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diff --git a/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/06_die_verse_des_alfred_lichtenstein.html b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/06_die_verse_des_alfred_lichtenstein.html new file mode 100644 index 0000000..681ac08 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/prosa/ergaenzungen/06_die_verse_des_alfred_lichtenstein.html @@ -0,0 +1,196 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?> +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Die Verse des Alfred Lichtenstein</title> +</head> +<body> + +<h4>Die Verse des Alfred Lichtenstein</h4> + +<p> +Die folgenden Gedichte können in drei Gruppen geteilt +werden. Eine vereinigt phantastische, halb spielerische +Gebilde: Der Traurige, Die Gummischuhe, Capriccio, Der +Lackschuh, Wüstes Schimpfen eines Wirtes. (Zuerst erschienen +in der Aktion, im Simplicissimus, im März, Pan und +anderswo.) Freude an reiner Artistik ist unverkennbar. Ein +Beispiel:</p> + +<h5>Der Athlet</h5> + +<p> +Einer ging in zerrissenen Hausschuhen<br /> +hin und her durch das kleine Zimmer,<br /> +das er bewohnte.<br /> +Er sann über die Geschehnisse,<br /> +von denen in dem Abendblatt berichtet war.<br /> +Und gähnte traurig,<br /> +Wie nur einer gähnt,<br /> +Der viel und Seltsames gelesen hat.<br /> +Und der Gedanke überkam ihn plötzlich –<br /> +Wie wohl den Furchtsamen die Gänsehaut<br /> +Und wie das Aufstoßen den Uebersättigten,<br /> +Wie Mutterwehen –<br /> +das große Gähnen sei vielleicht ein Zeichen,<br /> +ein Wink des Schicksals, sich zur Ruh zu legen…<br /> +Und der Gedanke ließ ihn nicht mehr los.<br /> +Und also fing er an, sich zu entkleiden…<br /> +</p> + +<p> +Als er ganz nackt war, hantelte er etwas. +</p> + +<p> +Im Hintergrund ist Demonstration von Weltanschauung. Der +Athlet … Bedeutet: Daß der Mann auch geistig seine +Notdurft verrichten muß, ist entsetzlich.</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Das früheste Gedicht einer zweiten Gruppe ist:</p> + +<h5>Die Dämmerung*)</h5> + +<p> +Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.<br /> +Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.<br /> +Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,<br /> +als wäre ihm die Schminke ausgegangen.</p> + +<p> +Auf lange Krücken schief herabgebückt<br /> +(und schwatzend) kriechen auf dem Feld zwei Lahme.<br /> +Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.<br /> +Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.</p> + +<p> +An einem Fenster klebt ein fetter Mann.<br /> +Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.<br /> +Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.<br /> +Ein Kinderwagen schreit. Und Hunde fluchen.</p> + +<p> +Absicht ist, die Unterschiede der Zeit und des Raumes +zugunsten der Idee zu beseitigen. Das Gedicht will die +Einwirkung der Dämmerung auf die Landschaft darstellen. In +diesem Fall ist die Einheit der Zeit bis zu einem gewissen +Grade notwendig. Die Einheit des Raumes ist nicht +erforderlich, deshalb nicht beachtet. In den zwölf Zeilen +ist die Dämmerung am Teich, am Baum, am Feld, am Fenster, +irgendwo … In ihrer Einwirkung auf die Erscheinung +eines Jungen, eines Windes, eines Himmels, zweier Lahmer, +eines Dichters, eines Pferdes, einer Dame, eines Mannes, +eines Jünglings, eines Weibes, eines Clowns, eines +Kinderwagens, einiger Hunde, bildhaft dargestellt. (Der +Ausdruck ist schlecht, aber ich finde keinen besseren.)