Lieber Leser,

Voriges Jahr machte ich den Gang, den ich hier erzähle; und ich thue das, weil einige Männer von Beurtheilung glaubten, es werde vielleicht Vielen nicht unangenehm, und Manchen sogar nützlich seyn. Vielleicht waren diese Männer der Meinung, ich würde es anders und besser machen: darüber kann ich, in der Sache, nur an meine eigene individuelle Ueberzeugung appelliren; so gern ich auch eingestehen will, dass sie hier und da Recht haben mögen, was die Form betrifft.

Ich hoffe, Du bist mein Freund oder wirst es werden; und ist nicht das eine und wird nicht das andere, so bin ich so eigensinnig zu glauben, dass die Schuld nicht an mir liegt. Vielleicht erfährst Du hier wenig oder nichts neues. Die Vernünftigen wissen das alles längst. Aber es wird doch meistens entweder gar nicht oder nur sehr leise gesagt: und mich däucht es ist doch nothwendig, dass es nun nach und nach auch laut und fest und deutlich gesagt werde, wenn wir nicht in Ewigkeit Milch trinken wollen. Bey dieser Kindernahrung möchte man uns gar zu gern beständig erhalten. Ohne starke Speise wird aber kein Mann im Einzelnen, werden keine Männer im Allgemeinen: das hält im Moralischen wie im Physischen. Es thut mir leid, wenn ich in den Ton der Anmasslichkeit gefallen seyn sollte. Aber es ist schwer, es ist sogar ohne Verrath der Sache unmöglich, bey gewissen Gegenständen die schöne Bescheidenheit zu halten. Ich überlasse das Gesagte der Prüfung und seiner Wirkung, und bin zufrieden, dass ich das Wahre und Gute wollte.

Es ist eine sehr alte Bemerkung, dass fast jeder Schriftsteller in seinen Büchern nur sein Ich schreibt. Das kann nicht anders seyn und soll wohl nicht anders seyn; wenn sich nur jeder vorher in gutes Licht und reine Stimmung setzt. Ich bin mir bewusst, dass ich lieber das Gute sehe und mich darüber freue, als das Böse finde und darüber zürne: aber die Freude bleibt still, und der Zorn wird laut.

In Romanen hat man uns nun lange genug alte nicht mehr geläugnete Wahrheiten dichterisch eingekleidet, dargestellt und tausend mal wiederholt. Ich tadle dieses nicht; es ist der Anfang: aber immer nur Milchspeise der Kinder. Wir sollten doch endlich auch Männer werden und beginnen die Sachen ernsthaft geschichtsmässig zu nehmen, ohne Vorurtheil und Groll, ohne Leidenschaft und Selbstsucht. Oerter, Personen, Namen, Umstände sollten immer bey den Thatsachen als Belege seyn, damit alles so viel als möglieh aktenmässig würde. Die Geschichte ist am Ende doch ganz allein das Magazin unsers Guten und Schlimmen.

Die Sache hat allerdings ihre Schwierigkeit. Wagt man sich an ein altes Vorurtheil des Kultus, so ist man noch jetzt ein Gottloser; sondirt man etwas näher ein politisches und spricht über Malversationen, so wird man stracks unter die unruhigen Köpfe gesetzt: und beydes weiss man sodann sehr leicht mit Bösewicht synonym zu machen. Wer den Stempel hat schlägt die Münze. Wer für sich noch etwas hofft oder fürchtet, darf die Fühlhörner nicht aus seiner Schale hervorbringen. Man sollte nie sagen, die Fürsten oder ihre Minister sind schlecht, wie man es so oft hört und liest; sondern, hier handelt dieser Fürst ungerecht, widersprechend, grausam; und hier handelt dieser Minister als isolirter Plusmacher und Volkspeiniger. Dergleichen Personalitäten sind nothwendige heilsame Wagstücke für die Menschheit, und wenn sie von allen Regierungen als Pasquille gebrandmarkt würden. Das Ganze besteht nur aus Personalitäten, guten und schlechten. Die Sklaven haben Tyrannen gemacht, der Blödsinn und Eigennutz haben die Privilegien erschaffen, und Schwachheit und Leidenschaft verewigen beydes. Sobald die Könige den Muth haben werden sich zur allgemeinen Gerechtigkeit zu erheben, werden sie ihre eigene Sicherheit gründen und das Glück ihrer Völker durch Freyheit nothwendig machen. Aber dazu gehört mehr als Schlachten gewinnen. Bis dahin wird und muss es jedem rechtschaffenen Manne von Sinn und Entschlossenheit erlaubt seyn zu glauben und zu sagen, dass alter Sauerteig alter Sauerteig sey.

