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+ <title>Der Selbstmord des Zöglings Müller</title>
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+
+<div class="prose">
+
+ <h3 class="center">Der Selbstmord des Zöglings Müller</h3>
+
+<p>
+Ein Herr Ludwig Lenzlicht war Erzieher und Hauslehrer in
+einer Anstalt für psychopathische Kinder. Er wurde immer
+»Herr Kandidat« gerufen. Er war bartlos wie ein
+Schauspieler, auch sprach er so. Meist trug er eine strenge
+scharfe Maske auf dem Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+Dieser Herr Lenzlicht fand zwei Tage nach der Beerdigung des
+Zöglings Martin Müller (der hatte sich vorher mit den
+Strümpfen der Erzieherin Nora Neumann an dem Fensterriegel
+einer Bodenluke erhängt) in einem dunklen Winkel seines
+Pultes ein Schreibheft. Er nahm es heraus. Und sah es an.
+Auf dem Etikett war zu lesen: Dieses Werk widmet Martin
+Müller den neuen Primitiven. Auf der ersten Seite war zu
+lesen: Lieber Lenzlicht, Sie sind der einzige von den
+Imbezillen der Anstalt, dem ich etwas Verständnis für die
+Betrachtungen zutraue, die ich hier niedergeschrieben habe.
+Doch daß auch Sie an meiner Persönlichkeit, ohne deren
+Kulturkraft zu fühlen, wie an einem leeren Gesicht
+vorbeigerannt sind, armer Blinder, wird Ihnen die Lektüre
+beweisen. Vielleicht werden Sie halbhell. (Dann wären Sie
+ein Glücklicher zu nennen.) Ich werde mich jetzt in der
+Dachluke zerstören, ein Einsamer in der Erkenntnis. Mein
+Werk wird dauern. Martin Müller.
+</p>
+
+<p>
+Herr Lenzlicht wunderte sich, als er die Sätze las. Nachher
+dachte er über Größenvorstellungen bei Knaben. Er war nicht
+lustig und nicht traurig, aber er sah finster aus. Das
+Denken war ihm keine Leidenschaft, deshalb las er bald
+weiter.
+</p>
+
+<p>
+Auf den nächsten Seiten waren einige Abhandlungen über den
+Wert der Kunst geschrieben, über ihre Zukunft, über die
+Wechselwirkung der einzelnen Künste, über die Architektur
+des literarischen Stils, über die neuen Primitiven, die, von
+Müller ausgehend, eine siegessichere Revolution in dem
+Kunstleben herbeiführen würden. Die Abhandlungen füllten das
+Heft fast. Herr Lenzlicht las sie ohne regere Anteilnahme,
+oft überblätterte er Seiten.
+</p>
+
+<p>
+Der letzte Aufsatz des Heftes schien ihn mehr zu
+interessieren. Die Augen waren weit, sie klammerten sich an
+die Schriftzeichen. Auch hielt er das Papier wie ein
+Kurzsichtiger; und mit beiden Händen. Manchmal sprach er
+etwas Undeutliches. Oder er lachte, ohne es zu wissen. Oder
+er lachte, wie einer Donnerwetter sagt. Oder er ließ die
+Zunge aus dem Mund hängen. In dem Heft war zu lesen:
+</p>
+
+<p>
+Ich sitze an dem Arbeitstisch und träume, was dem guten
+Lenzlicht bedenklich erscheinen würde: Die Jungen dürfen
+nicht träumen. Und dem Lenzlicht ist schon aufgefallen, daß
+die Haut um meine Augen wie Asche geworden ist. Er sagt
+häufig mit sonderbarer Betonung: ob ich denn schlecht
+schlafe, ich sähe so komisch aus. Einmal wurde ich
+ärgerlich, ich sagte: »Sie auch, Herr Kandidat.« Verlegen
+lächelnd schlug er mich blutig.
+</p>
+
+<p>
+Ich mußte das Schreiben unterbrechen, weil Fräulein Neumann
+hineinkam. Sie hat heute bunte Beine mit Lackschuhen, das
+reizt mich. Ich hatte mir zwar vorgenommen, sie nicht mehr
+zu beachten... Sie hat sich neulich so prüde gezeigt... Sie
+war nachmittags in die Stadt gefahren. Sie kam spät zurück.
