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  <title>Traum des 888. Nachtredakteurs</title>
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<div class="prose">

  <h3 class="center">TRAUM DES 888. NACHTREDAKTEURS</h3>

<p>
<span class="initial">U</span>ND Schahrazad bemerkte das Grauen des Tages
und hielt inne in der verstatteten Rede. Doch
als die achthundertundachtundachtzigste Nacht da war,
fuhr sie also fort: »Ich vernahm, o glücklicher 
König, daß im Lande der besoffenen Ströme 
ausnahmsweise ein geiernasiger Jüngling lebte, der gern im Schlaf
ertrank und da er wenig arbeitete, Hunger trieb. Seine
Sehnsucht und Begierde ging gleichwohl nach dem
Faulen unerreichbarer Gewürze, und wegen dieser
seiner dicken Gewohnheit nannten ihn die Ungläubigen
Schinkenstern.</p>

<p>
Als er eines Tages seinen Magen nach den 
Marzipaninseln traumwandeln ließ, überfiel ihn ein 
Schnellzug und ließ nicht ab, ihn davonzutragen, bis alle
Kohlen verdampft waren. »Dies ist nicht das Land
des Safrans und der Wohlgerüche,« jammerte der 
Entführte, als er sich nach einem wahnwitzig schrillen
Pfiff in einer robusten Halle ausgesetzt sah. Weil es
notwendig war, brach er die Dämmerung seines Geistes
ab und suchte nach einem Sofa, wo er sein Haupt
niederlegen könne. Weiter strichen seine Pläne nicht,
und indem er an einem Hotelportier vorbeiging, 
erreichte er es, mehrere Meldezettel ausfüllen zu dürfen.
Nachdem er diese Dämonen besiegt hatte, warf er sich
in den Schlaf, ob ihm vielleicht die Deutung der zu
erwartenden Träume seine innersten Gedanken 
enthülle. Doch der Schlaf spie ihn rücksichtslos, traumlos
wieder ins Leben aus, und als der Unglückliche zum
abertausendsten Male kläglich im Raume erwachte,
veranstaltete er einige Augenblicke der Besonnenheit.
Aber ehe er etliche Vernünftigkeiten ausgeheckt hatte,
verdrängte der Schrei nach einer Buttersemmel das
Gekrächz seiner Seele. Als er dann, noch 
verdauungsmatt, seinen Kopf aufzusetzen versuchte, fand sich
dieser nicht, und so beschloß er, seine Leiblichkeit 
vorläufig dem Hin und Her des Zufalls zu schenken.
Keinesfalls war er jedoch geneigt, allzu hündische 
Arbeit zu tun und wollte lieber die Verhandlungen mit
der Erde abbrechen. Er begann also über die 
Oberfläche der fremden Straßen als ein gemäßigter und
nicht ganz zielloser Spaziergänger hinzugleiten. Seine
Augen grasten ruhig die Erscheinungen ab und fielen
schließlich in die Blätter, aus denen sich zahlreiche
Toren über den Gang der Gestirne zu unterrichten
versuchten. Da schlug in ihn ein schnelles Erinnern,
und seine futterwitternde Geiernase, die ihm aus einem
Spiegel entgegengrinste, bestärkte ihn zu einer 
seellosen Zeit in gewissen Betrachtungen.</p>

<p>
Er besaß zwar keine Feder der Fülle, aber an 
Schalttagen drangen tollkluge Worte aus ihm. Wenn er auch
bezweifelte, daß diese seltenen Schalttage je sein ganzes
Jahr anstecken würden, war er sich doch einer bescheidenen
Kenntnis einiger, aber bei weitem nicht aller Gesetze
der Interpunktion bewußt, und verdammte sich kalten
Herzens dazu, von seiner Durchschnittssprache zu leben.
Dieszwecks legte er Zylinder an und ehe er sich noch
hatte warnen können, verscholl er in einem 
Verlagsgebäude. Er hätte besser getan, sich des Zephirs der
Welt zu berauben. Denn als er vor den Journalisten
der Zeit trat, zersetzte ihn der Druckgewaltige 
folgendermaßen: »Du gehörst zu den weltfremden 
Siriusochsen und bildest dir zwar nicht den Besitz des 
Stilmonopols ein, bist aber trotzdem stolz darauf, als
erster den Ipunkt unter dem I befestigt zu haben.
Ich kann jedoch nur eine rechtschreiberische 
Schreibmaschine brauchen.« Da ließ sich der Verräter 
Schinkenstern sterben, er antwortete: »O, König der Zeitung,
ich höre und gehorche. Ich war ein Ifrit von den
Marids der Dschann und bin bereit, den Eid auf das
Zeilenhonorar abzulegen. Ich habe es eilig, ins Nichts
zu hasten. Ich war mitunter die Zunge der Dinge.
Werde ich es weniger sein, wenn ich mich zur Stimme
des Rindviehs mache? Möge ich bald an einem 
Druckfehler sterben!« »Ich sehe, du gehörst zu den schwachen
Zugtieren, die, statt ein Ende zu setzen, ihren 
unüberwindlichen Magen anklagen, o Halbdichter!«
</p>

<p>
Es wird berichtet, daß der Geiernasige zunächst als
Besprechungsliterat versank, einer jener vielen 
Kritikastraten und Verschnittenen wurde, die eifersüchtig
den Harim des Ruhmes bewachen. Er ward eine kahle
Negation, legte sein Gehirn bloß, exhibitionierte mit
der raschwachsenden Glatze der Weisheit, aber seine
Seele war im Übersatz. Er schrieb nur Kartoffeln,
und die Worte der Dichter verdienten, mit Nadeln
in die Spitzen seiner Augenwinkel geschrieben zu
werden. Da bemerkte er endlich das Graue seines
Tages und hielt inne in dem verstatteten Leben. Allah
übersetze ihn nicht!</p>

</div>
</body>
</html>