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author | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2022-09-09 22:46:23 +0200 |
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committer | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2022-09-09 22:46:23 +0200 |
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Er wurde immer +»Herr Kandidat« gerufen. Er war bartlos wie ein +Schauspieler, auch sprach er so. Meist trug er eine strenge +scharfe Maske auf dem Gesicht. +</p> + +<p> +Dieser Herr Lenzlicht fand zwei Tage nach der Beerdigung des +Zöglings Martin Müller (der hatte sich vorher mit den +Strümpfen der Erzieherin Nora Neumann an dem Fensterriegel +einer Bodenluke erhängt) in einem dunklen Winkel seines +Pultes ein Schreibheft. Er nahm es heraus. Und sah es an. +Auf dem Etikett war zu lesen: Dieses Werk widmet Martin +Müller den neuen Primitiven. Auf der ersten Seite war zu +lesen: Lieber Lenzlicht, Sie sind der einzige von den +Imbezillen der Anstalt, dem ich etwas Verständnis für die +Betrachtungen zutraue, die ich hier niedergeschrieben habe. +Doch daß auch Sie an meiner Persönlichkeit, ohne deren +Kulturkraft zu fühlen, wie an einem leeren Gesicht +vorbeigerannt sind, armer Blinder, wird Ihnen die Lektüre +beweisen. Vielleicht werden Sie halbhell. (Dann wären Sie +ein Glücklicher zu nennen.) Ich werde mich jetzt in der +Dachluke zerstören, ein Einsamer in der Erkenntnis. Mein +Werk wird dauern. Martin Müller. +</p> + +<p> +Herr Lenzlicht wunderte sich, als er die Sätze las. Nachher +dachte er über Größenvorstellungen bei Knaben. Er war nicht +lustig und nicht traurig, aber er sah finster aus. Das +Denken war ihm keine Leidenschaft, deshalb las er bald +weiter. +</p> + +<p> +Auf den nächsten Seiten waren einige Abhandlungen über den +Wert der Kunst geschrieben, über ihre Zukunft, über die +Wechselwirkung der einzelnen Künste, über die Architektur +des literarischen Stils, über die neuen Primitiven, die, von +Müller ausgehend, eine siegessichere Revolution in dem +Kunstleben herbeiführen würden. Die Abhandlungen füllten das +Heft fast. Herr Lenzlicht las sie ohne regere Anteilnahme, +oft überblätterte er Seiten. +</p> + +<p> +Der letzte Aufsatz des Heftes schien ihn mehr zu +interessieren. Die Augen waren weit, sie klammerten sich an +die Schriftzeichen. Auch hielt er das Papier wie ein +Kurzsichtiger; und mit beiden Händen. Manchmal sprach er +etwas Undeutliches. Oder er lachte, ohne es zu wissen. Oder +er lachte, wie einer Donnerwetter sagt. Oder er ließ die +Zunge aus dem Mund hängen. In dem Heft war zu lesen: +</p> + +<p> +Ich sitze an dem Arbeitstisch und träume, was dem guten +Lenzlicht bedenklich erscheinen würde: Die Jungen dürfen +nicht träumen. Und dem Lenzlicht ist schon aufgefallen, daß +die Haut um meine Augen wie Asche geworden ist. Er sagt +häufig mit sonderbarer Betonung: ob ich denn schlecht +schlafe, ich sähe so komisch aus. Einmal wurde ich +ärgerlich, ich sagte: »Sie auch, Herr Kandidat.« Verlegen +lächelnd schlug er mich blutig. +</p> + +<p> +Ich mußte das Schreiben unterbrechen, weil Fräulein Neumann +hineinkam. Sie hat heute bunte Beine mit Lackschuhen, das +reizt mich. Ich hatte mir zwar vorgenommen, sie nicht mehr +zu beachten... Sie hat sich neulich so prüde gezeigt... Sie +war nachmittags in die Stadt gefahren. Sie kam spät zurück. +Ich begegnete ihr auf der Treppe. Sie riß sich aber los. Und +sagte erregt: »Bett ist Bett.« Und ging in ihre Stube. In +den folgenden Tagen sah ich sie nicht. Der Hausdiener +Hermann sagte, sie müsse das Zimmer hüten. Ich fragte, +warum. – Er sagte, sie habe sich verlobt. Er schmunzelte. +</p> + +<p> +Mir sind die erotischen Unterhaltungen allmählich ein Greuel +geworden. Immer versuche ich, frei zu werden. Es gelingt +selten. Ich weiß, daß ein begreifendes Weib mich erlösen +kann. Hier gibt es das nicht: Fräulein Neumann ist ein +albernes junges Ding von achtundzwanzig Jahren. Die Köchin +ist ein unreifes Schwein. Das Stubenmädchen Minna ist +hochmütig, sie ist ohne Grund unzugänglich. In Betracht käme +vielleicht die Leiterin, Doktor Mondmilch; aber wenn ich +einmal versuche, ihr meine Leiden und Schönheiten in ernster +Unterhaltung verständlich zu machen, sehnsüchtig auf ihre +Augen schaue, mich ihr gebe... ist sie fremd, macht Notizen, +hat geheime Unterredungen mit Lenzlicht, verordnet mir +Beruhigungsmittel. Sie ist sehr brutal, ich glaube zuweilen: +sie liebt mich heimlich. Sie scheint unglücklich zu sein, +ich habe sie gern. – +</p> + +<p> +Gestern konnte ich nicht weiterschreiben, weil der fette +Idiot Backberg mich zu Tisch rief. Ich sitze neben der +Russin Recha. Die kneift mich gern in die Beine; sie sagt, +ich sei zu dick. Den langen Lehkind küßt sie, weil er wie +ein Skelett aussieht. Überhaupt vertrage ich mich mit den +Viechern, die man hier zusammengebracht hat, nicht. Täglich +ist Ärger. Besonders der überaus kleine siebenjährige Max +Mechenmal – übrigens ein außergewöhnlich unbedeutender +Mensch – macht mir viel zu schaffen. Er mag mich nicht, weil +er meine Überlegenheit fühlt; er versucht auf jede Weise, +mich unmöglich zu machen. Er ist hinterlistig und feig. +Niemand findet ihn nett. Er tut nichts lieber, als uns +aufeinander zu hetzen, arge Klatschereien zu verbreiten, +möglichst viel Schaden anzurichten. Er versteht, sich in dem +Hintergrund zu halten, in dem geeigneten Augenblick zu +verschwinden. – +</p> + +<p> +Einmal schrieb ich, nichts Böses vermutend, in unserem +geräumigen Bade- und Klosettraum (hier bin ich vor +Überraschungen sicher) eine längere Arbeit über den +»Schwindel von dem Genie«. Ich führte etwa aus: Genie ist +ein Titel, keine Eigenschaft. Das wird nicht bedacht, +deshalb ist die große Verwirrung. Titel ist Zufallssache, +zumeist verdächtig. Wer Genie genannt wird, ist darum nicht +ein genialer Mensch. Geniale Menschen werden diesen Titel, +der von der Menge verliehen wird, regelmäßig nicht erlangen. +Die genialsten Menschen aller Zeiten sind gewiß in +Tollhäusern und Gefängnissen geborsten. Wer von tausend +Alltagsleuten verstanden wird, geliebt wird... gilt mir +nicht. – +</p> + +<p> +Da wurde ich durch das langsame, seelenvolle Geschrei des +blinden kleinen Kohn, mit dem ich trotz meiner +antisemitischen Grundsätze innig befreundet bin, erschreckt. +Ich sprang auf, eilte hinaus. Ich sah, wie Max Mechenmal hin +und her lief, den kleinen Kohn in die Beine zwickte oder +ähnliche Bosheiten tat; dabei rief er: »Fange mich.« – Der +kleine Kohn war bleicher. In seiner Hilflosigkeit. Er hielt +den Rücken gegen eine Wand. Die dünnen leidenden Hände +tasteten in der Luft... Ich habe niemals so viel +konzentrierten Schmerz gesehen, wie auf den verstorbenen +Augen des kleinen Kohn lag. Ich eilte, ohne mir Zeit zu +lassen, die Kleider in Ordnung zu bringen, auf Mechenmal zu, +um ihn für die rohe Gesinnung zu züchtigen. Meine Hose wurde +durch einen Nagel, der aus der Wand ragte, beschädigt. +Mechenmal benutzte die Verzögerung, schlüpfte an mir vorbei, +lief in den Klosettraum, den er hinter sich verriegelte. Ich +schlug an die Tür. Er sagte: »Besetzt!« Ich war sehr +ärgerlich. Mir fiel zudem ein, daß ich die Papiere, auf +denen die Arbeit über den »Schwindel von dem Genie« +geschrieben war, in der Eile vergessen hatte mitzunehmen. +Ich rief, er möge sie herausgeben. Er antwortete nicht. +Später hörte ich, wie er gewaltig kicherte. Und ich wußte: +Das Manuskript, das ich der neuen Zeitschrift »Das andere A« +einreichen wollte, werde ich nicht wiedersehen. Traurig ging +ich fort – +</p> + +<p> +Ach, der kleine Kohn ist nun leider tot. Er ist an seinen +Gespenstern gestorben, er hat mir das oft vorausgesagt. +Seine Gespenster hat er gesehen, der blinde kleine Kohn. +Manchmal, wenn heller Tag war. Dann fand man ihn zitternd +und weiß in einem Winkel. Die Beine hatte er so weit +angezogen, daß die Oberschenkel gegen die eingesunkene Brust +gepreßt waren. Zwischen den Knien lag der Kopf. Die winzigen +erschrockenen Fingerchen krampften sich um die Schuhspitzen. +Wenn man ihn berührte, schrie es aus ihm. Der Schrei war so +gellend grauenhaft, daß man unwillkürlich losließ, als hätte +man einen Stoß erhalten. Sooft das geschah, war man ratlos +wie bei dem ersten Mal. Doktor Mondmilch wurde gerufen. Sie +streichelte ihn ganz wenig. Die Starrheit löste sich in +Schluchzen auf. Er bekam Tropfen, wurde in sein Bett gelegt, +schlief schlimm. Mechenmal rief, daß es bis auf die Straße +schallte: »Kohn ist wieder verrückt.« +</p> + +<p> +In der letzten Zeit hatten sich die Anfälle gehäuft, +besonders nachts. Die Ohnmachten waren tiefer, die +nachfolgende Ermattung trostloser. Als an einem Abend Doktor +Mondmilch, einer Einladung des Tier- und Nervenarztes Bruno +Bibelbauer folgend, für längere Zeit weggegangen war, trat +die Katastrophe ein. Der kleine Kohn lag bald tot in dem +Bett. Mechenmal sagte: »Jetzt stört er einen wenigstens +nicht mehr, wenn man schlafen will.« Der fette Idiot +Backberg freute sich auf die Beerdigung. Die Köchin heulte; +und das Stubenmädchen Minna. Nora Neumann hatte sich in ein +Zimmer eingeschlossen; ich glaube, sie dichtete. Die Russin +Recha war verschwunden; nachher fand Lenzlicht sie in dem +Sterbezimmer. Sie saß auf dem Bett, hielt die eine Hand +Kohns verzückt an ihr Herz, mit der rechten Hand zog sie das +Lid seines rechten Auges hin und her. Ich hörte, wie sie +weinte und sagte: das sei so interessant. Lenzlicht +schimpfte wehmütig. +</p> + +<p> +Noch jetzt sagt Mechenmal, wenn er von dem kleinen Kohn +spricht: »Der war ja verrückt.