1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
108
|
<?xml version="1.0" encoding="utf-8" standalone="no"?>
<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.1//EN"
"http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd">
<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml">
<head>
<meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" />
<link href="../../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" />
<title>Gespräch über Beine</title>
</head>
<body>
<h4>Gespräch über Beine</h4>
<p>
I</p>
<p>
Als ich im Coupé saß, sagte der Herr gegenüber: »Ihnen kann
man die Beine nicht abtreten.«<br />
Ich sagte: »Wieso?«<br />
Der Herr sagte: »Sie haben keine Beine.«<br />
Ich sagte: »Merkt man das?«<br />
Der Herr sagte: »Natürlich.«<br />
Ich nahm meine Beine aus dem Rucksack. Ich hatte sie in
Seidenpapier eingewickelt. Und als Andenken
mitgenommen.<br />
Der Herr sagte: »Was ist das?«<br />
Ich sagte: »Meine Beine.«<br />
Der Herr sagte: »Sie nehmen die Beine in die Hand und kommen
dennoch nicht weiter.«<br />
Ich sagte: »Leider.«<br />
Nach einer Pause sagte der Herr: »Was gedenken Sie ohne
Beine eigentlich zu tun.«<br />
Ich sagte: »Darüber habe ich mir den Kopf noch nicht
zerbrochen.«<br />
Der Herr sagte: »Ohne Beine können Sie nicht einmal ohne
Schwierigkeit Selbstmord begehen.«<br />
Ich sagte: »Das ist aber ein fauler Witz.«<br />
Der Herr sagte: »Nicht doch. Wenn Sie sich erhängen wollen,
müßte Sie einer erst auf das Fensterbrett heben. Und wer
wird Ihnen den Gashahn öffnen, wenn Sie sich vergiften
wollen? Den Revolver könnten Sie sich nur heimlich durch
einen Dienstmann besorgen lassen. Wie aber, wenn Ihnen der
Schuß davonläuft? Um sich zu ertränken, müßten Sie ein Auto
nehmen und sich auf einer Tragbahre von zwei Pflegern in den
Fluß schleppen lassen, der Sie an das jenseitige Ufer
befördern soll.«<br />
Ich sagte: »Das ist doch wohl meine Sorge.«<br />
Der Herr sagte: »Sie irren, ich überlege, seitdem Sie da
sind, wie man Sie aus dieser Welt schaffen könnte. Meinen
Sie, ein Mensch ohne Beine sei ein sympathischer Anblick?
Habe auch Existenzberechtigung? Im Gegenteil, Sie stören das
ästhetische Gefühl Ihrer Mitmenschen erheblich.«<br />
Ich sagte: »Ich bin ordentlicher Professor für Ethik und
Ästhetik an der Universität. Darf ich mich
vorstellen?«<br />
Der Herr sagte: »Wie wollen Sie das machen? Sie können sich
selbstverständlich nicht vorstellen, wie unmöglich Sie
sind.«<br />
Ich betrachtete melancholisch meine Stummel.</p>
<p>
II</p>
<p>
Alsbald sagte die Dame gegenüber:<br />
»Keine Beine haben muß ein komisches Gefühl sein.«<br />
Ich sagte: »Ja.«<br />
Die Dame sagte: »Ich möchte einen Mann, der keine Beine hat,
nicht anfassen.«<br />
Ich sagte: »Ich bin sehr sauber.«<br />
Die Dame sagte: »Ich muß einen großen erotischen Abscheu
überwinden, um mit Ihnen zu reden, geschweige denn Sie
anzusehen.«<br />
Ich sagte: »Nanu.«<br />
Die Dame sagte: »Ich glaube nicht, daß Sie ein Verbrecher
sind. Sie mögen ein kluger und ursprünglich liebenswerter
Mensch sein. Aber ich könnte mit Ihnen wegen der Ihnen
fehlenden Beine beim besten Willen nicht verkehren.«<br />
Ich sagte: »Man gewöhnt sich an alles.«<br />
Die Dame sagte: »Daß einer keine Beine hat, verursacht bei
dem natürlich empfindenden Weibe ein unerklärliches Gefühl
tiefsten Grauens. Als ob Sie eine ekelhafte Sünde begangen
hätten.«<br />
Ich sagte: »Ich bin aber unschuldig. Das eine Bein kam mir
in der Aufregung abhanden, als ich zum ersten Mal meinen
Professorenstuhl einnahm, das zweite habe ich verloren, als
ich, in Gedanken versunken, jenes wichtige ästhetische
Gesetz fand, das zu grundlegenden Änderungen in unserer
Disziplin führte.«<br />
Die Dame sagte: »Wie heißt dieses Gesetz?«<br />
Ich sagte: »Das Gesetz heißt: Es kommt nur auf die Struktur
der Seele und des Geistes an. Wenn Seele und Geist edel ist,
muß man einen Körper schön finden, mag er äußerlich noch so
bucklig und entstellt sein.«<br />
Die Dame hob ostentativ ihr Kleid und zeigte dadurch bis an
den oberen Rand der Oberschenkel wunderschöne, in allerhand
Seide gehüllte, Beine, die wie blühende Zweige aus dem
saftigen Leibe ragten.<br />
Unterdessen sagte die Dame endgültig: »Sie mögen recht
haben, obwohl man ebensogut das Gegenteil behaupten könnte.
Jedenfalls ist ein Mensch mit Beinen etwas erheblich anderes
als einer ohne.«<br />
Damit ließ sie mich sitzen, stolz davonschreitend.</p>
</body>
</html>
|