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author | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2022-09-09 22:46:23 +0200 |
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committer | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2022-09-09 22:46:23 +0200 |
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Damals war er zu Tode traurig über die +Erkenntnis des Feindes, deren Wahrhaftigkeit er nach +heftigem Nachdenken nicht leugnen konnte. Er schrieb einen +maßlosen Artikel, der nirgends angenommen wurde. Und eines +Abends betrank er sich ein wenig mit französischem Sekt, um +die angeborene Angst umzubringen, die ihn hinderte, den +Feind zu verhauen. Aber seine Feigheit verließ ihn auch in +der Trunkenheit nicht. Da gab er, unsagbar unglücklich, auf, +sich zu rächen. +</p> + +<p> +Er begann offiziell, einsam und verklärt zu leben. Er teilte +dies mit; agitatorisch wie er oft das Programm einer neuen +Kunstrichtung verkündet hatte. Und mit einer innersten +Feierlichkeit wie bei einem bedeutenden Begräbnis. Noch +seine Niederlage nutzte er aus, sich überlegen zu fühlen. Im +Grunde lebte er kaum anders als bisher. Nur daß er +tatsächlich seelisch trostloser geworden war. Jetzt mußte er +sich so beruhigen: Selbst wenn ich erreichen könnte, was ich +erreichen wollte, würde ich nichts erreichen. Während er +vordem so gedacht hatte: Zwar ist leider richtig, daß ich +nichts erreichen kann, aber was ich erreichen kann, ist +ziemlich schön. +</p> + +<p> +Praktisch, wie Berthold Bryller in gewissen Beziehungen war, +wußte er seine Schwächen allgemein menschlich aufzufassen, +so daß die Verzweiflung, die sich anfangs in hysterischen +Anfällen besonderer Art offenbart hatte, bald – bis auf +seltene Zustände – dem Gefühl einer erhabenen +Gleichgültigkeit wich. Nach wie vor schrieb er seine frechen +und unvorsichtigen Briefe, die ihm viel schadeten, +veröffentlichte er besonders kluge, etwas wahnsinnige +Aufsätze in den wenigen Blättern, mit deren Herausgebern er +zufällig nicht verfeindet war, gründete er Clubs, die ihn +ausstießen, Zeitschriften, in denen er bekämpft wurde. Nach +wie vor machte er sich auch sonst durch seine Beteiligung +überall unmöglich. Uneingeweihte würden allerdings den +Umstand, daß er nicht mehr in dem Café Klößchen zu sehen +war, als ein Zeichen seiner innerlichen Verwandlung bemerken +können, wenn nicht ein an der Tür des Cafés befestigtes +Plakat: +</p> + +<p class="center"> +BRYLLERN IST DER EINTRITT VERBOTEN! +</p> + +<p> +veranlaßt hätte, einen Streit mit dem Wirt als Ursache +seines Fernbleibens anzunehmen. +</p> + +<p> +Aber allmählich wurde dem Doktor Bryller, der doch kein +Trottel war, das hoffnungslose literarische Dasein +unausstehlich. Hinzu kam, daß seine Geldmittel in absehbarer +Zeit erschöpft waren. Er mußte also, unfähig sich +gegebenenfalls zu töten, bedacht sein, durch Arbeit seinen +Lebensunterhalt zu beschaffen. Die schriftstellerische +Tätigkeit war pekuniär ungefähr erfolglos. In eine feste +literarische Stellung zu treten – etwa als Redakteur –, +würde er nicht über das Herz gebracht haben, abgesehen +davon, daß ihn niemand genommen hätte. Was blieb ihm, als +mit dem Rest seines Kapitals die unterbrochenen +Universitätsstudien fortzusetzen, die notwendigen +Staatsexamina zu machen, sich als Oberlehrer eine +gesicherte, ganz angenehme Position zu schaffen. Übrigens +war ihm dieser Beruf durchaus bequem. Überzeugt von der +unverbesserlichen menschlichen Fehlerhaftigkeit, die er an +dem eigenen Leibe erfahren hatte, durchdrungen von der +vollständigen Zwecklosigkeit körperlichen und geistigen +Strebens, ließ er gern jeglichen Trieben ungehemmten Lauf. +Seinen Herrschergelüsten, seinem sonstigen Ehrgeiz, sogar +seinen erotischen Bedürfnissen konnte er als Oberlehrer am +ehesten Genüge tun. +</p> + +<p> +Der Doktor Bryller war trotz seiner Launenhaftigkeit und +häufigen Sonderbarkeiten einer der beliebtesten Lehrer des +Grauen Gymnasiums. Die kleinen Zöglinge vergötterten ihn, +die größeren hingen ihm leidenschaftlich an. Natürlich gab +es auch Schüler, die ihn nicht mochten. Zum Beispiel der +Quintaner Max Mechenmal, den er einige Male ohne +auffallenden Grund geohrfeigt hatte. Das hätte für Doktor +Berthold Bryller beinahe unangenehmste Folgen gehabt. +Gelegentlich der auf die entrüstete Beschwerde des +Quintaners von dem Direktor Rudolph Richter einberufenen +Lehrerkonferenz zeigte sich, daß die große Mehrzahl der +Kollegen im Gegensatz zu den Schülern dem Doktor