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  <title>Der Sieger</title>
</head>
<body>

<div class="prose">

  <h3 class="center">Der Sieger</h3>

  <h4 class="center">I</h4>

<p>
Max Mechenmal war selbständiger Geschäftsführer eines
Zeitungskioskes. Er aß und trank gern gut; er verkehrte viel
– allerdings vorsichtig – mit Weibern. Da sein Salär häufig
nicht ausreichte, ließ er sich gelegentlich Geld schenken:
von Ilka Leipke. Ilka Leipke war eine über die Maßen kleine,
aber gutgewachsene vornehme Dirne, die so sehr durch
bizarres Wesen und scheinbar unsinnige Einfälle wie durch
eigentümlich geschmackvolle Kleidung die meisten Männer und
Mädchen erregte. Fräulein Leipke liebte den kleinen Max
Mechenmal. Sie nannte ihn ihren süßen Zwerg. Max Mechenmal
ärgerte sich zeitlebens, daß er klein war.
</p>

<p>
Max Mechenmal entstammte einer leider verarmten Familie. Er
hatte in einer Anstalt für schwachsinnige Kinder eine
vorzügliche Erziehung genossen, bis man ihn sehr frühzeitig
gewaltsam entfernte. Die Gründe sind nicht überliefert; doch
scheint die Entlassung mehr auf der Verarmung der
Mechenmalschen Angehörigen zu beruhen als auf seiner
unzweifelhaften Unausstehlichkeit. Er trieb sich eine Weile
wohnungslos herum, da sich die Familie nicht mehr um ihn
kümmerte. Den Lebensunterhalt erwarb er in der Hauptsache
durch belanglose Diebstähle. Einmal griff ihn die Polizei
auf. Er wurde in ein Heim für verwahrloste Kinder gebracht.
In dem Heim wurde er zu einem Schlosser ausgebildet. Er
verstand, sich bei den Vorgesetzten durch außergewöhnliche
Geschicklichkeit und Bereitwilligkeit einzuschmeicheln. Im
geheimen quälte er die jüngeren und schwächeren Kameraden;
oder er hetzte die Stärkeren gegenseitig auf. Er hatte
keinen Freund; als er ausgelernt hatte und entlassen wurde,
waren die anderen froh.
</p>

<p>
Die ungewöhnliche Fertigkeit, die Max Mechenmal infolge
seiner technischen Begabung in dem Anfertigen von Schlüsseln
und dem Öffnen der schwierigsten Schlösser erlangt hatte,
hätte er am liebsten benutzt, großartige Einbruchsdiebstähle
zu begehen; er wäre gern ein berüchtigter Verbrecher
geworden. Der Erlös der Einbrüche hätte ihn instand gesetzt,
sich elegant zu kleiden, mit Weibern zu protzen. Die
krankhaft gesteigerte Furcht, ergriffen zu werden, hinderte
ihn. Er begnügte sich, Töchter und Mägde der Meister, bei
denen er arbeitete, zu verführen, gefahrlose
Gelegenheitsdiebstähle zu verüben. Sein Ehrgeiz war
unbefriedigt.
</p>

<p>
Durch einen Zufall veränderte sich die Lebensrichtung
Mechenmals. Feierabend war. Müde und mißmutig ging er die
Straßen. Lichter waren kaum sichtbar, obwohl es heftig
dunkelte. In einem feinen Parterrezimmer ordnete eine ältere
Dame die Falten ihres Leibes. Vor einem Keller sangen
schmutzige kleine Mädchen das Lied von der Lorelei. Wie
schwarze Tafeln mit hellen Kreuzen waren die Fenster in die
bleichen, einschlafenden Häuser gegraben. Die Häusermassen
glichen großen, abenteuerlichen Schiffen, die vor Anker
liegen oder hinausgleiten in ein fernes winkendes Meer. Der
kleine Schlosser dachte an die letzten sechs Geliebten.
Fielen ihm gräßlich umränderte blaue Augen eines häßlichen
verbuckelten Herrn auf, der ihn lächelnd, mit merklichem
Behagen, dennoch etwas ängstlich betrachtete. Der Schlosser
dachte: Nanu – Spaßeshalber blieb er stehen; blickte mit
pfiffigen Äuglein, die wie blanke schwarze Knöpfe auf seinem
Gesicht glänzten, den noch kleineren Herrn kokett an. Der
wurde verlegen; nahm den Hut von dem Kopf; sagte stotternd,
sein Name sei Kuno Kohn... und er bäte um Entschuldigung...
Viel mehr war nicht zu verstehen. Der Bucklige barg einen
Teil des Gesichts hinter dürren Fingern. Er hüstelte. War
eilig weitergegangen. Der Schlosser dachte: Nanu – Er ging
seines Wegs.
</p>

