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  <title>XVI, 6. Januar 1912</title>
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<body>

<h3>XVI, 6. Januar 1912</h3>

<p>
Lieber Herwarth, Tristan selbst will mir auch nicht glauben,
daß ich ihn liebe, aber er war sehr milde, als wir uns
begegneten; wir gingen Hand in Hand, und er erzählte mir die
Geschichte von dem Wolf, ohne zu wissen, daß die Geschichte
eine wahre Begebenheit ist, ich selbst war damals der Knabe,
der atemlos durch die Stadt schrie: »Der Wolf ist da, der
Wolf ist da!« Und zweimal heulte ich die Leute an, versetzte
sie in Schrecken, und als der Wolf wirklich einmal aus einer
Menagerie ausgebrochen war, wollte es mir niemand glauben,
»Er« will mir nun auch nicht glauben, daß ich ihn liebe, und
ich werde vom Kummer zerfressen werden und sicher die ganze
Stadt.</p>

<p>
Herwarth, bitte, laß diese Gedichte im Sturm drucken, sie
sind an Tristan &ndash; vielleicht glaubt er's dann &ndash; bei
Gedichten kann man nicht lügen.</p>
<p>&nbsp;</p>

<p>
Wenn wir uns ansehn<br />
Blühn unsere Augen. </p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Und wie wir staunen<br />
Vor unseren Wundern &ndash; nicht?<br />
Und alles wird so süß.</p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Von Sternen sind wir eingerahmt<br />
Und flüchten aus der Welt.</p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Ich glaube wir sind Engel.</p>
<p>&nbsp;</p>
<p class="center">
*</p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Auf deiner blauen Seele<br />
Setzen sich die Sterne zur Nacht.</p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Man muß leise mit dir sein,<br />
O, du mein Tempel,<br />
Meine Gebete erschrecken dich;</p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Meine Perlen werden wach<br />
Von meinem heiligen Tanz.</p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Es ist nicht Tag und nicht Stern,<br />
Ich kenne die Welt nicht mehr,<br />
Nur dich &ndash; alles ist Himmel </p>
<p>&nbsp;</p>
<p class="center">
* </p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Gar keine Sonne ist mehr,<br />
Aber dein Angesicht scheint.</p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Und die Nacht ohne Wunder,<br />
Du bist mein Schlummer.</p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Dein Auge zuckt wie Sternschnuppe &ndash;<br />
Immer wünsche ich mir etwas.</p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Lauter Gold ist dein Lachen,<br />
Mein Herz tanzt in den Himmel.</p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Wenn eine Wolke kommt &ndash;<br />
Sterbe ich. </p>
<p>&nbsp;</p>
<p class="center">
*</p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Ich kann nicht schlafen mehr<br />
Immer schüttelst du Gold über mich.</p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Und eine Glocke ist mein Ohr,<br />
Wem vertraust du dich?</p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
So hell wie du,<br />
Blühen die Sträucher im Himmel.</p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Engel pflücken sich dein Lächeln<br />
Und schenken es den Kindern.</p>
<p>&nbsp;</p>
<p>
Die spielen Sonne damit<br />
Ja . .</p>
<p>&nbsp;</p>

<p>
Herwarth, Tristan hat mir gesagt, er habe eine Braut, ich
will nun nie mehr über ihn sprechen &ndash; </p>