Man findet es vielleicht sonderbar, dass ein Mann, der zwey mal gegen die Freyheit zu Felde zog, einen solchen Ton führt. Die Enträthselung wäre nicht schwer. Das Schicksal hat mich gestossen. Ich bin nicht hartnäckig genug, meine eigene Meinung stürmisch gegen Millionen durchsetzen zu wollen: aber ich habe Selbstständigkeit genug, sie vor Millionen und ihren Ersten und Letzten nicht zu verläugnen.

Einige Männer, deren Namen die Nation mit Achtung nennt, haben mich aufgefodert etwas öffentlich über mein Leben und meine successive Bildung zu sagen: ich kann mich aber nicht dazu entschliessen. In meiner Jugend war es der Kampf eines jungen Menschen mit seinen Umständen und seinen Inkonsequenzen; als ich Mann ward, waren meine Verflechtungen zuweilen so sonderbarer Art, dass ich nicht immer ihre Erinnerung mit Vergnügen zurückrufe. Wer sagt gern, ich war ein Thor, um durch sein Beyspiel einige längst bekannte Wahrheiten eindringlicher zu machen? Als ich als ein junger Mensch von achtzehn Jahren als theologischer Pflegling von der Akademie in die Welt hinein lief, fand man bey Untersuchung, dass ich keinen Schulfreund erstochen, kein Mädchen in den Klagestand gesetzt und keine Schulden hinterlassen, dass ich sogar die wenigen Thaler Schulden den Tag vor der Verschwindung noch bezahlt hatte; und man konnte nun den Grund der Entfernung durchaus nicht entdecken und hielt mich für melancholisch verirrt, und liess mich sogar in dieser Voraussetzung so schonend als möglich zur Nachsuchung in öffentliche Blätter sezzen. Dass ein Student den Tag vorher ehe er durchgeht, seine Schulden bezahlt, schien ein starker Beweis des Wahnsinns. Ich überlasse den Philantropen die Betrachtung über diesen Schluss, der eine sehr schlimme Meinung von der Sittlichkeit unserer Jugend verräth. Dem Psychologen wird das Räthsel erklärt seyn, wenn ich ihm sage, dass die Gesinnungen, die ich seitdem hier und da und vorzüglich in folgender Erzählung geäussert habe, schon damals alle lebendig in meiner Seele lagen, als ich mit neun Thalern und dem Tacitus in der Tasche auf und davon ging. Was sollte ein Dorfpfarrer mit diesen Gährungen? Bey einem Kosmopoliten können sie auf einem festen Grunde von Moralität wohl noch etwas Gutes wirken. Der Sturm wird bey mir nie so hoch, dass er mich von der Base, auf welcher ich als vernünftiger rechtlicher Mann stehen muss, herunterwürfe. Meine meisten Schicksale lagen in den Verhältnissen meines Lebens; und der letzte Gang nach Sicilien war vielleicht der erste ganz freye Entschluss von einiger Bedeutung.