<p>
Da wurde er an dem Arm gezupft. Er wandte das Gesicht: Der
Bucklige stand wieder bei ihm, noch etwas ohne Atem von
raschem Gehen. Kuno Kohn war ganz rot, aber er konnte ohne
Unterbrechung sagen: »Verzeihen Sie, daß ich Sie noch einmal
belästige; ich weiß immer erst nachher, was ich sagen
wollte.« Das redete er übermäßig laut, um die Verlegenheit
zu überwinden. Dann sagte er: »Vielleicht haben Sie Zeit...
Vielleicht darf ich Sie einladen, mit mir ein Gasthaus
aufzusuchen... Oder... Sie haben doch noch nicht zu Abend
gegessen...« Der Schlosser wendete nichts gegen den
Vorschlag ein.
</p>

<p>
In einer mächtigen Kneipe ließ Kuno Kohn für Max Mechenmal
Essen und Bier bringen. Er selbst aß nicht, er trank wenig.
Er sah gern zu, wie es dem Schlosser schmeckte. Streichelte
ihn später auch wohl manchmal zaghaft an dem Kinn. Dem
Schlosser gefiel das. Sie sprachen zunächst von dem Elend
des Daseins, von der Ungerechtigkeit des Schicksals. Als
Mechenmal das dritte Glas Bier trank, brüstete er sich mit
seinen Geliebten. Das war dem buckligen Menschen sogar
unangenehm. Bisher hatte er den Schlosser erzählen lassen.
Und seine Teilnahme allein dadurch bekundet, daß er
zustimmend die blauen Augen theatralisch schloß, wodurch für
Sekunden nur große jämmerliche Schatten sichtbar waren, oder
mit dem unförmigen Kopf langsam wackelte oder mitleidsvoll
auf die Schenkel Mechenmals die nervösen Finger drückte.
Jetzt fing er an, eigene Meinungen zu äußern. Er schimpfte
auf die Weiber. Mit einer Stimme, die in jedem Augenblick
aus Erregung überzuschnappen schien. Stellte den Grundsatz
auf: Wer das Unglück habe, Weib zu sein, möge den Mut haben,
Hure zu werden. Die Hure sei das Weib in Reinkultur.
Übrigens sei der Verkehr mit Weibern mehr oder minder
entwürdigend. Als sie die Kneipe verließen, legte Kuno Kohn
den harten elenden Knochen, der sein Unterarm war, auf den
saftigen, muskulösen Unterarm Mechenmals. Ein goldenes
Armband fiel auf das Handgelenk des Buckligen. Unterwegs
forderte Kuno Kohn Mechenmal auf, bei ihm die Nacht zu
verbringen. Der Schlosser ging auf das Anerbieten ein.
</p>

<p>
Kuno Kohn bewohnte in einem Gartenhaus einer westlichen
Nebenstraße ein großes Zimmer, in dem nichts auffiel. Nur
das Bett war ungewöhnlich breit, fast prunkhaft. Auf den
Kissen lagen gelbliche und rote Blumen. Vor einem Fenster
stand ein Schreibtisch; auf ihm waren einige Bücher,
vielleicht Beaudelaire, George, Rilke; daneben und
dazwischen lagen Papierbogen, die anscheinend mit
vollendeten und unvollendeten Gedichten und Abhandlungen
beschrieben waren. Auf einem Brett an einer Wand standen
Bände Goethe, Shakespeare, eine Bibel eine Homerübersetzung.
Auf Tischen und Stühlen lagen wohl einige Zeitschriften und
Kleidungsstücke. Irgendwo waren vergilbte stille
Photographien von alten Leuten und Kindern. Der Schlosser
sah alles neugierig an.
</p>

<p>
Bald saßen sie. Die Unterhaltung, die erst lebhaft war,
stockte allmählich. Kuno Kohn drehte die Lampe klein. Später
redete er weich und flehend dem Schlosser zu. Nachher bot er
ihm das Bett an. Er selbst werde auf dem Sofa schlafen. Der
Schlosser war einverstanden.
</p>