« Ich bestreite das. Jeder +nicht stupide Mensch hat dann und wann Erlebnisse, die mit +den althergebrachten, allen zugänglichen Gesichten nicht in +Einklang zu bringen sind. Manchmal ist man feinfühliger als +sonst und als die anderen. Wenn man allein ist, die +bekannten Dinge ruhiger sind... vielleicht, wenn Abend ist, +bei einer halbhellen Lampe... in der Dämmerstunde in +einsamen Räumen... in Nächten, die keinen Schlaf tragen. Da +heben sich aus der Stille Geräusche, die ich niemals gehört +habe, die ich nicht erklären kann. Ich schrecke auf – +fürchte mich – will in die heiße Helligkeit zu vielen +lustigen Menschen – will nicht hören... höre feiner. Die +Stille reißt auseinander. Alles klafft... und klingt. +Bewegung kommt in die Gegenstände. Bösartige Schatten +ängstigen. Alle Formen verlieren ihre Gewohnheit. Ich +warte... auf ein entsetzliches Wunder, auf Unkörper. +</p> + +<p> +Ich bin ein entschiedener Feind von Geistern und Gespenstern +und ähnlichen Dingen. Ich finde diese Erscheinungen wenig +sinnig und ohne Witz, ich will nichts mit ihnen zu tun +haben. Und konnte doch nicht hindern, daß mir erst kürzlich +gegen die Mittagstunde eine antike Frauengestalt mit herben +Gesichtszügen erschienen ist. Ich war davon unangenehm +berührt. Um so mehr, als mir später einfiel, daß das +möglicherweise meine selige Mama gewesen ist. +</p> + +<p> +Es ist nicht weniger unvernünftig, die Geister zu leugnen, +als unvernünftig ist, Wunder anzuerkennen. Wenn Gespenster +alltäglich wären, würden die Philosophen ein Naturgesetz für +sie konstruieren, damit man sie daraus herleiten könnte. Und +ohne Aufregung übersehen könnte. +</p> + +<p> +Ich werde mich weiteren Grübeleien über diese verwirrten +Dinge entziehen, indem ich mir das Leben nehme. Man wird +empört sein. Mir die Berechtigung absprechen, über mich zu +verfügen. Man wird mich für überspannt erklären. Und das +medizinisch begründen. Um sich zu beruhigen; denn wenn jeder +so dächte, gäbe es bald ein allgemeines Protestieren gegen +das Dasein. Das Leben würde boykottiert. Das darf nicht +geschehen. Wenn man fragt: warum nicht? – wird man ein +Sophist gescholten. Die Leute sterben nicht gern, das heißt +Lebensenergie. Sie helfen sich mit Göttern und heiterer +Weltanschauung. Wenn einem der Jammer doch zu grell wird, +fährt er in ein besseres Irrenheim. +</p> + +<p> +Zu dem Entschluß, mich von mir zu befreien, bin ich vor +langer Zeit gekommen. Der wichtigste Beweggrund war: ich bin +mir ernsthaft unsympathisch. Ich kann zufällig nicht +aushalten, über ein ganzes Leben bei mir zu bleiben. Ich +kenne mich zu genau. Ich habe häufig geweint, daß ich von +mir nicht loskommen kann. Ich empfinde mich als eine +häßliche Last. Ich möchte in einem mutigen, ehrlichen, +reinen Jungen sein. Mein Mensch ist unwahr, unästhetisch, +plump. Ich weiß, daß der Tod mich gründlich zugrunde richten +wird; der Gedanke ist für mich Ursache zu lebhafter +Verzweiflung; ich kann ihn nicht lange denken. Ich verliere +die Fähigkeit zu atmen. Habe das Gefühl, als presse ein +Ungeheures von innen. Die Gehirntätigkeit scheint +ausgeschaltet. Die Hände ballen sich in tierischer Angst. +Ich weine trocken. Die Institution des Todes ist wohl für +manche Menschen nicht angebracht; man hätte Mittel und Wege +finden sollen, den Tod zu umgehen. Aber – das Sterben ist +eine Bagatelle. Nur darf nicht an den Tod denken, wer sein +Sterben vorbereitet. +</p> + +</div> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/02-geschichten/02-der-sieger.xhtml b/OEBPS/Text/02-geschichten/02-der-sieger.xhtml new file mode 100644 index 0000000..289f9a0 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/02-geschichten/02-der-sieger.xhtml @@ -0,0 +1,648 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8"?> +<!DOCTYPE html> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Der Sieger</title> +</head> +<body> + +<div class="prose"> + + <h3 class="center">Der Sieger</h3> + + <h4 class="center">I</h4> + +<p> +Max Mechenmal war selbständiger Geschäftsführer eines +Zeitungskioskes. Er aß und trank gern gut; er verkehrte viel +– allerdings vorsichtig – mit Weibern. Da sein Salär häufig +nicht ausreichte, ließ er sich gelegentlich Geld schenken: +von Ilka Leipke. Ilka Leipke war eine über die Maßen kleine, +aber gutgewachsene vornehme Dirne, die so sehr durch +bizarres Wesen und scheinbar unsinnige Einfälle wie durch +eigentümlich geschmackvolle Kleidung die meisten Männer und +Mädchen erregte. Fräulein Leipke liebte den kleinen Max +Mechenmal. Sie nannte ihn ihren süßen Zwerg. Max Mechenmal +ärgerte sich zeitlebens, daß er klein war. +</p> + +<p> +Max Mechenmal entstammte einer leider verarmten Familie. Er +hatte in einer Anstalt für schwachsinnige Kinder eine +vorzügliche Erziehung genossen, bis man ihn sehr frühzeitig +gewaltsam entfernte. Die Gründe sind nicht überliefert; doch +scheint die Entlassung mehr auf der Verarmung der +Mechenmalschen Angehörigen zu beruhen als auf seiner +unzweifelhaften Unausstehlichkeit. Er trieb sich eine Weile +wohnungslos herum, da sich die Familie nicht mehr um ihn +kümmerte. Den Lebensunterhalt erwarb er in der Hauptsache +durch belanglose Diebstähle. Einmal griff ihn die Polizei +auf. Er wurde in ein Heim für verwahrloste Kinder gebracht. +In dem Heim wurde er zu einem Schlosser ausgebildet. Er +verstand, sich bei den Vorgesetzten durch außergewöhnliche +Geschicklichkeit und Bereitwilligkeit einzuschmeicheln. Im +geheimen quälte er die jüngeren und schwächeren Kameraden; +oder er hetzte die Stärkeren gegenseitig auf. Er hatte +keinen Freund; als er ausgelernt hatte und entlassen wurde, +waren die anderen froh. +</p> + +<p> +Die ungewöhnliche Fertigkeit, die Max Mechenmal infolge +seiner technischen Begabung in dem Anfertigen von Schlüsseln +und dem Öffnen der schwierigsten Schlösser erlangt hatte, +hätte er am liebsten benutzt, großartige Einbruchsdiebstähle +zu begehen; er wäre gern ein berüchtigter Verbrecher +geworden. Der Erlös der Einbrüche hätte ihn instand gesetzt, +sich elegant zu kleiden, mit Weibern zu protzen. Die +krankhaft gesteigerte Furcht, ergriffen zu werden, hinderte +ihn. Er begnügte sich, Töchter und Mägde der Meister, bei +denen er arbeitete, zu verführen, gefahrlose +Gelegenheitsdiebstähle zu verüben. Sein Ehrgeiz war +unbefriedigt. +</p> + +<p> +Durch einen Zufall veränderte sich die Lebensrichtung +Mechenmals. Feierabend war. Müde und mißmutig ging er die +Straßen. Lichter waren kaum sichtbar, obwohl es heftig +dunkelte. In einem feinen Parterrezimmer ordnete eine ältere +Dame die Falten ihres Leibes. Vor einem Keller sangen +schmutzige kleine Mädchen das Lied von der Lorelei. Wie +schwarze Tafeln mit hellen Kreuzen waren die Fenster in die +bleichen, einschlafenden Häuser gegraben. Die Häusermassen +glichen großen, abenteuerlichen Schiffen, die vor Anker +liegen oder hinausgleiten in ein fernes winkendes Meer. Der +kleine Schlosser dachte an die letzten sechs Geliebten. +Fielen ihm gräßlich umränderte blaue Augen eines häßlichen +verbuckelten Herrn auf, der ihn lächelnd, mit merklichem +Behagen, dennoch etwas ängstlich betrachtete. Der Schlosser +dachte: Nanu – Spaßeshalber blieb er stehen; blickte mit +pfiffigen Äuglein, die wie blanke schwarze Knöpfe auf seinem +Gesicht glänzten, den noch kleineren Herrn kokett an. Der +wurde verlegen; nahm den Hut von dem Kopf; sagte stotternd, +sein Name sei Kuno Kohn... und er bäte um Entschuldigung... +Viel mehr war nicht zu verstehen. Der Bucklige barg einen +Teil des Gesichts hinter dürren Fingern. Er hüstelte. War +eilig weitergegangen. Der Schlosser dachte: Nanu – Er ging +seines Wegs. +</p> + +<p> +Da wurde er an dem Arm gezupft. Er wandte das Gesicht: Der +Bucklige stand wieder bei ihm, noch etwas ohne Atem von +raschem Gehen. Kuno Kohn war ganz rot, aber er konnte ohne +Unterbrechung sagen: »Verzeihen Sie, daß ich Sie noch einmal +belästige; ich weiß immer erst nachher, was ich sagen +wollte.« Das redete er übermäßig laut, um die Verlegenheit +zu überwinden. Dann sagte er: »Vielleicht haben Sie Zeit... +Vielleicht darf ich Sie einladen, mit mir ein Gasthaus +aufzusuchen... Oder... Sie haben doch noch nicht zu Abend +gegessen...« Der Schlosser wendete nichts gegen den +Vorschlag ein. +</p> + +<p> +In einer mächtigen Kneipe ließ Kuno Kohn für Max Mechenmal +Essen und Bier bringen. Er selbst aß nicht, er trank wenig. +Er sah gern zu, wie es dem Schlosser schmeckte. Streichelte +ihn später auch wohl manchmal zaghaft an dem Kinn. Dem +Schlosser gefiel das. Sie sprachen zunächst von dem Elend +des Daseins, von der Ungerechtigkeit des Schicksals. Als +Mechenmal das dritte Glas Bier trank, brüstete er sich mit +seinen Geliebten. Das war dem buckligen Menschen sogar +unangenehm. Bisher hatte er den Schlosser erzählen lassen. +Und seine Teilnahme allein dadurch bekundet, daß er +zustimmend die blauen Augen theatralisch schloß, wodurch für +Sekunden nur große jämmerliche Schatten sichtbar waren, oder +mit dem unförmigen Kopf langsam wackelte oder mitleidsvoll +auf die Schenkel Mechenmals die nervösen Finger drückte. +Jetzt fing er an, eigene Meinungen zu äußern. Er schimpfte +auf die Weiber. Mit einer Stimme, die in jedem Augenblick +aus Erregung überzuschnappen schien. Stellte den Grundsatz +auf: Wer das Unglück habe, Weib zu sein, möge den Mut haben, +Hure zu werden. Die Hure sei das Weib in Reinkultur. +Übrigens sei der Verkehr mit Weibern mehr oder minder +entwürdigend. Als sie die Kneipe verließen, legte Kuno Kohn +den harten elenden Knochen, der sein Unterarm war, auf den +saftigen, muskulösen Unterarm Mechenmals. Ein goldenes +Armband fiel auf das Handgelenk des Buckligen. Unterwegs +forderte Kuno Kohn Mechenmal auf, bei ihm die Nacht zu +verbringen. Der Schlosser ging auf das Anerbieten ein. +</p> + +<p> +Kuno Kohn bewohnte in einem Gartenhaus einer westlichen +Nebenstraße ein großes Zimmer, in dem nichts auffiel. Nur +das Bett war ungewöhnlich breit, fast prunkhaft. Auf den +Kissen lagen gelbliche und rote Blumen. Vor einem Fenster +stand ein Schreibtisch; auf ihm waren einige Bücher, +vielleicht Beaudelaire, George, Rilke; daneben und +dazwischen lagen Papierbogen, die anscheinend mit +vollendeten und unvollendeten Gedichten und Abhandlungen +beschrieben waren. Auf einem Brett an einer Wand standen +Bände Goethe, Shakespeare, eine Bibel eine Homerübersetzung. +Auf Tischen und Stühlen lagen wohl einige Zeitschriften und +Kleidungsstücke. Irgendwo waren vergilbte stille +Photographien von alten Leuten und Kindern. Der Schlosser +sah alles neugierig an. +</p> + +<p> +Bald saßen sie. Die Unterhaltung, die erst lebhaft war, +stockte allmählich. Kuno Kohn drehte die Lampe klein. Später +redete er weich und flehend dem Schlosser zu. Nachher bot er +ihm das Bett an. Er selbst werde auf dem Sofa schlafen. Der +Schlosser war einverstanden. +</p> + +<p> +Kuno Kohn verschaffte seinem Freund Mechenmal eine +untergeordnete Stellung bei einem Zeitungsverlag. +Überraschend schnell arbeitete sich Mechenmal in den neuen +Beruf ein, erlangte sehr bald genügende kaufmännische +Kenntnisse. Wechselte Stellungen. Erreichte durch Energie +und allerhand Gemeinheiten, daß er schon nach einem Jahr und +wenigen Monaten als selbständiger Geschäftsführer eines +Zeitungskioskes eine Vertrauensstellung bekleidete. +</p> + + +<h4 class="center">II</h4> + +<p> +Durch die angenehme Art zu sprechen wie durch sein +intelligentes Puppengesicht hatte sich der ehemalige +Schlosser bald eine unverhältnismäßig große Stammkundschaft +erworben, zu dem größten Teil weiblichen Geschlechts. +Morgens umstanden seinen Kiosk ein Dutzend Verkäuferinnen +eines nahen Warenhauses, die absichtlich zu früh gekommen +waren, um sich über die Zoten und fidelen Glossen des