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  <title>Sie stehen hoch oben auf dem Gerüst</title>
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<body>

<div class="poem">

<p>
<span class="vers">Sie stehen hoch oben auf dem Gerüst. —</span><br />
<span class="vers">Es ist zwölf Uhr und Mittagsruh. —</span><br />
<span class="vers">Sie fluchen und schreien. — Der eine schmeißt</span><br />
<span class="vers">Dem andern lachend die Flasche zu,</span><br />
<span class="vers">Die heizend von Mund zu Munde reist, —</span><br />
<span class="vers">Und keiner weiß es, wie arm er ist. —</span><br />
<span class="vers">Ich komme des Weges. Und einer erblickt</span><br />
<span class="vers">Den lässigen Gang, die groteske Gestalt:</span><br />
<span class="vers">»Halloh! ein Kerl, dem es oben tickt!« —</span><br />
<span class="vers">Und wildes Gelächter ans Ohr mir schallt.</span><br />
<span class="vers">Ich sehe nicht auf. — Die wissen ja nicht,</span><br />
<span class="vers">Daß dem, um den ihre Rohheit lacht,</span><br />
<span class="vers">Ihr Schicksal klagend zum Herzen spricht, —</span><br />
<span class="vers">Sie fragen auch nicht, ob er Verse macht.</span>
</p>

<p>
<span class="vers">Und ich geh' weiter. Da kommen mir zwei</span><br />
<span class="vers">Verlebte Dirnen kreischend vorbei.</span><br />
<span class="vers">Aus ihren Augen starrt freudlose Gier,</span><br />
<span class="vers">Am Munde frißt wüster Nächte Lust, —</span><br />
<span class="vers">Nur Leiber, nur seelenloses Geschlecht, —</span><br />
<span class="vers">Die armen Wesen, die nie gewußt,</span><br />
<span class="vers">Daß sie arm und verlassen sind, — und nicht schlecht. —</span><br />
<span class="vers">Da stößt eine die andere an: »Du, hier!</span><br />
<span class="vers">Der dürfte mir nicht für ein Goldstück ins Bett!«</span><br />
<span class="vers">Und sie kichern frech. — Sie können nicht wissen,</span><br />
<span class="vers">Daß ich mein Herzblut gegeben hätt',</span><br />
<span class="vers">Wüßt' ich sie in treuer sorgender Hut —</span><br />
<span class="vers">Wüßt' ich ihrem Frieden ein weiches Kissen, —</span><br />
<span class="vers">Auch nicht, wie weh ihr Lachen tut.</span><br />
</p>

<p>
<span class="vers">Und ich geh' meines Wegs. Aus der Schule kommen</span><br />
<span class="vers">Erblühende Mädchen, halbwüchsige Knaben,</span><br />
<span class="vers">Die eben vom schrulligen Lehrer die frommen</span><br />
<span class="vers">Gelehrsamkeiten empfangen haben,</span><br />
<span class="vers">Mit denen die Menschen die knospenden Seelen</span><br />
<span class="vers">Verkümmern, unmerklich zu Tode quälen.</span><br />
<span class="vers">Doch mit der Jugend schnellem Erspähn</span><br />
<span class="vers">Hat mich ein Dutzend Augen gesehn.</span><br />
<span class="vers">Da machen sie höhnisch die Zungen breit</span><br />
<span class="vers">Und richten spottend auf mich die Finger. —</span><br />
<span class="vers">Ahnen sie denn, daß ein Mensch in der Näh',</span><br />
<span class="vers">Der sinnt, wie man aus dem Geisteszwinger</span><br />
<span class="vers">Die werdenden jungen Geschlechter befreit? —</span><br />
<span class="vers">Fragen sie: tut unser Spott nicht weh? — —</span><br />
<span class="vers">Und endlich bin ich, wohin ich gewollt:</span><br />
<span class="vers">Am Kinderspielplatz — bei den Kleinen.</span><br />
<span class="vers">Hei, wie es mir da entgegen tollt!</span><br />
<span class="vers">Es hängt mir am Hals, an den Armen, den Beinen.</span><br />
<span class="vers">Ach — hier sind doch Menschen, die menschlich fühlen,</span><br />
<span class="vers">Die kleinen Kinder, die sorglos spielen,</span><br />
<span class="vers">Die wissen, wer ihnen Freund, wer Feind,</span><br />
<span class="vers">Wer mit ihnen lacht und mit ihnen weint.</span><br />
<span class="vers">Hier bin ich glücklich — hier wo ich fand</span><br />
<span class="vers">Die ich suchte, die Heimat: mein Kinderland!</span>
</p>



</div>

</body>
</html>