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author | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2020-03-04 16:45:23 +0100 |
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committer | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2020-03-04 16:45:23 +0100 |
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diff --git a/OEBPS/Text/prosa/skizzen/04_siegmund_simon.html b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/04_siegmund_simon.html new file mode 100644 index 0000000..b994128 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/skizzen/04_siegmund_simon.html @@ -0,0 +1,102 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Siegmund Simon</title> +</head> +<body> + +<h4>Siegmund Simon</h4> + +<p> +Neun Ärzte behaupten, daß Samuel Simon an Wahnvorstellungen +leide. Ich füge mich.</p> + +<p> +Seit neunundzwanzig Jahren bin ich in der Anstalt. Man ist +freundlich zu mir. Ich kann tun und lassen, was ich will. +Wenn es warm ist, gehe ich im Garten und horche, wie die +Stunden sterben. Wenn es kalt ist, sitze ich am Fenster und +sinne in den Himmel. Oft schaue ich den Leuten zu, wenn sie +rufen oder arbeiten oder traurig sind … Ich bin froh, daß +ich fern bin. Ich entbehre nicht das Leben. Ich bin +zufrieden, wenn man mir nichts tut und nichts von mir will. +Ich beneide nicht die Menschen.</p> + +<p> +Neunmal in jedem Jahr bringt meine bleiche Frau Blumen. Mein +Sohn Siegmund kommt niemals. Zuletzt habe ich ihn gesehen, +als ich begraben wurde. An meinem neunundvierzigsten +Geburtstag –</p> + +<p> +ich lag in einem schmucklosen Holzsarg. Man fuhr mich auf +einem wagenartigen Gestell. Neben mir schritten neun +schwarzgekleidete Sargträger. Hinter mir der Pastor Leopold +Lehmann, an seiner Seite meine Frau Frieda und mein +neunzehnjähriger Sohn Siegmund. Wenige Verwandte folgten, +die waren stillvergnügt und unterhielten sich von der +Raupenplage.</p> + +<p> +Die Sonne warf warmes Licht. Wind kam dann und wann. Er +krabbelte über den Kies und kitzelte die Frauen um Brüste +und Waden. Wir hielten vor dem aufgeschütteten Grab. Der +Sarg wurde hinuntergelassen, einige Formalitäten und Gebete +wurden erledigt. Darauf fing der Pastor Leopold Lehmann an, +auf Wunsch und auf Kosten meiner Frau eine Gedächtnisrede zu +halten. Er sagte:</p> + +<p> +»Liebe Schwestern und Brüder! Wieder hat ein gütiges +Geschick uns ein teures Menschenleben geraubt. Trauernd +stehen wir am Grab des Dahingeschiedenen und gedenken seiner +in Wehmut.«</p> + +<p> +Mein Sohn Siegmund biß auf die Lippen. Der Pastor sagte: +»Die Erde, die den Körper ausgesondert hat, daß er kurze +Zeit ein beseeltes Eigenleben führe, hat ihn wieder +aufgenommen in den Mutterschoß. Ein edler Mensch ist +heimgegangen –«</p> + +<p> +mein Sohn Siegmund bekam einen Lachanfall. Das Gesicht wurde +rot und ernst … Er lachte, bis er röchelte.</p> + +<p> +Meine Frau schrie.</p> + +<p> +Einem Sargträger entfiel die Schnapsflasche und zerbrach auf +dem Sarg. Der Sargträger blickte wehmütig hinunter.</p> + +<p> +Die Verwandten waren empört. Sie schämten sich für meinen +Sohn Siegmund. Einige Frauen weinten in echte +Spitzentücher.</p> + +<p> +Ich war ganz still.</p> + +<p> +Der Pastor sagte:</p> + +<p> +»Wenn einer nicht weiß, wie er sich zu benehmen hat, soll er +nicht kommen, wenn einer beerdigt wird – Amen.«</p> + +<p> +Er warf etwas Sand auf die zerbrochene Schnapsflasche. Und +entfernte sich. Stolz. Gekränkt. Der Pastor. Leopold +Lehmann.</p> + +<p> +Mein Sohn Siegmund säuberte sich die Fingernägel.</p> + +</body> +</html> |