<p>
Ich gehe jetzt so oft allein in die Stadt, fahre mit all den
Maulwürfen Untergrundbahn. Ich hab schon eine Erdfarbe
bekommen. Ich soll schlecht aussehen. Daß mir das gerade auf
hypochondrisch Jemand gesagt hat! Denn erst jetzt fällt es
mir auf, daß einen alle Menschen fragen: »Wie gehts?« Ich
such nun immer suggestiv nach der hypochondrischen,
erdfarbenen Linie in meinem Gesicht &ndash; über Knie&ndash;Görlitzer
Bahnhof. Aber ich bin allen Ernstes krank, es glaubt mir nur
dann erst Jemand, wenn ich ihn anstecke mit meiner
Schwermut. Aber die Menschen haben ja von Natur alle so
verkalkte Gesichter, Eier; wenn es hoch kommt Ostereier; ich
freu mich immer, wenn ich ein lachendes Plakat unten im
Erdfoyer der Hochbahn entdecke, Das wilde Bengelchen von
seinem Vater Ludwig Kainer gezeichnet, ich hab's sofort
wieder erkannt; morgens lacht es auf der großen Hand seiner
Dienerin kühn reitend mich aus der Zeitung an, wie aus einem
Marstall. Ich möchte dem allerkleinsten Sezessionsmaler ein
grünes Zwergpferdchen bringen, es müßte wie ein Baum so grün
und sprühend sein, das wäre das Lustigste, was ich mir
vorstellen -könnte. Schon lange steht nun Natur auf der
Asphalttafel der Stadt; das steinerne harte Herz Berlins
rührt sich. Tannendüfte färben das Blut in den Adern, und
die Gesichter sehen frischer aus. Aber was geht es mich an,
ich habe kein Interesse für das Wohlergehen dieser Welt
mehr, schwärme nur noch für ihren ärmsten Tand;
Schaumglaskugeln in allen sanften Farben, manche sind wie
kleine Altäre geformt, in ihrer Nische leuchten verborgene
Schimmerblumen der Maria. Ich glaube schon, ich spüre die
gläsernen Blüten in der Brust. Diese Offenbarung! Und bin
doch keine Christin; wo könnte ich an mir Christin werden?
Das hieße sein Blut verstoßen. Diese Erkenntnis sollte des
Jehovavolkes hochmütigster Reichtum sein,</p>

<p>
Gulliver hat hier eine Stadt gebaut. Der ist ja Architekt;
das erzählte mir schon Adolf Loos. Tausend Zwerge, so groß
wie Streichhölzer, trampeln durch die Straßen über den
Marktplatz von Midgesstown. Wir waren zu fünf Riesen dort
und haben uns geradezu unserer Größe geschämt &ndash; und
gingen behutsam gebeugt. Und doch hatten wir Unglück, einer
von uns, der Schauspieler Mornau, hat einen Zwerg zertreten.
Habt Ihr's gelesen? Und Peter Baum hat sich einen zehn
Zentimeter hohen Feuerwehrmann in die Tasche gesteckt in
Gedanken. Lauter Detektive und Kriminalpolizisten laufen
dort herum. Cajus Majus, der Doktor Hiller sah aus, wie ein
gutmütiger Menschenfresser, mit seinem runden Bauch, Und
Hans Ehrenbaum-Degele hat doch die Zwerge eingeladen zur
Bowle Sylvester; ich glaub, er will sie hineinschütten.</p>

<p>
Herwarth und Kurtchen, Ihr kennt doch Chamay Pinsky, er ist
mit Beate nach Jerusalem gezogen, das Land säuern. Der
Schelm! Er weiß ganz genau, zum gelobten Land gehören
gelobte Leute. Und nicht jüdische Bourgeois, die von
posener Berlin in das Land der Könige ziehen; ihre
Frömmigkeit besteht aus bröckelnden Matzen, kräftigen
Fleischbrühen. Vierzig Jahre lehrte Moses seinem Volk die
Freiheit der Wüste und das Brüllen der Schakale, und das
Gesetz vom göttlichen Angesicht lesen, bevor er sie durch
das Tor Jerusalems führte.</p>

<p>
Ich denke jetzt viel an Religion, aber zur Religion gehört
eine Welt: Alleinsein. Nicht ein Idyll mit einem Haus, das
still. Ich war dazu bestimmt, Tempeldienst auszuführen, ich
hätte Gott Heilige gepflückt von den Ufern leiser Ströme Und
das Licht der Seele blau erhalten.</p>

<p>
Auch lege ich <span class="spaced">fromme Bilder</span> mit
den Sternen, die über das Allerheiligste schweben und immer
wüßte ich vor Gott zu knieen, daß es ihm kein Zorn entfacht.
Ich sage zu Gott: du; sie duzen sich mit ihm.</p>

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