</p> + +<p> +Der Urheber des Gedichtes will nicht eine als real denkbare +Landschaft geben. Vorzug der Dichtkunst vor der Malkunst +ist, daß sie »ideeliche« Bilder hat. Das bedeutet – +angewandt auf die Dämmerung: Der dicke Knabe, der den großen +Teich als Spielzeug benutzt und die beiden Lahmen auf +Krücken über dem Feld und die Dame in einer Straße der +Stadt, die von einem Wagenpferd im Halbdunkel umgestoßen +wird, und der Dichter, der voll verzweifelter Sehnsucht in +den Abend sinnt (wahrscheinlich aus einer Dachluke), und der +Zirkusclown, der sich in dem grauen Hinterhaus seufzend die +Stiefel anzieht, um pünktlich zu der Vorstellung zu kommen, +in der er lustig sein muß – können ein dichterisches +»Bild« hergeben, obwohl sie malerisch nicht komponierbar +sind. Die meisten leugnen das noch, erkennen daher +beispielsweise in der Dämmerung und ähnlichen Gebilden +nichts als ein sinnloses Durcheinander komischer +Vorstellungen. Andere glauben sogar – zu Unrecht +–, daß auch in der Malerei derartige »ideeliche« +Bilder möglich sind. (Man denke an die +Futuristenmanschepansche.)</p> + +<p> +Absicht ist weiterhin, die Reflexe der Dinge unmittelbar – +ohne überflüssige Reflexionen aufzunehmen. Lichtenstein +weiß, daß der Mann nicht an dem Fenster klebt, sondern +hinter ihm steht. Daß nicht der Kinderwagen schreit, sondern +das Kind in dem Kinderwagen. Da er nur den Kinderwagen +sieht, schreibt er: Der Kinderwagen schreit. Lyrisch unwahr +wäre, wenn er schriebe: Ein Mann steht hinter einem +Fenster.</p> + +<p> +Zufällig auch begrifflich nicht unwahr ist: Ein Junge spielt +mit einem Teich. Ein Pferd stolpert über eine Dame. Hunde +fluchen. Zwar muß man sonderbar lachen, wenn man sehen +lernt: Daß ein Junge einen Teich tatsächlich als Spielzeug +benutzt. Wie Pferde die hilflose Bewegung des Stolperns +haben … Wie menschlich Hunde der Wut Ausdruck geben +…</p> + +<p> +Zuweilen ist die Darstellung der Reflexion wichtig. Ein +Dichter wird vielleicht verrückt – macht einen tieferen +Eindruck als – ein Dichter sieht starr vor sich hin –</p> + +<p> +Anderes nötigt in dem Gedicht: Angst (Zweite Lyriknummer der +Aktion) und ähnlichen zu Reflexionen wie: Alle Menschen +müssen sterben … oder: Ich bin nur ein kleines +Bilderbuch … Das soll hier nicht auseinandergesetzt +werden.</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Daß die Dämmerung und andere Gedichte die Dinge komisch +nehmen (das Komische wird tragisch empfunden. Die +Darstellung ist »grotesk«), das Unausgeglichene, nicht +Zusammengehörige der Dinge, das Zufällige, das Durcheinander +bemerken… ist jedenfalls nicht das Charakteristische +des »Stils«. Beweis ist: In dieser Nummer sind Gedichte +abgedruckt, in denen das »Groteske« unbetont hinter dem +»Ungrotesken« verschwindet.</p> + +<p> +Auch andere Verschiedenheiten zwischen älteren Gedichten +(z.B. Die Dämmerung) und später entstandenen (z. B. Die +Angst) Gedichten desselben Stils sind nachweisbar. Man möge +beachten, daß immer häufiger besondersartige Reflexionen das +Landschaftsbild scheinbar durchbrechen. Wohl nicht ohne +bestimmte künstlerische Absichten.</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Die dritte Gruppe sind die Gedichte des Kuno Kohn.</p> + +<p> +*</p> + +<p> +Von Lichtenstein sind zwanzig Gedichte unter dem Titel: Die +Dämmerung in dem Verlag A. R. Meyer erschienen.<br /> +Alfred Lichtenstein (Wilmersdorf)</p> + +<p class="footnote"> +* Man erinnere sich des schönen: Weltende … des Jacob +van Hoddis, erschienen im ersten Jahre der AKTION. Tatsache +ist, dass A. Li. (Wi.) dies Gedicht gelesen hatte, bevor er +selbst »Derartiges« schrieb. Ich glaube also, dass van Hoddis +das Verdienst hat, diesen »Stil« gefunden zu haben, Li. das +geringere, ihn ausgebildet, bereichert, zur Geltung gebracht +zu haben. [Anmerkung von Franz Pfemfert.]</p> + +<p class="source"> +Die Aktion, 4. Oktober 1913, S.942</p> + +</body> +</html> |