keineswegs +freundlich gesinnt war. Als er auf die Frage, warum er +geschlagen habe, lächelnd erwiderte, weil ihm Mechenmal +mißfalle, wollte man, dem Vorschlag des angesehenen Kollegen +Lothar Laaks folgend, der vorgesetzten Behörde empfehlen, +ihn für längere Zeit zwecks geistiger Erholung in ein +Sanatorium zu entfernen. Nur der Zufall, daß der gekränkte +Quintaner Mechenmal ein bei Lehrern und Schülern in gleichem +Maße verhaßtes Individuum war: wegen seiner +katzenfreundlichen Verlegenheit und heimlich aufhetzenden +Bosheit, hinderte einen solchen Entschluß. Obwohl der +Kollege Laaks – der einzige, der für Mechenmal Worte der +Anerkennung fand – unter Aufwand vieler schmutziger +Dialektik feurig dafür eintrat. Man begnügte sich, den Herrn +Doktor Bryller auf das Ungehörige seiner Handlungsweise +drohend aufmerksam zu machen. +</p> + +<p class="center"><span class="vsuper">*</span>   <span class="vsub">*</span>   <span class="vsuper">*</span></p> + +<p> +Etwa ein halbes Jahr vor der endgültigen lebenslänglichen +Verwahrung Berthold Bryllers in einem staatlich +subventionierten Irrenheim war ein Geschrei auf dem Hof des +Grauen Gymnasiums. Ein Haufen zumeist kleinerer Schüler +wälzte sich hinter einem zwergenhaften, vergrämten, schiefen +Jungen, dessen Rücken die zarten Anfänge einer +Buckelkrümmung aufwies. Man rief ihm vergnügt und gehässig – +in dem Lärm unverständliche – sicherlich bösartige Neckworte +zu. Er wurde gestoßen, so daß er stolperte. Viele ältere +Gymnasiasten sahen das muntere Treiben belustigt an. Auch +der Oberlehrer Laaks, der die Aufsicht führte, unterdrückte +nicht ein vergnügtes Schmunzeln. In einem Fenster war das +regungslose Gesicht des Doktor Bryller. +</p> + +<p> +Der schiefe Junge ging, ohne sich zu wehren. Gebückten +Kopfes. Oft mußte er mit der Hand über die Augen wischen. +Nur einmal, als einer der Übermütigsten – natürlich der +Quintaner Mechenmal – ihm unter johlendem Beifall der +anderen in das Gesicht spie, warf er sich tief aufweinend +gegen den Angreifer; der lief sofort davon. Mitten durch den +Haufen, der ihm jubelnd überall den Weg verstellte, +verfolgte der weinende Bucklige den Kameraden. Er würde den +Mechenmal vielleicht auch erreicht haben, wenn nicht der +langjährige Untertertianer Spinoza Spaß ihn plötzlich an dem +Buckel wie an einem Haken festgehalten hätte. Spinoza Spaß +grinste gemütlich und boshaft das affenförmige, sehnsüchtig +phlegmatische Gesicht entlang, als er den kleinen +verzweifelten Kohn wie ein Gewicht langsam durch die sonnige +Frühlingsluft bewegte. Er ist durch diese Heldentat einer +der berühmtesten Untertertianer des Grauen Gymnasiums +geworden. +</p> + +<p> +Vorzeitig machten dem sonderbaren Schauspiel einige +mitleidige größere Gymnasiasten ein Ende. Der hagere, +bleiche Primaner Paulus entriß den winzigen unglückseligen +Menschen dem giftig dreinblickenden Spaß und bedrohte jeden +mit Schlägen, der den schiefen kleinen Kohn weiterhin +belästige. Aus Furcht vor Paulus und einigen Gleichgesinnten +ließ man auch – wenigstens vorläufig – den glühenden +Buckligen in Ruh. Der drückte sich die grauen Mauern +entlang. Und wäre am liebsten versunken. Froh war er, als +die Schulglocke das Zeichen gab, in die Klassenstuben zu +verschwinden. +</p> + +<p> +Der Primaner Peter Paulus war schon auf dem etwas finsteren +Gange zu dem geräumigen Zimmer, in welchem der Pastor +Leopold Lehmann den Schülern der oberen Klassen hebräischen +Unterricht zu erteilen pflegte, als der Oberlehrer Laaks ihn +einholte, ihn anrief, ihn in ein geheimnisvolles, sehr +aufgeregtes Gespräch zog. Laaks machte dem Paulus +anscheinend Vorwürfe. Merkwürdig war aber, daß er nicht +aussah wie ein Lehrer, der den Schüler zurechtweist, sondern +etwa wie ein mißtrauischer Verwandter, der sich in einer +Erbschaftsangelegenheit übervorteilt glaubt. Auch das +Verhalten des Primaners war durchaus nicht das Verhalten +eines Untergebenen... +</p> + +<p> +Die Unterredung der beiden mußte sich wohl sehr ausgedehnt +haben. Denn als Peter Paulus noch bleicher als sonst eintrat +und das zu späte Kommen mit einem dienstlichen Gespräch +entschuldigte, hatte der Pastor Lehmann das eigentliche +Pensum längst erledigt; war in einer religiösen Diskussion +begriffen, die er in moderner Weise regelmäßig an den +hebräischen Unterricht knüpfte. Man sprach gerade über Gott +und studentisches Wesen, kam aber nach einigen unwichtigen +Erörterungen zu dem Thema: Abtreibung und Seelenleben, bei +dem man verharrte. Den Anlaß