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  <title>Die Jungfrau</title>
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<div class="prose">

  <h3 class="center">Die Jungfrau</h3>

<p>
Maria Mondmilch war das einzige Kind des Kunsthistorikers
Doktor Maximilian Mondmilch und der schönen Frau Marga
Mondmilch. Frau Mondmilch soll früher Wassermädchen in dem
Kaffeehaus gewesen sein, in welchem Herr Mondmilch – der
damals Student war – Tee trank und Zeitungen las und
rauchte. Nach der Geburt des Kindes hatte sie den Ehegatten
heimlich verlassen, um vermutlich mit einem Sektkellner
einige Wochen zu verbringen. Danach trieb sie sich – häufig
abwechselnd – mit sehr verschiedenen Männern sehr
verschiedener Gesellschaftsklassen herum. Sie kam erst
zurück, als sie erfuhr, daß der unheilbare Doktor in eine
Anstalt für Gehirnkranke gebracht worden sei. Sie pflegte
den todkranken Menschen sorgfältig bis zu seinem nahen Ende.
Sodann verheiratete sie sich mit einem herrschaftlichen
Kutscher, der sie abgöttisch liebte.
</p>

<p>
Die Krankheit des Doktor Mondmilch war erst erkannt worden,
als er ein mit schlimmen Strafen bedrohtes Verbrechen an der
achtjährigen Tochter verüben wollte. Glücklicherweise konnte
die Untat in dem letzten Augenblick verhindert werden. Das
in dem Herzen und in dem Hirn erschreckte Kind wurde – dem
Bruder des Verrückten – dem Exzellenz Moriz von Mondmilch,
einem erstklassigen Verwaltungsbeamten, in Pflege gegeben.
Das letzte Wort des sterbenden Kunsthistorikers war:
»Maria.«
</p>

<p>
Zwischen dem Onkel und der Nichte entwickelte sich eine
sonderbare Zuneigung. Nichts geschah, was den Gesetzen
widersprochen hätte. Die Leidenschaft zwischen dem Kind und
dem alten Mann erregte die Eifersucht der alten Frau Minna
von Mondmilch. Durch die zu lästig gewordenen ehelichen
Zwistigkeiten fühlte sich der verärgerte Beamte einige Jahre
darauf genötigt, in eine Trennung von dem Pflegekind
einzuwilligen. Er mußte auch auf die ältlich gewordenen
Töchter Rücksicht nehmen. Der Abschied war schwer. Exzellenz
Moriz von Mondmilch fiel in Weinkrämpfe.
</p>

<p>
Maria Mondmilch kam in eine große Stadt. Man zahlte den
fremden Leuten, bei denen sie eingemietet worden war,
monatlich viel Geld. Sonst kümmerte man sich nicht um Maria
Mondmilch. Mit dem edlen Onkel wechselte sie geheime Briefe
voll ausschweifender Liebessehnsucht und abenteuerlicher
Hoffnungen. Das Bewußtsein, ständig Gefährliches verbergen
zu müssen, gab ihr etwas Feierliches und eine unerklärliche
Überlegenheit. Die Briefe des Onkels bewahrte Maria
Mondmilch unter besonders sakralen Formalitäten auf. Ein
Teil der Briefe kam abhanden und wurde das Beweismaterial
für den berühmten Scheidungsprozeß, der das ganze Land
erregte.
</p>

<p>
Maria Mondmilch war in der großen Stadt Schülerin eines
Mädchengymnasiums. Sie gehörte nicht zu den besten.
Zeitweise arbeitete sie fleißig. Man beschuldigte sie,
allerhand Schweinereien – die vorkamen – angestiftet zu
haben. Als bekannt wurde, daß der Leiter der Anstalt ihr
abends in einer argen Straße begegnet war, erwartete man
ihre Relegierung. In der Verhandlung gegen einen
Literaturprofessor des Gymnasiums, der, trotzdem er dringend
verdächtigt war, etliche Sittlichkeitsverbrechen begangen zu
haben, freigesprochen werden mußte, war sie die wichtigste
Zeugin.
</p>