<p>
Kuno Kohn verschaffte seinem Freund Mechenmal eine
untergeordnete Stellung bei einem Zeitungsverlag.
Überraschend schnell arbeitete sich Mechenmal in den neuen
Beruf ein, erlangte sehr bald genügende kaufmännische
Kenntnisse. Wechselte Stellungen. Erreichte durch Energie
und allerhand Gemeinheiten, daß er schon nach einem Jahr und
wenigen Monaten als selbständiger Geschäftsführer eines
Zeitungskioskes eine Vertrauensstellung bekleidete.
</p>


<h4 class="center">II</h4>

<p>
Durch die angenehme Art zu sprechen wie durch sein
intelligentes Puppengesicht hatte sich der ehemalige
Schlosser bald eine unverhältnismäßig große Stammkundschaft
erworben, zu dem größten Teil weiblichen Geschlechts.
Morgens umstanden seinen Kiosk ein Dutzend Verkäuferinnen
eines nahen Warenhauses, die absichtlich zu früh gekommen
waren, um sich über die Zoten und fidelen Glossen des Herrn
Mechenmal zu freuen. Der Bankbeamte Leopold Lehmann, der
stets pünktlich um acht Uhr kam, um illustrierte Witzblätter
und theologische Streitschriften zu kaufen, wurde manchmal
ungeduldig, weil die lustigen Verkäuferinnen ihn bei dem
Aussuchen störten. Und der Gymnasiast Theo Tontod, der
unermüdlich, in der Regel vergeblich, nach der modernen
Zeitschrift: »Das andere A« fragte, kam oftmals zu spät in
die Schule. – Gegen Mittag erschien fast täglich die
Choristin Mabel Meier an dem Arm eines alten Mannes. Sie
kaufte bunte, pikante Zeitschriften oder gefühlvolle mit
langen lyrischen Gedichten. Der alte Mann, der immer
wehleidig blickte, bezahlte seufzend. Sie verhielt sich
Mechenmal gegenüber zurückhaltend. – Manchmal kam auch Mieze
Maier, ein Backfisch, und fragte, ob Herr Tontod dort
gewesen sei. Einmal blieb Mieze Maier länger; von der Zeit
an häufiger. – Zu unbestimmten Stunden war ein dickes
gemütliches Dienstmädchen des Kaufmanns Konrad Krause an dem
Kiosk. Und sagte zu Mechenmal, er sei hübsch; er habe
leidenschaftlich schwarze Augen und einen Knutschmund; ob er
Sonntags nicht Laune habe, tanzen zu gehen; es liebe ihn
sehr. Mechenmal antwortete, er werde die Neigung von
Fräulein Frida gelegentlich erwidern. Das Dienstmädchen
erinnerte ihn peinlich oft an sein Versprechen. – An jedem
Dienstagnachmittag forderte ein sonderbarer Herr Simon, der
in einem offenen Sanatorium wohnte und stets von einem
Wärter begleitet wurde, Zeitschriften für Bestattungswesen;
wenn nicht genügend vorhanden waren, entfernte er sich sehr
ungehalten und auf die Krematorien schimpfend. – Auch Kuno
Kohn kam mehrmals in jeder Woche; seltener, um zu kaufen,
hauptsächlich um seinen Freund zu besuchen und für die
Abende Zusammenkünfte zu verabreden. – Studenten, Damen,
Offiziere, Arbeiter kauften ihre Zeitungen. Nur Ilka Leipke
war trotz wiederholter Aufforderungen Mechenmals nicht zu
bewegen, zu dem Kiosk zu kommen.
</p>

<p>
Das war eine Laune von Ilka Leipke. Sie hatte ja viel Zeit
und klagte dem Geliebten manches Mal, die Tage seien noch
langweiliger als die Nächte. Auch liebte Ilka Leipke ihren
süßen Zwerg nicht etwa weniger als in den ersten Zeiten
ihrer Bekanntschaft. Obwohl Mechenmal sie immer herrischer
behandelte, immer gemeiner zu ihr wurde. Zuletzt machte ihm
Freude, wenn sie weinte; er war niemals zufrieden, ehe er
sie dazu gebracht hatte. Dann vergnügte er sich, sie wieder
zu trösten. Hinterher war er allerdings sehr gut zu ihr, er
liebte sie im Grunde. Er ließ sich von Ilka Leipke sanft
streicheln und küssen. Er war ein bißchen größer als sie,
aber sie hatte ihn auf ihrem Jungenleib wie ein Kind. Sie
erzählten einander. Sie lachten. Sie küßten. Viele Male
untersuchten sie die Geschichte ihrer Begegnung. Sie
entdeckten tausend neue Einzelheiten oder logen sich solche
vor, weil dies schön war. Das Fräulein suchte aus einem
Kästchen, in dem kleine Sachen lagen, einen
Zeitungsausschnitt hervor, auf dem zu lesen war:
</p>

