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+++ b/OEBPS/Text/prosa/sonstige_prosa/03_die_verse_des_alfred_lichtenstein.html
@@ -0,0 +1,193 @@
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+ <title>Die Verse des Alfred Lichtenstein</title>
+</head>
+<body>
+
+<h4>Die Verse des Alfred Lichtenstein</h4>
+<h5>Selbstkritik I</h5>
+
+<p>
+I</p>
+
+<p>
+weil ich glaube, daß viele die Verse Lichtensteins nicht
+verstehen, nicht richtig verstehen, nicht klar verstehen &ndash;</p>
+
+<p>
+II</p>
+
+<p>
+die ersten achtzig Gedichte sind lyrisch. Im landläufigen
+Sinn. Sie unterscheiden sich wenig von Gartenlaubenpoesie.
+Der Inhalt ist die Not der Liebe, des Todes, der allgemeinen
+Sehnsucht. So weit sie »zynisch« (im Kabaretton) sind, mag
+beispielsweise der Wunsch, sich überlegen zu fühlen, den
+Anstoß zu ihrer Formulierung gegeben haben. Die meisten der
+achtzig Gedichte sind unbedeutend. öffentlich sind sie nicht
+mitgeteilt. Bis auf eins. (Eins der letzten.) Das ist:</p>
+
+<p>
+Ich will in Nacht mich bergen,<br />
+nackt und scheu.<br />
+Und um die Glieder Dunkelheiten decken<br />
+und warmen Glanz.<br />
+Ich will weit hinter die Hügel der Erde wandern.<br />
+Tief hinter die gleitenden Meere.<br />
+Vorbei den singenden Winden.<br />
+Dort treffe ich die stillen Sterne.<br />
+Die tragen den Raum durch die Zeit.<br />
+Und wohnen am Tode des Seins.<br />
+Und zwischen ihnen sind graue,<br />
+einsame Dinge.<br />
+Welke Bewegung<br />
+von Welten, die lange verwesten.<br />
+Verlorner Laut.<br />
+Wer will das wissen.<br />
+Mein blinder Traum wacht fern den Wünschen der Erde.</p>
+
+<p>
+III</p>
+
+<p>
+Die folgenden Gedichte können in drei Gruppen geteilt
+werden. Eine vereinigt phantastische, halb spielerische
+Gebilde: Der Traurige, Die Gummischuhe, Capriccio, Der
+Lackschuh, Wüstes Schimpfen eines Wirtes. (Zuerst erschienen
+in der Aktion, im Simplicissimus, im März, Pan und
+anderswo.) Freude an reiner Artistik ist unverkennbar.</p>
+
+<p>
+Beispiele: Der Athlet: Im Hintergrund ist Demonstration von
+Weltanschauung. Der Athlet &hellip; Bedeutet: Daß der Mann auch
+geistig seine Notdurft verrichten muß, ist entsetzlich. &ndash;
+Die Gummischuhe: Man ist mit Gummischuhen ein anderer Mensch
+als ohne.</p>
+
+<p>
+IV</p>
+
+<p>
+Das früheste Gedicht einer zweiten Gruppe ist:</p>
+
+<p>
+Die Dämmerung*)</p>
+
+<p>
+Absicht ist, die Unterschiede der Zeit und des Raumes
+zugunsten der Idee des Gedichtes zu beseitigen. Das Gedicht
+will die Einwirkung der Dämmerung auf die Landschaft
+darstellen. In diesem Fall ist die Einheit der Zeit bis zu
+einem gewissen Grade notwendig. Die Einheit des Raumes ist
+nicht erforderlich, deshalb nicht beachtet. In den zwölf
+Zeilen ist die Dämmerung am Teich, am Baum, am Feld, am
+Fenster, irgendwo &hellip; In ihrer Einwirkung auf die
+Erscheinung eines Jungen, eines Windes, eines Himmels,
+zweier Lahmer, eines Dichters, eines Pferdes, einer Dame,
+eines Mannes, eines Jünglings, eines Weibes, eines Clowns,
+eines Kinderwagens, einiger Hunde bildhaft dargestellt. (Der
+Ausdruck ist schlecht, aber ich finde keinen besseren.)</p>
+
+<p>
+Der Verfasser des Gedichtes will nicht eine als real
+denkbare Landschaft geben. Vorzug der Dichtkunst vor der
+Malkunst ist, daß sie »ideeliche« Bilder hat. Das bedeutet &ndash;
+angewandt auf die Dämmerung: Der dicke Knabe, der den großen
+Teich als Spielzeug benutzt, und die beiden Lahmen auf