Herrn +Mechenmal zu freuen. Der Bankbeamte Leopold Lehmann, der +stets pünktlich um acht Uhr kam, um illustrierte Witzblätter +und theologische Streitschriften zu kaufen, wurde manchmal +ungeduldig, weil die lustigen Verkäuferinnen ihn bei dem +Aussuchen störten. Und der Gymnasiast Theo Tontod, der +unermüdlich, in der Regel vergeblich, nach der modernen +Zeitschrift: »Das andere A« fragte, kam oftmals zu spät in +die Schule. – Gegen Mittag erschien fast täglich die +Choristin Mabel Meier an dem Arm eines alten Mannes. Sie +kaufte bunte, pikante Zeitschriften oder gefühlvolle mit +langen lyrischen Gedichten. Der alte Mann, der immer +wehleidig blickte, bezahlte seufzend. Sie verhielt sich +Mechenmal gegenüber zurückhaltend. – Manchmal kam auch Mieze +Maier, ein Backfisch, und fragte, ob Herr Tontod dort +gewesen sei. Einmal blieb Mieze Maier länger; von der Zeit +an häufiger. – Zu unbestimmten Stunden war ein dickes +gemütliches Dienstmädchen des Kaufmanns Konrad Krause an dem +Kiosk. Und sagte zu Mechenmal, er sei hübsch; er habe +leidenschaftlich schwarze Augen und einen Knutschmund; ob er +Sonntags nicht Laune habe, tanzen zu gehen; es liebe ihn +sehr. Mechenmal antwortete, er werde die Neigung von +Fräulein Frida gelegentlich erwidern. Das Dienstmädchen +erinnerte ihn peinlich oft an sein Versprechen. – An jedem +Dienstagnachmittag forderte ein sonderbarer Herr Simon, der +in einem offenen Sanatorium wohnte und stets von einem +Wärter begleitet wurde, Zeitschriften für Bestattungswesen; +wenn nicht genügend vorhanden waren, entfernte er sich sehr +ungehalten und auf die Krematorien schimpfend. – Auch Kuno +Kohn kam mehrmals in jeder Woche; seltener, um zu kaufen, +hauptsächlich um seinen Freund zu besuchen und für die +Abende Zusammenkünfte zu verabreden. – Studenten, Damen, +Offiziere, Arbeiter kauften ihre Zeitungen. Nur Ilka Leipke +war trotz wiederholter Aufforderungen Mechenmals nicht zu +bewegen, zu dem Kiosk zu kommen. +</p> + +<p> +Das war eine Laune von Ilka Leipke. Sie hatte ja viel Zeit +und klagte dem Geliebten manches Mal, die Tage seien noch +langweiliger als die Nächte. Auch liebte Ilka Leipke ihren +süßen Zwerg nicht etwa weniger als in den ersten Zeiten +ihrer Bekanntschaft. Obwohl Mechenmal sie immer herrischer +behandelte, immer gemeiner zu ihr wurde. Zuletzt machte ihm +Freude, wenn sie weinte; er war niemals zufrieden, ehe er +sie dazu gebracht hatte. Dann vergnügte er sich, sie wieder +zu trösten. Hinterher war er allerdings sehr gut zu ihr, er +liebte sie im Grunde. Er ließ sich von Ilka Leipke sanft +streicheln und küssen. Er war ein bißchen größer als sie, +aber sie hatte ihn auf ihrem Jungenleib wie ein Kind. Sie +erzählten einander. Sie lachten. Sie küßten. Viele Male +untersuchten sie die Geschichte ihrer Begegnung. Sie +entdeckten tausend neue Einzelheiten oder logen sich solche +vor, weil dies schön war. Das Fräulein suchte aus einem +Kästchen, in dem kleine Sachen lagen, einen +Zeitungsausschnitt hervor, auf dem zu lesen war: +</p> + +<p class="border indentrl w25"> + <span class="center larger dispblock">Heiratsgesuch.</span><br /> +Ein junger, etwas kleiner, sehr hübscher Mann, des +Alleinseins müde, erstrebt gleichartige Dame zwecks +ehrenwerter Heirat. Auf größeres Vermögen wird gesehen.<br /> +Freundliche Offerten nimmt entgegen Max Mechenmal. +</p> + +<p> +Oder Herr Mechenmal nahm aus der Brieftasche ein blaues +Briefchen mit lilaroten Tupfen, das er schmunzelnd dem +Fräulein hinhielt. Fräulein Leipke las dann wohl mit leiser, +verliebter Stimme: +</p> + +<p class="txtindent"> + <span class="center dispblock">Sehr geehrter Herr!</span> +Soeben Ihr Heiratsgesuch gelesen. Mit Vermögen kann ich zu +meinem Bedauern nicht aufwarten. Ich meinerseits würde +dagegen gern auf das Heiraten Verzicht leisten, das ich noch +nicht nötig habe. Ich bin von Beruf Weib (Berufsweib). Auch +meine Statur ist klein (aber oho!). Ich bin der Kavaliere +müde, suche mich deshalb nebenbei mit einem regulären Mann +in Verbindung zu setzen. Sollte Ihnen mein Erbieten genehm +sein, senden Sie mir bitte Ihre Photographie. Ich verbleibe +Ihre ergebene<br /> + <span class="fright">Ilka Leipke.</span><br /> +</p> + +<p class="clear"> +Wenn sie sich genug angefaßt und geküßt hatten, erfanden sie +Spiele. Ilka Leipke machte sehr talentvoll dem selig +kichernden Mechenmal vor, wie sich ihre Freundinnen in +entsprechender Lage verhalten würden. Sie krümmte sich in +den überraschendsten Stellungen. Verbog das Gesicht zu den +komischsten Grimassen... Mechenmal konnte stundenlang +erdachte Namen hersagen, mit denen er bestimmte Teile ihres +Körpers in Gegenwart anderer bezeichnen wollte, ohne daß +diese merken sollten, was er meinte. – So vergingen die +Abende und Nächte, in denen Ilka Leipke sich für ihren +Freund freigemacht hatte. Oft fehlte dem Mechenmal die Zeit, +nach Hause zu gehen. Dann stand sie auf, wenn er noch +schlief. Kochte Kaffee. Holte in Morgenschuhen und nur mit +einem alten Theatermantel bedeckt von einem Bäcker Backwerk. +Legte eine weiße Decke auf den Tisch. Ordnete alles +appetitlich. Machte einige Brote zurecht – zum Mitnehmen. +Verschwand wieder in ihrem Bett, wo sie bis in den +Nachmittag hinein schlief. Mechenmal aber eilte etwas +abgespannt und müde, doch in gehobener Stimmung zu seinem +Kiosk. +</p> + +<h4 class="center">III</h4> + +<p> +Später Abend kroch wie eine Spinne über die Stadt. In dem +Schein der Kohnschen Lampe war der etwas über den Tisch +gebeugte Oberkörper Kuno Kohns. Auf dem Sofa lag, den +Lampenkreis durchbrechend und aus ihm herausgelehnt, der +halbfinstere Max Mechenmal. Fenster blinkten in üppigem, +fließendem Schwarz. Aufgeschwollen und verschwommen ragten +einige Gegenstände aus der Dunkelheit. Das offene Bett +leuchtete weiß. Kohns Hände hielten beschriebenes Papier. +Seine Stimme tönte leise, schwärmerisch, in singendem +Pathos. Er wurde oft heiser und hustete, wie einer, der viel +gelesen hat. Zu hören war: »Die alten, prächtigen +Geschichten von Gott sind totgeschlagen. Wir dürfen ihnen +nicht mehr glauben. Aber die Erkenntnis des Elends, glauben +zu müssen, bedrängt uns – die Sehnsucht nach neuem, +stärkerem Glauben. Wir suchen. Wir können nirgends finden. +Wir grämen uns, weil wir hilflos verlassen sind. Komme doch +einer, lehre uns Ungläubige, Gottsüchtige.« Kohn war +erwartungsvoll still. Mechenmal hatte sich während des +Vorlesens insgeheim amüsiert. Jetzt platzte er vernehmlich. +Er sagte dann: »Nimm mir das nicht übel, Kohnchen. Aber du +hast doch komische Einfälle. Das ist doch verrückt.« Kohn +sagte: »Du hast kein Gefühl. Du bist ein oberflächliches +Wesen. Im übrigen ist sicher, daß auch du psychopathisch +bist.« Max Mechenmal sagte: »Was heißt das?« Kuno Kohn +sagte: »Das wirst du schon noch merken.« Max Mechenmal sagte +nur: »Ach so.« Er ärgerte sich, daß ihn Kuno Kohn +oberflächlich genannt hatte. Er dachte an Ilka Leipke. +</p> + +<p> +Da sagte Kuno Kohn: »Der Tod ist ein unerträglicher Gedanke. +Für uns Gottlose. Wir sind verdammt, ihn in hundert Nächten +vorzuerleben. Und finden keinen Weg über ihn...« Er schwieg +schwer. Mechenmal wollte seinem Freund Kohn beweisen, daß er +sogar über abseitige Probleme sich äußern könne. Er +überlegte. Und sagte: »Ich habe eine andere Auffassung, +Kunlein Kohnchen. Allerdings ist das Gefühlssache. Auch ich +zähle mich Gott sei Dank zu den Gottlosen. Gott ist Quatsch. +Darüber ein Wort zu verlieren ist eines denkenden Menschen +unwürdig. Aber ich, höre, habe Gott nicht nötig – nicht zu +dem Leben, nicht zu dem Sterben. Tod ohne Gott ist +wunderschön. Er ist mein Wunsch. Ich denke mir herrlich, +einfach tot zu sein. Ohne Himmel. Ohne Wiedergeburt. Radikal +tot. Ich freue mich darauf. Das Leben ist für mich zu +anstrengend. Ist zu aufregend...« +</p> + +<p> +Er wollte weiterreden. An die Türe wurde geklopft. Kohn +öffnete. Ilka Leipke trat hastig hinein. Sie sagte: »Guten +Abend, Herr Kohn. Entschuldigen Sie, daß ich störe.« Sie +schrie zu Mechenmal: »Hier also ertappe ich dich. So +verlässest du mich. Du benutzest nur meinen Leib. Meine +Seele hast du niemals gefaßt.« Sie weinte. Sie schluchzte. +Mechenmal versuchte, sie zu beruhigen. Das erregte sie noch +mehr. Sie rief: »Mit einem krummen Kohn mich zu betrügen... +Ich werde Sie bei der Polizei anzeigen, Herr Kohn. Schämen +Sie sich – ihr Schweine...« Sie hatte einen Weinkrampf. Kuno +Kohn war unfähig, etwas zu erwidern. Mechenmal riß sie von +dem Boden, auf den sie sich schreiend geworfen hatte. Er +sagte mit veränderter harter Stimme, ihr Benehmen sei +ungehörig. Sie habe keinen Grund zu Eifersucht. Er sei sein +freier Herr. Da sah Ilka Leipke den buckligen Kohn demütig +wie ein geschlagenes Hündchen an. War ganz still. Folgte dem +erbosten Mechenmal hinaus. +</p> + +<p> +Als Kohn allein war, wurde er allmählich wütend. Er dachte: +Solch freche Person... Und in Zwischenräumen: Wie sich die +Kuh aufgeregt hat. Wie eifersüchtig sie auf mich ist. Eins +der seltenen Weiber, die mir behagen... und wählt das +Tierchen Mechenmal. Das ist scheußlich – +</p> + +<p> +In der Frühe des nächsten Tages stand Kuno Kohn, zitternd +wie ein Schauspieler, der Lampenfieber hat, in dem Salon des +Fräulein Leipke. Fräulein Leipke las, als die Zofe die Karte +Kuno Kohns brachte, gerade die verbotene Broschüre: »Der +Selbstmord einer schicken Dame. Oder wie eine schicke Dame +Selbstmord begeht.« Sie hatte verweinte Augen. Als sie die +ganze Broschüre gelesen hatte, puderte sie sich frisch. +Endlich erschien sie, nur durch ein seidenes Morgenkleid +verhüllt, in dem Salon. Kuno Kohn war rot bis an die Ohren. +Er sagte stöhnend, er sei gekommen, den gestrigen Auftritt +zu entschuldigen. Fräulein Leipke tue ihm unrecht, sie kenne +ihn zu flüchtig. Er habe immerhin innere Werte. Dann sprach +er lobend von seinem Freund, dem guten Mechenmal; ließ aber +durchblicken, daß diesem leider ein ausgebildetes +Gefühlsleben mangele. Fräulein Leipke sah ihn mit lockenden +Augen an. Er brachte das Gespräch auf die Kunst. Dann +brachte sie das Gespräch auf ihre Beine; sie sagte +freimütig, sie habe ihre Beine selbst gern. Sie hatte das +Morgenkleid etwas zurückgeschlagen. Kuno Kohn hob es mit +scheuen Händen vorsichtig höher – +</p> + +<p> +Als Abend geworden war, saß Kuno Kohn verträumt in seinem +Zimmer. Er schaute aus dem offenen Fensterloch. Vor ihm fiel +die graue Innenwand des Hauses hinunter, in kurzem Abstand. +Mit vielen stillen Fenstern. Himmel war nicht, nur +schimmernde Abendluft. Und wenig weicher Wind, der fast +nicht zu fühlen war. Die Wand mit den Fenstern glich einem +schönen, traurigen Bild. War gar nicht langweilig, darüber +wunderte sich Kuno Kohn. Er stierte immer tief in die Wand. +Lieb sah sie aus. Zutraulich. Voll von Einsamkeit. Er dachte +heimlich: Das macht der Wind, der um die Wand ist. Er sang +innen: Komm, Geli...iebte – Klingeln erschreckte ihn. +</p> + +<p> +Der Postbote brachte einen Brief von dem Klub Clou. Der Klub +Clou forderte Herrn Kohn auf, als Gast des Klubs an einem +bestimmten Abend aus seinen Werken vorzulesen. +</p> + +<h4 class="center">IV</h4> + +<p> +Acht Tage vor dem Vortragsabend war auf den Anschlagsäulen +der Stadt ein Plakat. Auf ihm konnte man lesen: +</p> + +<p class="border indentrl w18"> +<span class="center larger dispblock">Voranzeige.