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+ "http://www.w3.org/TR/xhtml11/DTD/xhtml11.dtd">
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+ <title>Erstes Kapitel.</title>
+</head>
+<body>
+
+<p class="alignright">FÜR ANDRE GIDE<br />
+GESCHRIEBEN 1906/9</p>
+
+<h3 class="spaced center">Erstes Kapitel.</h3>
+
+<p>
+Die Scherben eines gläsernen, gelben Lampions klirrten auf
+die Stimme eines Frauenzimmers: wollen Sie den Geist Ihrer
+Mutter sehen? Das haltlose Licht tropfte auf die
+zartmarkierte Glatze eines jungen Mannes, der ängstlich
+abbog, um allen Ueberlegungen über die Zusammensetzung
+seiner Person vorzubeugen. Er wandte sich ab von der Bude
+der verzerrenden Spiegel, die mehr zu Betrachtungen anregen
+als die Worte von fünfzehn Professoren. Er wandte sich ab
+vom Zirkus zur aufgehobenen Schwerkraft, wiewohl er lächelnd
+einsah, dass er damit die Lösung seines Lebens versäumte.
+Das Theater zur stummen Ekstase mied er mit stolz geneigtem
+Haupt: alle Ekstase ist unanständig, Ekstase blamiert unser
+Können, und ging schauernd in das Museum zur billigen
+Erstarrnis, an dessen Kasse eine breite verschwimmende Dame
+nackt sass. Sie war so breit, dass sie nicht etwa auf einem
+Stuhl sass, sondern auf ihrem schwermütigen, weit
+ausgedehnten Posterieur. Sie trug einen ausladenden gelben
+Federhut, smaragdfarbene Strümpfe, deren Bänder bis zu den
+Achselhöhlen reichten und den Körper mit nicht zu aufregend
+vibrierenden Arabesken schmückten. Von ihren Seehundhänden
+starrten rote Rubinen senkrecht: »Guten Abend, Herr
+Bebuquin,« sagte sie. Bebuquin betrat einen mühselig
+erleuchteten Raum, in dem eine Puppe stand, etwas dick, rot
+geschminkt mit gemalten Brauen, die seit ihrer Existenz eine
+Kusshand zuwarf. Erfreut über das Unkünstlerische setzte er
+sich auf einen Stuhl, einige Schritte von der Puppe
+entfernt. Der junge Mann wusste nicht, was ihn am
+Unkünstlerischen anzog. Er fand hier eine stille,
+freundliche Schmerzlosigkeit, die ihm jedoch gleichgültig
+war. Was ihn immer anzog, war der merkwürdige Umstand, dass
+ihn dies ruhig konventionelle Lächeln bewusstlos machen
+konnte. Ihn empörte die Ruhe alles Leblosen, da er noch
+nicht in dem nötigen Maasse abgestorben war, um für einen
+angenehmen Menschen gelten zu dürfen. Er schrie die Puppe
+an, beschimpfte sie und warf sie wieder einmal von ihrem
+Stuhl vor die Tür, wo die dicke Dame sie etwas besorgt
+aufhob. Er wand sich in der leeren Stube: »ich will nicht
+eine Kopie, keine Beeinflussung, ich will mich, aus meiner
+Seele muss etwas ganz Eigenes kommen, und wenn es Löcher in
+eine private Luft sind. Ich kann nicht mit den Dingen etwas
+anfangen, ein Ding verpflichtet zu allen Dingen. Es steht im
+Strom, und furchtbar ist die Unendlichkeit eines Punktes.«</p>
+
+<p>
+Die dicke Dame, Fräulein Euphemia, kam und bat ihn,
+fortzufahren, als ein dicker Herr ihn anfuhr:</p>
+
+<p>
+»Jüngling, beschäftigen Sie sich mit angewandten Wissenschaften.«</p>
+
+<p>
+Peinlich ging ihm das Talglicht eines Verstehens auf, dass
+er, wo er ein Schauspiel sehen wollte, einem anderen zum
+Theater gedient habe. Er schrie auf:</p>
+
+<p>
+»Ich bin ein Spiegel, eine unbewegte, von Gaslaternen
+glitzernde Pfütze, die spiegelt. Aber hat ein Spiegel sich
+je gespiegelt?«</p>
+
+<p>
+Mitleidig blickte ihn der Korpulente an. Er hatte einen
+kleinen Kopf, eine silberne Hirnschale mit wundervoll
+ziselierten Ornamenten, in welche feine, glitzernde
+Edelsteinplatten eingelassen waren. Giorgio wollte
+entweichen; Nebukadnezar Böhm schrie ihn wutvoll an:</p>
+
+<p>
+»Was springen Sie so in meiner Atmosphäre herum, Unmensch?«</p>
+
+<p>
+»Verzeihung, mein Herr, Ihre Atmosphäre ist ein Produkt von
+Faktoren, die in keiner Beziehung zu Ihnen stehen.«</p>
+
+<p>
+»Wenn auch,« erwiderte liebenswürdig Nebukadnezar, »es ist
+eine Machtfrage, eine Sache der Benennung, der
+Selbsthypnose.«</p>
+
+<p>Bebuquin richtete sich auf.</p>
