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  <title>VIII, 4. November 1911</title>
</head>
<body>

<h3>VIII, 4. November 1911</h3>

<p>
Lieber Herwarth, ich habe den Pitter Boom gemalen für den
Sturm. Seitdem er sich den ganzen Hiddenseesommer nicht 
um mich bekümmert hat, sieht er gar nicht mehr aus wie ein
Großfürst, sondern wie ich ihn in der Katerstimmung als
Langohr gemalen hab. Ich zeigte ihm sein Bild, aber er
weigerte sich das Cliché zu bezahlen. Nun wende ich mich mit
diesem Brief an seinen Vetter. Bitte, Herwarth, mach du die
Kommas; der ist gebildet, er schrieb ein mathematisches Buch
über Geburten und Todesfälle.</p>

<p>
»Geschätzter Herr. Sie sind doch der Johannis, dem Peter
Baum sein Kusin? Ich bin seine Freundin Amanda und geh in
die Knopffabrik auf Arbeit, und bin nicht wie sie in die
höhere Töchterschule gegangen in Elberfeld und das
hochdeutsch macht mich Kopfjucken. Sie sind einer von den
Vornehmen und darum spenden Sie wacker zwei Thaler für das
Küche Ihres Cusins Peter; sonst kann seine Visage nicht
abgekleckst werden. Der Peter hat mir im Vertrauen in der
Lämmerstunde auf Ihnen aufmerksam gemacht, Herr Johannes.
Und ich grüße Ihnen freundlich und schaffen Sie sich einen
Bullenbeißer weniger an und füttern Sie Ihre Wachteln mit
Teufelsbeeren, und trinken Sie sich einen Schoppen auf mein
Wohlsein. Ihre Amanda Wallbrecker, aus Elberfeld Grüne Pumpe
an der Klotzbahn 86.« </p>

<p>
Lieber Junge, den ganzen Tag erwarte ich den
Geldbriefträger, daß er nicht mit den zwei Talern in Dein
Bureau rennt. Ich hab nämlich vor, in den Zirkus zu gehn und
ein guter Platz kostet drei Mark; und den Slaven will ich
dazu einladen, damit er sieht, daß es nicht nur Rindvieh
gibt auf der Welt, er ist nämlich verbohrt in sich. Ich bin
mißlaunt, die Menschen, die ich für Menschen hielt, sind
auch keine Menschen; die Liebe erdrosseln sie mit ihrem
Ehrgeiz. Und die Liebe, Herwarth, Du weißt doch, was ich von
der Liebe halte, wäre sie eine Fahne, ich würde sie erobern
oder für sie fallen. Gute Nacht. </p>

<p>
Herwarth, denk mal, die zwei Taler sind eingetroffen und
noch ein Abonnement auf den Sturm dazu. Siehst du, ich bin
ein Großkaufmann. Stell mich an, Du wirst ja nie den Handel
verstehn, und ich möchte nicht warten, bis der Sturm alles
niedergefällt hat. Ich hab meinem Pitter Boom noch ein
Wörtchen zu seinem Gemälde dazu geschrieben:</p>

<p class="center">
<img src="../Images/04-baum.png" alt="Zeichnung von Peter Baum" />
</p>

<p>
»Pitter, dat De so een dommer Moolesel böß, nä, dat han eck
nich gedacht. Wie kannst De meck nu so eene alberne Karte
schriewen ut Hiddensee! Doför möss De bestraft wörn. Eck
wörd nu all Dinne Extravaganzen on Hokospokos on Dinne ganze
heelege Familie en usse Vorwärts brengen, on Dinne
Neegongen on Dinne Settlechkeetsverbrechen. Ook Dän artegen
Bruder Hugo wörd eck entlarven. Dat glöw eck Önk, dän Sommer
on dän Herbst en die Badeörter herömflanieren, on die
Portemaries dän Lüten ut de Mäntels kiebitzen, on eck sitt
hier biem leeren Kochpott. Van wäm häst De dann dat Geld
all? Völleecht van Ding Tante ut die Waffelbude oder van die
Riesendame? Die Erbschaft Dinnes Urgroßvatters, däm Derektor
on Professor vom Olympiaflohtriater häst De doch opgefreten
on Deck heemlich doför eene nüe Bochse on eenen
Schabbesdeckel gekauft? Genau wie een Pasior stehst De met
der longen Piepe im Muhl vor die Thöre van Dinne Filla op
die Groschenskarte on de Hugo kickt ut däm Fenster wie Ding
Hilfsprädeger. On eene Eölsharfe steht ook op däm Dach; wer
speelt die? Dinne tröhe Amanda.« </p>

