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  <title>Ein Kapitel aus einem fragmentarischen Roman</title>
</head>
<body>

<div class="prose">

  <h3 class="center">Ein Kapitel aus einem fragmentarischen Roman</h3>

<p>
Der Doktor Bryller ist schließlich doch Oberlehrer geworden.
Einer, ein wütender Feind, hatte ihm schon vor Jahren in der
veralteten Zeitschrift: »Das andere A« solch Schicksal
prophezeit. Damals war er zu Tode traurig über die
Erkenntnis des Feindes, deren Wahrhaftigkeit er nach
heftigem Nachdenken nicht leugnen konnte. Er schrieb einen
maßlosen Artikel, der nirgends angenommen wurde. Und eines
Abends betrank er sich ein wenig mit französischem Sekt, um
die angeborene Angst umzubringen, die ihn hinderte, den
Feind zu verhauen. Aber seine Feigheit verließ ihn auch in
der Trunkenheit nicht. Da gab er, unsagbar unglücklich, auf,
sich zu rächen.
</p>

<p>
Er begann offiziell, einsam und verklärt zu leben. Er teilte
dies mit; agitatorisch wie er oft das Programm einer neuen
Kunstrichtung verkündet hatte. Und mit einer innersten
Feierlichkeit wie bei einem bedeutenden Begräbnis. Noch
seine Niederlage nutzte er aus, sich überlegen zu fühlen. Im
Grunde lebte er kaum anders als bisher. Nur daß er
tatsächlich seelisch trostloser geworden war. Jetzt mußte er
sich so beruhigen: Selbst wenn ich erreichen könnte, was ich
erreichen wollte, würde ich nichts erreichen. Während er
vordem so gedacht hatte: Zwar ist leider richtig, daß ich
nichts erreichen kann, aber was ich erreichen kann, ist
ziemlich schön.
</p>

<p>
Praktisch, wie Berthold Bryller in gewissen Beziehungen war,
wußte er seine Schwächen allgemein menschlich aufzufassen,
so daß die Verzweiflung, die sich anfangs in hysterischen
Anfällen besonderer Art offenbart hatte, bald – bis auf
seltene Zustände – dem Gefühl einer erhabenen
Gleichgültigkeit wich. Nach wie vor schrieb er seine frechen
und unvorsichtigen Briefe, die ihm viel schadeten,
veröffentlichte er besonders kluge, etwas wahnsinnige
Aufsätze in den wenigen Blättern, mit deren Herausgebern er
zufällig nicht verfeindet war, gründete er Clubs, die ihn
ausstießen, Zeitschriften, in denen er bekämpft wurde. Nach
wie vor machte er sich auch sonst durch seine Beteiligung
überall unmöglich. Uneingeweihte würden allerdings den
Umstand, daß er nicht mehr in dem Café Klößchen zu sehen
war, als ein Zeichen seiner innerlichen Verwandlung bemerken
können, wenn nicht ein an der Tür des Cafés befestigtes
Plakat:
</p>

<p class="center">
BRYLLERN IST DER EINTRITT VERBOTEN!
</p>

<p>
veranlaßt hätte, einen Streit mit dem Wirt als Ursache
seines Fernbleibens anzunehmen.
</p>

<p>
Aber allmählich wurde dem Doktor Bryller, der doch kein
Trottel war, das hoffnungslose literarische Dasein
unausstehlich. Hinzu kam, daß seine Geldmittel in absehbarer
Zeit erschöpft waren. Er mußte also, unfähig sich
gegebenenfalls zu töten, bedacht sein, durch Arbeit seinen
Lebensunterhalt zu beschaffen. Die schriftstellerische
Tätigkeit war pekuniär ungefähr erfolglos. In eine feste
literarische Stellung zu treten – etwa als Redakteur –,
würde er nicht über das Herz gebracht haben, abgesehen
davon, daß ihn niemand genommen hätte. Was blieb ihm, als
mit dem Rest seines Kapitals die unterbrochenen
Universitätsstudien fortzusetzen, die notwendigen
Staatsexamina zu machen, sich als Oberlehrer eine
gesicherte, ganz angenehme Position zu schaffen. Übrigens
war ihm dieser Beruf durchaus bequem. Überzeugt von der
unverbesserlichen menschlichen Fehlerhaftigkeit, die er an
dem eigenen Leibe erfahren hatte, durchdrungen von der
vollständigen Zwecklosigkeit körperlichen und geistigen
Strebens, ließ er gern jeglichen Trieben ungehemmten Lauf.
Seinen Herrschergelüsten, seinem sonstigen Ehrgeiz, sogar
seinen erotischen Bedürfnissen konnte er als Oberlehrer am
ehesten Genüge tun.
</p>