+Krücken über dem Feld und die Dame in einer Straße der
+Stadt, die von einem Wagenpferd im Halbdunkel umgestoßen
+wird, und der Dichter, der voll verzweifelter Sehnsucht in
+den Abend sinnt (wahrscheinlich aus einer Dachluke), und der
+Zirkusclown, der sich in dem grauen Hinterhaus seufzend die
+Stiefel anzieht, um pünktlich zu der Vorstellung zu kommen,
+in der er lustig sein muß &ndash; können ein dichterisches »Bild«
+hergeben, obwohl sie malerisch nicht komponierbar sind. Die
+meisten leugnen das noch, erkennen daher beispielsweise in
+der »Dämmerung« und ähnlichen Gebilden nichts als ein
+sinnloses Durcheinander komischer Vorstellungen. Andere
+glauben sogar &ndash; zu Unrecht &ndash;, daß auch in der Malerei
+derartige »ideeliche« Bilder möglich sind. (Man denke an
+die Futuristenmanschepansche.)</p>
+
+<p>
+Absicht ist weiterhin, die Reflexe der Dinge unmittelbar &ndash;
+ohne überflüssige Reflexionen aufzunehmen. Lichtenstein
+weiß, daß der Mann nicht an dem Fenster klebt, sondern
+hinter ihm steht. Daß nicht der Kinderwagen schreit, sondern
+das Kind in dem Kinderwagen. Da er nur den Kinderwagen
+sieht, schreibt er: Der Kinderwagen schreit. Lyrisch unwahr
+wäre, wenn er schriebe: Ein Mann steht hinter einem
+Fenster.</p>
+
+<p>
+Zufällig auch begrifflich nicht unwahr ist: Ein Junge spielt
+mit einem Teich. Ein Pferd stolpert über eine Dame. Hunde
+fluchen. Zwar muß man sonderbar lachen, wenn man sehen
+lernt: Daß ein Junge einen Teich tatsächlich als Spielzeug
+benutzt. Wie Pferde die hilflose Bewegung des Stolperns
+haben &hellip; Wie menschlich Hunde der Wut Ausdruck geben
+&hellip;</p>
+
+<p>
+Zuweilen ist die Darstellung der Reflexion wichtig. Ein
+Dichter wird vielleicht verrückt &ndash; macht einen tieferen
+Eindruck als &ndash; ein Dichter sieht starr vor sich hin &ndash;</p>
+
+<p>
+IV</p>
+
+<p>
+anderes nötigt in dem Gedicht: Angst und ähnlichen zu
+Reflexionen wie: Alle Menschen müssen sterben &hellip; Oder: Ich
+bin nur ein kleines Bilderbuch &hellip; Das soll hier nicht
+auseinandergesetzt werden.</p>
+
+<p>
+V</p>
+
+<p>
+Daß die Dämmerung und andere Gedichte die Dinge komisch
+nehmen (das Komische wird tragisch empfunden. Die
+Darstellung ist »grotesk«), das Unausgeglichene, nicht
+Zusammengehörige der Dinge, das Zufällige, das Durcheinander
+bemerken&hellip; Ist jedenfalls nicht das Charakteristische des
+»Stils«. Beweis ist: Lichtenstein schrieb Gedichte, in denen
+das »Groteske« unbetont hinter dem »Ungrotesken«
+verschwindet.</p>
+
+<p>
+Auch andere Verschiedenheiten zwischen älteren Gedichten
+(z.B. Die Dämmerung) und später entstandenen (z. B. Die
+Angst) Gedichten desselben Stils sind nachweisbar. Man möge
+beachten, daß immer häufiger besondersartige Reflexionen das
+Landschaftsbild scheinbar durchbrechen. Wohl nicht ohne
+bestimmte künstlerische Absichten.</p>
+
+<p>
+VI</p>
+
+<p>
+Die dritte Gruppe sind die Gedichte des Kuno Kohn.</p>
+
+<p>
+Alfred Lichtenstein<br />
+(Wilmersdorf)</p>
+
+<p class="footnote">
+* man erinnere sich des schönen: Weltende &hellip; des Jacob van
+Hoddis, erschienen im ersten Jahr der Berliner Wochenschrift
+»Die Aktion«. Tatsache ist, daß A. Li. (Wi.) dies Gedicht
+gelesen hatte, bevor er selbst »Derartiges« schrieb. ich
+glaube also, daß van Hoddis das Verdienst hat, diesen »Stil«
+gefunden zu haben, Li. das geringere, ihn ausgebildet,
+bereichert, zur Geltung gebracht zu haben. [Anmerkung von
+Franz Pfemfert.]</p>
+
+</body>
+</html>