<p>
Das junge Mädchen weilte in der Nacht am liebsten in den
berüchtigten Vierteln. Maria Mondmilch ließ sich von allem
möglichen Gesindel ansprechen, den meisten Männern entlief
sie wieder. Sie war noch nicht fünfzehn Jahre alt, als sie
sich von einem Händler, dessen Bekanntschaft sie in einem
schmutzigen Abend in einer üblen Gasse auf einer Brücke
unter einer halb verfallenen altertümlichen Petroleumlaterne
gemacht hatte, in unanständigen Stellungen nackt
photographieren ließ. Als Sechzehnjährige verlebte sie die
Weihnachtsferien mit einem bildschönen, aber wildfremden
Elektrotechniker – namens Hans Hampelmann – in einem
verrufenen Hotel anscheinend wie Frau und Mann. Daß sie nach
Absolvierung des Gymnasiums sich entschloß, Medizin zu
studieren, ist unschwer aus erotischen Bedürfnissen zu
erklären.
</p>

<p>
Der hungrige Schauspieler Schwertschwanz – ein intelligent
und verludert aussehender Mensch, der nach billiger
Schokolade stank – lief planlos sehnsüchtig die abendlich
funkelnden und lärmenden Straßen der Stadt entlang, in
welcher Maria Mondmilch Medizin studierte. Er begegnete ihr,
als sie aus einer Vorlesung über Geschlechts- und
Männerleiden traurig zurückkam. Zum Spaß – ziemlich – sprach
er sie an. Gemeinsam gingen die beiden in eine Kneipe
niederer Sorte.
</p>

<p>
Der Schauspieler Schwertschwanz hatte, bevor er die
Studentin ansprach, überlegt, was seine langjährige
Verzweiflung augenblicklich am ehesten begründen könne: die
schließliche Unwichtigkeit alles Geschehens oder nur das
Malheur, daß bedeutende Männer oftmals aus Mangel an
entsprechender Nahrung und Medizin krepieren müssen... Die
Unzulänglichkeit der Frauen... Die Unheilbarkeit der
Rückenmarkschwindsucht, deren Anzeichen er an sich zu
bemerken glaubte... Als Maria Mondmilch ihren Beruf nannte,
leuchtete er auf. Man sprach über Syphilis und die Folgen.
Fräulein Mondmilch erzählte entsetzliche Fälle. Herr
Schwertschwanz hörte erschrocken und begeistert zu. Er war
entzückt, als sie – kokett betonend, daß sie leider nur
wissenschaftliche Beziehungen zu Männern unterhalten könne –
wie unabsichtlich bis über das Knie ein gut geformtes,
herbes Bein sehen ließ, das in einem aufregend gemeinen,
halbseidenen Strumpf befestigt war.
</p>

<p>
Die Studentin erwiederte merklich die Sympathie des
Schauspielers. Sein heruntergekommenes Aussehen flößte ihr
Zutrauen ein. Seine – auf sie eingestellten – von Schminke
und Hoffnungslosigkeit, von unmäßigen Hurereien oder Onanien
ringsum zerrissenen und inwendig fast verfaulten
treuherzigen blauen Augen griffen ihr an die Seele. Sein aus
Blasiertheit und unverschämter Zudringlichkeit gemischtes
Wesen regte sie sehr auf. Mitten durch Gekreisch und Kellner
und Bierbänke und Ausdünstungen, in dem gelbsüchtigen
Gaslicht, mußte sie schwärmerisch ausrufen: »Einen Menschen
wie Sie, Herr Schwertschwanz, habe ich bisher nicht
kennengelernt.« – Er faßte sie beglückt an. Während draußen
ein Trupp Soldaten im Vorbeimarschieren das bekannte
Volkslied pfiff: Mariechen, du süßes Viehchen... und so
weiter.
</p>

<p>
Ohne laute Verabredung hatten die Verliebten Arm in Arm die
Richtung auf die Bude der Studentin gewählt, als sie die
gröhlende Kneipe verließen. Oben legte sich Maria Mondmilch
mit übereinandergeschlagenen Beinen auf ein Schlafsofa in
der Nähe des Bücherschrankes. Der Schauspieler versank in
einen weichen Sessel, neben dem ein kleiner Tisch mit einer
zierlichen Flasche Kognak stand. Die Unterhaltung war nicht
einfach. Sie wollten einander ihre Leiden von klein auf
entgegenschluchzen. Sie wollten einander fressen, so gierig
wurden sie mit der Zeit. Etwas war dazwischen. Der
Schauspieler trank den Kognak. Die Studentin spielte nervös
mit den Händen und den Füßen.
</p>