</span><br /> + +Kuno Kohn wird in dem Klub Clou aus +eigenen Werken vorlesen. Junge Mädchen +und Rechtsanwälte höflichst verbeten. +</p> + +<p> +Je näher der Abend der Vorlesung herannahte, desto +aufgeregter wurde Kuno Kohn. Zwei Stunden vorher ließ er +sich rasieren. Als der Mann fragte, ob der Herr Puder +beliebe, sagte Kohn kopfschüttelnd: »Ja –« Eine Stunde +vorher verlangte Kohn in einem Polizeibureau zehn +Fünfpfennigmarken und eine Zehnpfennigkarte. +</p> + +<p> +Als Kohn das Podium betrat, war er ruhiger, als er erwartet +hatte. Zuerst versprach er sich manchmal. Aber seine Stimme +wurde allmählich fest und deutlich. Der kleine Saal war +wenig besucht; doch waren einige Kritiker der großen, +maßgebenden Presse erschienen. Einer erklärte an dem +nächsten Tage in der verbreiteten »Alte Bürgerzeitung«: Die +Dichtungen, die der um seines Gebrestes willen +bedauernswerte Dichter Kohn in einem dürftig besuchten Saal +zu Gehör gebracht habe, seien zwar noch nicht reif für die +Öffentlichkeit; hingegen könne man später einmal, wenn der +Kohn sich geklärt habe, einiges von seiner Muse erwarten. – +Ein anderer verkündete in der »Zeitung für erhellte Bürger«: +Der Gesamteindruck sei ein erfreulicher, doch seien die +Dichtungen nicht gleichmäßig gelungen. Auch habe der Dichter +nicht gut vorgelesen. Jedoch sei die erste Zeile des ersten +Verses des Gedichtes »Der Komiker« von einer erschütternden +Prägnanz in Ausdruck und Gefühl. +</p> + +<p> +Nach der Vorlesung dankte der Vorsitzende des Klubs, der +begabte Doktor Bryller, dem Dichter, den er ein kommendes +Genie nannte. Eins der wenigen, die er persönlich kenne. +Ilka Leipke hatte sich trotz des Verbotes der jungen Mädchen +den Zutritt auf irgendeine Weise verschafft. Auch Mechenmal, +der zuerst gesagt hatte, er werde nicht kommen, war +erschienen. In der Pause hatte er aber erklärt, er habe +Hunger. Und er gehe jetzt. Ob sie noch nicht genug von dem +Unsinn habe. Wenn sie nicht mitkommen wolle, möge sie +dableiben. Sie scheine sich plötzlich für Kohns Buckel zu +interessieren. Er wünsche viel Glück. Und ob er den Kuppler +spielen solle. Er ging wirklich. Ilka Leipke weinte ein +bißchen für sich, blieb bis zuletzt. Sie klatschte +begeistert. Sie hatte Kohn an diesem Abend lieb. Nahm ihn in +sonderbarer Stimmung in ihre Wohnung. +</p> + +<p> +Gegen Morgen hüpfte ein kleiner buckliger Herr wie ein +Ballettänzer auf grauen unsicheren Straßen... +</p> + +<p> +Kuno Kohn vermied von nun an Begegnungen mit Mechenmal. Er +lud ihn nicht mehr ein. Zeitungen kaufte er in einem anderen +Kiosk. Dem Mechenmal war das ganz recht. Seine Geliebte +hatte ihm mit aufreizendem Lächeln erzählt, daß sie eine +schöne Nacht mit dem Buckligen in ihrem Schlafzimmer verlebt +habe. Der Buckel sei ihr nicht unangenehm gewesen, er sei +nicht so groß und häßlich, wie er bei oberflächlicher +Betrachtungsweise erscheine. Man könne sich sehr an einen +Buckel gewöhnen. – +</p> + +<p> +Mechenmal war wütend auf Kohn. Zu Ilka Leipke wurde er +zärtlicher und nachgiebiger. Er zeigte ihr seine Eifersucht +nicht, erwähnte nie den Namen des Nebenbuhlers. Ilka Leipke +war glücklich. Sie dachte an die betrunkene Nacht mit Kohn +nicht mehr. Kohn war ihr jetzt nicht weniger zuwider als +früher, sie wies weitere Bemühungen des Dichters +gleichgültig zurück. Mechenmal gegenüber tat sie, als sei +sie noch immer sehr verliebt in Kohn. Einmal aber konnte sie +einen unanständigen Witz über Kohn und seinen Buckel nicht +unterdrücken. Mechenmal lachte herzlich. +</p> + +<p> +Kohn war traurig an ein Meer gefahren. Ein Verleger hatte +ein unerwartet günstiges Angebot gemacht und Vorschuß +gezahlt. Mechenmal fand zufällig ein Gedicht, das Kohn von +dem Meer an Ilka Leipke geschickt hatte. Er las: +</p> + +<p class="spaced"> +Lied der Sehnsucht. +</p> + +<p class="stanza"> +Die Falten des Meeres platzen wie Peitschen auf meiner Haut.<br /> +Und die Sterne des Meeres reißen mich auf. +</p> + +<p class="stanza"> +Von schreienden Wunden ist der Abend des Meeres Einsamen.<br /> +Aber die Liebenden finden den guten verträumten Tod. +</p> + +<p class="stanza"> +Sei bald da, Schmerzäugige. Das Meer tut so weh.<br /> +Sei bald da, Liebleidende. Das Meer erschlägt mich so. +</p> + +<p class="stanza"> +Deine Hände sind kühle Heilige. Hüll mich mit ihnen. Das Meer brennt auf mir.<br /> +Hilf doch... Hilf doch... Deck mich. Rette mich. Heil mich, Freundin. +</p> + +<p class="stanza"> +Mutter – du... +</p> + +<p> +Er zerriß es. Ilka Leipke war entrüstet. Sie sagte, +Mechenmal sei grob. Der Kleine hatte sie bald durch +Liebkosungen besänftigt. Später setzte er sich an den +Schreibtisch des Fräulein. Er nahm einen ihrer Briefbogen +und schrieb: +</p> + +<p class="txtindent"> + <span class="center dispblock">An Kuno Kohn.</span> +Fräulein Leipke, meine Braut, läßt dir hierdurch sagen, daß +sie auf weitere Gedichte gern verzichte; sie erfüllen ihren +Zweck bei weitem nicht. Meine Braut hat mir alles erzählt. +Sei versichert, daß deine Liebesbewerbungen auf uns +lächerlich wirken.<br /> + <span class="fright">Max Mechenmal.</span><br /> +</p> + +<p class="clear"> +Als Mechenmal den Brief in den Postkasten gesteckt hatte, +wurde er unruhig. Er fürchtete, unvorsichtig gehandelt zu +haben.</p> + +<p> +Kohn kam sofort zurück. Er lief zu Ilka Leipke. Zeigte den +Brief. Fragte heulend, ob sie die Nacht mit ihm vergessen +habe. Sie sagte: »Ja.« Er jammerte. Er weinte unverständlich +von Seele und Selbstmord. Ilka Leipke wies ihn hinaus. Seine +Schwachheit war ihr lästig; sie hatte schon als Kind nicht +mit ansehen können, wenn jemand weinte. +</p> + +<p> +Aber sie ärgerte sich über Mechenmal. Sie fing an, ihn +wieder mit Kohn zu necken. Behauptete, Kohn sei häufig ihr +Gast; und sie finde ihn immer noch nett. Mechenmal hielt +ihre Erzählungen für wahr. Er haßte den Kohn jetzt. +</p> + +<p> +Er überlegte, wie er den Buckligen beseitigen könne, ohne +daß er als der Beseitiger hervortrete. Nach nicht viel Zeit +hatte er wohl das Rezept gefunden. An einem Sonntag starb +Kohn. Plötzlich, aber ohne auffallende Nebenumstände. Sein +Leichnam wurde anstandslos für die Beerdigung freigegeben. +In der Zeitschrift »Das andere A« widmete Theo Tontod dem +Dichter einen kürzeren Nachruf. Und der Klub Clou schickte +einen Kranz. Ilka Leipke ließ sich nicht nehmen, die Leiche +vor der Bestattung noch einmal zu betrachten. Der Sarg wurde +bereitwillig geöffnet. In ihm lag Kohn infolge des Buckels +etwas schief. Die Gesichtszüge waren fratzenhaft gezerrt. +Die Hände waren geballte Klumpen. An der Nase klebte +geronnenes Blut, hing über den geöffneten Mund. Ilka Leipke +überwand den Ekel. Sie ließ Benzin kommen, nahm ein seidenes +Tüchlein aus der zierlichen Handtasche, tauchte es in die +Benzinflasche. Säuberte mit dem Tüchlein die tote Nase. Dann +ging sie hinweg. Beruhigt und etwas weinend. Zufrieden mit +ihrer Güte. +</p> + +<p> +Als Mechenmal von dem Tod Kohns hörte, wurde er sehr +ängstlich. Er konnte sich in der Stube nicht ertragen. Und +ging eiligst aus dem Haus, nicht ohne vorher eine Zigarre in +Brand gesteckt zu haben. Kirchenglocken klangen von dem +sonnigen Himmel. Mechenmal war kalt und bleich. Er dachte +immerzu: Wenn es nur nicht herauskommt. Oder er überlegte, +wohin er fliehen könne. Er dachte an Gerichtsverhandlung, an +Verteidiger, an Zuchthaus, Ketten, Kassiber, Henker. Daß er +als letzte Gnade erbitten würde, noch einmal mit Ilka Leipke +schlafen zu dürfen. Er lief durch die Straßen, als suche er +einen einzuholen. Wenn er daran dachte, daß er nicht +auffallen dürfe, ging er plötzlich zu langsam. Ihm schien, +als beobachteten ihn alle Leute. +</p> + +<p> +In einem Garten rangen zwei etwa fünfzehnjährige Mädchen. +Als sie Mechenmal sahen, setzten sie sich flink auf eine +Bank. So ließen sie ihn näher kommen. Als er dicht genug +war, lachten sie ihn an; eine zappelte mit den Beinen. Er +eilte vorüber. Da schrie eine hinter ihm her: »Sieh doch, +wie rasch der Mann geht.« Und die andere schrie, ebenso +ratlos: »Na ja. Er raucht.« Sie sahen ihm noch nach. Dann +rangen sie wieder. +</p> + +<p> +Mechenmal beruhigte sich allmählich. Er dachte: Man kann mir +nichts beweisen. Ich leugne alles. Hoho! Wer kann mir etwas +beweisen... Selbst wenn sie überhaupt etwas merken! – Er +warf die Zigarre weg. Er fühlte sich sicherer. Er pfiff vor +sich hin bei dem Gedanken, daß Kohn sich nicht mehr rühren +könne. Daß er, Max Mechenmal, die Schwierigkeit Kohn so +gründlich überwunden habe. Er dachte daran, daß er das Leben +richtig anpacke. Daß ihm alles glücke. Er hatte gewaltiges +Zutrauen zu sich. Er dachte: Nur keine Sentimentalitäten. Um +anständig leben zu können, muß man ein Schuft sein. +</p> + +<p> +Er ging ganz lustig nach Hause. +</p> + +</div> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/02-geschichten/03-cafe-kloesschen.xhtml b/OEBPS/Text/02-geschichten/03-cafe-kloesschen.xhtml new file mode 100644 index 0000000..3ded269 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/02-geschichten/03-cafe-kloesschen.xhtml @@ -0,0 +1,564 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8"?