hatte eine Mitteilung in einem +Artistenfachblatt gegeben, die einer sich ausgeschnitten und +zwecks Auseinandersetzung mitgebracht hatte. Der Pastor las +vor: +</p> + +<p class="txtindent spaced"> +Zusammenbruch der berühmten Tänzerin Lola Lalà. +</p> + +<p class="txtindent"> +Die rühmlichst bekannte Varietétänzerin Lola Lalà, die auch +unter der Bezeichnung Lo Lálalà auftrat und deren +Mädchenname Leni Levi ist, mußte, wie ein Korrespondent uns +drahtet, in eine Irrenanstalt gebracht werden, was +gewaltiges Aufsehen erregte. Man fand die Bedauernswerte in +Adamskostüm splitternackt gegen Morgen auf einem Weizenfeld +bitter weinend eine schwere Zigarre rauchend. Herr +Gottschalk Schulz, ein zartfühlender Poet, hat in der +»Zeitung für erhellte Bürger« darüber ein ergreifendes +Gedicht veröffentlicht, das einen pikanten Reiz dadurch hat, +daß – so munkelt man wohl nicht mit Unrecht – der Dichter zu +der armen lieblichen Tänzerin recht herzliche Beziehungen +unterhielt. Deshalb sei dies schöne Gedicht unseren Lesern +nicht vorenthalten: – – – +</p> + +<p> +Das Gedicht hatte die Überschrift: Der Rauch auf dem Felde. +Der Pastor las es aber nicht vor, weil es zu zotig sei. Auch +nicht zur Sache gehöre. Dagegen las er: +</p> + +<p class="txtindent"> +Wie ich aus besonderer, authentischer Quelle in später +Abendstunde noch erfahre, soll die Ursache des seelischen +Zusammenbruchs der Tänzerin ein nach glücklich erfolgter +<span class="spaced">Abtreibung</span> durch einen Einbruch +verursachter Schreck gewesen sein. Eine gerichtliche +Untersuchung ist eingeleitet. +</p> + +<p> +Danach begann der Pastor eine Rede über die Abtreibung so: +»Die Erkenntnis des Menschen gipfelt darin, daß er das am +höchsten entwickelte Erdwesen sei. Das kann kein Mensch +bestreiten.« Er bemerkte nicht das absichtlich übertrieben +unterdrückte Lachen einiger. Und langsam fuhr er fort. Er +verurteilte die Abtreibung als Gott ungefällig vom +religiösen und sozialpolitischen Standpunkt aus. Zum +Schlusse sagte er: »Wir sind modern. Wir scheuen uns nicht, +anstößige Fragen mit sittlichem Ernst zu behandeln.« – +</p> + +<p> +Der einzige, der widersprach, war Peter Paulus. Er geriet – +äußerlich ruhig – in solche Wut, daß er sagte: »Wenn ich +Arzt wäre, Herr Pastor, würde ich selbst –« Da sagte erregt +der Pastor: »Glauben Sie an Gott, Paulus?« Und Peter Paulus +sagte nur: »Nein.« Er wurde einige Minuten vor Schluß der +Lehrstunde wegen Sozialdemokratie und Gottlosigkeit von dem +hebräischen Unterricht ausgeschlossen. +</p> + +<p> +Trotzig ging er hinaus. Warf die Tür. +</p> + +<p class="center"><span class="vsuper">*</span>   <span class="vsub">*</span>   <span class="vsuper">*</span></p> + +<p> +Als der verwitwete Gefängnisgeistliche Christian Kohn sein +einziges herz- und geisteskrankes Kind in eine Anstalt geben +mußte, adoptierte er – niemand weiß warum – einen kleinen +Krüppel. Man schwatzte vielerlei. Am hartnäckigsten erhielt +sich das Gerücht, der Krüppel Kuno sei ein natürlicher Sohn +des Geistlichen. Die Mutter sei die populäre Totschlägerin +Trude, die ihren abtrünnigen Zuhälter erschossen hatte. +Trude war, weil sich herausstellte, daß sie trächtig war, +unter jubelndem Beifall des ganzen Volkes begnadigt worden. +Man behauptet, der mitleidige Geistliche habe Trudes +Schwangerschaft bewirkt. Doch ist das nicht nachgewiesen. +</p> + +<p> +Kuno Kohn verbrachte die erste halbwache Jugend in den +trostlosen steinernen Räumen und Höfen des Zuchthauses. Der +Adoptivvater kümmerte sich wenig um den Jungen. Wochenlang +ließ er sich nicht sehen. Überlassen einer mürrischen +Dienstperson, die in der Hauptsache die dürftige Wirtschaft +des Geistlichen besorgte, ohne ausreichende Pflege, ohne +Spielgenossen, ohne Anregung und Liebe konnte sich das +krüpplige Kind nicht entwickeln. Blieb immer zwergenhaft. +Blaß und verträumt schlich er einher. Verschüchtert und +furchtsam. Gegen Abend wimmelte es auf den winkligen Treppen +mit vergitterten Fenstern, in den großen düsteren Hallen und +Gängen von verwegenen Schatten und schauerlichen Geräuschen. +Ein Robusterer würde solche peripherischen Dinge nicht +beachtet haben, wenn er sie überhaupt bemerkt hätte. Aber +auf den Kuno Kohn drang das Geringste ein, das +Nebensächlichste hatte Bedeutung, entsetzte ihn. Überall und +von allem fürchtete er Unheil. Nichts war ihm vertraut. Die +ewige Angst machte ihn selbst zu einem kleinen huschenden +Gespenst und gab seinen schwindsüchtigen Augen +phosphorisches Leuchten. Wenn