<p class="border indentrl w25">
  <span class="center larger dispblock">Heiratsgesuch.</span><br />
Ein junger, etwas kleiner, sehr hübscher Mann, des
Alleinseins müde, erstrebt gleichartige Dame zwecks
ehrenwerter Heirat. Auf größeres Vermögen wird gesehen.<br />
Freundliche Offerten nimmt entgegen Max Mechenmal.
</p>

<p>
Oder Herr Mechenmal nahm aus der Brieftasche ein blaues
Briefchen mit lilaroten Tupfen, das er schmunzelnd dem
Fräulein hinhielt. Fräulein Leipke las dann wohl mit leiser,
verliebter Stimme:
</p>

<p class="txtindent">
  <span class="center dispblock">Sehr geehrter Herr!</span>
Soeben Ihr Heiratsgesuch gelesen. Mit Vermögen kann ich zu
meinem Bedauern nicht aufwarten. Ich meinerseits würde
dagegen gern auf das Heiraten Verzicht leisten, das ich noch
nicht nötig habe. Ich bin von Beruf Weib (Berufsweib). Auch
meine Statur ist klein (aber oho!). Ich bin der Kavaliere
müde, suche mich deshalb nebenbei mit einem regulären Mann
in Verbindung zu setzen. Sollte Ihnen mein Erbieten genehm
sein, senden Sie mir bitte Ihre Photographie. Ich verbleibe
Ihre ergebene<br />
  <span class="fright">Ilka Leipke.</span><br />
</p>

<p class="clear">
Wenn sie sich genug angefaßt und geküßt hatten, erfanden sie
Spiele. Ilka Leipke machte sehr talentvoll dem selig
kichernden Mechenmal vor, wie sich ihre Freundinnen in
entsprechender Lage verhalten würden. Sie krümmte sich in
den überraschendsten Stellungen. Verbog das Gesicht zu den
komischsten Grimassen... Mechenmal konnte stundenlang
erdachte Namen hersagen, mit denen er bestimmte Teile ihres
Körpers in Gegenwart anderer bezeichnen wollte, ohne daß
diese merken sollten, was er meinte. – So vergingen die
Abende und Nächte, in denen Ilka Leipke sich für ihren
Freund freigemacht hatte. Oft fehlte dem Mechenmal die Zeit,
nach Hause zu gehen. Dann stand sie auf, wenn er noch
schlief. Kochte Kaffee. Holte in Morgenschuhen und nur mit
einem alten Theatermantel bedeckt von einem Bäcker Backwerk.
Legte eine weiße Decke auf den Tisch. Ordnete alles
appetitlich. Machte einige Brote zurecht – zum Mitnehmen.
Verschwand wieder in ihrem Bett, wo sie bis in den
Nachmittag hinein schlief. Mechenmal aber eilte etwas
abgespannt und müde, doch in gehobener Stimmung zu seinem
Kiosk.
</p>

<h4 class="center">III</h4>

<p>
Später Abend kroch wie eine Spinne über die Stadt. In dem
Schein der Kohnschen Lampe war der etwas über den Tisch
gebeugte Oberkörper Kuno Kohns. Auf dem Sofa lag, den
Lampenkreis durchbrechend und aus ihm herausgelehnt, der
halbfinstere Max Mechenmal. Fenster blinkten in üppigem,
fließendem Schwarz. Aufgeschwollen und verschwommen ragten
einige Gegenstände aus der Dunkelheit. Das offene Bett
leuchtete weiß. Kohns Hände hielten beschriebenes Papier.
Seine Stimme tönte leise, schwärmerisch, in singendem
Pathos. Er wurde oft heiser und hustete, wie einer, der viel
gelesen hat. Zu hören war: »Die alten, prächtigen
Geschichten von Gott sind totgeschlagen. Wir dürfen ihnen
nicht mehr glauben. Aber die Erkenntnis des Elends, glauben
zu müssen, bedrängt uns – die Sehnsucht nach neuem,
stärkerem Glauben. Wir suchen. Wir können nirgends finden.
Wir grämen uns, weil wir hilflos verlassen sind. Komme doch
einer, lehre uns Ungläubige, Gottsüchtige.« Kohn war
erwartungsvoll still. Mechenmal hatte sich während des
Vorlesens insgeheim amüsiert. Jetzt platzte er vernehmlich.
Er sagte dann: »Nimm mir das nicht übel, Kohnchen. Aber du
hast doch komische Einfälle. Das ist doch verrückt.« Kohn
sagte: »Du hast kein Gefühl. Du bist ein oberflächliches
Wesen. Im übrigen ist sicher, daß auch du psychopathisch
bist.« Max Mechenmal sagte: »Was heißt das?« Kuno Kohn
sagte: »Das wirst du schon noch merken.« Max Mechenmal sagte
nur: »Ach so.« Er ärgerte sich, daß ihn Kuno Kohn
oberflächlich genannt hatte. Er dachte an Ilka Leipke.
</p>