> +<!DOCTYPE html> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Café Klößchen</title> +</head> +<body> + +<div class="prose"> + + <h3 class="center">Café Klößchen</h3> + + <h4 class="center">I</h4> + +<p> +Lisel Liblichlein war aus der Provinz in die Stadt gekommen, +weil sie Schauspielerin werden wollte. Zu Haus empfand sie +alles spießig, eng, verblödend. Die Herren waren dumm. Der +Himmel, das Küssen, die Freundinnen, die Sonntagnachmittage +wurden unerträglich. Am liebsten weinte sie. Schauspielerin +sein bedeutete ihr: klug sein, frei sein, glückselig sein. +Wie das ist, wußte sie nicht. Ob sie Talent habe, prüfte sie +nicht. +</p> + +<p> +Sie schwärmte für den Vetter Schulz, weil er in der Stadt +wohnte und Gedichte machte. Als der Vetter einmal schrieb, +er habe die Juristerei satt, er werde als Schriftsteller +seinen Neigungen leben, teilte sie den erschrockenen Eltern +mit, das verbauerte Leben wachse ihr aus dem Halse heraus; +sie werde als Schauspielerin ihren Idealen nachgehen. Man +versuchte auf jede Art, sie von diesem Vorhaben abzubringen. +Es gelang nicht. Sie wurde bestimmter, drohend. Man gab +unwillig nach, fuhr mit ihr in die Stadt, mietete ein +kleines Zimmer in einem großen Pensionat, meldete sie in +einer billigen Theaterschule an. Der Vetter Schulz wurde +gebeten, sich ihrer anzunehmen. +</p> + +<p> +Herr Schulz war häufig mit Cousine Liblichlein zusammen. Er +führte sie in Kabaretts; las Gedichte vor; zeigte seine +Bohemebude; bestellte sie in das Literatencafé Klößchen; +ging mit ihr Hand in Hand stundenlang durch die nächtlichen +Straßen; betastete sie; küßte sie. Fräulein Liblichlein war +von allem Neuen angenehm betäubt; bald fiel ihr ein, daß sie +sich das meiste schöner vorgestellt hatte. Verdrießlich war +ihr schon anfangs, daß der Direktor der Theaterschule, die +Kollegen, die Literaten des Café Klößchen – alle Männer, mit +denen sie häufiger zusammentraf, ein Vergnügen darin fanden, +sie anzufassen, ihre Hände zu streicheln, die Knie an ihre +Knie zu drücken, sie unverschämt anzusehen. Sogar die +Berührungen des Schulz wurden ihr lästig. +</p> + +<p> +Um ihn nicht zu kränken, auch um nicht kleinstädtisch zu +wirken, gab sie ihm das selten zu verstehen. Aber einmal +schlug sie ihm heftig auf das Gesicht. Sie waren in seinem +Zimmer, er hatte ihr gerade die letzten Zeilen seines +Gedichtes »Müdigkeit« erklärt. Die waren: +</p> + +<div class="center"> +<div class="left dispinlblock"> +Der Abend steht vor meinem Fenster, grauer Mann!<br /> +Am besten ist wohl, wenn wir schlafen gehen –</div> +</div> + +<p> +Danach hatte er versucht, ihr die Bluse abzuziehen. Der +Schulz war über den Schlag recht bestürzt. Er sagte, fast +weinend, sie müsse gemerkt haben, daß er sie liebe. Außerdem +sei er ihr Vetter. Sie sagte, das Öffnen der Bluse behage +ihr nicht. Zudem habe er einen Knopf abgerissen. Er sagte, +er halte das nicht mehr aus. Wenn man einen liebe, müsse man +sich ihm hingeben. Er werde bei Kokotten Vergessen suchen. +Sie wußte keine Antwort. Er dachte stöhnend: O, o. Sie saß +betrübt neben ihm. +</p> + +<p> +In den nächsten Tagen ließ er sich nicht sehen. Als er +wiederkam, war er bleich und grau. Die blutleeren roten +Augen lagen tränend in schmierigen Schatten. Die Stimme +hatte nur einen Singsangton, der klang maniriert +melancholisch. Schulz sprach kläglich schwärmend von +Verzweiflung, Hurerei, Zerrissensein. Daß er der +Lebensfreude überdrüssig sei. Daß er seinen Tod bald +eingeholt haben werde. Er vermied Zärtlichkeiten, aber er +seufzte oft schmerzlich. Kokettierte theatralisch mit einer +Sehnsucht nach dem Sterben. Führte die Freundin in +leichenreiche Trauerspiele, in düstere Kinodramen, in ernste +Konzerte in verdunkelten Sälen. +</p> + +<p> +Eine Woche war vielleicht vergangen. Eine Dame hatte +gesungen. Die Hände der Zuhörer knallten laut und lange. +Gottschalk Schulz faßte leidenschaftlich einige Finger Lisel +Liblichleins, legte sie gütig auf einen Schenkel seiner +Beine, sagte: »Ist es nicht eigenartig, wie der Gesang einer +Dame einem an die Seele greift!« Dann fing er wieder an, +bittend und weinerlich von Liebe und Hingebung zu reden. +Lisel Liblichlein sagte, dies sei ihr langweilig oder +ekelhaft. Aus Mitleid – und weil sie hinaufgehen wollte – +erklärte sie schließlich in der Haustür, mit der Liebe sei +sie einverstanden, wenn er auf die Hingebung verzichte. +Schulz drückte sie glücklich an sich. Er stand noch lange +träumend da. Er sang: »O Tränen. O Güte. O Gott. O +Schönheit. O Liebe. O Liebe. O Liebe...« Er stürzte durch +die Straßen. In dem Klößchen war er verschwunden. +</p> + +<p> +Lisel Liblichlein aber saß in ihrem kleinen Zimmer +unbeholfen lächelnd bei einem rötlichen Talglicht. Sie +begriff diese Menschen der Stadt nicht, die schienen ihr +seltsame, gefährliche Tiere. Sie fühlte sich verlassen und +einsamer als früher. Sie dachte sehnsüchtig an die harmlose +Heimat: an den luftigen Himmel, an die lächerlichen jungen +Herren, an die Tennisturniere, an die wehmütigen +Sonntagnachmittage... sie knöpfte die Strumpfhalter ab, +legte das Leibchen auf einen Stuhl. Sie war trostlos. +</p> + +<h4 class="center">II</h4> + +<p> +In einem durchsichtigen Sommerabend war das leuchtende Café +Klößchen. Stadthimmel aus dunkelblauer Seide, auf dem weißer +Mond und viele kleine Sterne lagen, umhüllte es. In einem +Hintergrund saß, lange Zeit, bevor er plötzlich starb, +einsam und rauchend bei einem winzigen Tisch, auf dem etwas +stand, der bucklige Dichter Kuno Kohn. Um andere Tische +hockten Leute. Dazwischen bewegten sich Männer mit gelben +und roten Schädeln; Weiber; Literaten; Schauspieler. Überall +huschten schattige Kellner. +</p> + +<p> +Kuno Kohn war ohne viel Gedanken. Er summte für sich: »Ein +Nebel hat die Welt so weich zerstört.« – Da begrüßte ihn der +Dichter Gottschalk Schulz, ein Jurist, der durch alle +Examina, denen er sich unterzogen hatte, mühevoll gefallen +war. Mit ihm kam ein schönes Fräulein. Die beiden setzten +sich zu Kohn. Schulz und Kohn waren Mitarbeiter der von dem +kleinen begeisterten Lutz Laus für die Hebung der +Unsittlichkeit angefertigten Monatsschrift: »Der Dackel«. +Schulz erzählte dem Kohn, daß der Dackel-Laus demnächst eine +gottlose Religion auf neojuristischer Grundlage erfinden +werde, zwecks Organisation eine konstituierende Versammlung +in einem nahen Kintopp einberufen wolle. Kohn hörte +kopfschüttelnd zu. Das schöne Fräulein aß Kuchen. Kohn sagte +traurig: »Laus ist ein Großer und Rührender. Aber gläubig +kann uns kein Jesus mehr machen. Wir sterben mit jedem Tage +tiefer in den öden ewigen Tod ein. Wir sind hoffnungslos +zerrüttet. Unser Leben wird ein sinnloses Schau-Spiel +bleiben.« Das essende Fräulein sah mit fröhlichem, +deutlichem Gesicht aus rotbraunen Augen verständnislos +hinüber. Schulz war in trübselige Gedanken versunken. Das +Fräulein sagte, auch ihr ganzes Leben sei das Schauspiel. So +sinnlos könne sie dies nicht finden. In der Theaterschule, +in der sie sich auf die Bühnenlaufbahn als sentimentale +Liebhaberin vorbereite, werde Tüchtiges geleistet. Herr Kohn +möge einmal hinkommen, um sich davon zu überzeugen. Kuno +Kohn blickte das Fräulein eine Weile innig an. Er dachte: +»Solch kleines dummes Fräulein...« Er ging aber bald weg. +</p> + +<p> +Draußen hielt ihn plötzlich der Lyriker Roland Rufus Müller +erregt an einem Arm fest, er rief: »Haben Sie die Kritik +eines gewissen Bruno Bibelbauer in der medizinischen +Monatsschrift gelesen, in der behauptet wird, meine Paranoia +bestehe darin, daß ich mir einbilde, Paralyse zu haben! Alle +Menschen sehen mich merkwürdig an, ich bin berühmt. Mein +Verleger gibt mir viel Vorschuß. Aber – ach, ich darf es +nicht sagen – ich bin unheilbar.« Er lief schleunigst in ein +besseres Weinrestaurant. +</p> + +<p> +Ein Pferd humpelte wie ein alter Mensch vor einem Wagen. Der +bucklige Kohn lehnte lässig an einer katholischen Kirche, +überlegte das Dasein. Er sagte sich: »Wie drollig ist +dennoch das Dasein. Und da lehnt man nun; irgendwo; +irgendwie; ohne Beziehung; ganz belanglos; könnte ebenso +gut, ebenso schlecht weiterschreiten; irgendwohin. Das macht +mich unglücklich.« – Vor ihm war ein kleiner lautloser +Hurenhund stehengeblieben, hatte mit glimmenden Augen +demütig zugehört. +</p> + +<p> +Eine feurige gläserne Brautkutsche hüpfte vorbei. Innen, in +einer Ecke, sah er das bleiche geschlossene Gesicht eines +Bräutigams. Eine leere Droschke kam, der Kohn ging +hinterher. Er sagte leise: »Ein Sucher ohne Ziel... Ein +Haltloser... Unbekannt mit allem... Man hat eine furchtbare +Sehnsucht. O wüßte man wonach.« +</p> + +<p> +Die Straßen schimmerten schon weißlich, als er die Tür des +Hauses, in dem er wohnte, öffnete. In seinem Zimmer sah er +die Bilder von lauter gestorbenen Menschen, die an einer +Wand befestigt waren, schweigsam und feierlich traurig an. +Dann begann er, die Kleidungsstücke von dem Buckel zu +nehmen. Als er nur noch mit Unterhosen, Hemd, Socken bedeckt +war, sagte er murmelnd und seufzend: »Allmählich wird man +wahnsinnig –« +</p> + +<p> +In dem Bett nahm das Denken ab. Ihm fielen für das +Einschlafen die rotbraunen Fräuleinaugen aus dem Café +Klößchen ein... +</p> + +<p> +Diese Augen leuchteten auch in den folgenden Tagen sonderbar +oft in seinem Hirn. Das wunderte ihn. Erschreckte ihn. Sein +Verhältnis zu Frauen war eigenartig. Im allgemeinen hatte er +sogar einen Widerwillen gegen sie, es trieb ihn zu Knaben. +Aber in gewissen Sommermonaten, wenn er zu innerst +zerbrochen und unselig war, verliebte er sich häufig in ein +junges kindhaftes Weib. Da er infolge seines Buckels zumeist +abgewiesen, oft sogar verhöhnt wurde, war die Erinnerung an +diese Frauen und Mädchen entsetzlich. Er nahm sich daher zu +diesen Zeiten in acht. Ging zu Dirnen, wenn er Gefahr +fühlte. +</p> + +<p> +Lisel Liblichlein hatte ihn überrumpelt, ohne eine Ahnung +davon zu haben. Vergeblich dachte er an die Qualen der +Mißerfolge. Vergeblich stellte er sich vor, daß Lisel +Liblichlein eins der vielen, zierlichen, in wundervolle +Unwissenheit und glücksuchende Sehnsucht verwirrten +Geschöpfe sei, die überall auf der Erde, einander sehr +ähnlich, zu finden sind... In einem weichen Abend voller +grünlichgelber Laternen, voller Regenschirme und +Straßenschmutz stand ein kleiner buckliger Mensch ängstlich +wartend neben dem Hausschild einer Theaterschule. +</p> + +<h4 class="center">III</h4> + +<p> +Manchmal kam ein Wind, ein giftiger heißer Hund. Wie zähes, +glühendes Öl lag die Sonne auf den Häusern und auf den +Straßen und auf den Leuten. Kleine geschlechtslose +Menschlein mit schrägen Beinen hopsten sinnlos um den +vergitterten Vorgarten des Café Klößchen. Innen prügelten +sich Kuno Kohn und Gottschalk Schulz. Andere sahen zufällig +zu. Lisel Liblichlein saß ernsthaft in einer Ecke. +</p> + +<p> +Die Veranlassung war gewesen: Herr Kohn hatte Fräulein +Liblichlein mehrmals von der Theaterschule nach Hause +begleitet. Als Schulz davon erfuhr, wurde er grundlos +eifersüchtig. Er fing an, über den Kohn Schlechtes zu reden. +Lisel Liblichlein, die den Vetter durchschaute, verteidigte +den Buckligen. Darüber ärgerte sich der Schulz noch mehr. Er +erklärte überzeugend, er werde sich erschießen. Das +unterließ er, drohte aber, er werde auch sie erschießen. Da +verbat sie sich seine Gesellschaft. – Lisel Liblichlein +mußte einen Menschen haben, mit dem sie sich über ihre +wichtig empfundenen Alltäglichkeiten aussprechen konnte. Sie +wählte nach dem Zank mit Schulz aus irgendeinem ungeklärten +Instinkt den Kohn. So kam es, daß sie ihn an dem Mittag des +Prügeltages in das Klößchen bestellt hatte, um vielleicht +über die Wahl eines Kleides oder über die Auffassung einer +Rolle oder über ein kleines Geschehnis mit ihm zu beraten. +Kohn war soeben gekommen, wollte sich gerade über die +Wünsche des Fräulein informieren, als Gottschalk Schulz +hineinfiel, mit rotgeschwollenem Gesicht vor ihm war, ihn +einen gewissenlosen Mädchenverführer nannte. Kohn versuchte +den Schulz von unten zu ohrfeigen. Dann schlug jeder wütend +und schweigend auf den anderen. Das Schild des +Abortpächters, auf dem vorher zu lesen war: »Mein Institut +ist jetzt hier, Eingang dort« – lag zerschmettert auf dem +Boden. Plötzlich stieß die Hand des Schulz wuchtig auf den +Buckel Kohns. Die Hand hatte ein blutiges Loch, auch der +Buckel war beschädigt. Schulz rief leichenbleich: »Der +Buckel ist lebensgefährlich.