+Ich begegnete ihr auf der Treppe. Sie riß sich aber los. Und
+sagte erregt: »Bett ist Bett.« Und ging in ihre Stube. In
+den folgenden Tagen sah ich sie nicht. Der Hausdiener
+Hermann sagte, sie müsse das Zimmer hüten. Ich fragte,
+warum. – Er sagte, sie habe sich verlobt. Er schmunzelte.
+</p>
+
+<p>
+Mir sind die erotischen Unterhaltungen allmählich ein Greuel
+geworden. Immer versuche ich, frei zu werden. Es gelingt
+selten. Ich weiß, daß ein begreifendes Weib mich erlösen
+kann. Hier gibt es das nicht: Fräulein Neumann ist ein
+albernes junges Ding von achtundzwanzig Jahren. Die Köchin
+ist ein unreifes Schwein. Das Stubenmädchen Minna ist
+hochmütig, sie ist ohne Grund unzugänglich. In Betracht käme
+vielleicht die Leiterin, Doktor Mondmilch; aber wenn ich
+einmal versuche, ihr meine Leiden und Schönheiten in ernster
+Unterhaltung verständlich zu machen, sehnsüchtig auf ihre
+Augen schaue, mich ihr gebe... ist sie fremd, macht Notizen,
+hat geheime Unterredungen mit Lenzlicht, verordnet mir
+Beruhigungsmittel. Sie ist sehr brutal, ich glaube zuweilen:
+sie liebt mich heimlich. Sie scheint unglücklich zu sein,
+ich habe sie gern. –
+</p>
+
+<p>
+Gestern konnte ich nicht weiterschreiben, weil der fette
+Idiot Backberg mich zu Tisch rief. Ich sitze neben der
+Russin Recha. Die kneift mich gern in die Beine; sie sagt,
+ich sei zu dick. Den langen Lehkind küßt sie, weil er wie
+ein Skelett aussieht. Überhaupt vertrage ich mich mit den
+Viechern, die man hier zusammengebracht hat, nicht. Täglich
+ist Ärger. Besonders der überaus kleine siebenjährige Max
+Mechenmal – übrigens ein außergewöhnlich unbedeutender
+Mensch – macht mir viel zu schaffen. Er mag mich nicht, weil
+er meine Überlegenheit fühlt; er versucht auf jede Weise,
+mich unmöglich zu machen. Er ist hinterlistig und feig.
+Niemand findet ihn nett. Er tut nichts lieber, als uns
+aufeinander zu hetzen, arge Klatschereien zu verbreiten,
+möglichst viel Schaden anzurichten. Er versteht, sich in dem
+Hintergrund zu halten, in dem geeigneten Augenblick zu
+verschwinden. –
+</p>
+
+<p>
+Einmal schrieb ich, nichts Böses vermutend, in unserem
+geräumigen Bade- und Klosettraum (hier bin ich vor
+Überraschungen sicher) eine längere Arbeit über den
+»Schwindel von dem Genie«. Ich führte etwa aus: Genie ist
+ein Titel, keine Eigenschaft. Das wird nicht bedacht,
+deshalb ist die große Verwirrung. Titel ist Zufallssache,
+zumeist verdächtig. Wer Genie genannt wird, ist darum nicht
+ein genialer Mensch. Geniale Menschen werden diesen Titel,
+der von der Menge verliehen wird, regelmäßig nicht erlangen.
+Die genialsten Menschen aller Zeiten sind gewiß in
+Tollhäusern und Gefängnissen geborsten. Wer von tausend
+Alltagsleuten verstanden wird, geliebt wird... gilt mir
+nicht. –
+</p>
+
+<p>
+Da wurde ich durch das langsame, seelenvolle Geschrei des
+blinden kleinen Kohn, mit dem ich trotz meiner
+antisemitischen Grundsätze innig befreundet bin, erschreckt.
