ein großer Salon von hohen Kastanien und Ulmen und ein artig angelegter buschiger Hügel merkwürdig und die Aussicht auf die gegenüberliegenden mit Bäumen umpflanzten Wiesen ländlich reizend«.

Im entgegengesetzten Teil der Dorotheenstraße hinter Bibliothek und Universität weiß ich nah dem kleinen Platz mit Hegels Kolossalbüste — diesem sanft dröhnenden Gesicht, das unentwegt behauptet, alles Seiende sei vernünftig — einige alte Häuser; besonders vertraut ist mir von Studententagen her das Seminargebäude, dessen lichte altfarbene Wand ein zarter Fries und Reliefs zieren. Aber so weit will ich heute nicht, ich lasse auch neben dem Museum für Meereskunde die beiden Büstenmänner in der Wand ruhig immer wieder den Rübenzucker entdecken und seine Industrie begründen. Ich biege an der Wintergartenecke in die Friedrichstraße ein. Einen Blick in das Café des Zentralhotels, wo um diese Nachmittagszeit oft recht merkwürdige Leute sitzen: ausländische Geschäftsmänner, einzeln reisende Damen, Familiengruppen aus der Levante, Artisten, zweifelhafte Lebemänner, eine rätselaufgebende Dämmerversammlung. Da der Wintergarten, Berlins altberühmtes Varieté, vor kurzem umgestaltet und festlich neu eröffnet worden ist, geziemt es sich seiner Geschichte zu gedenken. Zunächst war er, wie sein Name andeutet, nur bestimmt, eine Ruhe- und Erholungsstätte der Hotelgäste zu sein. Die Logen waren so angelegt, daß man sie bequem aus den Zimmern des Hotels erreichen konnte. Von dort sahen die Gäste hinunter in die Fülle der Schlinggewächse, Lorbeerbäume, Palmen, in Tropfsteinhöhlen und Aquarien, und zwischen alldem erschien im Gaslicht der ‚Sonnenbrenner‘ und Kandelaber eine kleine Bühne, auf der gelegentlich ein bißchen Singspiel stattfand. Dann aber kam die Zeit der beiden Direktoren, deren Namen schon sich zu einem so eindringlichen Firmenwort paaren, Dorn & Baron. Die Zeit der Loie Fuller, der Barrisons, der Otéro, der Cléo de Merode und aller europäischen Berühmtheiten des Trapezes und hohen Seils. Der Sternenhimmel an der blauen Decke strahlte als nahes Weltall der Sensationen über den Berlinern. Es war ‚kolossal‘, was hier geboten wurde. Und heute ist es, dem aktuellen Superlativ entsprechend, ‚zauberhaft‘.

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Friedrichstraße. Das war einmal das Zentrum der berlinischen Sündhaftigkeit. Das schmale Trottoir war mit einem Teppich aus Licht belegt, auf dem sich die gefährlichen Mädchen wie auf Seide bewegten. Der Mode gemäß hatte ihr aufrechter Gang etwas Feierliches, das grausam persifliert wurde, wenn sie den Mund aufmachten, um sich im städtischen Idiom zu äußern. Ihre kastenhafte Abgetrenntheit von der Gesellschaft, der sündhafte Glanz ihres falschen Schmucks und echten Elends, all die naheliegenden Kontraste, mit denen damals junge Phantasie arbeiten konnte beim Anblick dieser schlimmen Feen im Federhut der Fürstin, die sie im hohen Rat ihrer bornierten Seelsorger aus den heimlichen Häusern auf die Straße verbannt hatte, — Bild und Begriff von all dem ist nun längst historisch geworden. Und in der heutigen Friedrichstraße gespenstert wenig von dieser Vergangenheit. Ihr Nachtleben ist ja längst von dem westlichen Boulevard überboten. Und was davon noch vorhanden ist, reizt mehr den Provinzler als den Berliner Bummler. In einigen Nachtlokalen kann die heutige Jugend vielleicht noch ironisch studieren, was früheren Generationen Spaß machte. Am Nachmittag aber, wenn erst einige der Vergnügungsfassaden erleuchtet sind wie jetzt, werden manche Tore und Fenster reizvoll wie Theaterkulissen, die hinter der Szene angelehnt stehn. Eine besondre Art Reklameliteratur treibt hier ihre Blüten. Von Torhütern und Patrouillen