<p>
Der Doktor Bryller war trotz seiner Launenhaftigkeit und
häufigen Sonderbarkeiten einer der beliebtesten Lehrer des
Grauen Gymnasiums. Die kleinen Zöglinge vergötterten ihn,
die größeren hingen ihm leidenschaftlich an. Natürlich gab
es auch Schüler, die ihn nicht mochten. Zum Beispiel der
Quintaner Max Mechenmal, den er einige Male ohne
auffallenden Grund geohrfeigt hatte. Das hätte für Doktor
Berthold Bryller beinahe unangenehmste Folgen gehabt.
Gelegentlich der auf die entrüstete Beschwerde des
Quintaners von dem Direktor Rudolph Richter einberufenen
Lehrerkonferenz zeigte sich, daß die große Mehrzahl der
Kollegen im Gegensatz zu den Schülern dem Doktor keineswegs
freundlich gesinnt war. Als er auf die Frage, warum er
geschlagen habe, lächelnd erwiderte, weil ihm Mechenmal
mißfalle, wollte man, dem Vorschlag des angesehenen Kollegen
Lothar Laaks folgend, der vorgesetzten Behörde empfehlen,
ihn für längere Zeit zwecks geistiger Erholung in ein
Sanatorium zu entfernen. Nur der Zufall, daß der gekränkte
Quintaner Mechenmal ein bei Lehrern und Schülern in gleichem
Maße verhaßtes Individuum war: wegen seiner
katzenfreundlichen Verlegenheit und heimlich aufhetzenden
Bosheit, hinderte einen solchen Entschluß. Obwohl der
Kollege Laaks – der einzige, der für Mechenmal Worte der
Anerkennung fand – unter Aufwand vieler schmutziger
Dialektik feurig dafür eintrat. Man begnügte sich, den Herrn
Doktor Bryller auf das Ungehörige seiner Handlungsweise
drohend aufmerksam zu machen.
</p>

<p class="center"><span class="vsuper">*</span>&#160;&#160;&#160;<span class="vsub">*</span>&#160;&#160;&#160;<span class="vsuper">*</span></p>

<p>
Etwa ein halbes Jahr vor der endgültigen lebenslänglichen
Verwahrung Berthold Bryllers in einem staatlich
subventionierten Irrenheim war ein Geschrei auf dem Hof des
Grauen Gymnasiums. Ein Haufen zumeist kleinerer Schüler
wälzte sich hinter einem zwergenhaften, vergrämten, schiefen
Jungen, dessen Rücken die zarten Anfänge einer
Buckelkrümmung aufwies. Man rief ihm vergnügt und gehässig –
in dem Lärm unverständliche – sicherlich bösartige Neckworte
zu. Er wurde gestoßen, so daß er stolperte. Viele ältere
Gymnasiasten sahen das muntere Treiben belustigt an. Auch
der Oberlehrer Laaks, der die Aufsicht führte, unterdrückte
nicht ein vergnügtes Schmunzeln. In einem Fenster war das
regungslose Gesicht des Doktor Bryller.
</p>

<p>
Der schiefe Junge ging, ohne sich zu wehren. Gebückten
Kopfes. Oft mußte er mit der Hand über die Augen wischen.
Nur einmal, als einer der Übermütigsten – natürlich der
Quintaner Mechenmal – ihm unter johlendem Beifall der
anderen in das Gesicht spie, warf er sich tief aufweinend
gegen den Angreifer; der lief sofort davon. Mitten durch den
Haufen, der ihm jubelnd überall den Weg verstellte,
verfolgte der weinende Bucklige den Kameraden. Er würde den
Mechenmal vielleicht auch erreicht haben, wenn nicht der
langjährige Untertertianer Spinoza Spaß ihn plötzlich an dem
Buckel wie an einem Haken festgehalten hätte. Spinoza Spaß
grinste gemütlich und boshaft das affenförmige, sehnsüchtig
phlegmatische Gesicht entlang, als er den kleinen
verzweifelten Kohn wie ein Gewicht langsam durch die sonnige
Frühlingsluft bewegte. Er ist durch diese Heldentat einer
der berühmtesten Untertertianer des Grauen Gymnasiums
geworden.
</p>