Man hat mich getadelt, dass ich unstet und flüchtig sey: man that mir Unrecht. Die Umstände trieben mich, und es hielt mich keine höhere Pflicht. Dass ich einige Jahre über dem Druck von Klopstocks Oden und Messiade sass, ist wohl nicht eines Flüchtlings Sache. Man wirft mir vor, dass ich kein Amt suche. Zu vielen Aemtern fühle ich mich untauglich; und es gehört zu meinen Grundsätzen, die sich nicht auf lächerlichen Stolz gründen, dass ich glaube, der Staat müsse Männer suchen für seine Aemter. Es ist mir also lieb, dass ich Ursache habe zu denken, es müssen in meinem Vaterlande dreyssig tausend Geschicktere und Bessere seyn als ich. Wäre ich Minister, ich würde höchst wahrscheinlich selten einem Manne ein Amt geben, der es suchte. Das werden Viele für Grille halten; ich nicht. Wenn ich Isolierter nicht strenge nach meinen Grundsätzen handeln will, wer soll es sonst?

Man hat es gemissbilligt, dass ich den Russischen Dienst verlassen habe. Ich kam durch Zufall hin, und durch Zufall weg. Ich bin schlecht belohnt worden; das ist wahrscheinlich auch Zufall: und ich bin noch zu gesund an Leib und Seele, um mir darüber eine Suppe verderben zu lassen, In der wichtigsten Periode, der Krise mit Polen, habe ich in Grodno und Warschau die deutsche und französische diplomatische Korrespondanz zwischen dem General Igelström, Pototzky, Möllendorf und den andern preussischen und russischen Generalen besorgt, weil eben kein anderer Offizier im Hauptquartier war, der so viel mit der Feder arbeiten konnte. — Sie sind noch nicht verpflichtet, sagte Igelström zu mir, als er mir den ersten Brief von Möllendorf gab, Sie haben noch nicht geschworen. Der ehrliche Mann, antwortete ich, kennt und thut seine Pflicht ohne Eid, und der Schurke wird dadurch nicht gehalten. — Man hat alten Staabsoffizieren Dinge von grosser Bedeutung abgenommen und sie mir übergeben, als Möllendorf noch die Piliza zur Gränze forderte, und als man nachher russisch die Dietinen in Polen nach ganz eigenen Regeln ordnete und leitete. Igelström, Friesel und ich waren einige Zeit die Einzigen, die von dem ganzen Plane unterrichtet waren. Ich habe gearbeitet Tag und Nacht, bis zur letzten Stunde als der erste Kanonenschuss unter meinem Fenster fiel: und mich däucht, dass ich dann auch als Soldat meine Schuldigkeit nicht versäumte, wenn ich gleich während des langen Feuers kartätschensicher zuweilen in einer Mauernische neben den Grenadieren sass und in meinem Taschenhomer blätterte. Zu den russischen Arbeiten hatte der General Dutzende; zu den deutschen und französischen, die der Lage der Sachen nach nicht unwichtig seyn konnten, niemand als mich: das wird Igelström selbst, Apraxin, Pistor, Bauer und andere bezeugen. Als der Franzose Sion ankam, waren die wichtigsten Geschäfte schon gethan. Dafür wurde mir denn dann und wann ein Geiger vorgezogen, der einem der Subows etwas vorgespielt hatte. Das ist auch wohl anderwärts nicht ungewöhnlich. Ich hatte das Schicksal gefangen zu werden. Der General Igelström schickte mich nach Beendigung der ganzen Geschichte mit einem schwer verwundeten jungen Manne, der mein Freund und dessen Vater der seinige war, nach Italien, damit der Kranke dort die Bäder in Pisa brauchen sollte. Wir konnten nicht hin, weil die Franzosen alles besetzt hatten. Die Kaiserin starb; ich konnte unmöglich an dem Tage zurück auf meinem Posten seyn, den Paul in seiner Ukase bestimmt hatte, und wurde aus dem Dienst geschlossen. Man hat in Russland wenig schöne Humanität bey dem Anblick auf das flache Land. Schon vorher war ich halb entschlossen nicht zurückzugehen, und war es nun ganz. Der Kaiser gab mir auf meine sehr freymüthige Vorstellung an ihn selbst, da ich durchaus keinen Dienstfehler gemacht hatte, endlich den förmlichen ehrenvollen Abschied, den mir der General Pahlen zuschickte. Es ist sonst Gewohnheit in Russland, Offizieren, die einige Dienste geleistet haben, ihren Gehalt zu lassen; ich erhielt nichts. Das war vielleicht so Geist der Periode, und es würde Schwachheit von mir seyn mich darüber zu ärgern. Wenn ich jetzt etwas in Anregung bringen wollte, würde man die Sache für längst antiquirt halten und der Sinn des Resultats würde heissen: Wir Löwen haben gejagt. — Ich will mir den Nachsatz ersparen. Wenn ich nicht einige Kenntnisse, etwas Lebensphilosophie und viel Genügsamkeit hätte, könnte ich den Rock des Kaisers um ein Stückchen Brot im deutschen Vaterlande umher tragen.