<p>
Da sagte Kuno Kohn: »Der Tod ist ein unerträglicher Gedanke.
Für uns Gottlose. Wir sind verdammt, ihn in hundert Nächten
vorzuerleben. Und finden keinen Weg über ihn...« Er schwieg
schwer. Mechenmal wollte seinem Freund Kohn beweisen, daß er
sogar über abseitige Probleme sich äußern könne. Er
überlegte. Und sagte: »Ich habe eine andere Auffassung,
Kunlein Kohnchen. Allerdings ist das Gefühlssache. Auch ich
zähle mich Gott sei Dank zu den Gottlosen. Gott ist Quatsch.
Darüber ein Wort zu verlieren ist eines denkenden Menschen
unwürdig. Aber ich, höre, habe Gott nicht nötig – nicht zu
dem Leben, nicht zu dem Sterben. Tod ohne Gott ist
wunderschön. Er ist mein Wunsch. Ich denke mir herrlich,
einfach tot zu sein. Ohne Himmel. Ohne Wiedergeburt. Radikal
tot. Ich freue mich darauf. Das Leben ist für mich zu
anstrengend. Ist zu aufregend...«
</p>

<p>
Er wollte weiterreden. An die Türe wurde geklopft. Kohn
öffnete. Ilka Leipke trat hastig hinein. Sie sagte: »Guten
Abend, Herr Kohn. Entschuldigen Sie, daß ich störe.« Sie
schrie zu Mechenmal: »Hier also ertappe ich dich. So
verlässest du mich. Du benutzest nur meinen Leib. Meine
Seele hast du niemals gefaßt.« Sie weinte. Sie schluchzte.
Mechenmal versuchte, sie zu beruhigen. Das erregte sie noch
mehr. Sie rief: »Mit einem krummen Kohn mich zu betrügen...
Ich werde Sie bei der Polizei anzeigen, Herr Kohn. Schämen
Sie sich – ihr Schweine...« Sie hatte einen Weinkrampf. Kuno
Kohn war unfähig, etwas zu erwidern. Mechenmal riß sie von
dem Boden, auf den sie sich schreiend geworfen hatte. Er
sagte mit veränderter harter Stimme, ihr Benehmen sei
ungehörig. Sie habe keinen Grund zu Eifersucht. Er sei sein
freier Herr. Da sah Ilka Leipke den buckligen Kohn demütig
wie ein geschlagenes Hündchen an. War ganz still. Folgte dem
erbosten Mechenmal hinaus.
</p>

<p>
Als Kohn allein war, wurde er allmählich wütend. Er dachte:
Solch freche Person... Und in Zwischenräumen: Wie sich die
Kuh aufgeregt hat. Wie eifersüchtig sie auf mich ist. Eins
der seltenen Weiber, die mir behagen... und wählt das
Tierchen Mechenmal. Das ist scheußlich –
</p>

<p>
In der Frühe des nächsten Tages stand Kuno Kohn, zitternd
wie ein Schauspieler, der Lampenfieber hat, in dem Salon des
Fräulein Leipke. Fräulein Leipke las, als die Zofe die Karte
Kuno Kohns brachte, gerade die verbotene Broschüre: »Der
Selbstmord einer schicken Dame. Oder wie eine schicke Dame
Selbstmord begeht.« Sie hatte verweinte Augen. Als sie die
ganze Broschüre gelesen hatte, puderte sie sich frisch.
Endlich erschien sie, nur durch ein seidenes Morgenkleid
verhüllt, in dem Salon. Kuno Kohn war rot bis an die Ohren.
Er sagte stöhnend, er sei gekommen, den gestrigen Auftritt
zu entschuldigen. Fräulein Leipke tue ihm unrecht, sie kenne
ihn zu flüchtig. Er habe immerhin innere Werte. Dann sprach
er lobend von seinem Freund, dem guten Mechenmal; ließ aber
durchblicken, daß diesem leider ein ausgebildetes
Gefühlsleben mangele. Fräulein Leipke sah ihn mit lockenden
Augen an. Er brachte das Gespräch auf die Kunst. Dann
brachte sie das Gespräch auf ihre Beine; sie sagte
freimütig, sie habe ihre Beine selbst gern. Sie hatte das
Morgenkleid etwas zurückgeschlagen. Kuno Kohn hob es mit
scheuen Händen vorsichtig höher –
</p>