er zu später Stunde +weggeschickt wurde, etwa um Milch zu holen oder Petroleum, +betete er in fiebriger Inbrunst zu dem lieben Gott. Atemlos +und kalkig kam er wieder. +</p> + +<p> +Über alles fürchtete Kuno Kohn die tausendfältige Finsternis +vor dem Einschlafen. Früher hatte man ihm eine winzige Lampe +in das Zimmer gestellt, deren rötlicher melancholischer +Schein ihn etwas beruhigte. Auf der weichen Wand tauchten +sonderbarste Fratzen auf und Kämpfe, aber auch +Zinnsoldatenmärsche und ergötzliches Durcheinander von Feen +und Kuchenläden und Königinnen, bis ein Schlaf kam. Seit +einiger Zeit wünschte der Geistliche solche Verweichlichung +der Seele seines Sohnes nicht mehr. Kuno mußte in dem +Dunkelen leben. Weg war das bißchen Sichtbarkeit. Das +unzählige unfaßbare Geschehen des Chaos kugelte sich um den +kleinen Menschen. Mehr Welt drängte sich in dem kurzen +Nachtzimmer des Buckligen, als der ganze große Tag enthielt. +Kuno Kohn hatte den Körper, der in dem Bett liegen sollte, +verloren: war nur noch Schreck und Hilflosigkeit und +Sehnsucht. Am schlimmsten war, wenn sich das wüste Ungefähr +zu Erscheinungen oder Berührungen verdichtete. Dann schrie +der Kohn verzweifelt auf. Entweder hörte man den Aufschrei +nicht oder legte ihm keine Bedeutung bei. In Gefängnissen +schreit es immer in der Nacht irgendwo. Kuno lag oft lange, +bis das unergründliche Loch, das so viel unbegreiflichen +Inhalt hatte, die lebhaften Bilder einließ, die Traum und +Schlaf brachten: Einbrecher, oder vielleicht eine +Droschkenfahrt in der Sonne, einen Besuch bei dem kleinen +kranken Bruder, ein Spiel mit Straßenkindern, die lieben +traurigen Engelaugen der Maria Müller, für die man sterben +möchte. +</p> + +<p> +Des Kuno Kohn gute Bekannte waren die Gefangenen. Nicht die +Wächter; die waren zwar recht freundlich zu ihm, aber ein +instinktives Mißtrauen herrschte verborgen. Dagegen die +Totschläger und Spieler, Lustmörder und Räuber, die +berühmtesten Einbrecher und die Mehrzahl der sonstigen +distinguierten Alteingesessenen begrüßten den kleinen +Buckligen herzlich durch geringes Kopfnicken oder fast +unmerkliches Grinsen, sooft er kam, der stummen grauen +Arbeit mit aufgerissenen Träumeraugen zuzusehen. Nur die +Hehler, Wucherer, Hochstapler, Defraudanten, Bauernfänger, +die meisten Bankerotteure und manche Zuhälter blieben +unerfreut. Besonders angefreundet hatte sich Kuno Kohn im +Laufe der Jahre mit dem jugendlichen Einbrecher Benjamin. +Die beiden saßen oft stundenlang zusammen. – Die Wächter +drückten ein Auge zu... Benjamin erzählte dem Buckligen +schwärmend. Von Sonne. Und Freiheit. Und der Erlösung der +Menschen. Kuno Kohn vermittelte den geheimen Verkehr +Benjamins mit der Außenwelt und erwies dem Freunde allerlei +Gefälligkeiten, er verschaffte ihm Zigaretten, Bücher, +kleine Werkzeuge. Als einmal in dem Käfig Benjamins ein Band +Goethe und etwas Zigarettenasche gefunden wurde, hatte man +Kohn in Verdacht. Nach dem kurz darauf erfolgten Ausbruch +des Einbrechers, der nur mit fremder Hilfe geschehen sein +konnte, machte man dem Geistlichen Mitteilung. Der verbot +dem Sohn das Zusammensein mit den Eingesperrten. Die Wächter +durften ihn nicht mehr einlassen. +</p> + +<p> +Die großen Probleme, die den Kuno Kohn, sobald er +einigermaßen denken konnte, immer wieder quälten, waren +hauptsächlich Tod und Gott. Im Alter von vier oder fünf +Jahren glaubte er nicht an den Tod, wenigstens nicht an +seinen. Und er betete täglich zu dem lieben Gott, bevor er +sich hinlegte: »Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll +niemand drin wohnen als Gott allein.« Aber wenn er während +des Tages etwas getan hatte, was ihm sündhaft erschien – und +das geschah fast immer – fügte er (im Bett sitzend; stehend, +wenn es besonders schlimm war) lange und reumütige Monologe +hinzu, bis er, übermüdet, mit noch gefalteten Fingern und +Tränen einschlief. Wenn Finsternis und Angst kamen, betete +er immer. Allmählich mehrten sich die Zweifel. Er mußte an +seinen Tod glauben und den Glauben an Gott verlassen. Als er +in die Schule kam, begann die Fülle von Leiden, die für +manche Kinder damit verbunden sind. +</p> + +</div> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/03-fragmentarisches/02-notizen.xhtml b/OEBPS/Text/03-fragmentarisches/02-notizen.xhtml new file mode 100644 index 0000000..cac3242 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/03-fragmentarisches/02-notizen.xhtml @@ -0,0 +1,355 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8"?