« Danach ließ er sich von einem +Oberkellner nach einer Unfallstation begleiten. Lisel +Liblichlein würdigte er keines Blickes. +</p> + +<p> +Kohn achtete nicht sehr auf den geschundenen Buckel. Er +setzte sich wieder zu Lisel Liblichlein an den Tisch, +bestellte Tee mit Zitrone. Sie sah, wie immer deutlicher +Blut durch seinen fadenscheinigen Gehrock sickerte. Sie +machte ihn auf den blutenden Gehrock aufmerksam, er +erschrak. Sie sagte, ob sie die Wunde verbinden solle – Er +sagte bitter, einen Buckel anzufassen, werde ihr nicht +angenehm sein. Sie sagte mitleidig errötend, ein Buckel sei +menschlich – Sie sagte, er möge zu ihr kommen. Der Buckel +müßte gesäubert und gekühlt werden. Dann wolle sie einen +Verband machen. Er könne den Nachmittag bei ihr +verbringen... +</p> + +<p> +Kohn ging freudig zögernd auf ihren Vorschlag ein. Sie saßen +bis in die Nacht in der kleinen Stube Lisel Liblichleins. +Unterhielten sich über Seele, Buckel, Liebe. – +</p> + +<p> +Schriftsteller Schulz war von diesem Tage an verschollen. +Zuletzt hatte ihn ein Bekannter an dem Abend vor dem +Schaufenster eines Schuhwarengeschäftes gesehen. Er soll +jeden Stiefel einzeln trübsinnig betrachtet haben. »Heiße +Helden« – eine Zeitschrift für romantische Decadence – +erhielt bald danach einen Eilbrief, in dem Schulz mitteilte, +daß er im Begriff sei, sich aus seelischen Gründen das Leben +zu nehmen. Einige hielten diese Mitteilung für nicht mehr +neue Reklame. Die meisten waren begeistert. Die Zeitungen +brachten aufregende Notizen. Ein Schulz-Leichen-Suchefonds +wurde gegründet. Ein Fabrikbesitzer stiftete einen +gediegenen Sarkophag. +</p> + +<p> +Man durchforschte Wälder und Wiesen. Stocherte mit langen +Stangen in allen Seen. Man fand keine Spur von Schulz. +Wollte das Suchen schon aufgeben, als man ihn ganz entstellt +in einem mittelmäßigen Hotel eines entlegenen Vorortes +entdeckte. Er hatte sich an einem windigen Teich eine +schwere Influenza zugezogen, die ihn wochenlang an ein Bett +fesselte. Man traf ihn auf der knarrenden Hoteltreppe, wie +er, in viele Decken und Tücher gehüllt, noch einmal seine +Selbstmordabsichten versuchsweise verwirklichen wollte. +Unschwer brachte man ihn davon ab, führte ihn triumphierend +in die Stadt zurück. Der Sarkophag wurde versetzt. Aus dem +Erlös und von dem Rest des Schulz-Leichen-Suchefonds wurde +ein Bohemefest veranstaltet – – – +</p> + +<p> +Gottschalk Schulz selbst thronte als Faust weltschmerzlich +in einem Winkel. Der begabte Doktor Berthold Bryller +erschien als: Einer der Literaten, die fett werden. Lutz +Laus verhielt sich in päpstlichem Ornat. Der Gymnasiast +Spinoza Spaß – der Klößchenclown – hatte ein Siegfriedkostüm +um den Leib gehängt, sich einen Goethekopf frisiert. Der +Lyriker Müller lag bald als grüne betrunkene Leiche. Kuno +Kohn, der sich mit Schulz formell wieder ausgesöhnt hatte, +kam, wie er war. Mit ihm auch Lisel Liblichlein, sie trug +ein ländliches Kleid. Die anderen liefen als Chinesen, +Schimpansen, Götter, Nachtwächter, Leute von Welt +quietschend und quer durcheinander. Das ganze Klößchen war +vorhanden. +</p> + +<p> +Lisel Liblichlein tanzte in dieser bunten, kreischenden +Nacht nur mit dem buckligen Dichter. Manche sahen dem +seltsamen Paar zu, aber es ließ sich nicht lachen. Der +Buckel Kohns stieß hart und rücksichtslos wie eine +Tischkante gegen die weichen anderen. Es schien, als wäre +ihm eine Lust, immer wieder den Buckel in einen Tanzenden zu +stechen. Niemals versäumte er, mit Fistelstimme, unverschämt +höflich, »pardon« zu sagen, wenn ein verrücktes Weib +hochschrie oder einer aus Seligkeit »verflucht...« knurrte. +Lisel Liblichlein hielt den Dichter mit der einen Hand unten +an dem Buckel wie an einem Henkel, mit der anderen Hand +preßte sie den eckigen Kopf Kohns sanft in ihre Brust. So +tanzten sie durch viele besessene Stunden. + +Kohns Buckel wurde immer schmerzhafter für die anderen +Tänzer. Man wagte Empörung zu äußern. Die Festleitung teilte +dem Kohn mit, daß er ersucht werde, das Tanzen einzustellen. +Mit einem derartigen Buckel dürfe man nicht tanzen. Kohn +widersprach nicht. Lisel Liblichlein sah, daß sein Gesicht +grau wurde. +</p> + +<p> +Sie führte ihn in eine versteckte Nische. Da sagte sie: »Von +nun an sage ich ‚du‘ zu dir.» Kuno Kohn antwortete nicht, +aber er empfing ihre mitleidende Seele wie ein Geschenk in +seine wasserblauen Troubadouraugen. Sie sagte zitternd, daß +sie ihn mit einem mal so lieb habe, sei ihr +unverständlich... Sie wolle seine arme Hand niemals mehr +loslassen... Sie habe nicht gewußt, daß man so maßlos +glücklich sein könne... Kuno Kohn lud sie ein, ihn an dem +nächsten Abend zu besuchen. Sie sagte gern zu. +</p> + +<p> +Kuno Kohn und Lisel Liblichlein waren wohl die ersten, die +das taumelnde Fest verließen. Sie gingen flüsternd in den +himmelhellen, von Mondlicht leuchtenden Straßen. Der +verliebte Dichter warf abenteuerliche Schatten mit riesigen +Höckern auf das Pflaster. +</p> + +<p> +Bei dem Abschied senkte Lisel Liblichlein den Kopf zu Kohn +nieder. Sie küßte mehrmals seinen Mund. So trennten sich +Kuno Kohn und Lisel Liblichlein... Er sagte, er freue sich, +daß sie ihn an dem nächsten Abend besuchen werde. Sie sagte +ganz leise: »Ich... ach... auch...« +</p> + +<p> +Die Häuser standen wohlgeordnet wie Bücher in Regalen auf +den gepflegten Straßen. Der Mond hatte hellblauen Staub auf +sie geschüttet. Wenige Fenster waren wach, die funkelten +friedlich wie einsame Menschenaugen, hatten immer denselben +goldfarbenen Blick. Kuno Kohn ging nachdenklich heim. Der +Körper war gefährlich nach vorn geneigt. Die Hände lagen +fest auf dem Ende des Rückens. Der Kopf war weit +heruntergefallen. Zu oberst ragte der Buckel, ein +abenteuerlicher spitzer Stein. Kuno Kohn war in dieser +Stunde kein Mensch mehr, er hatte seine eigene Form. +</p> + +<p> +Er dachte: »Ich will vermeiden, glücklich zu werden. Das +bedeutete: Die Sehnsucht über alle Erfüllung hinaus, die +mein köstlichster Inhalt ist, aufgeben. Den heiligen Buckel, +mit dem ein freundliches Geschick mich geweiht hat, durch +den ich das Dasein viel, viel tiefer, unseliger, herrlicher +gespürt habe, als die Menschen es spüren, zu einer lästigen +Äußerlichkeit degradieren. – Ich will aus Lisel Liblichlein +ihr höheres Wesen herausbilden. Ich will sie heillos +unglücklich machen...« +</p> + +<p> +Während der Dichter Kohn dies dachte, erstach sich der +Dichter Schulz endgültig mit einem Salatmesser. Er hatte +Kuno Kohn und Lisel Liblichlein bei ihrer vertrauten +Unterhaltung in der Nische beobachtet. Hatte gesehen, wie +sie zusammen weggingen. Er bemühte sich, seinen Jammer zu +besaufen und zu befressen, es half nicht. Nachdem er einige +Stunden gegessen und getrunken hatte, war er geisteskrank. +Er sang: »Der Tod ist eine ernsthafte Angelegenheit... Der +Tod läßt nicht mit sich spaßen... Der Tod ist ein dringendes +Bedürfnis...« Dann pikte er sich zaghaft und zögernd das +erste beste Messer in die linke Brust. Blut und blutige +Salatreste spritzten umher. Diesmal war der +Selbstmordversuch von Erfolg gekrönt. +</p> + +<h4 class="center">IV</h4> + +<p> +Lisel Liblichlein erschien an dem nächsten Abend früher als +verabredet war. Kuno Kohn öffnete die Tür, Blumen in der +Hand haltend. Er freute sich sichtbar, er sagte, er habe +kaum gehofft, daß sie kommen werde. Sie legte die Arme um +seinen knochigen Körper, preßte ihn an ihren Leib mit +saugendem Druck, sagte: »Du buckelliebes Dummchen... ich hab +dich doch gern –« +</p> + +<p> +Einige einfache Abendgerichte wurden gegessen. Sie +streichelte ihn, wenn ihr etwas gut schmeckte. Sie sagte, +sie wolle bis nach Mitternacht bei ihm bleiben. Dann könnte +sie mit ihm den Beginn ihres achtzehnten Geburtstages +feiern... +</p> + +<p> +Aus einer Kirchenuhr kam der neue Tag. Die ersten lauten +Atemzüge drangen wie gestöhnte Gebete in das verhangene +Kohnsche Zimmer. Da war Lisel Liblichleins junger +Seelenkörper ein Tempel geworden, sie hatte sich dem +buckligen Priester mit rührender Selbstverständlichkeit +unter Schmerzen geopfert. Hatte gesagt: »Bist du jetzt froh +–« Lag aufgelöst in Traum und Ergriffenheit. Die dünne Haut +der Lider hüllte sie ein. +</p> + +<p> +Plötzlich rannte ein Entsetzen über den Körper. Hatte sie +den Schrecken in dem Gesicht wie Krallen. Waren aufgerissene +schreiende Augen über dem Buckligen. Sagte Lisel Liblichlein +tonlos: »Dies – war – das Glück – – –« Kuno Kohn weinte. +</p> + +<p> +Sie sagte: »Kuno, Kuno, Kuno, Kuno, Kuno, Kuno... Was fange +ich mit dem übrigen Leben an?« Kuno Kohn seufzte. Er sah +ernst und gütig in ihre elenden Augen. Er sagte: »Armes +Lisel! Das Gefühl der vollkommenen Hilflosigkeit, daß dich +überfallen hat, habe ich häufig. Der einzige Trost ist: +traurig sein. Wenn die Traurigkeit in Verzweiflung ausartet, +soll man grotesk werden. Man soll spaßeshalber weiterleben. +Soll versuchen, in der Erkenntnis, daß das Dasein aus lauter +brutalen hundsgemeinen Scherzen besteht, Erhebung zu +finden.« – Er wischte Schweiß von Buckel und Stirn. +</p> + +<p> +Lisel Liblichlein sagte: »Warum du eine lange Rede hältst, +weiß ich nicht. Was du gesagt hast, verstehe ich nicht. Daß +du mir das Glück genommen hast, war lieblos, Kohn.