<p>
Als Abend geworden war, saß Kuno Kohn verträumt in seinem
Zimmer. Er schaute aus dem offenen Fensterloch. Vor ihm fiel
die graue Innenwand des Hauses hinunter, in kurzem Abstand.
Mit vielen stillen Fenstern. Himmel war nicht, nur
schimmernde Abendluft. Und wenig weicher Wind, der fast
nicht zu fühlen war. Die Wand mit den Fenstern glich einem
schönen, traurigen Bild. War gar nicht langweilig, darüber
wunderte sich Kuno Kohn. Er stierte immer tief in die Wand.
Lieb sah sie aus. Zutraulich. Voll von Einsamkeit. Er dachte
heimlich: Das macht der Wind, der um die Wand ist. Er sang
innen: Komm, Geli...iebte – Klingeln erschreckte ihn.
</p>

<p>
Der Postbote brachte einen Brief von dem Klub Clou. Der Klub
Clou forderte Herrn Kohn auf, als Gast des Klubs an einem
bestimmten Abend aus seinen Werken vorzulesen.
</p>

<h4 class="center">IV</h4>

<p>
Acht Tage vor dem Vortragsabend war auf den Anschlagsäulen
der Stadt ein Plakat. Auf ihm konnte man lesen:
</p>

<p class="border indentrl w18">
<span class="center larger dispblock">Voranzeige.</span><br />

Kuno Kohn wird in dem Klub Clou aus
eigenen Werken vorlesen. Junge Mädchen
und Rechtsanwälte höflichst verbeten.
</p>

<p>
Je näher der Abend der Vorlesung herannahte, desto
aufgeregter wurde Kuno Kohn. Zwei Stunden vorher ließ er
sich rasieren. Als der Mann fragte, ob der Herr Puder
beliebe, sagte Kohn kopfschüttelnd: »Ja –« Eine Stunde
vorher verlangte Kohn in einem Polizeibureau zehn
Fünfpfennigmarken und eine Zehnpfennigkarte.
</p>

<p>
Als Kohn das Podium betrat, war er ruhiger, als er erwartet
hatte. Zuerst versprach er sich manchmal. Aber seine Stimme
wurde allmählich fest und deutlich. Der kleine Saal war
wenig besucht; doch waren einige Kritiker der großen,
maßgebenden Presse erschienen. Einer erklärte an dem
nächsten Tage in der verbreiteten »Alte Bürgerzeitung«: Die
Dichtungen, die der um seines Gebrestes willen
bedauernswerte Dichter Kohn in einem dürftig besuchten Saal
zu Gehör gebracht habe, seien zwar noch nicht reif für die
Öffentlichkeit; hingegen könne man später einmal, wenn der
Kohn sich geklärt habe, einiges von seiner Muse erwarten. –
Ein anderer verkündete in der »Zeitung für erhellte Bürger«:
Der Gesamteindruck sei ein erfreulicher, doch seien die
Dichtungen nicht gleichmäßig gelungen. Auch habe der Dichter
nicht gut vorgelesen. Jedoch sei die erste Zeile des ersten
Verses des Gedichtes »Der Komiker« von einer erschütternden
Prägnanz in Ausdruck und Gefühl.
</p>