<p>
Vorzeitig machten dem sonderbaren Schauspiel einige
mitleidige größere Gymnasiasten ein Ende. Der hagere,
bleiche Primaner Paulus entriß den winzigen unglückseligen
Menschen dem giftig dreinblickenden Spaß und bedrohte jeden
mit Schlägen, der den schiefen kleinen Kohn weiterhin
belästige. Aus Furcht vor Paulus und einigen Gleichgesinnten
ließ man auch – wenigstens vorläufig – den glühenden
Buckligen in Ruh. Der drückte sich die grauen Mauern
entlang. Und wäre am liebsten versunken. Froh war er, als
die Schulglocke das Zeichen gab, in die Klassenstuben zu
verschwinden.
</p>

<p>
Der Primaner Peter Paulus war schon auf dem etwas finsteren
Gange zu dem geräumigen Zimmer, in welchem der Pastor
Leopold Lehmann den Schülern der oberen Klassen hebräischen
Unterricht zu erteilen pflegte, als der Oberlehrer Laaks ihn
einholte, ihn anrief, ihn in ein geheimnisvolles, sehr
aufgeregtes Gespräch zog. Laaks machte dem Paulus
anscheinend Vorwürfe. Merkwürdig war aber, daß er nicht
aussah wie ein Lehrer, der den Schüler zurechtweist, sondern
etwa wie ein mißtrauischer Verwandter, der sich in einer
Erbschaftsangelegenheit übervorteilt glaubt. Auch das
Verhalten des Primaners war durchaus nicht das Verhalten
eines Untergebenen...
</p>

<p>
Die Unterredung der beiden mußte sich wohl sehr ausgedehnt
haben. Denn als Peter Paulus noch bleicher als sonst eintrat
und das zu späte Kommen mit einem dienstlichen Gespräch
entschuldigte, hatte der Pastor Lehmann das eigentliche
Pensum längst erledigt; war in einer religiösen Diskussion
begriffen, die er in moderner Weise regelmäßig an den
hebräischen Unterricht knüpfte. Man sprach gerade über Gott
und studentisches Wesen, kam aber nach einigen unwichtigen
Erörterungen zu dem Thema: Abtreibung und Seelenleben, bei
dem man verharrte. Den Anlaß hatte eine Mitteilung in einem
Artistenfachblatt gegeben, die einer sich ausgeschnitten und
zwecks Auseinandersetzung mitgebracht hatte. Der Pastor las
vor:
</p>

<p class="txtindent spaced">
Zusammenbruch der berühmten Tänzerin Lola Lalà.
</p>

<p class="txtindent">
Die rühmlichst bekannte Varietétänzerin Lola Lalà, die auch
unter der Bezeichnung Lo Lálalà auftrat und deren
Mädchenname Leni Levi ist, mußte, wie ein Korrespondent uns
drahtet, in eine Irrenanstalt gebracht werden, was
gewaltiges Aufsehen erregte. Man fand die Bedauernswerte in
Adamskostüm splitternackt gegen Morgen auf einem Weizenfeld
bitter weinend eine schwere Zigarre rauchend. Herr
Gottschalk Schulz, ein zartfühlender Poet, hat in der
»Zeitung für erhellte Bürger« darüber ein ergreifendes
Gedicht veröffentlicht, das einen pikanten Reiz dadurch hat,
daß – so munkelt man wohl nicht mit Unrecht – der Dichter zu
der armen lieblichen Tänzerin recht herzliche Beziehungen
unterhielt. Deshalb sei dies schöne Gedicht unseren Lesern
nicht vorenthalten: – – –
</p>

<p>
Das Gedicht hatte die Überschrift: Der Rauch auf dem Felde.
Der Pastor las es aber nicht vor, weil es zu zotig sei. Auch
nicht zur Sache gehöre. Dagegen las er:
</p>

<p class="txtindent">
Wie ich aus besonderer, authentischer Quelle in später
Abendstunde noch erfahre, soll die Ursache des seelischen
Zusammenbruchs der Tänzerin ein nach glücklich erfolgter
<span class="spaced">Abtreibung</span> durch einen Einbruch
verursachter Schreck gewesen sein. Eine gerichtliche
Untersuchung ist eingeleitet.
</p>