<p>
Der Schauspieler konnte die Qual nicht mehr aushalten. Er
schrie leise – das war, als wurde etwas zerschlagen: »Ich
will offen sein. Ich bin ein Syphilitiker« – – Einige Tränen
kullerten herunter. Er erschrak, wie wenig ernst ihm war.
Die Studentin hielt die Hände vor das Gesicht. Theatralisch
wie er. Aber unbewußt.
</p>

<p>
Er hatte sich nicht verrechnet. Ihre erotische Aufgeregtheit
überstieg die Grenzen. Sie wand sich auf ihrem Schlafsofa.
Sie hielt ihm eine Hand hin. Sie flüsterte: »Armer Mann,
kommen Sie.« – Er ergriff die Hand nicht. Die Augen in dem
unglücklichen entsagenden Gesicht, dessen Wirkungen er schon
bei vielen hysterischen Frauen erprobt hatte,
niedergeschlagen, sagte er: »Sie wissen am besten, daß die
Berührungen mit mir eventuell Sie selbst luetisch machen
könnten, obwohl in den letzten Jahren die Wassermannsche
Reaktion immer negativ war.« – Da sagte sie heroisch:
»Offenheit gegen Offenheit. Ich bin Jungfrau.«
</p>

<p>
Instinktiv hatte sie sich gerächt. Seiner überreizten Sinne
war er nicht mehr mächtig. Wie eine Katze sprang er auf das
Mädchen mitten in dem Schlafsofa. Nun wehrte sie sich. Mit
ängstlichen Augen bereit, sich ihm zu geben.
</p>

<p>
Bei dem Ringen sang die Studentin dem Schauspieler ihr
Werbelied: »Maria Mondmilch bin ich, das Mädchen, die
Jungfrau. Öffne mir deine Tore. Du, ich probierte viel
Männerfleisch von außen, Greise und Jünglinge. Alle lockte
ich. In allen suchte ich meinen Mann. Niemand drang tiefer
als meine Haut in mich... Ich schlich in den Tagen. Rannte
in den Nächten. Ich schlief in einem Bett mit Musikern und
Aristokraten. Mit Kaufleuten und Zuhältern und Studenten war
ich zusammen. Mit Kunstradfahrern und Rechtsanwälten trieb
ich mich herum. Ich ließ keinen Mann vorüber, dem ich nicht
in die Augen sah. Ob es regnete. Oder ob Winter war. Oder ob
die Sonne schien... Niemand durfte mich seine Frau nennen.
Niemand war mein Mann. Einer hat sich erschossen. Einer ist
in einen Sumpf gesprungen. Ich bin unschuldig... Einer ist
blödsinnig geworden. Einer hat mir einen Fußtritt gegeben.
Die meisten sind weggegangen, als wäre nichts vorgefallen.
Nichts ist vorgefallen... Du, blauäugiges Leidensgesicht
unter mir, ach, wärst du mein Mann, daß ich in dir blühe.
Bist du mein Mann, in den ich selig sinke – –«
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<p>
Und der Schauspieler sang der Studentin bei dem Ringen: »Ich
bin der Schauspieler Schwertschwanz, der Mann, der Wüstling.
In allen Leibern, die ich soff, suchte ich dich. Ich bin
Trinker geworden. Aus Sehnsucht. Mein Blut habe ich aus
Liebe vergiftet. Wie gleichgültig wäre das, wenn ich –
halbtot – dich jetzt fände. Ich habe dich zu viel gesucht,
um dich noch zu finden –«
</p>

<p>
Da rief Maria Mondmilch in dem Untergehen:
»Schwertschwänzchen, liebst du mich –« Und schon ertrunken:
»Er liebt mich nicht.« –
</p>

<p>
Der Mann fiel verzweifelt faul zurück. Die Studentin spuckte
ihm an den Kragen. Stülpte dem Willenlosen den Hut auf den
Kopf. Drückte ein Goldstück in seine Hand. Warf ihn hinaus.
</p>

<p>
Während der Schauspieler Schwertschwanz sich unterwegs, vor
Begierde zitternd, eine geeignete Hure suchte, saß Maria
Mondmilch über einem dicken anatomischen Lehrbuch. Sah sich
die Konstruktion eines splitternackten Mannes an. Und heulte
wie ein Hund am Meer.
</p>

</div>

</body>
</html>