werden einem Zettel zugesteckt mit Empfehlungen interessanter Lokale, Brennpunkte des Nachtlebens werden verheißen, mondän und doch dezent, internationale Tanzaufführungen, ja sogar Nacktplastiken zum Pilsatorausschank im Originalkünstlerkeller, »Musik des Körpers, ästhetische Silhouetten, historische Visionen, indische Opfertänze wie auch Frühlingsstimmen und Humoresken des ganzen Ensembles, Nacht in Sevilla und das Dumme Herz«. Neuerdings haben einige dieser Lokale belehrende Vorträge von ‚Sexualethikern‘ in ihren Rahmen aufgenommen, die in merkwürdigem Wettbewerb mit den neuesten Aufklärungsschriften verschiedne erotische Bemühungen und Möglichkeiten rechtfertigen und unsern armen eingeschüchterten und verdrängten Instinkten ‚Neuland‘ erobern. Aber das gibts erst abends. Indessen könnte man schon jetzt in dem großen 5-Uhr-Programm ‚die acht Pikanterien des bekannten Komikers Sascha Soundso‘ erleben. Es empfiehlt sich wohl eher, in eine der kleinen Konditoreien einzutreten, wo die, welche abends ihren Anteil am Nachtleben zu liefern haben, nachmittäglich verschlafen beisammen sitzen und unter ihresgleichen Meinungen über die Geschäftslage und das Leben überhaupt austauschen. Da wäre viel zu lernen über die Welt und über Berlin. Die Tanztees der Friedrichstadt haben auch ihre lehrreichste Stunde, bevor der Betrieb losgeht, wenn im Dämmer nah bei den noch eingehüllten Instrumenten die Ballettdame einen Imbiß einnimmt und sich dabei mit der Garderobefrau oder dem Kellner unterhält. Als tapferer Forscher sollte man eigentlich vormittags hier in gewisse Lokale der Nebenstraßen gehn, wenn die Nixengrotte aufgewaschen wird! Erstaunlich müßten um diese Zeit auch die Museen der Bauernschänken sein, falls sie noch bestehn, der Totenkopf Gottfrieds von Bouillon als dreijähriger Knabe und dergleichen … ‚Weißes Meer‘ leuchtet eine Inschrift auf dem Schürzenbauch eines dicken Pförtners mit einer Kochmütze auf dem Kopf. Er lädt in ein bekanntes Lokal ein, wo Weißbier ausgeschänkt wird. Das ist jetzt wohl schon eine Spezialität. Früher beherrschte die Weiße mit oder ohne Schuß (Himbeersaft) den Berliner Durst. In stilleren Straßen der Altstadt findet man noch einige der echten alten Weißbierstuben. Da sitzt man an blanken Holztischen vor der breiten Trinkschale und unter den Bildern des alten Kaisers und des Kronprinzen von dazumal und Bismarcks, Roons und Moltkes. Aber hier in der Friedrichstadt sind diese Stuben und Keller seit einem halben Jahrhundert verdrängt durch die Bierpaläste und -kathedralen, die jetzt ihrerseits historische Ehrwürdigkeit bekommen. Als neue Sehenswürdigkeiten beschreibt sie Laforgue. Türme und Türmchen dieser curiosités architecturales fallen ihm auf und er weiß von einer Magistratsverfügung, die verbieten mußte, daß noch höher getürmt wurde, sonst wären am Ende die Berliner Biertürme babylonisch in den Himmel gewachsen. Er ergötzt sich an den alfresco-Bemalungen außen und innen. »Der Stil dieser Etablissements, schreibt er, ist, was man deutsche Renaissance nennt. Sie haben Holzverkleidung an Decke und Wand, auch die Pfeiler sind bemalt und rings um den Saal läuft eine Etagere, wo aller Art Bierbehälter aufgereiht stehn, aus Porzellan, Steingut, Metall und Glas aller Epochen«. Wie lang sich dieses Kolossal-Nürnberg noch halten wird gegen das eilig laufende Band der Lichtreklameflächen, das jetzt die Fassaden von Berlin glatt und gleichmachend erobert, das weiß ich nicht. Historisch ist es jedenfalls schon jetzt wie seine Zeitgenossin, die nach dem Vorbild der Pariser Passagen erbaute Kaisergalerie. In die kann ich nicht ohne einen leisen Moderschauer eintreten, nicht ohne die Traumangst, keinen Ausgang zu finden.