+Ich sprang auf, eilte hinaus. Ich sah, wie Max Mechenmal hin
+und her lief, den kleinen Kohn in die Beine zwickte oder
+ähnliche Bosheiten tat; dabei rief er: »Fange mich.« – Der
+kleine Kohn war bleicher. In seiner Hilflosigkeit. Er hielt
+den Rücken gegen eine Wand. Die dünnen leidenden Hände
+tasteten in der Luft... Ich habe niemals so viel
+konzentrierten Schmerz gesehen, wie auf den verstorbenen
+Augen des kleinen Kohn lag. Ich eilte, ohne mir Zeit zu
+lassen, die Kleider in Ordnung zu bringen, auf Mechenmal zu,
+um ihn für die rohe Gesinnung zu züchtigen. Meine Hose wurde
+durch einen Nagel, der aus der Wand ragte, beschädigt.
+Mechenmal benutzte die Verzögerung, schlüpfte an mir vorbei,
+lief in den Klosettraum, den er hinter sich verriegelte. Ich
+schlug an die Tür. Er sagte: »Besetzt!« Ich war sehr
+ärgerlich. Mir fiel zudem ein, daß ich die Papiere, auf
+denen die Arbeit über den »Schwindel von dem Genie«
+geschrieben war, in der Eile vergessen hatte mitzunehmen.
+Ich rief, er möge sie herausgeben. Er antwortete nicht.
+Später hörte ich, wie er gewaltig kicherte. Und ich wußte:
+Das Manuskript, das ich der neuen Zeitschrift »Das andere A«
+einreichen wollte, werde ich nicht wiedersehen. Traurig ging
+ich fort –
+</p>
+
+<p>
+Ach, der kleine Kohn ist nun leider tot. Er ist an seinen
+Gespenstern gestorben, er hat mir das oft vorausgesagt.
+Seine Gespenster hat er gesehen, der blinde kleine Kohn.
+Manchmal, wenn heller Tag war. Dann fand man ihn zitternd
+und weiß in einem Winkel. Die Beine hatte er so weit
+angezogen, daß die Oberschenkel gegen die eingesunkene Brust
+gepreßt waren. Zwischen den Knien lag der Kopf. Die winzigen
+erschrockenen Fingerchen krampften sich um die Schuhspitzen.
+Wenn man ihn berührte, schrie es aus ihm. Der Schrei war so
+gellend grauenhaft, daß man unwillkürlich losließ, als hätte
+man einen Stoß erhalten. Sooft das geschah, war man ratlos
+wie bei dem ersten Mal. Doktor Mondmilch wurde gerufen. Sie
+streichelte ihn ganz wenig. Die Starrheit löste sich in
+Schluchzen auf. Er bekam Tropfen, wurde in sein Bett gelegt,
+schlief schlimm. Mechenmal rief, daß es bis auf die Straße
+schallte: »Kohn ist wieder verrückt.«
+</p>
+
+<p>
+In der letzten Zeit hatten sich die Anfälle gehäuft,
+besonders nachts. Die Ohnmachten waren tiefer, die
+nachfolgende Ermattung trostloser. Als an einem Abend Doktor
+Mondmilch, einer Einladung des Tier- und Nervenarztes Bruno
+Bibelbauer folgend, für längere Zeit weggegangen war, trat
+die Katastrophe ein. Der kleine Kohn lag bald tot in dem
+Bett. Mechenmal sagte: »Jetzt stört er einen wenigstens
+nicht mehr, wenn man schlafen will.« Der fette Idiot
+Backberg freute sich auf die Beerdigung. Die Köchin heulte;
+und das Stubenmädchen Minna. Nora Neumann hatte sich in ein
+Zimmer eingeschlossen; ich glaube, sie dichtete. Die Russin
+Recha war verschwunden; nachher fand Lenzlicht sie in dem
+Sterbezimmer. Sie saß auf dem Bett, hielt die eine Hand
+Kohns verzückt an ihr Herz, mit der rechten Hand zog sie das
+Lid seines rechten Auges hin und her. Ich hörte, wie sie
+weinte und sagte: das sei so interessant. Lenzlicht
+schimpfte wehmütig.