+
+<p>
+»Sie sind wohl aus Sachsen und haben Nietzsche gelesen, der
+darüber, dass man ihm das Polizeiressort nicht anvertraute,
+wahnsinnig wurde und in die Notlage kam, psychologisch
+scharfsinnige Bücher zu schreiben?«</p>
+
+<p>
+Fräulein Euphemia bat die Herren, mit ihrem Geist
+rationeller umzugehen, und sie wolle gern ein Ball-Lokal
+besuchen. Die beiden nickten und stampften die Holztreppe
+hinunter. Euphemia holte einen Abendmantel, und Nebukadnezar
+ergriff ein Sprachrohr und bellte in die sich breit
+aufrollende Milchstrasse:</p>
+
+<p>
+»Ich suche das Wunder.« Der Schosshund Euphemias fiel aus dem
+Sprachrohr; Euphemia kehrte angenehm lächelnd zurück.</p>
+
+<p>
+»Beste,« meinte Nebukadnezar, »Erotik ist die Ekstase des
+Dilettanten; ich werde Sie aber in meinem nächsten
+Feuilleton protegieren. Die Frauen sind immer aufreibend, da
+sie stets dasselbe geben, und wir nie glauben wollen, dass
+zwei ganz verschiedene Körper das gleiche Zentrum besitzen.«</p>
+
+<p>
+»Adieu, ich will Sie nicht hindern, Ihre Betrachtungen durch
+die Tat zu beweisen.«</p>
+
+<p>
+Euphemia bat, dass der Dicke etwas zu trinken und zu essen
+aus dem Hotel hole, und kehrte um, ihren Hund zu pflegen,
+von dessen Unfall sie hörte. Der Dicke ergriff einen Baum
+und schmerzlich an den Hals. Dann ging auch er, den Hund
+pflegen. &ndash;</p>
+
+<p>
+Nebukadnezar neigte den Kopf über Euphemias massigen Busen.
+Ein Spiegel hing über ihm. Er sah, wie die Brüste sich in
+den feingeschliffenen Edelsteinplatten seines Kopfes zu
+mannigfachen fremden Formen teilten und blitzten, in Formen,
+wie sie ihm keine Wirklichkeit bisher zu geben vermochte.
+Das ziselierte Silber brach und verfeinerte das Glitzern der
+Gestalten. Nebukadnezar starrte in den Spiegel, sich gierig
+freuend, wie er die Wirklichkeit gliedern konnte, wie seine
+Seele das Silber und die Steine waren, sein Auge der
+Spiegel.</p>
+
+<p>
+»Bebuquin,« schrie er und brach zusammen; denn er vermochte
+immer noch nicht, die Seele der Dinge zu ertragen. Zwei Arme
+zerrten ihn auf, pressten ihn an zwei feste breite Brüste,
+und lange Haarsträhnen fielen über seinen Silberschädel, und
+jedes Haar waren tausend Formen. Er erinnerte sich der Frau
+und merkte etwas beklemmt, dass er nicht mehr zu ihr dringen
+könne durch das Blitzen der Edelsteine, und sein Leib barst
+fast im Kampfe zwei Wirklichkeiten. Dabei überkam ihn eine
+wilde Freude, dass ihm sein Gehirn aus Silber fast
+Unsterblichkeit verlieh, da es jede Erscheinung potenzierte,
+und er sein Denken ausschalten konnte, dank dem präzisen
+Schliff der Steine und der vollkommen logischen Ziselierung.
+Mit den Formen der Ziselierung konnte er sich eine neue
+Logik schaffen, deren sichtbare Symbole die Ritzen der
+Kapsel waren. Es vervielfachte seine Kraft, er glaubte in
+einer anderen, immer neuen Welt zu sein mit neuen Lüsten. Er
+begriff seine Gestalt im Tasten nicht mehr, die er fast
+vergessen, die sich in Schmerzen wand, da die gesehene Welt
+nicht mit ihr übereinstimmte.</p>
+
+<p>
+»Missbrauchen Sie mich, bitte, nicht,« klang die dünne
+Stimme Bebuquins im Spiegel, »regen Sie sich nicht so an
+Gegenständen auf; es ist ja nur Kombination, nichts Neues.
+Wüten Sie nicht mit deplazierten Mitteln; wo sind Sie denn?
+Wir können uns nicht neben unsere Haut setzen. Die ganze
+Sache vollzieht sich streng kausal. Ja, wenn uns die Logik
+losliesse; an welcher Stelle mag die einsetzen; das wissen
+wir beide nicht. Da steckt das Beste. Beinahe wurden Sie
+originell, da Sie beinahe wahnsinnig wurden. Singen wir das
+Lied von der gemeinsamen Einsamkeit. Ihre Sucht nach
+Originalität entspringt Ihrer beschämenden Leere; meine
+auch. Ich entziehe mich Ihnen ohne weiteres. Dann spiegeln
+Sie sich in sich selbst. Sie sehen, das ist ein Punkt. Aber
+die Dinge bringen uns auch nicht weiter.«</p>
+
+<p>
+Spitzengardinen werden zusammengezogen.</p>
+
+</body>
+</html>