« – Die +Worte fielen wie Papier. +</p> + +<p> +Sie sagte, sie wolle gehen. Er möge sich ankleiden. Der +nackte Buckel sei ihr peinlich... +</p> + +<p> +Kuno Kohn und Lisel Liblichlein sprachen kein Wort mehr, bis +sie sich vor der Tür des Hauses, in dem das Pensionat war, +für immer trennten. Er sah in ihr Gesicht, hielt ihre Hand, +sagte: »Lebe wohl –« Sie sagte leise: »Lebe wohl –« +</p> + +<p> +Kohn duckte sich in seinen Buckel. Lief niedergebrochen +davon. Tränen verschmierten das Gesicht. Er fühlte die +nachschauenden betrübten Blicke auf seinem Rücken. Da rannte +er um die nächste Häuserecke. Er blieb stehen, trocknete die +Augen mit einem Tuch, eilte weinend weiter. +</p> + +<p> +Wie Krankheit kroch schleimiger Nebel in der erblindenden +Stadt. Laternen waren düstere Sumpfblumen, die auf +schwärzlich glimmenden Stielen flackerten. Dinge und Wesen +hatten nur fröstelnden Schatten und verwischte Bewegung. Wie +ein Ungetüm torkelte ein Nachtomnibus an Kohn vorüber. Der +Dichter rief: »Jetzt ist man wieder ganz einsam.« – Da +begegnete ihm eine große Bucklige mit langen Spinnenbeinen +in gespenstig durchscheinendem Rock. Der Oberkörper glich +einer Kugel, die auf einem hohen Tischchen liegt. Sie sah +ihn mitleidig lockend an, mit verliebtem Lächeln, das durch +den Nebel zu einer tollen Grimasse gezerrt wurde. Kohn war +sogleich in dem Grau verschwunden. Sie ächzte, dann trug sie +sich weiter. +</p> + +<p> +Lahmer Tag hinkte heran. Zertrümmerte mit eiserner Krücke +die Reste der Nacht. Das halb ausgelöschte Café Klößchen lag +in dem lautlosen Morgen, eine glänzende Scherbe. In einem +Hintergrund saß der letzte Gast. Kuno Kohn hatte den Kopf in +den bebenden Buckel gesenkt. Die dürren Finger einer Hand +bedeckten Stirn und Gesicht. Der ganze Körper schrie +lautlos. +</p> + +</div> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/02-geschichten/04-zwei-bruchstuecke.xhtml b/OEBPS/Text/02-geschichten/04-zwei-bruchstuecke.xhtml new file mode 100644 index 0000000..a30e4c0 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/02-geschichten/04-zwei-bruchstuecke.xhtml @@ -0,0 +1,115 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8"?> +<!DOCTYPE html> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Zwei Bruchstücke aus der ersten Fassung der Geschichte: Café Klößchen</title> +</head> +<body> + +<div class="prose"> + + <h3 class="center">Zwei Bruchstücke aus der ersten Fassung der Geschichte:<br />Café Klößchen</h3> + + <h4 id="prim" class="center">I</h4> + + <span class="center dispblock">Im Café Klößchen</span> + +<p> +In der Nähe Kohns sprachen im Kreis wenig bekannte Kritiker, +Maler, Dichter und ein paar. Zumeist Mitarbeiter der neuen +Zeitschrift: »Das andere A« und der unregelmäßig von dem +kleinen begeisterten Lutz Laus für die Hebung der +Unsittlichkeit angefertigten Monatsschrift: »Der Dackel«. +Bei ihnen saß ein schönes fressendes Fräulein. +</p> + +<p> +Man stritt sich gerade um den literarischen Unwert des Herrn +Kohn. Der Dichter Gottschalk Schulz, ein Jurist, erklärte, +ihm sei unbegreiflich, daß Herr Doktor Bryller den Kohn +lobe. Kohn schildere alles anders. Kohn sei ein Lügner. Kohn +sei grotesk. – Der begabte Doktor Berthold Bryller sagte +darauf: »Grotesk sein, sei kein Nachteil. Groteske sei +immerhin eine Brücke zu einem Weg.« Und ein +Witzblattredakteur, der eigentlich nicht hierher gehörte, +schrie schüchtern: »Auch ich schätze alles, was grotesk und +originell ist und über den stumpfsinnigen deutschen +Tintensumpf hinausstrebt.« – Aber Lutz Laus rief: »Ich +schätze gar nichts. Ich teile diese Knaben ein in Burschen, +welche schreiben, weil ihnen nichts einfällt, und in +Gesindel, welches schmiert, weil ihm so zumute ist.« – +Spinoza Spaß, ein Gymnasiast, der dämlich an einem Stuhle +hing, freute sich langsam. Er blickte boshaft zu dem +einsamen Kohn. Und sagte, weiches Gemüt und heimatlichen +Akzent durch Berlinern etwas verbergend: »Nehmen Se jrotesk, +det hebt Ihnen.« – Alle lachten. +</p> + +<p> +Kohn sah das Fräulein eine Weile innig an, zu den anderen +schmiß er nur verächtliche Blicke. Er stand bald auf und +ging weg. +</p> + +<h4 id="sec" class="center">II</h4> + +<span class="center dispblock">Der Dackel-Laus</span> + +<p> +An einem weichen Abend voller grünlichgelber Laternen, +voller Regenschirme und Straßenschmutz erregte der +Dackel-Laus gewaltiges Aufsehen in dem Café Klößchen. Er +ließ Zettel verteilen, auf denen für eine neue, von ihm +erfundene gottlose Religion auf neojuristischer Grundlage +Propaganda gemacht wurde. Ferner war für den nächsten Abend +eine konstituierende Versammlung in einen nahen Kintopp +einberufen. +</p> + +<p> +Das ganze Café Klößchen erschien. Sogar Kuno Kohn, der +eigentlich der Klößchenclique nicht angehörte, mit den +meisten Literaten dieser Gruppe verfeindet war, kam in den +Kintopp. Gottschalk Schulz rief leise: »Das ist ein +ekelhafter Kerl. Das ist ein sogenannter grotesker Kohn.« +Lisel Liblichlein sagte: »Wer –« Schulz sagte: »Der kleine +Bucklige, der dort kommt.« Sie sah den Buckligen. Und sagte: +»Ach –« R. R. Müller, der neben ihr saß, flüsterte ihr +vertraulich zu: »Dieser Kohn ist gefährlich.« Sie sagte: +»Wieso –« +</p> + +<p> +Da sang eine Dame. Als die Dame nicht mehr sang, faßte +Gottschalk Schulz die Hand des Fräulein Liblichlein. Auch +den anderen war infolge des Gesanges feierlich zumute. +Einige hatten Tränen in den Augen. +</p> + +<p> +Nun trat Lutz Laus selbst auf einen Stuhl. Er war ganz +schwarz gekleidet, aber das Gesicht war purpurrot, und die +Hände steckten in giftgrünen Lappen. Die Pupillen glänzten +wie gelbes Glas. Es war unsagbar still. Und er verkündete +seine Religion. Er sagte, diese Religion sei die Religion +der gehobenen Pessimisten. Diese Religion habe keinen Gott, +aber einen Papst. Der Papst sei er. Zugleich mache er die +Mitteilung, daß er in Anlehnung an die katholische Kirche +das Dogma von der Lausischen Unfehlbarkeit festzustellen +bitte. Und er verriet, daß er in kurzer Zeit in einem +Bürgerlichen Gebetbuch (Laus: BGB.) in 2385 Aphorismen die +grundlegenden Sätze seiner Religion zusammenstellen werde. – +</p> + +<p> +Nach der Versammlung ging man haufenweise in das Café +Klößchen. +</p> + +</div> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/02-geschichten/05-die-jungfrau.xhtml b/OEBPS/Text/02-geschichten/05-die-jungfrau.xhtml new file mode 100644 index 0000000..5a50e99 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/02-geschichten/05-die-jungfrau.xhtml @@ -0,0 +1,256 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8"?> +<!DOCTYPE html> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Die Jungfrau</title> +</head> +<body> + +<div class="prose"> + + <h3 class="center">Die Jungfrau</h3> + +<p> +Maria Mondmilch war das einzige Kind des Kunsthistorikers +Doktor Maximilian Mondmilch und der schönen Frau Marga +Mondmilch. Frau Mondmilch soll früher Wassermädchen in dem +Kaffeehaus gewesen sein, in welchem Herr Mondmilch – der +damals Student war – Tee trank und Zeitungen las und +rauchte. Nach der Geburt des Kindes hatte sie den Ehegatten +heimlich verlassen, um vermutlich mit einem Sektkellner +einige Wochen zu verbringen. Danach trieb sie sich – häufig +abwechselnd – mit sehr verschiedenen Männern sehr +verschiedener Gesellschaftsklassen herum. Sie kam erst +zurück, als sie erfuhr, daß der unheilbare Doktor in eine +Anstalt für Gehirnkranke gebracht worden sei. Sie pflegte +den todkranken Menschen sorgfältig bis zu seinem nahen Ende. +Sodann verheiratete sie sich mit einem herrschaftlichen +Kutscher, der sie abgöttisch liebte. +</p> + +<p> +Die Krankheit des Doktor Mondmilch war erst erkannt worden, +als er ein mit schlimmen Strafen bedrohtes Verbrechen an der +achtjährigen Tochter verüben wollte. Glücklicherweise konnte +die Untat in dem letzten Augenblick verhindert werden. Das +in dem Herzen und in dem Hirn erschreckte Kind wurde – dem +Bruder des Verrückten – dem Exzellenz Moriz von Mondmilch, +einem erstklassigen Verwaltungsbeamten, in Pflege gegeben. +Das letzte Wort des sterbenden Kunsthistorikers war: +»Maria.« +</p> + +<p> +Zwischen dem Onkel und der Nichte entwickelte sich eine +sonderbare Zuneigung. Nichts geschah, was den Gesetzen +widersprochen hätte. Die Leidenschaft zwischen dem Kind und +dem alten Mann erregte die Eifersucht der alten Frau Minna +von Mondmilch. Durch die zu lästig gewordenen ehelichen +Zwistigkeiten fühlte sich der verärgerte Beamte einige Jahre +darauf genötigt, in eine Trennung von dem Pflegekind +einzuwilligen. Er mußte auch auf die ältlich gewordenen +Töchter Rücksicht nehmen. Der Abschied war schwer. Exzellenz +Moriz von Mondmilch fiel in Weinkrämpfe. +</p> + +<p> +Maria Mondmilch kam in eine große Stadt. Man zahlte den +fremden Leuten, bei denen sie eingemietet worden war, +monatlich viel Geld. Sonst kümmerte man sich nicht um Maria +Mondmilch. Mit dem edlen Onkel wechselte sie geheime Briefe +voll ausschweifender Liebessehnsucht und abenteuerlicher +Hoffnungen. Das Bewußtsein, ständig Gefährliches verbergen +zu müssen, gab ihr etwas Feierliches und eine unerklärliche +Überlegenheit. Die Briefe des Onkels bewahrte Maria +Mondmilch unter besonders sakralen Formalitäten auf. Ein +Teil der Briefe kam abhanden und wurde das Beweismaterial +für den berühmten Scheidungsprozeß, der das ganze Land +erregte. +</p> + +<p> +Maria Mondmilch war in der großen Stadt Schülerin eines +Mädchengymnasiums. Sie gehörte nicht zu den besten. +Zeitweise arbeitete sie fleißig. Man beschuldigte sie, +allerhand Schweinereien – die vorkamen – angestiftet zu +haben. Als bekannt wurde, daß der Leiter der Anstalt ihr +abends in einer argen Straße begegnet war, erwartete man +ihre Relegierung. In der Verhandlung gegen einen +Literaturprofessor des Gymnasiums, der, trotzdem er dringend +verdächtigt war, etliche Sittlichkeitsverbrechen begangen zu +haben, freigesprochen werden mußte, war sie die wichtigste +Zeugin. +</p> + +<p> +Das junge Mädchen weilte in der Nacht am liebsten in den +berüchtigten Vierteln. Maria Mondmilch ließ sich von allem +möglichen Gesindel ansprechen, den meisten Männern entlief +sie wieder. Sie war noch nicht fünfzehn Jahre alt, als sie +sich von einem Händler, dessen Bekanntschaft sie in einem +schmutzigen Abend in einer üblen Gasse auf einer Brücke +unter einer halb verfallenen altertümlichen Petroleumlaterne +gemacht hatte, in unanständigen Stellungen nackt +photographieren ließ. Als Sechzehnjährige verlebte sie die +Weihnachtsferien mit einem bildschönen, aber wildfremden +Elektrotechniker – namens Hans Hampelmann – in einem +verrufenen Hotel anscheinend wie Frau und Mann. Daß sie nach +Absolvierung des Gymnasiums sich entschloß, Medizin zu +studieren, ist unschwer aus erotischen Bedürfnissen zu +erklären. +</p> + +<p> +Der hungrige Schauspieler Schwertschwanz – ein intelligent +und verludert aussehender Mensch, der nach billiger +Schokolade stank – lief planlos sehnsüchtig die abendlich +funkelnden und lärmenden Straßen der Stadt entlang, in +welcher Maria Mondmilch Medizin studierte. Er begegnete ihr, +als sie aus einer Vorlesung über