> +<!DOCTYPE html> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Notizen zum Roman</title> +</head> +<body> + +<div class="prose"> + + <h3 class="center">Notizen zum Roman</h3> + + <h4 class="center spaced">Das Ende</h4> + + <div class="center"> + <p class="dispinlblock left"> + Irrenhaus: Bryller, Lola.<br /> + Ertrinken im Meer: Kohn, Maria.<br /> + Selbstmord: Schulz, Paulus.<br /> + Lebenbleiben: Spinoza Spaß, Laaks, Mechenmal.</p> + </div> + +<hr class="spacer1" /> + +<p> +I. Auftritt im Schulhof. Peter Paulus für, Laaks gegen Kohn +(Kohn hatte sich verunreinigt, Max Mechenmal). Später Kohn +an Paulus sich anschließend gegen Laaks. Eifersuchtsszenen. +Infolge der Laaksschen Intriguen fällt Paulus durchs +Abiturium, schießt sich tot. Abschiedsbriefe (rührend an +Kohn, offizielles Begräbnis, Kohn rennt davon). +</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Oberlehrer Dr. Bryller läßt alles geschehen, redet dem +geliebten Paulus sogar zu, sich zu töten: Töte dich, ehe es +zu spät ist (solange du noch dazu fähig bist). Es hat zwar +keinen Zweck, bereitet dir aber etwas wie Genugtuung. (Gott +ist eine Zeiterscheinung.)</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Die Leiche wurde wohlverpackt in einem Kasten auf den +Friedhof getragen, wo man sie unter einer Garderobenmarke +für ewig abgelegt.</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p> +II. Szene Kohn, Laaks in Badewanne.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Laaks machte einen Angriff auf Maxens Weiblichkeit. – Laaks +und Kohn treffen sich. Kohn grüßt, Laaks holt ihn ein. Lädt +ihn ein. »Nein, Herr Oberlehrer.« Kohn zittert – – »Wollen +Sie ein Bad nehmen?« – »Ich habe schon gebadet.« – Mondlicht +beleuchtet die beiden in der Badewanne. In haariger +Nacktheit – seine behaarten Weiberbeine – ein Männerfreund.</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p> +III. Szene in homosexueller Kneipe.<br /> +(Siehst du, mein Junge, so ist das Leben – er kniff ihn +zärtlich in den Hintern.)</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p> +IV. Abtreibungsszene.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Die Varietétänzerin Lola Lalà: Die kluge Frau sagte +scherzend: Wenn Frauen auseinandergehen, dann bleiben sie +noch lange stehn. – – Auf Wiedersehn, mein Fräulein. Lola +Lalà, alias Lene Levi läuft wie wahnsinnig.</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p> +V. Einbruchsszene bei Lola: – – – – – – – – – – – – – – –<br /> +– – Der berufsmäßige Einbrecher Benjamin, der unter dem Bett +lag, wußte nicht, was er dazu denken sollte. Sein Kopf +schüttelte sich, dabei stieß der Hirnschädel einen sinnlosen +Bettpfosten, der daraufhin einen starren Ton von sich gab. +Der Mann Benjamin erschrak. Die Lampe fiel um. Gardinen +brannten sofort.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Plötzlich hatte sich auch ihr (Lola Lalà) Körper erschreckt. +Alles in der Fresse von schleckerndem Feuer. Lief hinaus. +Tür zu. Schloß ab. Zweimal. Sinnlos. Plötzlich hinter der +Tür Männerrufe, kläglich: Hilfe, Hilfe. Schrie sie: Mörder, +Mörder, Mörder. Rannte. Auf der Straße im Frieden des +Abends: Leute aus Häusern. Ratlos. Die Rennende an allen +vorüber. Mörder, Mörder... Eine Verrückte hinter ihr her. +Einem Hundefänger gelang, sie zu fassen. Mörder, Mörder. Mit +ihr in offener Droschke und durch die Stadt. Mörder, Mörder. +Fenster auf, Wagen bleiben stehen. Gelaufe. In +Irrenabteilung des Krankenhauses.<br /> + +Inzwischen brennende Stube. Einbrecher Benjamin auf Fenster +strampelnd: Hilfe. Unerlaubte Handlung. Hilfe. Da soll man +nicht Sozialdemokrat werden. Heulend: Falle der Polizei, +anständigen Menschen verbrennen lassen. Hilfe, Hilfe. +Feuerwehr kommt. Hilfe. Wasser bespritzt ihn. Vom Regen in +die Traufe. Kann ja auch gleich in den Fluß springen. +Ersäuft.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Als die halbverweste Leiche aus dem Wasser gezogen wurde, +fing der noch betrunkene Arzt an, faule Witze zu machen. Dr. +Bryller übergab sich.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Alles Reden, Denken, Dichten ist unnütz; eine aus dem Wasser +gezogene vor dir im Tode liegende Leiche macht alles +Geschreibe zuschanden mit ihrer schrecklichen Verzerrtheit. +Sieh, wie das Gesicht und die Hände im Krampf wie in Eisen +gegittert sind! Wie sie schreiend aus sich heraus wollen!</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p> +VI. Irrenhausszene: Die rothaarige verrückte Schwester des +Martin Müller (Maria).