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Das waren ein paar schüchterne Versuche, in Berlin spazieren zu gehen, rund herum und mitten durch, und nun, liebe Mitbürger, haltet mir nicht vor, was ich alles Wichtiges und Bemerkenswertes übersehen habe, sondern geht selbst so wie ich ohne Ziel auf die kleinen Entdeckungsreisen des Zufalls. Ihr habt keine Zeit? Dahinter steckt ein falscher Ehrgeiz, ihr Fleißigen.
Gebt der Stadt ein bißchen ab von eurer Liebe zur Landschaft! Von dieser Landschaft habe ich hier nichts gesagt, habe die Grenzen der Stadt nur flüchtig mit ein paar Worten überschritten. Sie ist ja schon viel beschrieben und gemalt, die merkwürdige Gegend, in der unsere Stadt wohnt, die märkische Landschaft, die bis auf den heutigen Tag etwas Vorgeschichtliches behalten hat. Sobald die Sonntagsgäste sie verlassen haben, sind Kiefernwald, Luch und Sand wie vor der Zeit der ersten Siedler, besonders im Osten. Im Westen aber haben wir ein Stück Landschaft, an der Menschenhand mitgeschaffen hat. Das ist die Gegend, die Georg Hermann in seinem ‚Spaziergang in Potsdam‘ eine Enklave des Südens nennt. Wie in dies Neuland des achtzehnten Jahrhunderts Stadt- und Parkbild sich einfügt, müßt ihr in dem kleinen Büchlein nachlesen. Und dann laßt euch von ihm auf den Platz beim Stadtschloß führen, den ‚losgelösten Architekturtraum‘, und zu Knobelsdorffs Kolonnaden im Schloßgarten, den Riesensäulen mit zart durchbrochener Balustrade, und in die Schlösser, Hecken und Teppichbeete von Sanssouci. Er lehrt das Persönliche der königlichen Schöpfung verstehn, die Art, wie Friedrich ‚die Stadt im Gesamtbild abstimmte, als hätte er sie innerlich stets als Ganzes vor Augen gehabt‘. An der Hand dieses Führers wandert ihr dann auch gut durch die Straßen der Stadt mit ihren glücklichen Durchblicken und Abschlüssen, lebt mit all den Vasen, Girlanden, Flöten und Leiern, Waffen und Sphinxen der Bauplastik, die ‚selbst im Kietz, wo die Fischer wohnen, Amoretten auf der Dachkrönung Netze flicken‘ läßt. Hermann unterscheidet die verschiedenen Typen von Häusern, Puttenhäuser, Vasenhäuser, Urnen-, Masken-, Medaillen-, Zopf- und Wedgwoodhäuser und ihre Mischformen, beschreibt uns eine alte Straße, die ‚eine zwitschernde Voliere all dieser Typen‘ ist, und treibt, wohin er uns führt, ganz gelinde im Weitergehen, was er selbst ‚peripatetische Stilkunde‘ nennt.
Ins weitere und nähere Havelland leitet uns Fontane. Bei ihm lesen wir zum Beispiel die Geschichte der alten und den Anblick der späteren Pfaueninsel nach. Und was wir dort an Blumenmustern der Tapeten, Bettschirmen und Möbeln von der Welt der Königin Luise spüren, führt uns nach Paretz zu ähnlichen Mustern, zu hängenden und tropfenden Bäumen auf der Wandbespannung, zu Kommoden und Diwanen, in denen so viel von der Atmosphäre dieser Frau und ihrer Welt geblieben ist.
Diese vollendeten Potsdamer Schönheiten zu lieben, fällt nicht schwer, wir aber müssen die Schönheit von Berlin lieben lernen. Zum Schluß müßte ich nun eigentlich auch einige ‚Bildungserlebnisse‘ beichten und gestehn, aus welchen Büchern ich lerne, was nicht einfach mit Augen zu sehen ist, und manches, was ich sah, besser zu sehen lerne. So eine saubere kleine Bibliographie am Ende, das gäbe meinem Buch ein wenig von der Würde, die ihm mangelt. Ach, aber auch in den Bibliotheken und Sammlungen bin ich mehr auf Abenteuer des Zufalls ausgegangen als auf rechtschaffne Wissenschaft, und zu solchem Kreuz und Quer durch die Welt der Bücher möchte ich auch die andern verführen.
Einer der großen Kenner der Geschichte, Kultur- und Kunstgeschichte Berlins (ihre Namen finden sich im Baedeker unter dem Abschnitt Literatur) sollte einmal eine Beschreibung der Stadt aus lauter alten Beschreibungen zusammenstellen und alle Denkmäler von den näheren Zeitgenossen ihres Entstehens darstellen lassen: über das Grabdenkmal des Staatsministers Johann Andreas Kraut in der Nicolaikirche müßte der Rektor Küster vom Friedrich Werderschen Gymnasium zu Worte kommen, über das Opernhaus müßte aus Carl Burneys, der Musik Doctors, Tagebuch seiner Musikalischen Reisen zitiert werden, über Schinkel müßte einer von denen reden, die ihn den Königl. Geh. Oberbaurat titulieren usw. Das gäbe einen hübschen bibliographischen Spaziergang durch Berlin und würde uns immer neue Vergangenheiten der Stadt bildhaft nahebringen und im noch Sichtbaren Verschwundenes genießen lehren.
Bisher wurde Berlin vielleicht wirklich nicht genug geliebt, wie ein großer Freund der Stadt, der Bürgermeister Reicke, einmal geklagt hat. Noch fühlt man in vielen Teilen Berlins, sie sind nicht genug angesehn worden, um wirklich sichtbar zu sein. Wir Berliner müssen unsere Stadt noch viel mehr — bewohnen. Es ist gar nicht so leicht, das Ansehen sowohl wie das Bewohnen bei einer Stadt, die immerzu unterwegs, immer im Begriff ist, anders zu werden und nie in ihrem Gestern ausruht. In seinem geistvollen, aber hoffentlich doch zu pessimistischen Buch ‚Berlin, ein Stadtschicksal‘, klagt Karl Scheffler, Berlin sei heute noch wie vor Jahrhunderten recht eigentlich eine Kolonistenstadt, vorgeschoben in leere Steppe. Darum keine Tradition, daher soviel Ungeduld und Unruhe. Der Zukunft zittert die Stadt entgegen. Wie sollte man da den Bewohnern zumuten, liebevoll in der Gegenwart zu verweilen und die freundliche Rolle der Staffage im Bilde der Stadt zu übernehmen?
Wir wollen es uns zumuten, wir wollen ein wenig Müßiggang und Genuß lernen und das Ding Berlin in seinem Neben- und Durcheinander von Kostbarem und Garstigem, Solidem und Unechtem, Komischem und Respektablem so lange anschauen, liebgewinnen und schön finden, bis es schön ist.