<p>
Liebe Jungens. Cajus-Majus hat mir gesagt, er habe Wilhelm
Haas aus Prag zum »Gnu« eingeladen. Im Café Austria findet
der Cabaret-Abend statt. Es wäre wirklich nett, wenn Willy
Haas käme. Er erinnert mich an den Primaner, den meine
älteste Schwester gnädig, wie ihre Kleider mit den vielen
Bändern, meiner zweiten Schwester vererbte, bevor sie ins
Pensionat kam. Der hatte, wie der Prager Student, große,
kluge Augen und war kein Spielverderber und hieß auch genau
wie er. </p>

<p>
Ich bin mit dem Auto ins Cabaret gefahren, ich fühle mich
ernstlich krank. Aehnlich wie Känguruh hört sich »Gnu« an.
Aber interessant war es dort, tausend Menschen kamen und
immer wieder tausend, die Einlaß begehrten, und da war kein
Platz mehr zu finden. Ich erklomm die Bühne und setzte mich
in einen erhabenen Sessel. Mit meinem Kolossalsaphir am
Finger, (höherer blauer Glasscherben), präsentierte ich Leo
den Siebenundzwanzigsten. Das meinte auch Cajus-Majus.
Alsbald begann die Lyrik. </p>

<p>
Herwarth, Kurtchen, Zeppelin kommt wieder über unserm Haus
vorbei. Ich sitz eingeschlafen am Schreibtisch, wird
plötzlich die Erde aufgerollt &ndash; modernes Gewitter, die Welt
geht unter, ich hab keine Zeit mehr die Koffer zu packen.
Wahnsinnige Stimmung in der Luft; Meer rauscht über unsern
Dächern und Häusern &ndash; wo ist Himmel geblieben, wo will der
Wallfisch da oben hin gemächlich durch die Wolkenfluten.
Adieu, adieu, ich lauf rasch hinunter auf die Wiese. </p>

<p class="alignright">
Else </p>

<p>
Heute nur ein paar Neuigkeiten!<br /> 
<span class="spaced">Erstens</span>: Dr. Alfred Döblin hat
sich als Geburtstagshelfer und noch für »alles«
niedergelassen. Auf seinem Schild in der Blücherstraße 18 am
Halleschen Tor steht geschrieben, daß er Oberarzt am Urban
war. So eine Reklame!<br />
<span class="spaced">Zweitens</span>: Leonhard Frank hat
wieder einen himmelblauen Mädchenleib gemalt, nun glaube ich
wirklich an seine Satanerie. <br />
<span class="spaced">Drittens</span>: Scherl will mich für
die Verbreitung der Gartenlaube in Tripolis anstellen. Ich
wohne bei Enver Bey im Krieg. <br />
<span class="spaced">Viertens</span>: Der unvergleichliche
Baron von Schennis war gestern Nacht wieder im Café.<br />
<span class="spaced">Fünftens</span>: Alle Jungfrauen
Berlins hat Poiret eingeladen zu seiner Ausstellung bei
Gerson. Die sammelten sich, eine Mauer zur rechten und
linken des Durchgangs. Zwischen blond und schwarzem
Frauenhaar, ein Spalt der noch zu haben war, sah ich die
Mannequin wundersam. Sie war nicht in der Stadt geboren, man
wußte nicht woher sie kam.<br />
<span class="spaced">Sechstens</span>: Das Café und alles
was drum und dran liegt, Berlin und Umgegend, grüßt Euch
Möwen!<br /></p>

<p>
Hört nur, Kokoschka wird steckbrieflich verfolgt in der
neuen, freien Presse; er wirkte doch immer schon rührend,
fing er von der Villa an zu simulieren, die er seinen Eitern
schenken würde. Er aß sich nur immer objektiv satt aus dem
Idealzweck. Tut mir wirklich leid! Wenn er mich auch nicht
leiden mag. So bin ich ja gar nicht! Ein Modell, ein
Holzhäuschen, soll er in der Nacht vom fünfzehnten auf den
sechszehnten Oktober einfach gestohlen haben. Ich schneide
Euch hier sein Bild aus, es ist dilettantisch gezeichnet und
gerade</p>

<p class="center">
<img src="../Images/04-kokoschka.png" alt="Zeichnung von Oskar Kokoschka" />
</p>

<p>
seine charakteristischen Verbrecherzüge sind gemildert. Ob
er sich auch in einer guten Pension versteckt hält, die für
ihn sorgt? Rattke, der Ober vom Café, bei dem er hier in
Berlin gewohnt hat, meint auch, wenn er nur gut wo gepflegt
wird.</p>

</body>
</html>