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  <title>Siegmund Simon</title>
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<body>

<div class="prose">

  <h3 class="center">Siegmund Simon</h3>

<p>
Neun Ärzte behaupten, daß Samuel Simon an Wahnvorstellungen
leide. Ich füge mich.
</p>

<p>
Seit neunundzwanzig Jahren bin ich in der Anstalt. Man ist
freundlich zu mir. Ich kann tun und lassen, was ich will.
Wenn es warm ist, gehe ich im Garten und horche, wie die
Stunden sterben. Wenn es kalt ist, sitze ich am Fenster und
sinne in den Himmel. Oft schaue ich den Leuten zu, wenn sie
rufen oder arbeiten oder traurig sind... Ich bin froh, daß
ich fern bin. Ich entbehre nicht das Leben. Ich bin
zufrieden, wenn man mir nichts tut und nichts von mir will.
Ich beneide nicht die Menschen.
</p>

<p>
Neunmal in jedem Jahr bringt meine bleiche Frau Blumen. Mein
Sohn Siegmund kommt niemals. Zuletzt habe ich ihn gesehen,
als ich begraben wurde. An meinem neunundvierzigsten
Geburtstag –
</p>

<p>
Ich lag in einem schmucklosen Holzsarg. Man fuhr mich auf
einem wagenartigen Gestell. Neben mir schritten neun
schwarzgekleidete Sargträger. Hinter mir der Pastor Leopold
Lehmann, an seiner Seite meine Frau Frieda und mein
neunzehnjähriger Sohn Siegmund. Wenige Verwandte folgten,
die waren stillvergnügt und unterhielten sich von der
Raupenplage.
</p>

<p>
Die Sonne warf warmes Licht. Wind kam dann und wann. Er
krabbelte über den Kies und kitzelte die Frauen um Brüste
und Waden. Wir hielten vor dem aufgeschütteten Grab. Der
Sarg wurde hinuntergelassen, einige Formalitäten und Gebete
wurden erledigt. Darauf fing der Pastor Leopold Lehmann an,
auf Wunsch und auf Kosten meiner Frau eine Gedächtnisrede zu
halten. Er sagte:
</p>

<p>
»Liebe Schwestern und Brüder! Wieder hat ein gütiges
Geschick uns ein teures Menschenleben geraubt. Trauernd
stehen wir am Grab des Dahingeschiedenen und gedenken seiner
in Wehmut.«
</p>

<p>
Mein Sohn Siegmund biß auf die Lippen. Der Pastor sagte:
</p>

<p>
»Die Erde, die den Körper ausgesondert hat, daß er kurze
Zeit ein beseeltes Eigenleben führe, hat ihn wieder
aufgenommen in den Mutterschoß. Ein edler Mensch ist
heimgegangen –«
</p>

<p>
Mein Sohn Siegmund bekam einen Lachanfall. Das Gesicht wurde
rot und ernst... Er lachte, bis er röchelte.
</p>

<p>
Meine Frau schrie.
</p>

<p>
Einem Sargträger entfiel die Schnapsflasche und zerbrach auf
dem Sarg. Der Sargträger blickte wehmütig hinunter.
</p>

<p>
Die Verwandten waren empört. Sie schämten sich für meinen
Sohn Siegmund. Einige Frauen weinten in echte Spitzentücher.
</p>

<p>
Ich war ganz still.
</p>

<p>
Der Pastor sagte:
</p>

<p>
»Wenn einer nicht weiß, wie er sich zu benehmen hat, soll er
nicht kommen, wenn einer beerdigt wird – Amen.«
</p>

<p>
Er warf etwas Sand auf die zerbrochene Schnapsflasche. Und
entfernte sich. Stolz. Gekränkt. Der Pastor. Leopold
Lehmann.
</p>

<p>
Mein Sohn Siegmund säuberte sich die Fingernägel.
</p>

</div>

</body>
</html>