Ich habe mich in meinem Leben nie erniedriget, um etwas zu bitten das ich nicht verdient hatte; und ich will auch nicht einmal immer bitten, was ich verdiente. Es sind in der Welt viele Mittel ehrlich zu leben: und wenn keines mehr ist, finden sich doch einige, nicht mehr zu leben. Wer nach reiner Ueberzeugung seine Pflicht gethan hat, darf sich am Ende, wenn ihn die Kräfte verlassen, nicht schämen abzutreten. Auf Billigung der Menschen muss man nicht rechnen. Sie errichten heute Ehrensäulen und brauchen morgen den Ostracismus für den nehmlichen Mann und für die nehmliche That.

Wenn ich vielleicht noch vierzig Jahre gelebt habe und dann nichts mehr zu thun finde, kann es wohl noch eine kleine Ausflucht werden, die Winkel meines Gedächtnisses aufzustäuben, und meine Geschichte zur Epanorthose der Jüngern hervor zu suchen. Jetzt will ich leben, und gut und ruhig leben, so gut und ruhig man ohne einen Pfennig Vorrath leben kann. Es wird gewiss gehen wie es bisher gegangen ist: denn ich habe keine Ansprüche, keine Furcht und keine Hoffnung.

Was ich hier in meiner Reiseerzählung gebe, wirst Du, lieber Leser, schon zu sichten wissen. Ich stehe für alles was ich selbst gesehen habe, in so fern ich meinen Ansichten und Einsichten trauen darf: und ich habe nichts vorgetragen, was ich nicht von ziemlich glaubwürdigen Männern wiederholt gehört hätte. Wenn ich über politische Dinge etwas freymüthig und warm gewesen bin, so glaube ich, dass diese Freymüthigkeit und Wärme dem Manne ziemt; sie mag nun einigen gefallen oder nicht. Ich bin übrigens ein so ruhiger Bürger, als man vielleicht in dem ganzen Meissnischen Kreise kaum einen Thorschreiber hat. Manches ist jetzt weiter gediehen und gekommen, wie es wohl zu sehen war, ohne eben besser geworden zu seyn. Machte ich die Ronde jetzt, ich würde wahrscheinlich mehr zu erzählen haben, und Belege zu meinen vorigen Meinungen geben können.

Freylich möchte ich gern ein Buch gemacht haben, das auch ästhetischen Werth zeigte; aber Charakteristik und Wahrheit würde durch ängstliche Glättung zu sehr leiden. Niemand kann die Sachen und sich selbst besser geben, als beyde sind. Ich fühle sehr wohl, dass diese Bogen keine Lektüre für Toiletten seyn können. Dazu müsste vieles heraus und vieles hinein, und vieles müsste anders seyn. Wenn aber hier und da ein guter, unbefangener, rechtlicher, entschlossener Mann einige Gedanken für sich und andere brauchen kann, so soll mir die Erinnerung Freude machen.

Leipzig 1803.
Seume.