<p>
Danach begann der Pastor eine Rede über die Abtreibung so:
»Die Erkenntnis des Menschen gipfelt darin, daß er das am
höchsten entwickelte Erdwesen sei. Das kann kein Mensch
bestreiten.« Er bemerkte nicht das absichtlich übertrieben
unterdrückte Lachen einiger. Und langsam fuhr er fort. Er
verurteilte die Abtreibung als Gott ungefällig vom
religiösen und sozialpolitischen Standpunkt aus. Zum
Schlusse sagte er: »Wir sind modern. Wir scheuen uns nicht,
anstößige Fragen mit sittlichem Ernst zu behandeln.« –
</p>

<p>
Der einzige, der widersprach, war Peter Paulus. Er geriet –
äußerlich ruhig – in solche Wut, daß er sagte: »Wenn ich
Arzt wäre, Herr Pastor, würde ich selbst –« Da sagte erregt
der Pastor: »Glauben Sie an Gott, Paulus?« Und Peter Paulus
sagte nur: »Nein.« Er wurde einige Minuten vor Schluß der
Lehrstunde wegen Sozialdemokratie und Gottlosigkeit von dem
hebräischen Unterricht ausgeschlossen.
</p>

<p>
Trotzig ging er hinaus. Warf die Tür.
</p>

<p class="center"><span class="vsuper">*</span>&#160;&#160;&#160;<span class="vsub">*</span>&#160;&#160;&#160;<span class="vsuper">*</span></p>

<p>
Als der verwitwete Gefängnisgeistliche Christian Kohn sein
einziges herz- und geisteskrankes Kind in eine Anstalt geben
mußte, adoptierte er – niemand weiß warum – einen kleinen
Krüppel. Man schwatzte vielerlei. Am hartnäckigsten erhielt
sich das Gerücht, der Krüppel Kuno sei ein natürlicher Sohn
des Geistlichen. Die Mutter sei die populäre Totschlägerin
Trude, die ihren abtrünnigen Zuhälter erschossen hatte.
Trude war, weil sich herausstellte, daß sie trächtig war,
unter jubelndem Beifall des ganzen Volkes begnadigt worden.
Man behauptet, der mitleidige Geistliche habe Trudes
Schwangerschaft bewirkt. Doch ist das nicht nachgewiesen.
</p>

<p>
Kuno Kohn verbrachte die erste halbwache Jugend in den
trostlosen steinernen Räumen und Höfen des Zuchthauses. Der
Adoptivvater kümmerte sich wenig um den Jungen. Wochenlang
ließ er sich nicht sehen. Überlassen einer mürrischen
Dienstperson, die in der Hauptsache die dürftige Wirtschaft
des Geistlichen besorgte, ohne ausreichende Pflege, ohne
Spielgenossen, ohne Anregung und Liebe konnte sich das
krüpplige Kind nicht entwickeln. Blieb immer zwergenhaft.
Blaß und verträumt schlich er einher. Verschüchtert und
furchtsam. Gegen Abend wimmelte es auf den winkligen Treppen
mit vergitterten Fenstern, in den großen düsteren Hallen und
Gängen von verwegenen Schatten und schauerlichen Geräuschen.
Ein Robusterer würde solche peripherischen Dinge nicht
beachtet haben, wenn er sie überhaupt bemerkt hätte. Aber
auf den Kuno Kohn drang das Geringste ein, das
Nebensächlichste hatte Bedeutung, entsetzte ihn. Überall und
von allem fürchtete er Unheil. Nichts war ihm vertraut. Die
ewige Angst machte ihn selbst zu einem kleinen huschenden
Gespenst und gab seinen schwindsüchtigen Augen
phosphorisches Leuchten. Wenn er zu später Stunde
weggeschickt wurde, etwa um Milch zu holen oder Petroleum,
betete er in fiebriger Inbrunst zu dem lieben Gott. Atemlos
und kalkig kam er wieder.
</p>