</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +»Die Erde wird dunkel«, sagte die verrückte rothaarige +Schwester des Martin Müller, Maria. (Sie liebt ihren +Bruder.) Den kleinen Kohn streichelt sie, aber: »Ich kann +nur Heilige lieben«, sagt sie. Die Melodien des Abends, der +wie Seidenschleier alles verhüllt: die grünen Bäume, den +sehnsüchtigen Erdboden, die Bank mit dem rothaarigen Mädchen +und dem kleinen Buckelkohn, – waren ringsum.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +In der Irrenanstalt: Die eine Insassin war schon eine +ziemlich angegraute Dame, die sagte: »Wenn man sich schon so +lange hier aufhält, bleibt man da.« – Ein moderner +Schriftsteller, der sich einbildet, er sei nur dort, um das +Milieu zu studieren, in Wirklichkeit aber Gehirnerweichung +hat. etc.</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p> +VII. Kohns erste Geliebte (auf Laaksens Veranlassung): +Hysterische Person, die Wanzen krochen nur so in der Küche +herum.</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p> +VIII. Das Ende des Dr. Bryller.</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p> +IX. Schriftsteller Schulz und Kokotte Kitty.<br /> +(»Nicht so laut«, sagte Kitty, als Schulz ihr von Gott +erzählte.)</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p> +X. Vortrag des Gelehrten Neumann:<br /> +Sensation: Ein erst sechzehnjähriger Gelehrter namens +Neumann spricht über Mutterschutz und Kindererziehung – – – +scheint ihm hier nicht der Ort, über gefallene Mädchen zu +reden – – – Die Frau hat eingesehen, daß ihr der Platz +gebührt, auf den sie gehört – – – Das Elend der Prostitution +– – Posierte Handbewegungen. Stimme. Augenbrauen in die Höhe +ziehen. Ich muß mich in Extremen ausdrücken. Ich muß den +Zionismus als eine besondere Abart der Prostitution +entschieden verurteilen. Mutterschutz: Die Mutter muß gegen +ihre Kinder geschützt werden (neue sensationelle +Auffassung), sagte eine Dame.<br /> +– – – Sie, eine Germanistin, warf in die Debatte: »Wo du +deinen Glauben gelassen hast, mußt du ihn holen.«</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p> +XI. Kohns zweite Geliebte: Backfisch (in der einen Hand +hatte sie eine illustrierte Himmelskunde).</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Er liebte sie in der Weise: er schrieb sich häufig auf, wenn +sie etwas Komisches sagte, um es später zu verwenden +(schriftstellerisch). Aber in einem Kaffeegarten an einem +Teich – überall war schon Abend, und Dunst hing wie Schleier +an den Bäumen und Tischen und Kellnern – nahm er sein +Notizbuch aus der ausgerissenen Innentasche seines +Oberrockes und las ihr leise vor... Sie lachte und er lachte +– stiller und unglücklich. Jeder dachte: Das ist nicht das +Richtige... sie dachte noch: Der ist nicht innig... Er +dachte noch: Das arme Ding, wie fern ist sie mir... dann +gingen sie rudern.</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p> +XII. Kneipenszene in Nürnberg: Kunstmayer.<br /> +Alle selig besoffen, können kaum noch richtig sprechen. +Lallen. Einer sagt: »Dede do dadä.« – – – Ob sichs lohnt um +dieser tierisch Dahindösenden? – – – »Sieh, wie ein +Ochsenauge ist der Blick dieses Arbeiters nach innen +gekehrt«, sagte Paulus.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +»Die oberen Zehntausend regieren die Welt«, brummte der +Kellner bitter, dann spielte er eine wilde Variation von +»Puppchen, du bist mein Augenstern« auf einer Mundharmonika. +Von Zeit zu Zeit schlug er dann gegen eine Kante. Die Hand +rieb er an einem Ärmel oder Hosenbein blank.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Karl Kunstmayer, heruntergekommener Kabarettist: Ich +schweinigle gern... – ein ganz famoser Kerl, philosophisch +tip top, aber ist zu ideal – – –<br /> +Man war in wehmütiger Stimmung. Kunstmayer sang leise: »Das +haben die Mädchen so gerne.«</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p> +XIII. Ertrinken im Meer<br /> +Ich habe eine Angst, daß auch das Mädchen ersoffen ist. +Nebenbuhler in dem Meer verunglückt (ertrunken). »Es ist +gemein, daß man darüber höchstens ein Gedicht machen kann +oder plötzlich den Schluß zu einer Geschichte findet«, +schrie der tote Kohn. Während sie gingen, fanden sie überall +weiße Sonderblätter der Zeitung über das Geschehnis. – – – +»Das ist eine Brutalität«, sagte ein anderer. »Dies ist der +richtige Ausdruck.« – »Endlich!