<p>
Nach der Vorlesung dankte der Vorsitzende des Klubs, der
begabte Doktor Bryller, dem Dichter, den er ein kommendes
Genie nannte. Eins der wenigen, die er persönlich kenne.
Ilka Leipke hatte sich trotz des Verbotes der jungen Mädchen
den Zutritt auf irgendeine Weise verschafft. Auch Mechenmal,
der zuerst gesagt hatte, er werde nicht kommen, war
erschienen. In der Pause hatte er aber erklärt, er habe
Hunger. Und er gehe jetzt. Ob sie noch nicht genug von dem
Unsinn habe. Wenn sie nicht mitkommen wolle, möge sie
dableiben. Sie scheine sich plötzlich für Kohns Buckel zu
interessieren. Er wünsche viel Glück. Und ob er den Kuppler
spielen solle. Er ging wirklich. Ilka Leipke weinte ein
bißchen für sich, blieb bis zuletzt. Sie klatschte
begeistert. Sie hatte Kohn an diesem Abend lieb. Nahm ihn in
sonderbarer Stimmung in ihre Wohnung.
</p>

<p>
Gegen Morgen hüpfte ein kleiner buckliger Herr wie ein
Ballettänzer auf grauen unsicheren Straßen...
</p>

<p>
Kuno Kohn vermied von nun an Begegnungen mit Mechenmal. Er
lud ihn nicht mehr ein. Zeitungen kaufte er in einem anderen
Kiosk. Dem Mechenmal war das ganz recht. Seine Geliebte
hatte ihm mit aufreizendem Lächeln erzählt, daß sie eine
schöne Nacht mit dem Buckligen in ihrem Schlafzimmer verlebt
habe. Der Buckel sei ihr nicht unangenehm gewesen, er sei
nicht so groß und häßlich, wie er bei oberflächlicher
Betrachtungsweise erscheine. Man könne sich sehr an einen
Buckel gewöhnen. –
</p>

<p>
Mechenmal war wütend auf Kohn. Zu Ilka Leipke wurde er
zärtlicher und nachgiebiger. Er zeigte ihr seine Eifersucht
nicht, erwähnte nie den Namen des Nebenbuhlers. Ilka Leipke
war glücklich. Sie dachte an die betrunkene Nacht mit Kohn
nicht mehr. Kohn war ihr jetzt nicht weniger zuwider als
früher, sie wies weitere Bemühungen des Dichters
gleichgültig zurück. Mechenmal gegenüber tat sie, als sei
sie noch immer sehr verliebt in Kohn. Einmal aber konnte sie
einen unanständigen Witz über Kohn und seinen Buckel nicht
unterdrücken. Mechenmal lachte herzlich.
</p>

<p>
Kohn war traurig an ein Meer gefahren. Ein Verleger hatte
ein unerwartet günstiges Angebot gemacht und Vorschuß
gezahlt. Mechenmal fand zufällig ein Gedicht, das Kohn von
dem Meer an Ilka Leipke geschickt hatte. Er las:
</p>

<p class="spaced">
Lied der Sehnsucht.
</p>

<p class="stanza">
Die Falten des Meeres platzen wie Peitschen auf meiner Haut.<br />
Und die Sterne des Meeres reißen mich auf.
</p>

<p class="stanza">
Von schreienden Wunden ist der Abend des Meeres Einsamen.<br />
Aber die Liebenden finden den guten verträumten Tod.
</p>

<p class="stanza">
Sei bald da, Schmerzäugige. Das Meer tut so weh.<br />
Sei bald da, Liebleidende. Das Meer erschlägt mich so.
</p>

<p class="stanza">
Deine Hände sind kühle Heilige. Hüll mich mit ihnen. Das Meer brennt auf mir.<br />
Hilf doch... Hilf doch... Deck mich. Rette mich. Heil mich, Freundin.
</p>

<p class="stanza">
Mutter – du...
</p>

<p>
Er zerriß es. Ilka Leipke war entrüstet. Sie sagte,
Mechenmal sei grob. Der Kleine hatte sie bald durch
Liebkosungen besänftigt. Später setzte er sich an den
Schreibtisch des Fräulein. Er nahm einen ihrer Briefbogen
und schrieb:
</p>

<p class="txtindent">
  <span class="center dispblock">An Kuno Kohn.</span>
Fräulein Leipke, meine Braut, läßt dir hierdurch sagen, daß
sie auf weitere Gedichte gern verzichte; sie erfüllen ihren
Zweck bei weitem nicht. Meine Braut hat mir alles erzählt.
Sei versichert, daß deine Liebesbewerbungen auf uns
lächerlich wirken.<br />
  <span class="fright">Max Mechenmal.</span><br />
</p>

<p class="clear">
Als Mechenmal den Brief in den Postkasten gesteckt hatte,
wurde er unruhig. Er fürchtete, unvorsichtig gehandelt zu
haben.</p>