<p>
Über alles fürchtete Kuno Kohn die tausendfältige Finsternis
vor dem Einschlafen. Früher hatte man ihm eine winzige Lampe
in das Zimmer gestellt, deren rötlicher melancholischer
Schein ihn etwas beruhigte. Auf der weichen Wand tauchten
sonderbarste Fratzen auf und Kämpfe, aber auch
Zinnsoldatenmärsche und ergötzliches Durcheinander von Feen
und Kuchenläden und Königinnen, bis ein Schlaf kam. Seit
einiger Zeit wünschte der Geistliche solche Verweichlichung
der Seele seines Sohnes nicht mehr. Kuno mußte in dem
Dunkelen leben. Weg war das bißchen Sichtbarkeit. Das
unzählige unfaßbare Geschehen des Chaos kugelte sich um den
kleinen Menschen. Mehr Welt drängte sich in dem kurzen
Nachtzimmer des Buckligen, als der ganze große Tag enthielt.
Kuno Kohn hatte den Körper, der in dem Bett liegen sollte,
verloren: war nur noch Schreck und Hilflosigkeit und
Sehnsucht. Am schlimmsten war, wenn sich das wüste Ungefähr
zu Erscheinungen oder Berührungen verdichtete. Dann schrie
der Kohn verzweifelt auf. Entweder hörte man den Aufschrei
nicht oder legte ihm keine Bedeutung bei. In Gefängnissen
schreit es immer in der Nacht irgendwo. Kuno lag oft lange,
bis das unergründliche Loch, das so viel unbegreiflichen
Inhalt hatte, die lebhaften Bilder einließ, die Traum und
Schlaf brachten: Einbrecher, oder vielleicht eine
Droschkenfahrt in der Sonne, einen Besuch bei dem kleinen
kranken Bruder, ein Spiel mit Straßenkindern, die lieben
traurigen Engelaugen der Maria Müller, für die man sterben
möchte.
</p>

<p>
Des Kuno Kohn gute Bekannte waren die Gefangenen. Nicht die
Wächter; die waren zwar recht freundlich zu ihm, aber ein
instinktives Mißtrauen herrschte verborgen. Dagegen die
Totschläger und Spieler, Lustmörder und Räuber, die
berühmtesten Einbrecher und die Mehrzahl der sonstigen
distinguierten Alteingesessenen begrüßten den kleinen
Buckligen herzlich durch geringes Kopfnicken oder fast
unmerkliches Grinsen, sooft er kam, der stummen grauen
Arbeit mit aufgerissenen Träumeraugen zuzusehen. Nur die
Hehler, Wucherer, Hochstapler, Defraudanten, Bauernfänger,
die meisten Bankerotteure und manche Zuhälter blieben
unerfreut. Besonders angefreundet hatte sich Kuno Kohn im
Laufe der Jahre mit dem jugendlichen Einbrecher Benjamin.
Die beiden saßen oft stundenlang zusammen. – Die Wächter
drückten ein Auge zu... Benjamin erzählte dem Buckligen
schwärmend. Von Sonne. Und Freiheit. Und der Erlösung der
Menschen. Kuno Kohn vermittelte den geheimen Verkehr
Benjamins mit der Außenwelt und erwies dem Freunde allerlei
Gefälligkeiten, er verschaffte ihm Zigaretten, Bücher,
kleine Werkzeuge. Als einmal in dem Käfig Benjamins ein Band
Goethe und etwas Zigarettenasche gefunden wurde, hatte man
Kohn in Verdacht. Nach dem kurz darauf erfolgten Ausbruch
des Einbrechers, der nur mit fremder Hilfe geschehen sein
konnte, machte man dem Geistlichen Mitteilung. Der verbot
dem Sohn das Zusammensein mit den Eingesperrten. Die Wächter
durften ihn nicht mehr einlassen.
</p>

<p>
Die großen Probleme, die den Kuno Kohn, sobald er
einigermaßen denken konnte, immer wieder quälten, waren
hauptsächlich Tod und Gott. Im Alter von vier oder fünf
Jahren glaubte er nicht an den Tod, wenigstens nicht an
seinen. Und er betete täglich zu dem lieben Gott, bevor er
sich hinlegte: »Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll
niemand drin wohnen als Gott allein.« Aber wenn er während
des Tages etwas getan hatte, was ihm sündhaft erschien – und
das geschah fast immer – fügte er (im Bett sitzend; stehend,
wenn es besonders schlimm war) lange und reumütige Monologe
hinzu, bis er, übermüdet, mit noch gefalteten Fingern und
Tränen einschlief. Wenn Finsternis und Angst kamen, betete
er immer. Allmählich mehrten sich die Zweifel. Er mußte an
seinen Tod glauben und den Glauben an Gott verlassen. Als er
in die Schule kam, begann die Fülle von Leiden, die für
manche Kinder damit verbunden sind.
</p>

</div>

</body>
</html>