Kaum bin ich an dem Schuhputzer und dem Zeitungsstand unterm hohen Eingangsbogen vorüber, so beginnt eine gelinde Verwirrung. Täglichen Tanz verspricht mir ein Glasfenster und jenen Meyer, ohne den keine Feier ist. Aber wo soll der Eingang sein? Da kommt neben dem Damenfriseur wieder nur eine Auslage: Briefmarken und die seltsam benannten Utensilien der Sammler: Klebefälze mit garantiert säurefreiem Gummi und Zähnungsschlüssel aus Zelluloid. ‚Aufgepaßt! Wolljacken!‘ herrscht eine Aufschrift aus dem nächsten Glaskasten mich an, aber das zugehörige Geschäft liegt ganz wo anders. Ich habe mich umgedreht und dabei fast an den Bilderautomaten gestoßen, vor dem ein armer einzelner Schuljunge, die Mappe unterm Arm, steht und sich kümmerlich in die ‚Szene im Schlafzimmer‘ vertieft.

So viel Schaufenster ringsum und so wenig Menschen. Man fühlt die Bierhausrenaissance dieser hohen Wölbungen mit den bräunlichen Konturen immer mehr veralten; die Gläser dieser Galerie verdüstert Staub der Zeiten, der nicht wegzuwischen ist. Die Auslagen sind noch ziemlich dieselben wie vor zwanzig Jahren. Nippes, Reiseandenken, Perlen, Täschchen, Thermometer, Gummiwaren, Marken, Stempel. Neu hinzugekommen ist nur das Telefunkenhaus mit der überzeugenden Aufschrift: ‚Ein Griff — und Europa spielt für Sie.‘ Beim Optiker kann man den ganzen Fabrikations-Werdegang einer Brille wie den von der Raupe zum Schmetterling in Etappen auf belehrendem Blatt studieren. ‚Des Menschen Entwicklung‘ winkt herüber aus dem anatomischen Museum. Aber vor dem graut mir noch zu sehr. Ich verweile bei ‚Mignon, dem Entzücken aller Welt‘, einer Taschenlampe, in deren Licht ein junges Paar sein Glück spiegelt, bei den Manschettenknöpfen Knipp-Knapp, die sicher die besten sind, bei den Dianaluftflinten, die gewiß der Jagdgöttin Ehre machen. Ich erschrecke vor Totenköpfen, die als grimmige Likörgläser eines weißbeinernen Services grinsen. Auf der Toilettenrolle ‚mit Musik‘ ruht das clownige Jockeigesicht des handgemachten Holznußknackers. Milchflaschen warten auf die Mitglieder des ‚Vereins ehemaliger Säuglinge‘ voll Likör! Wenn diese schon rauchen sollten, finden sie ‚Gesundheitsspitzen‘ in verwirrender Nähe der Gummipuppen, die neben hygienischen Schlupfern über der Inschrift: ‚Bedienung diskret und ungeniert‘ thronen. Ich will noch bei den tröstlich gelben Bernsteinspitzen des ‚first and oldest amber-store in Germany‘ verweilen, aber immer wieder schielt die anatomische Schöne des Museums herüber. Unter ihrem nackten Fleisch scheint das Skelett durch wie ein Marterkorsett. Im Leeren schwimmend umgeben sie ihre gemalten Organe, Herz, Leber, Lunge … Von ihr wende ich mich zu dem weißbekutteten Arzt, der sich über die Bauchhöhle einer schlummernden oder schon ausgenommenen Blondine beugt. Schnell fort, ehe ich den Ersatz der Nase aus der Armhaut erleben muß. Dann schon lieber den Buch- und Papierladen mit den Heften über Sinnlichkeit und Seele und die Liebesrechte des Weibes, dem kleinen Salonmagier und dem vollendeten Kartenkünstler, von dem Dinge zu lernen sind, mit denen man sich in jeder Gesellschaft beliebt macht.

