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+++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/04_siegfried_simon.html
@@ -0,0 +1,104 @@
+<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?>
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+
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+ <title>Siegfried Simon</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Siegfried Simon</h4>
+
+<p>
+Neun Aerzte behaupten, dass ich an Wahnvorstellungen leide.
+Ich füge mich</p>
+
+<p>
+Seit neunundzwanzig Jahren bin ich in der Anstalt. Man ist
+freundlich zu mir. Ich kann tun und lassen, was ich will.
+Wenn es warm ist, gehe ich im Garten und horche, wie die
+Stunden sterben &nbsp; Wenn es kalt ist, sitze ich am
+Fenster und sinne in den Himmel. Oft schaue ich den Leuten
+zu, wenn sie rufen oder arbeiten oder traurig sind. Ich
+entbehre nicht das Leben. Ich bin zufrieden, wenn man mir
+nichts tut und nichts von mir will. Ich beneide nicht die
+Menschen.</p>
+
+<p>
+Neunmal in jedem Jahr bringt meine bleiche Frau Blumen. Mein
+Sohn Siegfried kommt niemals. Zuletzt habe ich ihn gesehen,
+als ich begraben wurde. An meinem neunundvierzigsten
+Geburtstag.</p>
+
+<p>
+Ich lag in einem schmucklosen Holzsarg. Man fuhr mich auf
+einem wagenartigen Gestell. Neben mir schritten neun
+schwarzgekleidete Sargträger. Hinter mir der Pastor Leopold
+Lehmann, an seiner Seite meine Frau Frieda und mein
+neunzehnjähriger Sohn Siegfried. Wenige Verwandte folgten,
+die waren stillvergnügt und unterhielten sich, wenn ich
+recht gehört habe, von der Raupenplage im Tiergarten.</p>
+
+<p>
+Die Sonne warf warmes Licht. Wind kam dann und wann. Er
+krabbelte über den Kies und kitzelte die Frauen um Brüste
+und Waden. Wir hielten vor dem aufgeschütteten Grab. Der
+Sarg wurde hinuntergelassen, einige Formalitäten und Gebete
+waren schnell erledigt. Darauf fing der Pastor Leopold
+Lehmann an, auf Wunsch und auf Kosten meiner Frau, eine
+Gedächtnisrede zu halten. Er sagte:</p>
+
+<p class="indent">
+Liebe Schwestern und Brüder! Wieder hat ein gütiges
+Geschick uns ein teures Menschenleben geraubt. Trauernd
+stehen wir am Grab des Dahingeschiedenen und gedenken seiner
+in Wehmut.</p>
+
+<p>
+Mein Sohn Siegfried biss sich auf die Lippen, Der Pastor
+sagte:</p>
+
+<p class="indent">
+Die Erde, die den Körper ausgesondert hat, dass er kurze
+Zeit ein beseeltes Eigenleben führe, hat ihn wieder
+aufgenommen in den Mutterschoss. Ein edler Mensch ist
+heimgegangen -</p>
+
+<p>
+Mein Sohn Siegfried bekam einen Lachanfall.
+Das Gesicht wurde rot und ernst. Er lachte, bis er
+röchelte.</p>
+
+<p>
+Meine Frau schrie.</p>
+
+<p>
+Die Verwandten waren empört. Sie schämten sich für meinen
+Sohn Siegfried. Einige Frauen weinten in echte
+Spitzentücher.</p>
+
+<p>
+Ich war still.</p>
+
+<p>
+Der Pastor sagte:</p>
+
+<p class="indent">
+Wenn einer nicht weiss, wie er sich zu benehmen hat, soll er
+nicht kommen, wenn einer beerdigt wird. Amen.</p>
+
+<p>
+Und entfernte sich. Stolz. Gekränkt. Der Pastor. Leopold
+Lehmann.</p>
+
+<p>
+Mein Sohn Siegfried reinigte sich die Fingernägel.</p>
+
+<p class="source">
+Der Sturm, Nr. 51, 18. Februar 1911, S. 408</p>
+
+</body>
+</html>