Einleitung

Tran Nr 26

An alle Kritiker

Die erste Tugend eines jeden Kritikers sei Bescheidenheit. Bescheiden, wie der Künstler vor seinem Werke, stehe der Kritiker vor seiner Kritik. Bescheiden warte er und lasse er das Kunstwerk auf sich wirken; bescheiden horche er auf die Stimme Gottes im Kunstwerk. Bescheiden horche er ferner auf die Stimme Gottes, der durch den Künstler aus dem Kunstwerk spricht. Die erste Tugend eines jeden Kritikers sei Bescheidenheit.

Bescheiden, wie die Jungfrau zum Altare, trete der Kritiker vor das Werk hin. Nicht auf das Werk trete er, sondern nur bescheiden vor das Werk. Denn hier ist er nicht Herr, hier ist er bloß Kritiker, ein bescheidener Kritiker, ein Kritiker, der sich bescheiden muß, ein Kritiker, der Bescheid wissen muß. Er, der Künstler, durch den die Gottheit aus dessen Werke spricht, soll sein Herr sein, soll Herr des bescheidenen Kritikers sein. Und bescheiden trete der Kritiker vor das Werk hin, vor das Kunstwerk, denn hier steht er vis-à-vis der Ewigkeit. Fromm falte der Herr Kritiker seine Tintenfinger zum Gebete. Denn hier sei er Seele, nicht Herr, Seele, nicht Kritiker, Seele, bloß Kritiker, Seele, die auf die Weissagung des Propheten lauscht, etwa wie ein Ohr. Damit man ihn nicht am Ohre fasse. Bescheiden sehe sein Auge, lausche sein Ohr, taste seine Hand. Die erste Tugend eines jeden Kritikers sei Bescheidenheit.

Kurt Schwitters

Einbeck, 5.7.22.