Geschlechts- und +Männerleiden traurig zurückkam. Zum Spaß – ziemlich – sprach +er sie an. Gemeinsam gingen die beiden in eine Kneipe +niederer Sorte. +</p> + +<p> +Der Schauspieler Schwertschwanz hatte, bevor er die +Studentin ansprach, überlegt, was seine langjährige +Verzweiflung augenblicklich am ehesten begründen könne: die +schließliche Unwichtigkeit alles Geschehens oder nur das +Malheur, daß bedeutende Männer oftmals aus Mangel an +entsprechender Nahrung und Medizin krepieren müssen... Die +Unzulänglichkeit der Frauen... Die Unheilbarkeit der +Rückenmarkschwindsucht, deren Anzeichen er an sich zu +bemerken glaubte... Als Maria Mondmilch ihren Beruf nannte, +leuchtete er auf. Man sprach über Syphilis und die Folgen. +Fräulein Mondmilch erzählte entsetzliche Fälle. Herr +Schwertschwanz hörte erschrocken und begeistert zu. Er war +entzückt, als sie – kokett betonend, daß sie leider nur +wissenschaftliche Beziehungen zu Männern unterhalten könne – +wie unabsichtlich bis über das Knie ein gut geformtes, +herbes Bein sehen ließ, das in einem aufregend gemeinen, +halbseidenen Strumpf befestigt war. +</p> + +<p> +Die Studentin erwiederte merklich die Sympathie des +Schauspielers. Sein heruntergekommenes Aussehen flößte ihr +Zutrauen ein. Seine – auf sie eingestellten – von Schminke +und Hoffnungslosigkeit, von unmäßigen Hurereien oder Onanien +ringsum zerrissenen und inwendig fast verfaulten +treuherzigen blauen Augen griffen ihr an die Seele. Sein aus +Blasiertheit und unverschämter Zudringlichkeit gemischtes +Wesen regte sie sehr auf. Mitten durch Gekreisch und Kellner +und Bierbänke und Ausdünstungen, in dem gelbsüchtigen +Gaslicht, mußte sie schwärmerisch ausrufen: »Einen Menschen +wie Sie, Herr Schwertschwanz, habe ich bisher nicht +kennengelernt.« – Er faßte sie beglückt an. Während draußen +ein Trupp Soldaten im Vorbeimarschieren das bekannte +Volkslied pfiff: Mariechen, du süßes Viehchen... und so +weiter. +</p> + +<p> +Ohne laute Verabredung hatten die Verliebten Arm in Arm die +Richtung auf die Bude der Studentin gewählt, als sie die +gröhlende Kneipe verließen. Oben legte sich Maria Mondmilch +mit übereinandergeschlagenen Beinen auf ein Schlafsofa in +der Nähe des Bücherschrankes. Der Schauspieler versank in +einen weichen Sessel, neben dem ein kleiner Tisch mit einer +zierlichen Flasche Kognak stand. Die Unterhaltung war nicht +einfach. Sie wollten einander ihre Leiden von klein auf +entgegenschluchzen. Sie wollten einander fressen, so gierig +wurden sie mit der Zeit. Etwas war dazwischen. Der +Schauspieler trank den Kognak. Die Studentin spielte nervös +mit den Händen und den Füßen. +</p> + +<p> +Der Schauspieler konnte die Qual nicht mehr aushalten. Er +schrie leise – das war, als wurde etwas zerschlagen: »Ich +will offen sein. Ich bin ein Syphilitiker« – – Einige Tränen +kullerten herunter. Er erschrak, wie wenig ernst ihm war. +Die Studentin hielt die Hände vor das Gesicht. Theatralisch +wie er. Aber unbewußt. +</p> + +<p> +Er hatte sich nicht verrechnet. Ihre erotische Aufgeregtheit +überstieg die Grenzen. Sie wand sich auf ihrem Schlafsofa. +Sie hielt ihm eine Hand hin. Sie flüsterte: »Armer Mann, +kommen Sie.« – Er ergriff die Hand nicht. Die Augen in dem +unglücklichen entsagenden Gesicht, dessen Wirkungen er schon +bei vielen hysterischen Frauen erprobt hatte, +niedergeschlagen, sagte er: »Sie wissen am besten, daß die +Berührungen mit mir eventuell Sie selbst luetisch machen +könnten, obwohl in den letzten Jahren die Wassermannsche +Reaktion immer negativ war.« – Da sagte sie heroisch: +»Offenheit gegen Offenheit. Ich bin Jungfrau.« +</p> + +<p> +Instinktiv hatte sie sich gerächt. Seiner überreizten Sinne +war er nicht mehr mächtig. Wie eine Katze sprang er auf das +Mädchen mitten in dem Schlafsofa. Nun wehrte sie sich. Mit +ängstlichen Augen bereit, sich ihm zu geben. +</p> + +<p> +Bei dem Ringen sang die Studentin dem Schauspieler ihr +Werbelied: »Maria Mondmilch bin ich, das Mädchen, die +Jungfrau. Öffne mir deine Tore. Du, ich probierte viel +Männerfleisch von außen, Greise und Jünglinge. Alle lockte +ich. In allen suchte ich meinen Mann. Niemand drang tiefer +als meine Haut in mich... Ich schlich in den Tagen. Rannte +in den Nächten. Ich schlief in einem Bett mit Musikern und +Aristokraten. Mit Kaufleuten und Zuhältern und Studenten war +ich zusammen. Mit Kunstradfahrern und Rechtsanwälten trieb +ich mich herum. Ich ließ keinen Mann vorüber, dem ich nicht +in die Augen sah. Ob es regnete. Oder ob Winter war. Oder ob +die Sonne schien... Niemand durfte mich seine Frau nennen. +Niemand war mein Mann. Einer hat sich erschossen. Einer ist +in einen Sumpf gesprungen. Ich bin unschuldig... Einer ist +blödsinnig geworden. Einer hat mir einen Fußtritt gegeben. +Die meisten sind weggegangen, als wäre nichts vorgefallen. +Nichts ist vorgefallen... Du, blauäugiges Leidensgesicht +unter mir, ach, wärst du mein Mann, daß ich in dir blühe. +Bist du mein Mann, in den ich selig sinke – –« +</p> + +<p> +Und der Schauspieler sang der Studentin bei dem Ringen: »Ich +bin der Schauspieler Schwertschwanz, der Mann, der Wüstling. +In allen Leibern, die ich soff, suchte ich dich. Ich bin +Trinker geworden. Aus Sehnsucht. Mein Blut habe ich aus +Liebe vergiftet. Wie gleichgültig wäre das, wenn ich – +halbtot – dich jetzt fände. Ich habe dich zu viel gesucht, +um dich noch zu finden –« +</p> + +<p> +Da rief Maria Mondmilch in dem Untergehen: +»Schwertschwänzchen, liebst du mich –« Und schon ertrunken: +»Er liebt mich nicht.« – +</p> + +<p> +Der Mann fiel verzweifelt faul zurück. Die Studentin spuckte +ihm an den Kragen. Stülpte dem Willenlosen den Hut auf den +Kopf. Drückte ein Goldstück in seine Hand. Warf ihn hinaus. +</p> + +<p> +Während der Schauspieler Schwertschwanz sich unterwegs, vor +Begierde zitternd, eine geeignete Hure suchte, saß Maria +Mondmilch über einem dicken anatomischen Lehrbuch. Sah sich +die Konstruktion eines splitternackten Mannes an. Und heulte +wie ein Hund am Meer. +</p> + +</div> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/02-geschichten/06-gespraech-ueber-beine.xhtml b/OEBPS/Text/02-geschichten/06-gespraech-ueber-beine.xhtml new file mode 100644 index 0000000..0516242 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/02-geschichten/06-gespraech-ueber-beine.xhtml @@ -0,0 +1,109 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8"?> +<!DOCTYPE html> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Gespräch über Beine</title> +</head> +<body> + +<div class="prose"> + + <h3 class="center">Gespräch über Beine</h3> + + <h4 class="center">I</h4> + +<p> +Als ich im Coupé saß, sagte der Herr gegenüber:<br /> +»Ihnen kann man die Beine nicht abtreten.«<br /> +Ich sagte: »Wieso?«<br /> +Der Herr sagte: »Sie haben keine Beine.«<br /> +Ich sagte: »Merkt man das?«<br /> +Der Herr sagte: »Natürlich.«<br /> +Ich nahm meine Beine aus dem Rucksack. Ich hatte sie in +Seidenpapier eingewickelt. Und als Andenken mitgenommen.<br /> +Der Herr sagte: »Was ist das?«<br /> +Ich sagte: »Meine Beine.«<br /> +Der Herr sagte: »Sie nehmen die Beine in die Hand und kommen +dennoch nicht weiter.«<br /> +Ich sagte: »Leider.«<br /> +Nach einer Pause sagte der Herr: »Was gedenken Sie ohne +Beine eigentlich zu tun?«<br /> +Ich sagte: »Darüber habe ich mir den Kopf noch nicht +zerbrochen.«<br /> +Der Herr sagte: »Ohne Beine können Sie nicht einmal ohne +Schwierigkeit Selbstmord begehen.«<br /> +Ich sagte: »Das ist aber ein fauler Witz.«<br /> +Der Herr sagte: »Nicht doch. Wenn Sie sich erhängen wollen, +müßte Sie einer erst auf das Fensterbrett heben. Und wer +wird Ihnen den Gashahn öffnen, wenn Sie sich vergiften +wollen? Den Revolver könnten Sie sich nur heimlich durch +einen Dienstmann besorgen lassen. Wie aber, wenn Ihnen der +Schuß davonläuft? Um sich zu ertränken, müßten Sie ein Auto +nehmen und sich auf einer Tragbahre von zwei Pflegern in den +Fluß schleppen lassen, der Sie an das jenseitige Ufer +befördern soll.«<br /> +Ich sagte: »Das ist doch wohl meine Sorge.«<br /> +Der Herr sagte: »Sie irren, ich überlege, seitdem Sie da +sind, wie man Sie aus dieser Welt schaffen könnte. Meinen +Sie, ein Mensch ohne Beine sei ein sympathischer Anblick? +Habe auch Existenzberechtigung? Im Gegenteil, Sie stören das +ästhetische Gefühl Ihrer Mitmenschen erheblich.«<br /> +Ich sagte: »Ich bin ordentlicher Professor für Ethik und +Ästhetik an der Universität. Darf ich mich vorstellen?«<br /> +Der Herr sagte: »Wie wollen Sie das machen? Sie können sich +selbstverständlich nicht vorstellen, wie unmöglich Sie +sind.«<br /> +Ich betrachtete melancholisch meine Stummel. +</p> + +<h4 class="center">II</h4> + +<p> +Alsbald sagte die Dame gegenüber:<br /> +»Keine Beine haben muß ein komisches Gefühl sein.«<br /> +Ich sagte: »Ja.«<br /> +Die Dame sagte: »Ich möchte einen Mann, der keine Beine hat, +nicht anfassen.«<br /> +Ich sagte: »Ich bin sehr sauber.«<br /> +Die Dame sagte: »Ich muß einen großen erotischen Abscheu +überwinden, um mit Ihnen zu reden, geschweige denn Sie +anzusehen.«<br /> +Ich sagte: »Nanu.«<br /> +Die Dame sagte: »Ich glaube nicht, daß Sie ein Verbrecher +sind. Sie mögen ein kluger und ursprünglich liebenswerter +Mensch sein. Aber ich könnte mit Ihnen wegen der Ihnen +fehlenden Beine beim besten Willen nicht verkehren.«<br /> +Ich sagte: »Man gewöhnt sich an alles.«<br /> +Die Dame sagte: »Daß einer keine Beine hat, verursacht bei +dem natürlich empfindenden Weibe ein unerklärliches Gefühl +tiefsten Grauens. Als ob Sie eine ekelhafte Sünde begangen +hätten.«<br /> +Ich sagte: »Ich bin aber unschuldig. Das eine Bein kam mir +in der Aufregung abhanden, als ich zum ersten Mal meinen +Professorenstuhl einnahm, das zweite habe ich verloren, als +ich, in Gedanken versunken, jenes wichtige ästhetische +Gesetz fand, das zu grundlegenden Änderungen in unserer +Disziplin führte.«<br /> +Die Dame sagte: »Wie heißt dieses Gesetz?«<br /> +Ich sagte: »Das Gesetz heißt: Es kommt nur auf die Struktur +der Seele und des Geistes an. Wenn Seele und Geist edel ist, +muß man einen Körper schön finden, mag er äußerlich noch so +bucklig und entstellt sein.«<br /> +Die Dame hob ostentativ ihr Kleid und zeigte dadurch bis an +den oberen Rand der Oberschenkel wunderschöne, in allerhand +Seide gehüllte, Beine, die wie blühende Zweige aus dem +saftigen Leibe ragten.<br /> +Unterdessen sagte die Dame endgültig: »Sie mögen recht +haben, obwohl man ebensogut das Gegenteil behaupten könnte. +Jedenfalls ist ein Mensch mit Beinen etwas erheblich anderes +als einer ohne.«<br /> +Damit ließ sie mich sitzen, stolz davonschreitend. +</p> + +</div> + +</body> +</html> |