Die Galerie biegt in weitem Winkel, Stühle, Tische und Palmenkübel eines Restaurants erscheinen, das sich als strictly kosher bezeichnet. Im Gegensatz dazu scheint strictly treife das Kabinett des Porträtmalers su sein, zu dem ein teppichbelegter Eingang führt. Und hinten kann man ihn selbst sehn, ihn selbst im Vollbart, wie er den Reichspräsidenten abmalt. Hindenburg sitzt im Salon, ihm zu Füßen liegt sein Hund, und zwischen ihm und dem Maler ist das Bild, auf dem er noch einmal abgemalt ist, allerdings ohne Hund; und wie er sitzt und wie der Maler steht, sind sie — es ist verwirrend — auch nur gemalt, nicht anders als die Vergrößerungen nach Photographien rings umher. Hier kann man nämlich aus jeder Photographie ein Bild machen lassen. Von hundert Mark an, in Lebensgröße! Verstorbene werden nach den verblichensten Photographien porträtiert. Keine zeitraubenden Sitzungen. Viele Atteste hochstehender Persönlichkeiten. In einem gedruckten Schreiben wendet sich der Hofmaler an uns Passanten und erklärt, er habe sich im Gegensatz zu den modernen Porträtmalern, die eine solche Verwirrung des Geschmacks gefördert haben, Goethes (!) Auffassung ‚Kunst und Natur sei eines nur‘ zur Richtschnur gemacht. Ein junges Mädchen und eine Matrone aus der Provinz bleiben vor seinen vielen Schönen mit Hund und Wintergarten, seinen Ordensbrüsten und Würdenbärten stehn. Um ihre Bewunderung nicht zu stören, wende ich mich ein paar Fenster weiter zur Konkurrenz, den ‚Originalgemälden akademisch gebildeter Künstler zu konkurrenzlosen Preisen‘. Von Originalherbsten und -frühlingen wandert das Auge über Rothenburgs Mauern zu der bekannten Blinden im Kornfeld und der beliebten verkauften Sklavin. Dabei hat man mich aber beobachtet. ‚Das könn’ Se bei uns direkt haben‘, sagts neben mir und ich sehe in das Gesicht eines kleinen Alten mit schütterem Bart. Er zwinkert ins Nebenfenster, wo sich originalradierte unvollständig bekleidete Mädchen mit ihren Strumpf- und Achselbändern beschäftigen. Meine Kenntnisse zu erweitern, hätte ich mich mit ihm in ein Gespräch einlassen sollen. Aber mir grauts zu sehr hier unter falsch spiegelnden Lichtern und streifenden Schatten. Ich lasse ihn hinüberschleichen zu den verdächtigen Burschen mit den süßen Schlipsen, denen er Tricks mit einem Taschenspiegel zeigt.

Leer ist die ganze Mitte der Galerie. Rasch eile ich dem Ausgang zu und spüre gespenstisch gedrängte Menschenmassen vergangener Tage, die alle Wände entlang mit lüsternen Blicken an Similischmuck, Wäsche, Photos und lockender Lektüre früherer Basare hängen. Bei den Fenstern des großen Reisebüros am Ausgang atme ich auf: Straße, Freiheit, Gegenwart!