« seufzte erlöst ein anderer. +Kohn schrie: »Ich will aber keinen Schluß zu einer +Geschichte haben. Das ist gemein. Ich komme von Sinnen. +Aufpeitschen will ich. Quälen will ich euch, nicht euch +befriedigen. Heulschreie müßt ihr aus euch stoßen. Ihr müßt +euch auflösen in Schmerzen.« Der tote Kohn wurde nicht +empfunden.</p> + +<hr class="fin" /> + +<p class="center spaced"> +Detektiv Daniel</p> + +<p> +Ein Gewitter machte Krach. Der Detektiv Daniel fuhr aus dem +Schlaf. Er sagte: »Die verfluchte Ruhestörung.« Da klopfte +es erregt an die Tür. Die Tänzerin Lola Lalà fand sich ein.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +»Es gibt viel zu wenig Einbrecher«, sagte der Detektiv +Daniel. »Es gibt weniger Mörder, als man denkt«, sagte +Daniel, die ängstliche Frau beruhigend.</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p class="center spaced"> +Max Mechenmal</p> + +<p> +Er nahm das junge Ding, nachdem er sich erst nach dem Alter +erkundigt hatte, nur erotisch überlegend, daß er zu ihr +Liebesworte spreche und sich im stillen darüber lustig +mache, also ein recht schlechter Kerl sei. Einigermaßen +stolz auf die Erkenntnis seines schlechten Charakters, +beruhigte er sich und beschloß, das Ding zu vergewaltigen.</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p class="center spaced"> +Berthold Bryller</p> + +<p> +»Kuno Kohn ist dasselbe in Grün, was Else Lasker-Schüler in +Blau ist«, sagte Bryller.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Wenn er ein Mädchen loswerden wollte, erzählte er ihr +wunderschön-rührend von seiner Lues, stellte sich als +Märtyrer dar, der um ihrer Gesundheit willen das Opfer +bringe. Die meisten Mädchen hielten ihn weinend für einen +bedeutenden und sehr edlen Menschen. Nur eine fragte einmal +unverschämt, warum er das nicht vorher erzähle.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Gegensatz zwischen dem wurstigen gewandten Nihilismus +Bryllers und der reinen Verzweiflung des Paulus.</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p class="center spaced"> +Oberlehrer Laaks</p> + +<p> +Ich habe Sehnsucht, Liebe und was weiß ich für sie. – Da +könnten komische Dinge geschehen.</p> + +<hr class="spacer1" /> + +<p class="center spaced"> +Lola Lalà</p> + +<p> +Sie prahlte mit ihrer zeitweisen und teilweisen +Unberührtheit.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Sie sagte: Wie gesagt, ich bin sichtlich erschrocken. – – – +Ich finde dies mit Recht albern. – – – Diese wirklich kurzen +Zeilen. – – – Er liebt mich nur erotisch. – – – Ich lüge ja +immer. – – – Der hat mich sehr lieb. – – Jede Tänzerin hat +bekanntlich einen Freund. – – –</p> + +</div> + +</body> +</html> diff --git a/OEBPS/Text/03-fragmentarisches/03-ideen.xhtml b/OEBPS/Text/03-fragmentarisches/03-ideen.xhtml new file mode 100644 index 0000000..7407d04 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/03-fragmentarisches/03-ideen.xhtml @@ -0,0 +1,259 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8"?> +<!DOCTYPE html> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Ideen, Bilder und Situationen</title> +</head> +<body> + +<div class="prose"> + + <h3 class="center">Ideen, Bilder und Situationen</h3> + + <h4 class="center">(Notizen)</h4> + +<p> +»Ich bin ein Nihilist, wie er im Buch steht«, sagte er, +erstaunt über das furchtbare Wort.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Ich gieße meine Augen in meiner Hände Grab.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Der Kopf sitzt, eine Geschwulst, auf einem ausgestopften +Anzug. In einer Tasche eine prachtvolle Miniaturausgabe des +Konkursrechtes, in der anderen ein wertvolles kleines +Strafgesetzbuch.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Lampen, die Blumen der Nacht, glimmen.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Nackte Finger schleichen, spielende weiße Schlangen, hin zu +einem Revolver. Und alle Männer blicken. Der Himmel fließt +um die Nackte wie ein Tanzkleid. Sie schießt den Spiegel +tot. – – Schreit auf, hebt Hände. Aus zitronenfarbenem +Himmel fällt ein Weiß in die grüne Erde.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Er spielte an einem Pickel über dem Halskragen, drückte +wiederholt, so daß die Stelle rot wurde und aufschwoll, bis +der Pickel platzte. Er besah den Eiter auf der Hand, zog ein +Tuch aus einer Tasche, wischte die Hand ab, hielt das Tuch +an die wunde Stelle, saß verloren traurig. »Der Mensch ist +hochinteressant«, sagte eine hysterische Dame in dem +Vorbeigehen.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Die Erde flackert irgendwo.