<p>
Kohn kam sofort zurück. Er lief zu Ilka Leipke. Zeigte den
Brief. Fragte heulend, ob sie die Nacht mit ihm vergessen
habe. Sie sagte: »Ja.« Er jammerte. Er weinte unverständlich
von Seele und Selbstmord. Ilka Leipke wies ihn hinaus. Seine
Schwachheit war ihr lästig; sie hatte schon als Kind nicht
mit ansehen können, wenn jemand weinte.
</p>

<p>
Aber sie ärgerte sich über Mechenmal. Sie fing an, ihn
wieder mit Kohn zu necken. Behauptete, Kohn sei häufig ihr
Gast; und sie finde ihn immer noch nett. Mechenmal hielt
ihre Erzählungen für wahr. Er haßte den Kohn jetzt.
</p>

<p>
Er überlegte, wie er den Buckligen beseitigen könne, ohne
daß er als der Beseitiger hervortrete. Nach nicht viel Zeit
hatte er wohl das Rezept gefunden. An einem Sonntag starb
Kohn. Plötzlich, aber ohne auffallende Nebenumstände. Sein
Leichnam wurde anstandslos für die Beerdigung freigegeben.
In der Zeitschrift »Das andere A« widmete Theo Tontod dem
Dichter einen kürzeren Nachruf. Und der Klub Clou schickte
einen Kranz. Ilka Leipke ließ sich nicht nehmen, die Leiche
vor der Bestattung noch einmal zu betrachten. Der Sarg wurde
bereitwillig geöffnet. In ihm lag Kohn infolge des Buckels
etwas schief. Die Gesichtszüge waren fratzenhaft gezerrt.
Die Hände waren geballte Klumpen. An der Nase klebte
geronnenes Blut, hing über den geöffneten Mund. Ilka Leipke
überwand den Ekel. Sie ließ Benzin kommen, nahm ein seidenes
Tüchlein aus der zierlichen Handtasche, tauchte es in die
Benzinflasche. Säuberte mit dem Tüchlein die tote Nase. Dann
ging sie hinweg. Beruhigt und etwas weinend. Zufrieden mit
ihrer Güte.
</p>

<p>
Als Mechenmal von dem Tod Kohns hörte, wurde er sehr
ängstlich. Er konnte sich in der Stube nicht ertragen. Und
ging eiligst aus dem Haus, nicht ohne vorher eine Zigarre in
Brand gesteckt zu haben. Kirchenglocken klangen von dem
sonnigen Himmel. Mechenmal war kalt und bleich. Er dachte
immerzu: Wenn es nur nicht herauskommt. Oder er überlegte,
wohin er fliehen könne. Er dachte an Gerichtsverhandlung, an
Verteidiger, an Zuchthaus, Ketten, Kassiber, Henker. Daß er
als letzte Gnade erbitten würde, noch einmal mit Ilka Leipke
schlafen zu dürfen. Er lief durch die Straßen, als suche er
einen einzuholen. Wenn er daran dachte, daß er nicht
auffallen dürfe, ging er plötzlich zu langsam. Ihm schien,
als beobachteten ihn alle Leute.
</p>

<p>
In einem Garten rangen zwei etwa fünfzehnjährige Mädchen.
Als sie Mechenmal sahen, setzten sie sich flink auf eine
Bank. So ließen sie ihn näher kommen. Als er dicht genug
war, lachten sie ihn an; eine zappelte mit den Beinen. Er
eilte vorüber. Da schrie eine hinter ihm her: »Sieh doch,
wie rasch der Mann geht.« Und die andere schrie, ebenso
ratlos: »Na ja. Er raucht.« Sie sahen ihm noch nach. Dann
rangen sie wieder.
</p>

<p>
Mechenmal beruhigte sich allmählich. Er dachte: Man kann mir
nichts beweisen. Ich leugne alles. Hoho! Wer kann mir etwas
beweisen... Selbst wenn sie überhaupt etwas merken! – Er
warf die Zigarre weg. Er fühlte sich sicherer. Er pfiff vor
sich hin bei dem Gedanken, daß Kohn sich nicht mehr rühren
könne. Daß er, Max Mechenmal, die Schwierigkeit Kohn so
gründlich überwunden habe. Er dachte daran, daß er das Leben
richtig anpacke. Daß ihm alles glücke. Er hatte gewaltiges
Zutrauen zu sich. Er dachte: Nur keine Sentimentalitäten. Um
anständig leben zu können, muß man ein Schuft sein.
</p>

<p>
Er ging ganz lustig nach Hause.
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