+</p>
+
+<p>
+Noch jetzt sagt Mechenmal, wenn er von dem kleinen Kohn
+spricht: »Der war ja verrückt.« Ich bestreite das. Jeder
+nicht stupide Mensch hat dann und wann Erlebnisse, die mit
+den althergebrachten, allen zugänglichen Gesichten nicht in
+Einklang zu bringen sind. Manchmal ist man feinfühliger als
+sonst und als die anderen. Wenn man allein ist, die
+bekannten Dinge ruhiger sind... vielleicht, wenn Abend ist,
+bei einer halbhellen Lampe... in der Dämmerstunde in
+einsamen Räumen... in Nächten, die keinen Schlaf tragen. Da
+heben sich aus der Stille Geräusche, die ich niemals gehört
+habe, die ich nicht erklären kann. Ich schrecke auf –
+fürchte mich – will in die heiße Helligkeit zu vielen
+lustigen Menschen – will nicht hören... höre feiner. Die
+Stille reißt auseinander. Alles klafft... und klingt.
+Bewegung kommt in die Gegenstände. Bösartige Schatten
+ängstigen. Alle Formen verlieren ihre Gewohnheit. Ich
+warte... auf ein entsetzliches Wunder, auf Unkörper.
+</p>
+
+<p>
+Ich bin ein entschiedener Feind von Geistern und Gespenstern
+und ähnlichen Dingen. Ich finde diese Erscheinungen wenig
+sinnig und ohne Witz, ich will nichts mit ihnen zu tun
+haben. Und konnte doch nicht hindern, daß mir erst kürzlich
+gegen die Mittagstunde eine antike Frauengestalt mit herben
+Gesichtszügen erschienen ist. Ich war davon unangenehm
+berührt. Um so mehr, als mir später einfiel, daß das
+möglicherweise meine selige Mama gewesen ist.
+</p>
+
+<p>
+Es ist nicht weniger unvernünftig, die Geister zu leugnen,
+als unvernünftig ist, Wunder anzuerkennen. Wenn Gespenster
+alltäglich wären, würden die Philosophen ein Naturgesetz für
+sie konstruieren, damit man sie daraus herleiten könnte. Und
+ohne Aufregung übersehen könnte.
+</p>
+
+<p>
+Ich werde mich weiteren Grübeleien über diese verwirrten
+Dinge entziehen, indem ich mir das Leben nehme. Man wird
+empört sein. Mir die Berechtigung absprechen, über mich zu
+verfügen. Man wird mich für überspannt erklären. Und das
+medizinisch begründen. Um sich zu beruhigen; denn wenn jeder
+so dächte, gäbe es bald ein allgemeines Protestieren gegen
+das Dasein. Das Leben würde boykottiert. Das darf nicht
+geschehen. Wenn man fragt: warum nicht? – wird man ein
+Sophist gescholten. Die Leute sterben nicht gern, das heißt
+Lebensenergie. Sie helfen sich mit Göttern und heiterer
+Weltanschauung. Wenn einem der Jammer doch zu grell wird,
+fährt er in ein besseres Irrenheim.
+</p>
+
+<p>
+Zu dem Entschluß, mich von mir zu befreien, bin ich vor
+langer Zeit gekommen. Der wichtigste Beweggrund war: ich bin
+mir ernsthaft unsympathisch. Ich kann zufällig nicht
+aushalten, über ein ganzes Leben bei mir zu bleiben. Ich
+kenne mich zu genau. Ich habe häufig geweint, daß ich von
+mir nicht loskommen kann. Ich empfinde mich als eine
+häßliche Last. Ich möchte in einem mutigen, ehrlichen,
+reinen Jungen sein. Mein Mensch ist unwahr, unästhetisch,
+plump. Ich weiß, daß der Tod mich gründlich zugrunde richten
+wird; der Gedanke ist für mich Ursache zu lebhafter
+Verzweiflung; ich kann ihn nicht lange denken. Ich verliere
+die Fähigkeit zu atmen. Habe das Gefühl, als presse ein
+Ungeheures von innen. Die Gehirntätigkeit scheint
+ausgeschaltet. Die Hände ballen sich in tierischer Angst.
+Ich weine trocken. Die Institution des Todes ist wohl für
+manche Menschen nicht angebracht; man hätte Mittel und Wege
+finden sollen, den Tod zu umgehen. Aber – das Sterben ist
+eine Bagatelle. Nur darf nicht an den Tod denken, wer sein
+Sterben vorbereitet.
+</p>
+
+</div>
+
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+</html>