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Mir passiert häufig beim Lesen einer kitschigen rosanen +Geschichte, daß mir trotz des inneren Lachens ein Schauer +durch den Körper geht.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Die Erde, das Vieh.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Ich bin in meinem schmerzenden Kopf.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Die Luft fliegt schmierig umher. Sie bleibt an den Häusern +kleben und an den Händen der Menschen.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Sammlung: Berühmte Luetiker.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Ich will aufhören, langsam zugrunde zu gehen.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Daß geistige Leute sich nicht unterhalten können.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Weib ist nur ein Vorwand für namenlose Sehnsucht.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Ich liebe die Menschen, nicht Einzelne. Ich leide mit den +Elenden um des Elends wegen.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Er fraß den Schlaf.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Gespräch: »Sie will sich töten.« Er: »Am sichersten wäre +es.«</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Ihre Augen lagen, leuchtender Schmuck, in ihrer Haut.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Ich bin ja nur ein armes, altes, dickes, schwaches Weib.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Ein Reiter ging, sich auf einen Regenschirm stützend, +nachdenklich durch die sonnigen Straßen.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Ich bin mir überlegen.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Die Vielheit der Frauenzärtlichkeiten läßt erst das Ideal +»Mein Weib« konstruieren. Man muß sich bewußt sein, daß +tatsächlich – Gottseidank – ein ständiger Wechsel notwendig +ist. Und eine ist am Strand – und eine liest am Abend – und +eine – – –</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Ein Pferd machte Laufschritt.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +»Ich finde das unreif und schlecht beobachtet«, spricht +Backfisch von erotischer Skizze.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +»Der strengste Objektivismus ist die höchste Moral«, sagte +mein Bruder, als er mich schlug. Das ist eine sehr edle +Anschauung.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Idee zu einem Drama: Befriedigung ist auch das Letzte nicht.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Er sank hinunter. Tief, tief in einen Schlaf hinein wie in +einen Sarg aus sanften Frauen.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Ein Vogel knarrte im Baum.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Auf einem hohen Berg lag ein bärtiger Kopf, neben ihm ein +Bauch. Auf dem Bauch spielten fleischige Finger +melancholisch mit einer dicken goldenen Kette, die wie Feuer +glitzerte.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Augen und Sehnsucht: Schwarze Flammen aus dem Gesicht +beleuchten die weiße Stirn, hinter der tausend mit Sehnsucht +gefärbte Bilder funkeln.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +In ihrem Hirn tanzte gerade ein schöner Geliebter.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Ihre Augen waren ein lichtbraunes Gewand.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Caféhaus: Alte fette Dirnen (Großmütter) mit schabiger Haut +– baumelnde dicke Beine –, junge mit schwarzen Fingernägeln +in neuen koketten Kleidern.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Er betete in die Luft, mit wundem Rücken und aufgerissenem +Maul, er rief: »Mein Körper ist ein Bett, in dem gehurt +wird.«</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Manche Dirnen haben so viel sanft überlegene Mütterlichkeit +um die Augen und sind die hilflosesten Kinder.</p> + +<hr class="spacer2" /> + +<p> +Der abgelehnte Geliebte: Er geht durch viele Straßen und +Stunden. In jeder Verzweiflung. Stellt sich vor den Spiegel. +Hat sich lieb.</p> + +<hr class="spacer2" /> + + <h3 class="center">Die Tiere</h3> + + <h4 class="center">Schauspiel</h4> + +<p> +Grundgedanke: Heilige Sehnsucht aus dem tierischen +Triebleben zur seelischen Reinheit. Je größer der Dreck, +desto heftiger die Sehnsucht. Aber vergebens: die +Sehnsüchtigen gehen im Dreck unter.<br /> +Nur der Bürger, der sich über nichts schwere Gedanken macht +und nichts tief empfindet, blüht im Dreck. +</p> + +</div> + +</body> +</html> |